Einführung
Im Athen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem die italienische Musik, vorwiegend gestützt auf Musiker von den Ionischen Inseln mit einer entsprechenden Ausbildung nach italienischem Vorbild, im Bereich der Unterhaltung (Oper!) ebenso wie in der Bildung und Erziehung dominierte, waren zur Zeit der bayerischen Königsherrschaft alle Initiativen misslungen, ein deutsches musikalisches Ausbildungssystem zu etablieren.1Es gab mehrere deutsche Musiker wie u.a. Ascher, Maggel, Pranzl und Seiller, die an König Ottos Hof und im Heer dienten, ohne sich direkt in das Bildungswesen einzubringen. Mit der Gründung der Hill-Schule (1831) und der Schulen der Gesellschaft der Freunde des Bildungswesens (Athen 1836 und 1837) kam es zu vermehrter Aufnahme der Musik in die Lehrpläne (Konstantzos, 2013, 3). Romantisch geprägte deutsche Volksmusik des 19. Jahrhunderts hatte allerdings schon seit den Tagen des griechischen Unabhängigkeitskriegs von 1821 insofern in Griechenland unbemerkt Eingang gefunden, als eine ganze Reihe griechischer Revolutionslieder deutschen Melodien angepasst worden war – ein Beispiel par excellence dafür ist das Schweizer Volkslied Freut euch des Lebens (Weise: Hans Georg Nägeli; Text: Johann Martin Usteri), das übrigens schon 1812 zum festen Bestand des preußischen Schulbildungssystems zählte.2Das betreffende Lied wird in seiner hellenisierten Form unter dem Titel „Was ertragt ihr, Freunde und Brüder“ wiedergegeben. Die Meinungen der Forscher und verschiedener Quellen zur Herkunft der griechischen Version gehen auseinander (Pistas, 1969, 183-206). Ganz am Anfang steht das Zeugnis des englischen Reisenden Henry Holland (1815, 323), der das Lied 1812 in Thessaloniki singen hörte und es Rigas Fereos/Velestinlis (1757-1798) zuschrieb. In der Sammlung von Chantseris (1841, 164), in der Anthologie von Sanglis (1869, 16-18) und in der Schrift des Gräzisten Émile Legrand Anekdota Engrafa peri Riga Velestinli (Unveröffentlichte Dokumente über Rigas Velestinlis) (1891, 67) wird die Urheberschaft des Liedes ebenfalls Rigas Fereos zugeschrieben. Indessen weisen es andere Quellen dem Gelehrten Stefanos Kanellos zu, der von 1792-1823 lebte (Raptarchis, 1868, 21-22; Dragoumis, 1879, 89-90: Konstantinidis, 1880, 22-23; Therianou, 1890, 297; K. Th. Dimaras, 1868, 246). In wieder anderen Quellen wird das Lied als anonym verzeichnet (Joss, 1826, 124; Koromila, 1835, 19; Tobra/Ioannidou, 1835, 13; Anjelidi, 1841, 21; Pantasi, 1850, 129-131; Jeorjiou, 1862, 98-101; Sigala, 1880, 50). Schließlich macht der Rigas-Gefährte und Revolutionskämpfer von 1821, Oberst Christoforos Perrevos (1860, 41) geltend, das Lied stamme von ihm. Ein bedeutender Beleg ist die Niederschrift des Liedes in byzantinischer Neumen- (=Noten)schrift in der Sylloji Ethnikon Asmaton (Sammlung Nationaler Gesänge) von Antonios Sigala (1880, 50), wo bestätigt wird, dass es sich tatsächlich um die Melodie von Freut euch des Lebens handelt.
In Anthologien, Zeitungen und Handreichungen für den Unterricht abgedruckt waren diese Lieder noch bis Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin in Umlauf. Ihre patriotische Thematik wurde vermittels lyrisch-romantischer Verse ausgeweitet, die überwiegend Volksweisen oder Liedern namhafter deutscher Komponisten angepasst waren. Innerhalb dieses historischen Rahmens wollen wir untersuchen, was auch Alexandros Rizos Rangavis, Alexandros Katakouzinos und Anastassios Maltos dazu beigetragen haben.
Alexandros Rizos Rangavis und sein zweibändiger Musikalischer Blütenstrauß
Der hochgebildete Intellektuelle und Gelehrte Alexandros Rizos Rangavis (1809-1892), Spross einer vornehmen Konstantinopeler Phanariotenfamilie und Vetter der Brüder Alexandros und Panajotis Soutsos, konnte auf eine außerordentlich vielseitige Berufslaufbahn zurückblicken; zudem war er Autor einer Vielzahl literarisch-philologischer und weiterer Werke. Als Stipendiat König Ludwigs I. von Bayern absolvierte er in München eine Ausbildung im gehobenen Militärdienst, anschließend übernahm er mehrere Positionen und Ämter im griechischen Staatsdienst wie die eines Professors für Archäologie an der König-Otto-Universität, eines leitenden Beamten in der Staatsverwaltung, des Botschafters in Washington und Berlin, schließlich auch eines Ministers.3Seinen gesamten Lebensweg beschreibt er selbst ausführlich in seinen vierbändigen Apomnimonevmata (Memoiren) (Erstausg. 1894-1930).
Als Schriftsteller und Literat gab er seit 1874 seine Apanta ta filologika (Gesammelte literarische Werke) in 19 Bänden heraus, die u.a. ein breites literarisches Spektrum an Gedichten, Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Übersetzungen, Essays abdeckten.
Wie Rangavis selbst in seinen Apomnimonevmata (Memoiren) berichtet (1894, 174), begann er während seiner Studienzeit am Bayerischen Kadettenkorps 1827 Gedichte zu verfassen (u.a. Ο Kleftis [Der Klephte], Ι Salpigx [Die Trompete]), „die sich auf deutsche Liedweisen singen ließen, die sich mir fest eingeprägt hatten, wobei ich stets an Griechenland dachte und die Hoffnung hatte, dass diese Lieder, angestimmt von der kampfbereiten griechischen Jugend, sie zu Taten männlicher Tapferkeit anfeuern würde.“4Alexandros Risos Rangavis war vor allem über die Gebildeten seines engeren familiären Umfelds bestens über patriotische, die Nation beflügelnde Gesänge im Bilde. Verfasser solch typischer, vom Geist dieser Zeit getragener Lieder waren: a) sein Vater Iakovos Risos Rangavis (1779-1855), der Idou tis doxis keros (Siehe, die Zeit des Ruhms) auf die Melodie zu Veillons au salut de l‘ Empire vonN. Dalayrac (1736-1809) geschrieben hatte, b) Alexandros Rizos Rangavis’ Vetter Panajotis Soutsos (1806-1868), der 1827 seine erste Gedichtsammlung Asmata Polemistiria (Kriegsgesänge) veröffentlichte, und c) sein zweiter Vetter Alexandros Soutsos (1803-1863), damals Autor der Sammelausgaben Panorama tis Ellados (Panorama Griechenlands) (1833) und O Periplanomenos (Der Wanderer) (1839). Aus letzterer wurde später dann die erste Strophe des Zweiten Gesangs (Epiklissis is tin Eleftherian) von Dionyssios Rodotheatos vertont und in den 1870er Jahren in Neapel gedruckt (Konstantzos, 2015, 95-108).
