Griechenland als ‚magischer Spiegel‘
Reiseberichte nehmen im Kontext des deutschsprachigen Griechenland-Diskurses eine wichtige Rolle ein,1Vgl. grundlegend Meid, 2012. Der Beitrag bündelt Ergebnisse dieser Studie. weil sie vorgeblich authentische Erfahrungen und Eindrücke eines zentralen Erinnerungsortes vermitteln. Der Gestus der Augenzeugenschaft, der Autopsie, ermöglicht besondere Strategien der Beglaubigung. Dabei unterscheidet sich Griechenland in der Logik der Texte von anderen Reisezielen durch die äußerst hohe Bedeutung, die seiner Kultur und Geschichte beigemessen wird. Symptomatisch für diese nahezu religiöse Überhöhung der Griechenlandreise sind die Ausführungen Hugo von Hofmannsthals, der zu Beginn der 1920er Jahre erklärt:
Die Reise nach Griechenland ist von allen Reisen, die wir unternehmen, die geistigste. […] Es ist eine geistige Pilgerschaft, die wir unternommen hatten, und wir hatten vergessen, daß diese Landschaft einen anderen Duft aushauchen könnte, als den der Erinnerungen (Hofmannsthal, 1979, 629).
Zur Pilgerfahrt kann diese Reise deshalb werden, weil sie nicht der griechischen Gegenwart, sondern einer idealisierten Vergangenheit gilt. Hofmannsthal konstatiert also ein Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit des bereisten Landes und seiner sinnlich erfahrbaren Gegenwart. Darüber hinaus betont er – und das ist gerade für das Genre des Reiseberichts von zentraler Bedeutung –, dass mit der „Landschaft“ eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit führe.
Denn es ist gerade die Vergangenheit, die die Reisenden des 20. Jahrhunderts nach Griechenland zieht – und wenn man Hofmannsthal glaubt, ist diese philhellenische Sehnsucht typisch deutsch:
Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen (Hofmannsthal, 1980).
Was Hofmannsthal hier generell in Bezug auf die (auch kulturkritisch getönte) Antikesehnsucht der Moderne hervorhebt, lässt sich auch auf die Reiseprosa beziehen: Die Texte des 20. Jahrhunderts sind gleichermaßen Erkundungen des Reiselandes und der Subjektivität der Reisenden. Im Zentrum steht zumeist die griechische Antike, deren vielfach aufgeladene „Gedenkorte“2Vgl. zu diesem Terminus Assmann, 1999. In Bezug auf die Reiseliteratur vgl. Mylona, 2014. zum Anlass werden, vorhandenes Vorwissen oder Wunschvorstellungen zu aktualisieren. Nicht zuletzt die Erfahrung einer (zuweilen irritierenden) griechischen Gegenwart stimuliert ästhetische Strategien, mit denen die Irritationserfahrungen der Reise im literarischen Text kommensurabel gemacht werden sollen.
Der Reisebericht wird in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts folglich oftmals zum Dokument einer voyage intérieur und dient immer weniger als Medium der Wissensvermittlung. Dass dies nach 1900 in großer Zahl geschieht, hat sowohl kulturhistorische als auch konkret sozialgeschichtliche Ursachen. So erlauben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die verbesserten Reisebedingungen erstmals eine vermehrte Reisetätigkeit in das touristisch noch wenig erschlossene Griechenland3Vgl. dazu Ipsen, 1999. – technische Modernisierung ist also eine wesentliche Voraussetzung für die verstärkte Beschäftigung mit der Antike: Innerhalb eines Jahrzehnts reisen beispielsweise Richard Strauss, Sigmund Freud, Hermann Bahr, Henry van de Velde, Gerhart Hauptmann, Ludwig von Hofmann, Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal nach Griechenland. Zugleich haben sich die Vorstellungen von der griechischen Antike unter dem Einfluss von Nietzsches Tragödienschrift grundlegend geändert: Das bis dahin auch in der Reiseliteratur vorherrschende klassizistische Paradigma wird nun zunehmend in Frage gestellt. Vorstellungen einer dionysischen, vitalen Antike dominieren von nun an die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem alten Griechenland.
