Ausgehend von der dreifachen Definition des europäischen Philhellenismus durch Espagne und Pécout (Revue Germanique Internationale, 2005: neohumanistische Auffassung des Philhellenismus; historischer Philhellenismus im Zusammenhang der Griechischen Revolution; liberales Bündnis mit Griechenland während des langen 19. Jahrhunderts), unternimmt das Dossier den Versuch, den deutschen Philhellenismus als Pluraletantum, als eine Summe miteinander verbundener Haltungen darzustellen, die nur im Plural Sinn ergeben. Diese deutschen Philhellenismen wurden in der Geschichte der deutsch-griechischen Beziehungen häufig als einheitlicher Philhellenismus (oder unter negativen Vorzeichen als Griechenhass oder „Mishellenismus“) aufgefasst, was zu einigen ideologischen Verzerrungen in der gegenseitigen Wahrnehmung geführt hat. Die Revision dieses Pluraletantum wird sich auf folgenden Ebenen bewegen: 1. Auf der Ebene der Synchronität von 1821 werden die Wahrnehmungen und Praktiken untersucht, aus denen sich der sogenannte Philhellenismus der Feder und des Schwertes zusammensetzt und die von jeweils unterschiedlichen Motiven wie dem klassisch-philologischen Neohumanismus, der christlichen Romantik und dem politischen Liberalismus ausgehen. 2. Die historischen Transformationen dieser Philhellenismen bewegen sich auf einem Vektor vom bayerischen Staatsphilhellenismus bis zur nationalsozialistischen Einkleidung der Antike. Anhand dieser Entwicklung lässt die Konferenz ein Spannungsfeld der triadischen imaginären „Wahlverwandtschaften“ zwischen Deutschland, dem antiken und dem modernen Griechenland erkennbar werden, das von allgemeinerer Bedeutung für die europäische Geschichte des 19. wie des 20. Jahrhunderts ist.
So vielfältig und zuweilen widersprüchlich waren die Wege, auf denen man die historische Zäsur von 1821 in seiner jeweiligen Gegenwart rezipieren und somit zum „Philhellenen“, d.h. in diesem Sinne zum Freund der Neugriechen, werden konnte: indem man sie etwa in die Reihe der zeitgenössischen national-liberalen Bewegungen und deren Forderungen nach politischen Freiheiten, demokratischen Reformen und nationaler Einheit einordnete; indem man sie entweder in die Traditionslinie der Menschen- und Bürgerrechte, der Brüderlichkeit und des modernen Ideals der Philanthropie oder in das ältere Argumentationsmuster des Gegensatzes zwischen der christlichen und der islamischen Welt und die frühneuzeitlichen Bestrebungen zur Rückeroberung des christlichen Orients stellte; indem man die Solidarität als humanistische Dankensschuld gegenüber den Nachkommen der antiken Hellenen auffasste, und in Kenntnis der antiken Mythologie zur Rückkehr Helenas aus Troja (im Einzelfall auch zu ihrer Verheiratung mit Faust) oder der Rückführung Iphigenies aus Tauris nach Mykene (und von Deutschland nach Griechenland) beitrug. Dass die Deutschen wie Goethes exilierte Iphigenie „das Land der Griechen mit der Seele suchten“, bedeutet nicht, dass diese Suche keine praktische, europäische und moderne politische Dynamik und in der Folge schmerzhafte Wirklichkeiten hervorgebracht hätte. Sie schrieb sich ein in die Imagination der modernen Griechen zwischen dem Zeitalter der Revolutionen und der nationalsozialistischen Verherrlichung des Unsterblichen Hellas – um an einen Band zu erinnern, der 1938 als Gemeinschaftswerk der nationalsozialistischen Propaganda und des griechischen Metaxas-Regimes in Berlin erschien.
Das Dossier umfasst verschiedene Felder der deutsch-griechischen Verflechtungen, die bislang für gewöhnlich unter dem einheitlichen Begriff des deutschen Philhellenismus (bzw. des Mishellenismus) subsummiert wurden. Den ersten Angelpunkt der Konferenz bildet die Neubewertung der Rezeptionen von 1821 in den deutschsprachigen Ländern und die Mobilisierung, die sie in Verbindung mit den politischen Bewegungen nördlich der Alpen hervorriefen. In diesen Bewegungen waren freilich von vornherein eine politische und eine kulturelle Komponente miteinander verflochten, die politische Bewegung des Philhellenismus und die aus der einschlägigen Literatur bekannte „Tyrannei Griechenlands über Deutschland“. Selbstverständlich darf die Rolle der griechischen Gemeinden des deutschsprachigen Raumes in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Den zweiten Angelpunkt bildet die Untersuchung der Transformationen, die diese politisch-kulturelle Verflechtung in den 200 Jahren nach dem Ausbruch der Griechischen Revolution erfuhr.