Seine relativ früh entstandene Sammlung Diafora Poiimata (Vermischte Gedichte) von 1837, die Andreas Koromilas zusammen mit weiteren Werken veröffentlichte, enthält Liedtexte, die bekannten westeuropäischen, vorwiegend deutschen Melodien angepasst und wie die untengenannten mit Titel, Untertitel und in manchen Fällen auch mit ihrem ersten Vers angeführt sind (Rangavis, 1837, 273–303):
Das Mahl der Klephten. Weise: Der Jägerchor von Weber – „In Wäldern, auf Felsen, in finsterer Wildnis“5in Gleichklang mit dem Jägerchor aus Carl Maria von Webers Freischütz. Schlachtgesang. Melodie: Frisch auf Cammaraden – „Es schmettert die Trompete; Freunde, ‘s ist Zeit“6Der deutsche Titel wird in dieser Ausgabe mit „Frisch auf Cammaraden“ wiedergegeben. Dabei handelt es sich eindeutig um Frisch auf! Kameraden. Die Melodie zum Text ist die des deutschen Wohlauf Kammeraden (Reiterlied von Schiller, vertont von Christian Jacob Zahn, 1765-1830. Vgl. Konstandsos (2015, 130-131).
Hymne auf Griechenland, [zur] Ankunft seiner Majestät des Königs von Bayern 1835
Hymnus, angestimmt zur Ankunft seiner Majestät der Königin.7Die beiden Hymnen von Rangavis auf die Ankunft des Königs und der Königin wurden von einem bayerischen Komponisten namens Ascher vertont, den König Otto persönlich als Klavierlehrer nach Griechenland berufen hatte (Motsenigos, 1958, 305).
In der Einheit Dimotika (Volkstümliches):
Der Reiter. Melodie: Auf grün belaubter Haide – „An meiner Rechten das Schwert“
Der Klephte. Melodie: aus Schillers Räubern – „Schwarz ist die Nacht in den Bergen“8Die Musik folgt Schillers Räuber-Lied: „Ein freies Leben führen wir…“, wahrscheinlich nach der Melodie eines deutschen Liedes aus dem Mittelalter (Gaudeamus igitur). Vgl. Konstantzos (2015, 132-135).
Der Mai. Melodie: Schöne Minka – „Ach Mai, mit deinem gold‘nen Haar“
Gesang. Melodie: Jungfernchor – „Schweres Herz, bitt‘res Herz, was seufzest du“
Bezüglich des von Rangavis in seiner ersten Sammlung gepflegten Sprachstils merkt Linos Politis Folgendes an (2002, 173):
In seiner verhältnismäßig frühen Sammlung Diafora Poiimata (Vermischte Gedichte) (1837) gibt es neben Gedichten in der offiziellen poetischen Hochsprache der Phanarioten in anteilig größerer Anzahl „volkstümliche“ Gedichte, die, teils als kleinere leichte, meist bekannten westlichen Melodien angepasste Lieder, teils im Dienste gängiger romantischer Thematik treffsicher die Volkssprache [„Dimotiki“] verwenden.
In der Folgezeit bereicherte Rangavis das obige Rohmaterial und gab es 1874 im ersten Band seiner Apanta (Gesammelte Werke) unter dem Titel Lyriki Piissis (Lyrische Dichtung) heraus. Ihrer jeweiligen Thematik entsprechend unterteilt er diese Gedichte in verschiedene Untereinheiten Ymni ke Odi, Patriotika, Pantia, Metafrassis, Is Xenas Glossas (Hymnen und Oden, Patriotisches, Vermischtes, Übertragungen, In fremden Sprachen). Im Vorwort zu dieser Ausgabe merkt er an, dass er viele Lieder des Bandes, die er allgemein geschätzten Melodien ausländischer Herkunft angepasst oder direkt auf sie geschrieben habe, mitsamt den Noten in einem ersten Heft unter dem Titel Moussiki Anthodesmi (Musikalischer Blütenstrauß) veröffentlicht habe und dass in Kürze das zweite Heft dieser Sammlung folgen werde (Rangavis, 1874, 8). Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass jedem Gedicht eine kurze Notiz zu Liedweise und Komponist sowie die Buchstaben A΄ und B΄ als Hinweis auf die jeweilige Notenausgabe vorangestellt seien. Diese Anmerkungen sind insofern von großem Nutzen, als in beiden Ausgaben selbst nur die Namen der Komponisten, nicht aber die Titel der Musikwerke angeführt werden. Wie bei Rangavis (1930, 75) erwähnt, wurde das erste Heft 1873 von dem Pariser Verleger G. Flaxland unter dem Titel Moussiki Anthodesmi (Musikalischer Blütenstrauß – Melodiensammlung, als Adaptionen auf Gesangstexte von A. R. Rangavis) auf Kosten in Marseille ansässiger Griechen veröffentlicht.9Der Musikalienverlag G. Flaxland wurde 1847 von Gustave-Alexandre Flaxland (1821-1895) gegründet. Bedeutenden Aufschwung brachte dem Unternehmen der Erwerb der Urheberrechte an verschiedenen Werken Schumanns und Wagners. Das Verlagsprogramm umfasste auch Liedsammlungen wie z.B. Echos de France, Echos d’Italie, Echos d’Allemagne und deutsche Liedkompositionen. 1870 ging Flaxland an das Verlagshaus Durand, Schoenewerk & Cie. über (Fétis, 1881, 336).Das zweite Heft vollendete Rangavis dann im Frühling 1875 in Berlin, woraufhin mit finanzieller Unterstützung von Konstantinos Zappas die Veröffentlichung beim damals in Berlin wie Dresden sehr umtriebigen Musikverlag Fürstner erfolgte.10Der Musikverlag Fürstner wurde 1868 in Berlin von Adolph Fürstner (1833-1908) gegründet, der 1872 den Musikverlag C.F. Meser (mit Sitz in Dresden) aufkaufte und sich zu einem der wichtigsten Musikverleger Europas entwickelte (Kennedy/Kennedy/Johnson, 2013, 316). Mitbeteiligt waren auch andere Verlagshäuser wie Röder in Leipzig, K. Wildbert in Athen und Komendinger in Konstantinopel, um eine breite Verteilung in verschiedenen Städten der griechischen Diaspora zu gewährleisten (Abb. 1).
Diese Sammlung ist ursprünglich für Singstimme und Klavier geschrieben, weist sich also als Salon- bzw. Hausmusik aus. Von den 36 Liedern des ersten Bandes sind die meisten deutschsprachiger Herkunft, z.B. 17 von Franz Schubert vertonte Lieder, sechs von Robert Schumann, sechs weitere von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber und Franz Wilhelm Abt, ferner die bekannte französische Melodie „Oh! dites-lu“ mit einer Begleitung der Komponistin Prinzessin Kotchoubey (Nr. 25) sowie sechs Gesangsstücke (hauptsächlich Opernnummern) italienischer Komponisten wie Bellini, Donizetti und Pisani. Einige der Lieder sind zur leichteren Ausführung tiefer transponiert. Was Versgestaltung und musikalische Prosodie betrifft, sind Rangavis’ Verse den deutschen Melodien mit besonderer Sorgfalt angepasst (Abb. 2). Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen bieten seine Verse prinzipiell völlig von der Vorlage abweichende Inhalte.11Rangavis war Fachmann für Metrik. Bereits seiner ersten Veröffentlichung, den Diafora Piimata (Vermischte Gedichte) von 1837 hatte er eine bedeutende Studie mit dem Titel „Die altgriechische Prosodie in Gegenüberstellung zur neugriechischen“ beigefügt. Später kursierte dann die Egchiridion Metrikis (Metrische Handreichung / Zusammengestellt von A. R. Rangavis, herausgegeben auf Kosten von Dionysios Koromilas / Zum Gebrauch an Griechischen Gymnasien, Athen 1862). Sie wurde 1892 von dem Verleger Anestis Konstantinidis ein weiteres Mal herausgegeben.