Die folgenden Ausführungen widmen sich anhand von drei Beispielen schlaglichtartig diesen griechisch-deutschen Spiegelungen in der Reiseliteratur der Moderne. Ausgehend von dem ‚Gründungstext‘ des Genres, Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling (1908), beleuchte ich die propagandistische Indienstnahme philhellenischer Traditionen bei Erhart Kästner, um abschließend einen Blick auf Wolfgang Koeppens Abgesang auf die Griechenland-Emphase seiner Generation zu werfen.
Archaisierung und Eingemeindung: Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908)
Das ein Jahr nach Hauptmanns Griechenland-Reise (1907) publizierte, stark überarbeitete Reisetagebuch Griechischer Frühling avancierte rasch (wenn auch keineswegs unwidersprochen) zum beliebtesten deutschsprachigen Reisebericht über Griechenland: Noch im Erscheinungsjahr 1908 wurde der Text insgesamt siebenmal aufgelegt. Er beeinflusste direkt oder indirekt die meisten deutschsprachigen Reiseberichte über Griechenland, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden. Hauptmanns Griechischer Frühling ist in zweifacher Hinsicht von paradigmatischer Bedeutung: Als erster Reisebericht über Griechenland entwirft er ein Antikebild, das ohne das Vorbild Nietzsches in dieser Form nicht denkbar wäre. Dies geschieht durch eine Art der Aneignung, die ebenfalls neue Wege einschlägt: Hauptmann stellt die Reise als höchst subjektive, irrationale Anverwandlung kultureller Bestände dar.
Programmatisch formuliert Hauptmann in den Eingangskapiteln des Griechischen Frühling, die Reise nach Griechenland, das für ihn die geistige „Hauptprovinz“ (Hauptmann, 1996, 14) Europas ist, sei nicht mit einer üblichen touristischen Unternehmung vergleichbar: „Mit Dampfschiffen oder auf Eisenbahnen hinreisen zu wollen, erscheint fast so unsinnig, als etwa in den Himmel eigener Phantasie mit einer wirklichen Leiter steigen zu wollen“ (ebd).
Wenn die Reise mit modernen Verkehrsmitteln in die erleb- und beschreibbare griechische Gegenwart notwendigerweise defizitär bleiben muss, ergibt sich für Hauptmanns Text folgerichtig die Konsequenz, die inneren Vorgänge zu thematisieren, die mit einer Reise nach Griechenland verbunden sind. So setzt Hauptmann der ernüchternden humanistischen Bildung seine besondere Intuitionsfähigkeit entgegen, die es ihm ermöglicht, die antike Dichtung und Kultur nicht nur passiv zu rezipieren, sondern sie sich am Entstehungsort produktiv anzuverwandeln und fortzuführen. Es ist diese Fähigkeit zur vorrationalen rauschhaften Teilhabe, die Hauptmanns Text (manchmal penetrant) demonstriert. Der Dichter stehe, so der Autor, über den „naturfremde[n] Durchschnittsmensch[en]“ (ebd., 8), deren Reiseerlebnis – so die Logik von Hauptmanns zivilisationskritisch geprägter Sichtweise – immer defizitär bleiben müsse. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling ist also die literarische Gestaltung einer vom Autor als „Pilgerfahrt“ empfundenen Reise auf der Suche „nach andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne“ (ebd.).
Damit ist das Erzählprogramm etabliert, das die folgenden Kapitel des Textes umzusetzen versuchen. Es geht vordergründig nicht darum, Informationen über die bereisten Orte zu präsentieren; stattdessen stellt Hauptmann die Reaktionen des Reisenden auf diese mythisch aufgeladenen Stätten dar. Dabei ist der durchgehend projektive Gestus des Schreibens offenkundig: Zumeist stehen Setzungen und Behauptungen an der Stelle von stringenten logischen Argumentationen.
Von vornherein ist die konstitutive Spannung zwischen Vorbildung und der Inszenierung von Unmittelbarkeit, die nur auf Grundlage dieses Wissens funktioniert, klar erkennbar. Die Modernität des Textes liegt auch darin, dass er den Konstruktionscharakter der oftmals herbeigeredeten Visionen transparent macht. Bei seinem Versuch, das bereiste Land narrativ zu vermitteln, wendet Hauptmann zwei grundlegende Verfahren der Distanzüberbrückung an: Erstens beschreibt er eine Reihe von visionshaften Evokationen der griechischen Antike, zweitens verringert er die Distanz zum bereisten Land, indem er durchgängig die Ähnlichkeiten zwischen Griechenland und seinen Bewohner/innen und Deutschland bzw. Nordeuropa betont.
Als Beispiel für Hauptmanns sorgfältig kalkuliertes visionäres Schreiben kann seine Beschreibung des Heiligtums von Eleusis dienen, wo ihm plötzlich die Göttin Demeter erscheint:4Ähnliche Beobachtungen ließen sich in Bezug auf Hauptmanns Würdigung der griechischen Tragödie im Theater von Delphi machen, wo sich ihm das ‚Wesen‘ der griechischen Tragödie erschließt. Vgl. ebd., S. 99.
Während ich auf den Steinfliesen der ehemaligen Vorhalle des Philon, als wäre ich selbst ein Myste, nachdenklich auf und ab schreite, formt sich mir aus der hellen, heißen, zitternden Luft, in Riesenmaßen, das Bild einer mütterlichen Frau. Ihr Haarschwall, der die Schultern bedeckt und herab bis zur Ferse reicht, ist von der Farbe des reifen Getreides. Sie wandelt, mehr schwebend als schreitend, aus der Tiefe der fruchtbaren Eleusinischen Ebene gegen die Bucht heran und ist von summenden Schwärmen häuslicher Bienen, ihren Priesterinnen, begleitet (ebd., 71).
Eine wichtige Quelle, um der Essenz des Griechischen nahezukommen, sind für Hauptmann die Hirten. Wenn er die griechische Kultur in einer epochenübergreifenden Synthese von ihrem „Hirtenursprung“ (ebd., 102) her versteht, schließt er an archaisierende Deutungen an.
Hatten die meisten anderen Reiseberichte gerade das Unzugängliche, Befremdliche des modernen Griechenland hervorgehoben, das dem angestrebten Erlebnis der griechischen Kultur im Weg stehe, so schlägt Hauptmann den entgegengesetzten Weg ein: Indem er durchgehend die erstaunliche Ähnlichkeit Griechenlands und seiner Bewohner mit Deutschland und den Deutschen betont, verringert er merklich die Distanz zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Seine Herangehensweise übersteigt die altbekannten Vorstellungen von einer Affinität zwischen griechischem und deutschem Geist und deutet diese unter dem unverkennbaren Einfluss naturwissenschaftlicher Vererbungs- und Milieutheorien um.
Bereits das „Phäakenland“ (ebd., 7) Korfu, die erste Station der Reise, trägt dezidiert deutsche Züge: Der Gesang der Korfioten hat „mehr einen kühlen deutschen Charakter“ (ebd., 19), die Umgebung der Stadt ist geprägt von „fast nordischen Rasenflächen“ (ebd.), die Landschaft erinnert „an die Schwermut nordischer deutscher Ebenen“ (ebd., 30). Diese Beschreibungstendenz verstärkt sich angesichts des griechischen Festlands, dessen Vegetation an die Heimat erinnert. Hauptmann trifft auf „deutsche Eichen, so alt und mächtig entwickelt, wie in der Heimat sie gesehen zu haben ich mich nicht erinnern kann“ (ebd., 44), er hat den Eindruck, „als liefe unser Schiff in einen Fjord und wir befänden uns in Norwegen statt in Griechenland“ (ebd., 84).