Von diesen Liedern seien folgende als Beispiele angeführt:
Das achte, Nykterinon („Notturno“) betitelte Stück auf Musik von Schubert, ist die bekannte Serenade Ständchen aus dem Zyklus Schwanengesang. Zur Veranschaulichung geben wir die ersten, in Kreuzreime gefassten Verse aus der deutschen Textvorlage von Ludwig Rellstab und darauf Rangavis’ metrische Bearbeitung [hier mit deutscher Übersetzung] wieder:
I: Leise flehen meine Lieder / Durch die Nacht zu Dir, / In den stillen Hain hernieder, / Liebchen, komm zu mir!
II: Μη κοιμάσαι, η σελήνη / λάμπει αργυρά / Και την κόμη της εκτείνει / εις στιλπνά νερά
(Schlafe nicht, der Mondschein leuchtet / hell wie Silberglanz, / Sendet seine Strahlen nieder / auf der Wasser gleißend Tanz)
Das zehnte Lied der Reihe mit dem Titel Peristera Tachydromos (Brieftaube) ist Die Post aus Schuberts Zyklus Winterreise. Hier gibt es bei der Musik kleine Modifikationen, damit sie zu Rangavis’ Versen passt, die bestimmte Akzentabweichungen von den Taktbetonungen aufweisen. Bezeichnend dafür sind Wilhelm Müllers Anfangsverse (I) und Rangavis’ Anpassung (II):
I: Von der Straße her ein Posthorn klingt. / Was hat es, dass es so hoch aufspringt, / Mein Herz?
II: Ω ταχυδρόμε πτερωτή / Περιστερά μου διατί / περνάς; – O geflügelter Postbote, / O Taube mein, warum/ ziehst du vorbei?
Das zwölfte Gedicht, O Vourkolakas (Das Gespenst) betitelt, erweckt besonderes Interesse, weil Rangavis bei Schuberts meisterhafter Vertonung des Goethe’schen Erlkönigs eine anschauliche, metrisch identische Übertragung liefert, die dem Goethe’schen Reimschema folgt. Das zeigt sich an der ersten Strophe des Erzählers bei Goethe (I), dessen Kreuzreimpaare Rangavis wie folgt wiedergibt (II):
I: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? / Es ist der Vater mit seinem Kind; / Er hat den Knaben wohl in dem Arm, / Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
II: Ποίοι είναι που ’ς τ’ άγριο σκότος γυρνούν; / Υιός και πατέρας το δάσος περνούν. / Σφιχτά τον υιόν ο πατέρας βαστά / ’ς ταις δυώ του αγκάλαις ’ς τον ίππον μπροστά – Wer zieht in dunkler Wildnis einher? / Sohn und Vater durchqueren den Wald. / Ganz fest umschlingt der Vater den Sohn / mit beiden Armen vorn auf dem Pferd.
Lied Nr. 14 mit dem Titel I Vattos (Der blühende Strauch) ist auf die Melodie des sehr bekannten Schubertliedes Die Forelle aus dem Zyklus Ausgewählte Lieder geschrieben. Es steht in keinerlei Verbindung mit dem deutschen Text, folgt aber seinem Kreuzreim-Schema. Hier Christian Schubarts originale Verse (I) sowie Rangavis’ Version (II):
I: In einem Bächlein helle, / Da schoss in froher Eil’ / Die launische Forelle / Vorüber wie ein Pfeil.
II: Στην ανθισμένη βάτο / στην πράσινη φραγή, / λουλούδι μυρωδάτο / εστόλιζε τη γη – Am Strauch in voller Blüte / dort an dem grünen Zaun, / da schmückte eine Blume / mit ihrem Duft das Land.
Erwähnenswert ist das 22. Lied mit dem Titel Af΄ ou se ida (Seit ich dich gesehen). Dabei handelt es sich um das Lied Adelaide, eines der bekanntesten Werke für Tenor, die Beethoven 1795 in ganz jungen Jahren auf lyrische Elfsilber des deutschen Dichters Friedrich von Matthisson (1761-1831) geschrieben hat. Rangavis passt seinen Text der metrischen Vorlage an, wobei der griechische Titel Af΄ ou se ida ihn paradoxerweise dazu nötigt, im Refrain an der Stelle der Vorlage, wo der Dichter den Namen Adelaides beschwört, den Titelsatz einzusetzen.
Aus dem deutschen Opernrepertoire sollten wir nicht das Lied Nr. 34 des Hefts übergehen, bei dem es sich um den Jägerchor aus Carl Maria von Webers romantischem Gipfelwerk Der Freischütz handelt, der schon in der ersten Veröffentlichung von 1837 in einen Gesang eindeutig nationalrevolutionären Charakters umgeformt worden war: To Dipnon ton Klepton (Das Mahl der Klephten [„In Wäldern, auf Felsen, in finsterer Wildnis“]). Bezeichnend sind hier die ersten, kreuzweise gereimten Verse aus dem Libretto von Johann Friedrich Kind (I) in Rangavis’ metrischer Einrichtung (II):
I: Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen, / Wem sprudelt der Becher des Lebens so reich? / Beim Klange der Hörner im Grünen zu liegen, / Den Hirsch zu verfolgen durch Dickicht und Teich
II: Εις δάση και εις βράχους κι εις άγριον σκότος / Εδώ που δεν φθάνει τυράννου σπαθί / Αφήστε, ας σπάσει των όπλων ο κρότος / Και δείπνος εις θάμνους χλωρούς ας στρωθή – In Wäldern, auf Felsen, im Dunkel der Wildnis, / Wohin das Schwert des Tyrannen nicht reicht, / Wohlan, lasst enden das Klirren der Waffen, / Bereitet im schattigen Grün hier ein Mahl
Unter den Ausschnitten aus italienischen Opern fußt Lied Nr. 29 mit dem Titel Polemistirion (Kriegsgesang) auf der Schlusspartie des Duetts Suoni la tromba, e intrepido aus dem Finale des zweiten Akts der Oper I Puritani von Vincenzo Bellini. Wir lassen hier die Verse von Bellini (I), ihre Übersetzung (II) und anschließend die metrische Einrichtung von Rangavis folgen:
I: Suoni la tromba, e intrepido / io pugnerò da forte, / bello è affrontar la morte / gridando libertá
II: Es erscholl die Trompete, und unerschrocken / werde ich hart kämpfen, / schön ist’s, dem Tod entgegenzutreten / und ihm „Freiheit“ entgegenzurufen
III: Κλαγκή πολεμιστήριος / Ηκούσθη, χαίρε κόρη, / Θα φύγω· δος το δόρυ / Και δος τον ασπασμόν – Den Klang klirrender Waffen / Vernehm‘ ich, Mädchen, leb wohl, / Ich gehe; gib mir den Speer / und küss mich, sag mir Ade!