Hauptmann betont aber nicht nur die landschaftlichen Entsprechungen, sondern auch die Ähnlichkeit vieler Griechen mit Bewohnern des Nordens. Die Griechen sind in Hauptmanns Sicht „ein Bergvolk“ (ebd., 85), das unter ähnlichen Bedingungen lebt wie die Bewohner seiner schlesischen Heimat.
Es scheint ein in mancher Beziehung veredelter deutscher Schlag zu sein, so überaus vertraut in Haltung, Gang und Humor, in den Proportionen des Körpers sowie des Angesichts, mit dem blonden Haar und dem blauen Blick, wirken auf mich die Trupps der Landleute. Wir lassen zur Linken ein eilig wanderndes und mit einer dunklen Genossin plauderndes blondes Mädchen zurück. Sie ist frisch und derb und germanisch kernhaft (ebd., 87).
Hauptmanns auf den ersten Blick befremdliche Betonung der kernigen, vitalen Griechen, die einer Alpenidylle entsprungen zu sein scheinen, wird dann verständlich, wenn man die gängigen stereotypen Abwertungen der modernen Griechen kennt, die gerade in der Reiseliteratur anzutreffen sind.5Vgl. Meid, 2012, 64f. Sie gehen (mehr oder minder explizit) auf die ‚Griechenthese‘ Jakob Philipp Fallmerayers zurück. Dessen 1830 publizierte Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters beginnt bekanntlich mit den Sätzen:
Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit der Cörper, Sonnenflug des Geistes, Ebenmaß und Einfalt der Sitte, Kunst, Rennbahn, Stadt, Dorf, Säulenpracht und Tempel, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Continents verschwunden. Eine zweifache Erdschichte, aus Trümmern und Moder zweier neuen und verschiedenen Menschenracen aufgehäuft, decket die Gräber dieses alten Volkes (Fallmerayer, 1830, I).6Vgl. Leeb, 1996; Thurnher, 1993.
Diese Provokation der enthusiastischen Philhellenen erwies sich – trotz der erbittert geführten Diskussion über die Richtigkeit von Fallmerayers Behauptung – als wichtiges Argument, um die Geringschätzung der modernen Griechen zu begründen. Hauptmann hingegen setzt in seinem Reisebericht alles daran, die modernen Griechen aufzuwerten und zugleich gegen die Thesen Fallmerayers anzuschreiben – wenn auch in einer Weise, die die biologistischen Narrative der Griechen-Verächter aufnimmt. Deren Vorstellung einer Völkervermischung setzt er die ungebrochene Verbindungslinie zwischen modernen und antiken Griechen entgegen. Als Mittel der Begründung dient ihm dabei die eigene Anschauung, die für ihn über wissenschaftlicher Spekulation steht. Ganz offenkundig ist für Hauptmann die Denkfigur von der Geistesverwandtschaft zwischen Hellas und Hesperien auch biologisch fundiert. Sein Reisebericht trägt programmatisch dazu bei, diese biologische Verwandtschaft zu demonstrieren, um so über weithin unreflektierte Rasse-Vorstellungen die ohnehin als fraglos empfundene Geistesverwandtschaft um eine Blutsverwandtschaft zu ergänzen.7Vgl. Ipsen, 1999, 169.
Philhellenischer Eskapismus oder politische Propaganda? Erhart Kästners Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942)
Eine ähnlich herausgehobene Stellung wie Hauptmanns Griechischer Frühling nehmen in der Literatur der Bundesrepublik die Texte von Erhart Kästner ein, dem ehemaligen Privatsekretär von Hauptmann, der nach dem Krieg als Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel eine wichtige Position im westdeutschen Wissenschafts- und Kulturbetrieb einnehmen sollte.8Vgl. grundlegend zu Kästner Hiller von Gaertringen, 1994. Namentlich Ölberge, Weinberge (1953) modellierte die Griechenlandsehnsucht einer ganzen Generation und ist nach wie vor im Buchhandel erhältlich.9Vgl. zu Kästners Ölberge, Weinberge im Kontext der Nachkriegsliteratur Meid, 2015. Bei diesem ‚Longseller‘ handelt es sich allerdings um die bearbeitete, zugleich purifizierte und erweiterte Fassung des Reiseberichts Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege, der im Auftrag der deutschen Wehrmacht entstanden war.
Erhart Kästner, promovierter Germanist, Bibliothekar und zeitweiliger Privatsekretär von Gerhart Hauptmann, wurde als Unteroffizier 1941 nach Griechenland abkommandiert, offenbar, weil er Griechischkenntnisse vorgetäuscht hatte, die er jedoch nicht besaß.10Vgl. Kästner, 1974, 15. Vgl. zu den folgenden, stark gerafften Ausführungen Hiller von Gaertringen, 1994, 61–128. Es scheint, als habe Kästner eine gewisse Virtuosität im Umgang mit Wehrmachtsstellen entwickelt, die ihm erlaubte, seine touristischen Neigungen auszuleben. So ging die Initiative für das Buch auch nicht von Wehrmachtsstellen, sondern von Kästner und dem mit ihm befreundeten Maler Helmut Kaulbach aus.
Gemeinsam entwickelten sie den Plan, ein illustriertes Buch zu verfassen, das den „Offizieren und Mannschaften, die im Kriege längere Zeit in Griechenland verbringen, ein kleines Buch der Erinnerungen und Einführung in die Denkwürdigkeiten und Schönheiten des Landes in die Hand“ geben sollte.11Zitiert nach Hiller von Gaertringen, 1994, 96 (Plan für ein Griechenlandbuch, 12. 1. 1942). Der Vorschlag wurde von dem zuständigen Offizier, General Wilhelm Mayer, genehmigt. In Folge dieses Auftrags bereisten Kästner und Kaulbach in den nächsten Monaten das Land. Das Manuskript war im Sommer 1942 abgeschlossen und erschien im Herbst in einer nichtöffentlichen Auflage für Wehrmachtsangehörige; im Sommer 1943 wurden von einer zweiten Auflage auch etliche Exemplare für den Buchhandel gedruckt.
Bei Kästners Text handelt es sich um klare Propagandaliteratur,12Vgl. hingegen Nauhaus, 2003, 98: „Zwar ist das Buch im Auftrag der Wehrmacht geschrieben, aber kann man deshalb Kästner – gewissermaßen in Bausch und Bogen – nationalsozialistische Propaganda vorwerfen? Das Buch ist nicht völlig frei von Anklängen an diese [!], was auch mit den Bedingungen der Zensur, so wie Kästner sie einschätzte, zusammenhängen mag, so daß sich der Autor gezwungen sah, Abschnitte einzufügen, von denen er wußte, er würde sie nach dem Krieg sofort eliminieren.“ Überdeutlich wird Nauhaus’ naiv-identifikatorische Perspektive, wenn sie gegen Hiller von Gaertringen betont: „EK wäre entsetzt gewesen, sich als ‚Wehrmachtschriftsteller‘ bezeichnet zu sehen!“ (ebd., 99, Fußnote). Vgl. hingegen Strohmeyer, 2006, der alles daransetzt, Kästner zum geistigen Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Verbrechen zu machen. Seine Arbeit scheitert an den oftmals plumpen Gegenüberstellungen von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und offensichtlich falschen Einschätzungen; dennoch stellt sie einen wichtigen und erhellenden Beitrag dar, gerade weil sie die auch in der Fachliteratur zu Kästner immer noch fortwirkenden elitaristischen und eskapistischen Tendenzen in all ihrer Fragwürdigkeit beleuchtet. die in zentralen Passagen die deutsche Besatzung Griechenlands legitimiert, ästhetisiert und verklärt. Zugleich enthält das Buch zahlreiche Passagen, in denen die verheerende Kriegsgegenwart so weit wie möglich ausgeblendet wird. Sie verweisen auf eine zeitlose Sphäre von Natur und Mythos: So zeichnen die zahlreichen Prosa-Miniaturen geradezu kalligraphisch ein idyllisches Bild lichtdurchfluteter Landschaften, die dem Reisenden wiederum gelungene Selbsterfahrungen ermöglichen.13Vgl. dazu Schnell, 1976, 96.