Verglichen mit dem ersten, bietet das zweite, 46 Lieder umfassende Heft insofern größere Vielfalt, als in ihm einige weitere Komponisten Aufnahme gefunden haben, darunter die deutschsprachigen Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Weber und Wagner, die Italiener Rossini, Bellini und Donizetti, die Franzosen Offenbach, Gounod und Halevy sowie Volkslieder aus verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Irland, Russland u.a.m.). Aus diesem zweiten Heft sind an erster Stelle Lieder Wagners zu nennen (Abb. 3), von denen im ersten Band der Apanta, Lyriki Piissis (Gesamtausgabe, Lyrische Dichtung) (1874) noch nichts zu finden ist. Das erklärt sich wohl daraus, dass Rangavis, wie er in seinen Memoiren (1930, 148) berichtet, Anfang 1875 den „zum Gott erhobenen“ Tonschöpfer kennenlernte und mit ihm ausführlich „über das Wesen seiner Kompositionen sprach, die dazu tendieren, eher von der Seele Besitz zu ergreifen und sie in Bewegung zu versetzen als mit Melodien zu erfreuen“.12Rangavis wohnte im Mai 1875 einer Tannhäuser-Aufführung in der Berliner Oper bei. Auch zu Beginn des folgenden Jahres 1876 war er bei einer Aufführung des Lohengrin zugegen, die Wagner selbst dirigierte (Rangavis, 1930, 154, 181).
So könnte es Rangavis nach seiner Bekanntschaft mit dem Komponisten, der den Lauf der Operngeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so durchgreifend veränderte, für passend gehalten haben, auch zwei repräsentative Ausschnitte aus Wagnerwerken in seine Edition aufzunehmen. Es sind die folgenden:
Zunächst die Nr. 3 unter dem Titel Efcharistia (Dank). Dabei handelt es sich um die bekannte Melodie aus der tragischen Oper Rienzi, Markenzeichen des Werks, das ebenso wohlklingend in der Ouvertüre wie in Allmächt’ger Vater, der Gebetsarie des Tenorhelden Rienzi zu hören ist.13Zu Rangavis’ Auswahl mag auch beigetragen haben, dass aus Anlass des Staatsbesuchs des griechischen Königs Georg I. in Österreich im Jahre 1871 eine Aufführung des Rienzi zu dessen Ehren im Theater an der Wien stattfand. Einzelheiten zum Ablauf dieser Aufführung vgl. Stella Kourmpana (2017, 47).
Als Beispiel dazu ein charakteristischer Wagner/Rienzi-Vers [im Original] (I) in der metrischen Wiedergabe von Rangavis (II):
I: Allmächt’ger Vater, blick herab!
II: Προς σε υψούται Κύριε – Zu dir erhebt sich, Herr
Ferner Nr. 14 unter dem Titel Anypomonissia (Ungeduld). Hier handelt es sich um Wolframs Monolog aus der romantischen Oper Tannhäuser (III. Akt,. 2. Szene). Bezeichnend ist der erste Satz des Arientexts „O du mein holder Abendstern, der zu „Εις τους παλμούς μου τας στιγμάς μετρών / Nach meinem Pulsschlag messe ich die Zeit“ umgearbeitet ist.
Was das gängige Opernrepertoire betrifft, scheint uns ein Hinweis auf das Lied Nr.13 Ekstassis (Ekstase) wichtig. Es handelt sich dabei um eine metrische Übertragung der Wahnsinnsszene Lucias aus Gaetano Donizettis Oper Lucia di Lammermoor. Erwähnenswert sind ebenso folgende Stücke: Lied Nr. 43 Charon et la jeunne fille mit Schuberts in französischer Sprache unterlegter Melodie aus Der Tod und das Mädchen sowie als letzte Lieder drei Volksmelodien in Versionen von Alexandros Rangavis’ Sohn Kleon: Nr. 44 Penitos Ploutos (Des Armen Reichtum) (deutsch), Nr. 45 Epitafion (Grabgesang) (englisch), Nr. 46 Throus Aspasmon (Der Küsse Schall) (deutsch). Dieser ganze, breitangelegte und mannigfaltige Inhalt der zweibändigen Sammlung steht nicht nur für Alexandros Rangavis’ musikalische Bildung,14Wie uns Rangavis berichtet (1894, 188-189), galten ihm schon seit seiner Studienzeit in München musikalische Kenntnisse zur Vervollständigung seiner Bildung als unabdingbar, und so nahm er sich trotz seiner beschränkten finanziellen Möglichkeiten einen Flötenlehrer, nicht um aus sich einen versierten Spieler zu machen, sondern um die Theorie und den technisch-praktischen Hintergrund dieser Kunst zu erlernen, statt sie unverstanden an seinem Ohr vorbeiziehen zu lassen. sondern auch und vor allem für seine umfassende Kenntnis des Vokalrepertoires für Oper und häusliches Musizieren.15Wie Rangavis in seinen Memorien erzählt, kam er schon in ganz jungen Jahren in Kontakt mit der Oper. So sah der Zehnjährige voller Begeisterung in Bukarest als seine erste Opernaufführung Mozarts Zauberflöte (Rangavis 1894, 80). Bei der Schilderung seiner Studienjahre und seiner beruflichen Laufbahn nimmt er immer wieder Bezug auf Theater- und Opernaufführungen, die er auf den Bühnen Europas miterlebte. Ebenso war er bemüht, in Griechenland das Thema Theater und Oper als kulturelles Anliegen voranzutreiben und zu fördern (Kourmpana, 2008, 9-17).
Rangavis trug die repräsentativsten Werke von Komponisten der Romantik hauptsächlich deutscher Provenienz zusammen, versäumte es aber nicht, auch bekannte Volkslieder miteinzubeziehen. Die Sammlung lässt sich in verschiedenen Zusammenhängen würdigen:
Als Unterrichtswerk, das eine Fortsetzung der Diafora Piimata (Vermischte Gedichte) von 1837 (Rangavis’ erster Veröffentlichung) bietet, – und das zu einer Zeit, in der keinerlei allgemein anerkanntes Material für den Gesangsunterricht zur Hand war und man gerade erst mit dem Druck entsprechender Ausgaben begonnen hatte.16Der Musikunterricht, der seit 1834 Eingang in die Volksschullehrpläne gefunden hatte, erscheint dort unter der Rubrik „Singen“, während zwei Jahre später (1836) in den Lehrplänen der Gymnasien Musik als Unterrichtsfach „von geringerer Bedeutung“ charakterisiert wird (Dionyssiou, 2016, 60). Wenn wir dazu ins Auge fassen, dass a) die Gesellschaft der Freunde des Bildungswesens 1869 eine spezifische Ausgabe Asmata Pedagogika (Unterrichtslieder für den Gebrauch in Kindergärten und Grundschulen, erstmals mit Notenschrift) in Umlauf brachte und b) erst 1876 die von Ilias Tantalidis veröffentlichten und bei Ch. Nikolaïdis Philadelfeas verlegten Asmata is Evropaikin melodian (Gesänge auf europäische Melodien) kursierten, dann kommt den beiden Rangavis-Editionen von 1873 und 1875 mit ihrem breitangelegten und speziell zugeschnittenen Repertoire sicherlich besondere Bedeutung auf dem Bildungssektor zu. So sieht es auch Ilias Tantalidis (1876, 7), der im Vorwort zu seiner eigenen Sammlung zunächst die Initiativen der Gesellschaft der Freunde des Bildungswesens preist, dann aber mit folgenden lobenden Worten Bezug auf Rangavis’ Ausgabe nimmt: „Unter anderem besticht der Musikalische Blumenstrauß mit Liedern, die für die in den Bildungsstätten heranwachsende Jugend überaus geeignet sind“. Der nationale Mäzen Konstantinos Zappas finanzierte die Edition des zweiten Bandes, wobei er 400 Exemplare kostenlos an griechische Schulen und Geschäfte verteilen ließ (Rangavis, 1930, 151-152).
Als patriotische, das Nationalgefühl weckende Handreichung: Mit Blick auf die heroischen und patriotischen Gesänge, die in diesen Ausgaben enthalten sind, schreibt Rangavis (1894, 78): „In der Hoffnung, dass sie, von der kampfbereiten griechischen Jugend angestimmt, zu Taten männlicher Tapferkeit anfeuern werde“. Das findet seine Bestätigung in der 1862 edierten Sammlung von Emmanouil Jeorjiou I Foni tou Tyrteou (Die Stimme des Tyrtaios oder: Sammlung diverser heroischer und historischer Heldenlieder, darunter auch einige historische Episoden von der Einnahme Konstantinopels – gesammelt, herausgegeben und dem Griechischen Heer zugeeignet). In dieser Sammlung, ediert zur Stärkung nationaler Gesinnung im Griechischen Heer, stoßen wir unter vielen anderen heroischen und vaterländischen Gesängen beispielsweise auf Lieder wie O Kleptis (Der Klephte) und To Dipnon ton Klepton (Das Mahl der Klephten) genau so, wie sie in Rangavis’ erster Sammlung Vermischte Gedichte von 1837 und in Rangavis’ erstem Heft des Musikalischen Blütenstraußes von 1873 wiedergegeben sind.
Als Druckwerk zum Aufbau des Nationalbewusstseins bei der griechischen Diaspora. Das erste Heft der Anthologie wurde in Paris mit der Unterstützung in Marseille ansässiger Griechen herausgegeben, während das zweite in Berlin, Dresden, Leipzig und Konstantinopel in Umlauf kam. Wir sehen also, wie verbreitet die beiden Sammelausgaben in verschiedenen griechischen Gemeinden in Europa waren. Verwendung des Griechischen bei der Erstellung an bekannte europäische Liedweisen angepasster Verse in Verbindung mit patriotischen, das Nationalgefühl weckenden Liedtexten fungierten als Träger der Förderung eines Nationalbewusstseins unter den Griechen der Diaspora.
Als kulturelle Initiative. Dazu sagt Rangavis selbst treffend (1930, 75): „wobei ich selbst die musikalische Bildung der Griechen im Auge habe und diese als höchst notwendiges Element kultureller Entwicklung ansehe“. Damit trug er zur Vermittlung und Förderung europäischer und insbesondere der deutschen Musikkultur bei.
Als bemerkenswert nützliche Druckausgabe für musikalische Salons und Hauskonzerte. Wenn wir uns den Inhalt dieser im damaligen Athen kursierenden Ausgaben vor Augen halten, bei dem es sich im Wesentlichen um a) Bearbeitungen verschiedener Opern-Highlights hauptsächlich aus dem Repertoire italienischer Komponisten der Romantik wie Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi für Klavier bzw. Gesang und Klavier, b) um Tanzmusik (Walzer, Polkas, Mazurken Barkarolen usw., c) um Stücke von Komponisten von den Ionischen Inseln handelte, die auch ihrerseits dem Zeitgeschmack folgten und wie z.B. Mantzaros und Carrer entsprechende eigene Werke bzw. Bearbeitungen von Werken berühmter italienischer Komponisten schrieben, die in Italien gedruckt wurden (Xapapadakou/Charkiolakis, 2015, 159-168), dann geht uns die große Bedeutung auf, die dieser Sammlung bei der Verbreitung und Förderung des deutschen Kunst- und Volksliedes, aber auch der deutschen Oper (mit Werken Webers und Wagners) zukam, zumal in einer Stadt, die gerade erst damit begann, ihr kulturelles Leben im Zeichen von Verbürgerlichung und eines italienisch-französisch geprägten Opernwesens zu entwickeln.17Es war allgemein anerkannt, dass die Oper als Musiktheater das Medium war, das der gesellschaftlichen Stellung der fortschrittlich, d.h. kosmopolitisch-europäisch eingestellten bürgerlichen Klasse in Athen am besten entsprach. Ausländische Opernensembles tauchten erstmals 1835 in Athen auf. Neben den Opern brachten sie auch leichtere Stücke, z.B. musikalische Schwänke (fr.: Vaudevilles) und französische komische Opern (Vorläufer der Operette) auf die Bühne. Zur Ausbreitung der Oper in Griechenland im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Bürgertums vgl. Skandali (2001, 47-59). Zu Einzelheiten der Spielpläne der 1870er Jahre vgl. auch G. Leotsakos (2011, 75-100).
Anmerkungen zu den griechisch-deutschen Verflechtungen in der Sammlung von Ilias Tantalidis
Der phanariotische Intellektuelle und Gelehrte Ilias Tantalidis (1818-1876) absolvierte die Schule des Patriarchats in Konstantinopel und die Evangelische Schule in Smyrna, ging dann 1840 nach Athen und studierte an der dortigen Universität Philologie. Nach Abschluss seines Studiums kehrte er nach Konstantinopel zurück, wo er bis zu seinem Tod an der Theologischen Schule auf Chalki unterrichtete. Dort begann er erstmals, griechische Lieder zu schreiben, um das griechische Element in Konstantinopel zu bewahren (Kostelenos, 1977, 100-101).
Seine (komplett von ihm selbst gedichtete) Sammlung Asmata is Evropaikin melodian (Lieder auf europäische Melodien) bildet ein weiteres wichtiges Glied in der Kette musikalischer Unterrichtswerke jener Zeit. Wie Tantalidis im Vorwort („Vorspiel“) seiner Ausgabe anführt (1876, 7-8), bediente er sich vier bedeutender ausländischer Quellen, um aus ihnen sein Material zu schöpfen, und zwar: a) Happy hours by Howard Kingsbury (New York, 1865), b) der deutschen Sammlung Liederschatz, c) der Sammlung französischer Gesangstexte auf deutsche Melodien Écho d‘Allemagne18Offensichtlich aus dem Verlag G. Flaxland. und d) einer Sammlung russischer Kinderlieder von M. Bernardi (St. Petersburg, 1868), aus der auch das allbekannte Liedchen I Petalouda (Der Schmetterling) (Abb. 4) entnommen war. Tantalidis’ Sammlung ist in drei, stets klavierbegleitete und nach Schwierigkeit von der Ein- bis zur Dreistimmigkeit aufsteigende Teile gegliedert. Deren erster umfasst 33 einstimmige Kinderlieder, vorwiegend auf russische Melodien. Der zweite Teil besteht aus 19 Liedern vornehmlich religiösen Inhalts, viele von ihnen auf Musik von Louis-Albert Bourgault-Ducoudray; besonders zu erwähnen ist die dreistimmige Ymnos Vassilikos (Kaiserhymne) Haydns, heute bekannt als Nationalhymne Deutschlands. Der dritte Teil stellt 27 Lieder bereit, darunter viele von deutschen Komponisten wie Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Kücken, Himmel, Mühler, Keller, Abt und anderen. Ein Teil dieser Auswahl stellt Musik für das häusliche Musizieren bereit. Die Rangavis’ Vorbild folgende Sammlung ist teils pädagogischer, teils unterhaltsamer Natur. Nachdem Tantalidis noch die Athener Edition seiner Sammlung betreut hatte, verstarb er im selben Jahr in Chalki/Konstantinopel.