Bereits die Gliederung von Kästners Griechenland-Buch verdeutlicht, dass es dort wesentlich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen alten Griechen und modernen Deutschen geht. Die Rahmenkapitel schildern eine Fahrt nach Griechenland bzw. den Flug von Griechenland nach Deutschland. In diesem letzten Kapitel „Flug über Griechenland“ beschreibt der Erzähler aus der Vogelperspektive die griechische Landschaft und vergegenwärtigt die historischen und mythologischen Ereignisse, die sich dort zutrugen. Für Kästner ist die Ähnlichkeit von Deutschland und Griechenland unmittelbar evident, auch aus Gründen einer tiefen Geistesverwandtschaft: „Der Deutsche wohnt ohnehin halb in Hellas, solang er in Deutschland ist; kommt er aber nach Griechenland, so ist ihm Deutsches überall um den Weg“ (Kästner, 1943, 268).
Diese Äußerung, die kaum über die in Hauptmanns Griechischem Frühling artikulierten Positionen hinausgeht, verdeutlicht bereits einen Grundzug von Kästners Griechenland-Bild, nämlich den Gedanken der Affinität von alten Griechen und modernen Deutschen, die sich deshalb in Griechenland heimisch fühlten. Griechenland sei „Nördliches im Süden“ (ebd., 269), die Heimat eines eigentlich nordischen Volkes:
Die beiden heiligsten Stätten der Griechen, Delphi und der Olymp, muten am nördlichsten an. Delphi: ein Hochalpental. Der Olymp: ein Nordberg. Es ist, als ob dabei ferne Erinnerungen nachklängen, Erinnerungen eines in den Süden verschlagenen, im Süden glücklich gewordenen Volkes, das dennoch im tiefen Grunde seines Herzens ein Heimweh nach Norden nicht verlor (ebd.).
Es gehört zum Grundbestand deutschen Schreibens über Griechenland, diese Affinität von Griechen und Deutschen herauszustellen, die hier durch den offensichtlichen Rekurs auf den Hyperboreer-Mythos unterfüttert wird.14Vgl. dazu – polemisch überspitzt –Strohmeyer, 2005. Vgl. Kästner, 1943, 173f.: „Da ist die Sage, die ihn, den immer kommenden Gott, immer wieder in das Land der Hyperboreer entrückt. Dort ist sein Reich, seine Herrlichkeit, dort ist sein tiefstes Geheimnis. […] Wo liegt es? Im Norden irgendwo.“ Wenn die NS-Ideologie ebenso wie Kästner diesen nördlichen Ursprung der Griechen hervorhebt, so bedeutet dies im Umkehrschluss nicht automatisch, dass Kästner hier in besonderem Maße auf nationalsozialistisches Gedankengut rekurriert. Vielmehr bezieht er sich auf eine Traditionslinie, die in der deutschen Kulturgeschichte Allgemeingut ist. Man könnte den Gedanken einer Verwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen zu den Verschrobenheiten einer nach Legitimation und Vorbildern suchenden Geistestradition rechnen, wären nicht die aggressiven Konsequenzen dieser Vorstellung ebenso virulent.