Bereits seit Beginn der 1870er Jahre war religiös, sittlich-charakterlich und patriotisch ausgerichteter Gesangsunterricht fester Bestandteil des Lehrplans an den Konstantinopler Grundschulen; dementsprechend war auch der vokal-instrumentale Musikunterricht an den Gymnasien (Paranikas, 1874, 10-15, 28). Damit wurden die Sammlungen von Rangavis und Tantalidis in diesem Jahrzehnt zu wichtigem Unterrichtsmaterial für den Gesangsunterricht – mangelte es doch noch an entsprechend geeignetem Schrifttum; erst seit 1880 wurde dergleichen systematischer veröffentlicht, und zwar unter Aufsicht des Ökumenischen Patriarchats – so z.B. 1894 die Edition Formigx („Lyra“ oder: Lieder und Gesänge, übertragen aus der europäischen in unsere kirchliche Notenschrift und gänzlich neu bearbeitet, für den Gebrauch an Volksschulen und für alle Musikliebhaber), in byzantinische Neumen-(=Noten-) Schrift gesetzt von Iakovos aus Nafplia, damaligem Ersten Domestikos am Notenpult des Patriarchats der Großen Kirche Christi Bei den Liedausgaben jener Zeit aus Konstantinopel191875 erscheint der Odigos Evropaikis Moussikis (Europäische Musikführer) aus der Feder des Hieropsalten Ioasaph, 1880 kommt die von Periklis Matsas mit Begleitharmonien versehene Sammlung 80 Ellinike Dimotike Melodie (80 Griechische Volksmelodien) in Umlauf, während der italienische Musiklehrer Antonio Vigentini 1880 eine Epitomo Theoria tis Moussikis (Kurze Theorie der Musik/Praktisches Handbuch zum Erlernen elementaren Singens an griechischen Schulen) und 1881 eine Syllogi Chorikon Asmaton (Chorlied-Sammlung) nach dem Vorbild der Sammlung von Tantalidis veröffentlicht. Zur Entwicklung und Rezeption europäischer klassischer Musik in der griechischen Gemeinde in Konstantinopel vgl. Trikoupis/Banteka (2021, 10-18).ist hinsichtlich der deutsch-griechischen Verflechtungen eine kleine Sammlung ohne Jahresangabe bemerkenswert, die den Titel Ellinika Asmata (Griechische Lieder mit leichter Klavierbegleitung. Vertont für griechische Kinder trägt) (Abb. 5).20Die Sammlung umfasst neun Schullieder: 1. Gloria in excelsis, 2. Lied zum Schulbeginn, 3. Lied zum Beginn der Prüfungszeit, 4. Das blinde Blumenmädchen auf Verse von G. Zalokostas, 5. Hellas, 6. Die kleinen Kinder und das Vögelchen, 7. Die Blume und das Kindchen auf Verse von Ag. Vlachos, 8. Der Wald auf Verse von Ag. Vlachos und 9. Die Nacht auf Verse von I. Vilaras.
Auf dem Außenumschlag dieser Sammlung wird der österreichische Komponist Ludwig Gothov-Grünecke (1847-1921), der sich in Wien vornehmlich mit Gesangs- und Bühnenmusik einen Namen machte, als Musikprofessor an der Griechischen Handelsschule auf Chalki angeführt.21Die Griechische Handelsschule wurde 1831 gegründet und als eine der renommiertesten Ausbildungsstätten Konstantinopels angesehen. Bei der Durchsicht von Studienführern (beispielsweise von 1881 und 1906) stellen wir fest, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Gesangsunterricht eher locker, seit Beginn des 20. Jahrhunderts aber systematischer als Fach „Musik“ (mit Gesang- und Instrumentalunterricht) eingeplant war. Aus der Tatsache, dass Gothov-Grünecke kurz vor 1910 als Direktor der Operettenschule in Wien künstlerisch tätig war (Kornberger, 2021, 341), können wir erschließen, dass das Erscheinen der oben genannten Sammlung auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu datieren ist.
Ganz allgemein war gegen Ende des 19. Jahrhunderts das prosperierende Bürgertum der griechischen Bevölkerungsgruppe in Konstantinopel auf dem Gebiet europäischer Musikpflege außerordentlich aktiv. Ein bedeutender Repräsentant europäischer klassischer Musik war der Verein Ermis (Hermes), der 1877 gegründet wurde und bis zur Kleinasiatischen Katastrophe 1922 aktiv war.22Der Verein gründete 1885 ein Konservatorium mit Abteilungen für Gesang und Instrumentalmusik. Parallel dazu gab es einen Chor und ein Orchester. Seit Anfang 1890 wurde es in Société musicale de Constantinople umbenannt. Ab 1911 unterrichteten am Konservatorium des Vereins bedeutende Professoren in den Fächern Klavier, Streichinstrumente, Theorie und Chorgesang (Trikoupis, 2015, 150-151).
Alexandros Katakouzinos und seine Unterrichtslieder
Alexandros Katakouzinos, Spross einer namhaften Familie aus Smyrna und Enkel des Gelehrten Konstantinos Koumas wurde 1824 in Triest geboren. Im Alter von 16 Jahren begann er in Athen bei dem aus Korfu stammenden Musiker Dimitrios Dijenis zu studieren, der kurz zuvor 1837 den Ruf erhalten hatte, einer erste Militärmusikschule ins Leben zu rufen (Motsenigos, 1958, 306-307). Danach setzte Katakouzinos seine Studien in Paris und Wien fort (Symeonidou, 1995, 182). Sein Schaffen aus jener Zeit zeigt, dass Katakouzinos sich gleichzeitig einen Namen als Komponist von Klaviermusik machte (Elegien, Polkas, Polonaisen, Walzer) (Abb. 6). Von besonderem Interesse ist das Lied Sehnsucht, das er auf Verse des Österreichers Joseph Christian Freiherr von Zedlitz (1790-1862) schrieb und Kapellmeister Heinrich Proch (1809-1878) widmete. In Wien war er auch über einen langen Zeitraum Leiter des vierstimmigen Chors der Griechisch-Orthodoxen Kirche (1844-1861) und trug in diesem Zusammenhang zum Reformwerk von Benedikt Randhartinger und Ioannis Chaviaras bei (Harmonisierung byzantinischer Kirchenmusik).231844 schrieb Katakouzinos ein Gedicht mit dem Titel Is tin enarxi tis metarrythmimenis Ellikis Ekklissiastikis Moussikis (Zur Einführung der reformierten Griechischen Kirchenmusik. Am Ostertag 1844 in der Dreifaltigkeitskirche zu Wien) (dem Musiklehrer Randhartinger gewidmet, der Chaviaras’ Reform umsetzte).
1860 wurde seine Oper Antonio , eine lyrische Tragödie auf ein Libretto von Tarantini im Theater von Odessa uraufgeführt, ein Jahr später folgte seine zweite Oper Aretousa von Athen. Katakousinos hatte seinen Wohnort bis 1870 nach Odessa verlagert, um die Leitung des Chors an der Dreieinigkeitskirche zu übernehmen. 1870 wurde er von Königin Olga eingeladen, die Leitung des vierstimmigen Chors an der Kapelle des Königspalasts zu übernehmen. 1871 zum Leiter des neugegründeten Konservatoriums in Athen bestimmt,24Wie Motsenigos (1958, 309) berichtet, kam es im ersten Jahrzehnt nach König Ottos Vertreibung zu einem merklichen Rückgang der Musikpflege, die sich nun auf wenige private Musikschulen beschränkte, unter denen die Schule Parisinis einen herausragenden Rang einnahm. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aber im Bewusstsein aller Sachkundigen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Gründung eines Musikvereins, der in der Lage wäre, sich aller dringlichen musikalischen Probleme anzunehmen. So kam es 1871 unter der Regierung Koumountouros zur Gründung des Athener Musik- und Theatervereins, der sich der Gründung und Organisation des Athener Konservatoriums annehmen sollte. konnte er nun auf ein vielfältiges und beachtliches Lebenswerk verweisen. In dieser Zeit sticht im Bereich des musikalischen Bildungswesens in Griechenland der Musikpädagoge Julius Henning hervor. 1810 in Preußen geboren und in Berlin ausgebildet, ließ er sich, König Otto nach Griechenland folgend, seit 1833 dort nieder. Nachdem er bis 1838 bei der Artillerie gedient hatte, wurde er anschließend als Musikerzieher tätig. Über 16 Jahre hin lehrte er Gesang und Turnen an Schulen und Mädchenoberschulen Athens. 1871 beteiligte er sich an der Gründung der Philharmonischen Gesellschaft „Efterpi“, die sich den Unterricht und die Verbreitung von Musik zur Aufgabe gemacht hatte, und unterrichtete anschließend am neugegründeten Athener Konservatorium (Motsenigos, 1958, 310-311). Unter seinen Werken und Abhandlungen über Musik sind am bekanntesten: a) Egchiridio Fonitikis Moussikis (Handbuch der Vokalmusik, oder: Gesangsunterricht nach der Methode des deutschen Lehrers G. Kübler, das 1875 in Athen verlegt wurde und bei Ch. N. Filadelfeas im Druck erschien,25Entsprechend den Richtlinien, die die Erziehungsinspektion 1881 für die Unterrichtspläne an Volksschulen erließ, war für alle Jahrgänge der Volksschule vorgesehen, täglich Singen als erholsamstes Fach in den jeweils letzten Stunden zu unterrichten (Dionyssiou, 2016, 61). sowie b) Nea Asmata Pedagogika (Neue Unterrichtslieder) (in zehn Teilen), die zwischen 1880 und 1890 von der Gesellschaft der Freunde des Bildungswesens herausgegeben wurden und vornehmlich für den Unterricht an der von ihr betreuten Arsakis-Mädchenoberschule bestimmt waren.26Zur Gesellschaft der Freunde des Bildungswesens und zur Arsakis-Mädchenoberschule vgl. Motsenigos (1958, 305-306).
Für das erste Heft der eben genannten Sammlung (1880) schrieb Alexandros Katakouzinos sämtliche Liedtexte selbst, die er bekannten Melodien metrisch anglich. Allerdings gibt es keine Angaben zu Komponisten und Herkunft der Liedmelodien. Im zweiten Heft (1883) schrieb Alexandros Katakouzinos sowohl Texte wie Musik komplett selbst. In den anschließenden acht Heften bleibt er auf deren Titelblatt ungenannt, tritt aber in einer ganzen Reihe von Fällen als Komponist und Textdichter in Erscheinung (Abb. 7). In diesen acht Heften werden die Namen der griechischen wie ausländischen Komponisten, der Übersetzer und auch der Herkunftsorte regelmäßig angeführt, sofern es sich um Volksmelodien (z.B. aus Deutschland, England, Irland, Sizilien etc.) handelt. Die Sammlung bietet hauptsächlich Lieder deutschsprachiger Komponisten wie Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Jung-Stilling, G. Becker, F.W. Berner, Anselm Weber, Hans Georg Naegeli, Karl Groß, Friedrich Silcher, Louis Spohr, Louise Reichardt, Eduard Huhn und weitere mehr. Unter den Übersetzern begegnen wir u.a. Namen wie A. Rangavis, D. Vikelas, G. Paraschos, P. Soutsos, Ph. Ikonomidis. I. Tantalidis, Em. Imarmenos, A. Iliadis und weiteren. Der Inhalt der Lieder lässt sich in vier Themenbereiche gliedern: Naturliebe, Religiöses, Patriotisches und Charakterbildung (Dionyssiou, 2016, 70,88). Die 300 Lieder der Sammlung sind so angelegt, dass ihr Stimmumfang nicht den von den fünf Notenlinien markierten Tonraum überschreitet und damit Kindern und besonders jungen Männern, die gerade im Stimmbruch sind, Schwierigkeiten erspart. Konsequentes Bemühen um Anhebung des Gesangsunterrichtniveaus zeigt sich daran, dass 200 der Lieder zwei-, die übrigen 100 dreistimmig gesetzt sind.
Als Alexandros Katakouzinos 1891 im Alter von 67 Jahren seine Position als Direktor des Athener Konservatoriums niederlegte, konnte er auf eine musikalisch, literarisch und pädagogisch erfüllte Laufbahn zurückblicken. Schon ein Jahr später verstarb er 1892. Erinnerungswürdig ist seine Definition von Musik: „Wer sie in sich trägt, bedarf keiner Definition; und wer nicht, ebensowenig.“
Anastassios Maltos und die Liedersammlungen
Anastassios N. Maltos kam 1851 im mazedonischen Megarovo zur Welt, studierte an der Athener Universität und dann weiter in Dresden, München und Zürich, wo er 1879 zum Doktor der Philosophie promoviert wurde (Trikoupis, 13.2.2019). 1880 ließ er sich im russischen Odessa nieder, wo er, besonders auf dem Feld deutscher Kultur, eine sehr bemerkenswerte Tätigkeit als Dozent wie Herausgeber entfaltete.
Zunächst gab er 1881 die Syllogi difonon, trifonon ke tetrafon asmaton (Sammlung zwei, drei- und vierstimmiger Lieder zum Gebrauch an griechischen Schulen und Gymnasien, Teil I) bei Breitkopf & Härtel in Leipzig heraus. Das Heft beinhaltete deutsche Volkslieder und Lieder deutschsprachiger Komponisten wie beispielsweise Mozart, Schubert, Weber, Mendelssohn, Ritter u.a., wobei die metrischen Textübertragungen von namhaften Gelehrten wie Alexandros Rizos Rangavis, Angelos Vlachos, Jeorjios Zalokostas, Ilias Tantalidis, Alexandros Katakouzenos, Achilleas Paraschos u.a. stammten (Abb. 8). Daran anschließend gab er 1884, wieder beim Leipziger Verlagshaus Breitkopf & Härtel und mit Genehmigung des osmanischen Ministeriums für das öffentliche Erziehungswesen das erste Heft seiner zweiten Sammelreihe unter dem Titel Terpsichori iti Syllogi chorikon asmaton pros chrissin ton scholion (Terpsichore oder: Chorlieder für den schulischen Gebrauch) heraus. Von Interesse ist das Vorwort zu dieser Edition, mit folgendem Hinweis revidiert: „doch hat mich bereits die Erfahrung gelehrt, dass solch eine einfache Sammlung in den Händen von Schülern ohne Vorkenntnisse und ohne auf Gesangsübungen als unerlässliche Grundlage zurückgreifen zu können, keinen bzw. nur einen sehr geringen Nutzen bietet.“ Aufgrund dessen stellte Maltos seiner Sammlung Terpsichore zwei kurzgefasste Einheiten unter dem Titel „Vorkenntnisse“ bzw. „Gesangsübungen“ voran, für die er auf entsprechendes Schrifttum seiner Epoche zurückgriff.27Maltos (1884, V) führt dazu an: a) Julius Henning, Handbuch der Vokalmusik, Athen 1875, b) Weinwurm, Methodische Anleitung zum elementaren Gesangsunterricht, Wien 1876, g) Im. Faisst und L. Stark, Elementar- und Chorgesangschule, Stuttgart 1880 und d) B. Widman, Praktischer Lehrgang für einen rationellen Gesangsunterricht, Leipzig 1878.
Der dritte Teil des Heftes enthält zwei Gruppen von Liedern, 25 einstimmige und 62 zweistimmige, zu denen Maltos bezeichnenderweise anmerkt, er habe „von der Überzeugung getragen, dass die in deutschen Schulen gesungenen Lieder für das Vergnügen wie zur charakterlichen Bildung die bestgeeigneten seien, insbesondere deutsche, mit dem Textinhalt harmonierende Melodien“ aufgenommen.
Im nächsten Jahr (1885) folgte das zweite Heft von Terpsichore, das – nunmehr in Odessa verlegt – 20 zwei- und 37 dreistimmige Lieder auf Melodien deutscher Volkslieder und berühmter deutscher Komponisten enthielt, deren Textadaptionen wie in den Sammelausgaben zuvor von griechischen Intellektuellen und Gelehrten stammten. Beide eben angeführten Sammlungen von Maltos enthalten auch einige Lieder griechischer Komponisten wie Alexandros Katakouzinos, Dimitrios Lallas, Jeorjios N. Maltos (Bruder von Anastassios Maltos), Nikolaos Chalkiopoulos Mantzaros, Spyridon Xyndas und Rafail Parisinis. 1887 machte sich Maltos an die Edition des ersten Hefts seiner anschließenden Sammlung unter dem Titel Melpomeni iti Sylloji eklekton pedikon asmaton (Melpomene oder: Sammlung ausgewählter Kinderlieder mit Klavierbegleitung für den Gebrauch in griechischen Familien). Diese Sammlung enthält 27 einstimmige Lieder mit Klavierbegleitung, wie in den vorausgegangenen Ausgaben auch sie auf Grundlage deutscher Volksweisen und Melodien erstrangiger deutscher Komponisten mit Textadaptionen griechischer Intellektueller und Gelehrter (Abb. 9). In den anschließenden Jahren 1890 bis 1908 betätigte sich Anastassios Maltos als Autor und Übersetzer mit der Herausgabe bedeutender Schriften über die deutsche Sprache und zur Musikgeschichte.28Und zwar: Kleine Deutsche Sprachlehre für Griechen, Methode Gaspey-Otto-Sauer zur Erlernung der neueren Sprachen, Julius Groos Verlag, Heidelberg 1890, b) Deutsche Dialoge. Neuer methodischer Führer zur Erlernung der deutschen Sprache, eingerichtet zum Gebrauch für Griechen, Methode Gaspey-Otto-Sauer, Julius Groos Verlag, Heidelberg 1892, c) C. F. Weitzmann, Geschichte der griechischen Musik mit einem Anhang auf uns gekommener Belege griechischer Melodien, Übs. Anastassios N. Maltos, Druckerei Hestia, Athen 1893 und d) H. A. Köstlin, Geschichte der Musik, griechische Zusammenfassung der IV. Auflage, Übs. Anastassios N. Maltos, Bibliothek Maraslis, im Druck von P. D. Sakellarios, Athen 1908.
Alsdann machte er sich 1903 an eine erweiterte Ausgabe der Terpsichore-Sammlung unter dem Titel Terpsichori iti Sylloji chorikon asmaton (Terpsichore oder: Chorliedsammlung), „Genehmigt im Rahmen des Schulbuchwettbewerbs nach Gesetz Nr. ΒΡΛ‘ für den Gebrauch an Schulen und Lehrerausbildungsstätten für beide Geschlechter“. Auch in dieser Sammlung vermittelt der erste Teil Grundkenntnisse, der zweite Gesangsübungen, während der dritte Teil 20 einstimmige sowie 100 zweistimmige Lieder enthält, von denen die meisten von berühmten deutschen Komponisten oder deutsche Volksweisen sind.
Epilog
Die zwischen 1873 und 1903 von den drei renommierten, mit deutscher Sprache und Kultur vertrauten griechischen Intellektuellen und Gelehrten Alexandros Rizos Rangavis, Alexandros Katakouzinos und Anastassios Maltos herausgegebenen Liedsammlungen brachten Errungenschaften der deutschen Vokalmusik (Lied, Volkslied und Oper) vorwiegend aus der Zeit der Romantik zur Geltung. In diesen musikalischen Anthologien nimmt auch der an Rangavis’ Vorbild orientierte Beitrag von Tantalidis einen wichtigen Platz ein. Bei der Betrachtung des Entwicklungsweges des Liedgesangs im griechischen Schulwesen kommt diesen Sammlungen (vor allem derjenigen von Henning-Katakouzinos, Tantalidis und Maltos) ein besonderer Stellenwert im Rahmen der deutsch-griechischen Verflechtungen zu. Die den pädagogischen Vorbildern aus Deutschland folgenden Sammelausgaben haben die Grundlagen geschaffen, auf der alle späteren Schulliedausgaben aufgebaut haben – wobei sich diese inhaltlich schrittweise auf mehr Griechisches mit eigenen Volksliedern (Avthentopoulos/Sakallieros, 2021, 19-35) und andere von Griechen komponierte Lieder hinbewegten, um im Zuge der volkssprachlichen Bewegung für Kinder zugänglicher zu werden – ein Beispiel dafür sind die hochgeschätzten Ausgaben des Musikpädagogen Athanassios Arjyropoulos zwischen 1913 und 1939.29Athanassios Arjyropoulos ist einer der schriftstellerisch fruchtbarsten Musikpädagogen, er hat von 1913 bis zu seinem Tod 1939 mindestens 20 mehrfach aufgelegte musikpädagogische Bücher herausgegeben, unter ihnen die Titel Aidonia (Nachtigallen), Orpheus, Apollon, Keladimata (Zwitschertöne), Moussiki Agoji (Musikerziehung), Scholiki Moussiki (Schulmusik) u.a.m.. In seinen Liedersammlungen verwendet auch er Melodien ausländischer Herkunft, fügt aber eigene, den Kindern zugänglichere Kompositionen und solche aus der Feder griechischer Tonschöpfer bei, auf deren Namen wir in älteren Notenausgaben noch nicht gestoßen sind, wie etwa Kostas Sfakianakis, Nikolaos Kokkinos, Ioannis Psaroudas, Konstantinos Papadimitriou, Dionyssios Lavragas, Emilios Riadis, Konstantinos Psachos, Nikolaos Kassidopoulos, Manolis Kalomiris, Xenofontas Asteriadis, Timotheos Xanthopoulos, Lavrentios Kamilieris und Dimosthenis Milanakis (Konstantzos, 2013, 19-20).
Alles in allem scheint die Rezeption der deutschen Musikfolklore und der Lieder und Volkslieder durch Rangavis, Katakouzinos und Maltos vornehmlich auf musikalischer Ebene, weniger des Inhalts der Verse wegen erfolgt zu sein und gestaltet sich wie folgt: a) als nationalistisches Ausdrucksmittel (besonders bei Rangavis), b) als Instrument, ein Bewusstsein für die eigene nationale Identität der Diaspora-Griechen zu fördern, und c) als essentieller Beitrag zu einer an europäischen Vorbildern orientierten kulturellen, zivilisatorischen und pädagogischen Entwicklung der griechischen Gesellschaft in den Bereichen Erziehung und Unterhaltung. Zu jener Zeit hatte Griechenland gerade erst damit begonnen, eine bürgerliche Gesellschaftsschicht zu entwickeln und zu stabilisieren, während der Staat angesichts der Europäisierung der politischen und ökonomischen Strukturen des Landes und auch angesichts der Notwendigkeit, ein musikalisches Erziehungssystem aufzubauen, zur Gründung von Schulen und zur Einrichtung dementsprechender Ausbildungsinstitutionen schritt. In diesem historischen Rahmen gerieten die hier behandelten musikalischen Sammelausgaben zweifellos zu einem dynamischen und schließlich systemischen Ausdruck privater Initiative im Dienste einer Anhebung der musikalischen Bildung und Kultivierung des Landes.