Diese werden dann auch in Kästners Text deutlich, insbesondere dann, wenn der Autor der nationalsozialistischen Vorstellung von kurzer – auch ‚rassischer‘ – Blüte und anschließendem Untergang folgt und – ebenso wie etwa Alfred Rosenberg – die Griechen als Eroberer aus dem Norden auffasst. Kästner betont, „daß die Griechen gleichsam Fremde waren in diesem Land, Wanderer, die kamen, erblühten und starben, nachdem sie der Welt das Köstlichste gegeben“ (ebd., 162). Dies verdeutlicht exemplarisch das Eingangskapitel von Kästners Reisebericht, überschrieben mit dem Titel „Fahrt nach Griechenland“. Kästner schildert dort eine frühmorgendliche Eisenbahnfahrt nach Athen, auf der er einem Zug mit deutschen Soldaten begegnet:
Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der nachbarlichen Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen saßen, standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond.
Da waren sie, die „blonden Achaier“ Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht, strahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor, der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der strahlende, blondlockige Achill (ebd., 9).
In den Besatzungssoldaten sind die homerischen Helden präsent. Dabei greift Kästner auf gängige Topoi der Homer-Deutung zurück, die insbesondere dessen Darstellung blonder Helden hervorhebt.15Vgl. Sieglin, 1935. Die deutschen Soldaten verkörpern denselben heroischen Typus wie die Gestalten der griechischen Epen, allerdings mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass der Krieg des 20. Jahrhunderts größere Heldentaten erfordere als der Kampf um Troja:
Wie anders denn sollten jene ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre es weiter nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und viel bitterer waren als alle Kämpfe um Troja. Wer auf Erden hätte jemals mehr Recht gehabt, sich mit jenen zu vergleichen als die hier – die nicht daran dachten? Sie kamen vom schwersten Siege, und neuen, unbekannten Taten fuhren sie entgegen. Keiner von ihnen, der nicht den Kameraden, den Freund da drunten gelassen hätte. Um jeden von ihnen schwebte der Flügelschlag des Schicksals. Es wehte homerische Luft (ebd., 9f.).
Die Überbietung Homers gipfelt in eine antikisierende Nacktbadeszene mit homoerotischem Beigeschmack:
Unversehens ergab sich ein völlig klassisches Bild. Sprühend im Licht dieses Morgens und im Glanz ihrer jungen Nacktheit tummelte sich die Schar dieser Eroberer am fremden Meer, und es schien so, als sei ein verloren geglaubtes, unsterbliches Geschlecht wiedergekehrt und habe mit Selbstverständlichkeit Besitz genommen von diesem Ufer, oder als seien sie immer dagewesen und der Götterberg habe nie auf andere niedergeblickt als auf sie (ebd., 10).
Merkwürdigerweise hat die ältere Forschung gerade diese Passage zum Anlass genommen, Kästner in die Nähe der ‚Inneren Emigration‘ zu rücken.16Vgl. Schnell, 1976; O’Keeffe, 2013. Nichts könnte falscher sein: Gerade die Ästhetisierung der Besatzungstruppen, die der Illustration eines rassistischen Geschichtsnarrativs dient, feiert emphatisch die ‚nordische Landnahme‘.
Auch an anderen Stellen seines Reiseberichts klassifiziert und kategorisiert Kästner die Bewohner/innen Griechenlands nach Maßgaben der NS-Rassenkunde. Erhart Kästner folgt in seinem Griechenland-Buch diesen Vorstellungen, wenn er betont, es sei „blutmäßig von den alten Griechen verdammt wenig oder nichts übrig geblieben im heutigen Hellas“; bereits „im Altertum wurde das griechische Blut selten“, so sei allgemein bekannt, „wie zum Beispiel in Sparta schon in den Spätzeiten des Griechentums das gute Blut zu versickern begann“ (ebd., 45). Derartige biologistische Argumentationen nehmen die Höherwertigkeit der nordischen Rasse als gegeben an; gerade die beinahe mystische Verklärung des Bluts entspricht uneingeschränkt der NS-Ideologie.
Seine Nähe zu deren Annahmen wird gerade daran deutlich, wie Kästner Menschen nordischer Abstammung mit den nichtnordischen Menschen ihrer Umgebung kontrastiert. So weckt ein blondes Kind mit Augen „grau […] wie die Nordsee“ (ebd., 83f.) die Neugier der Soldaten, gerade im Kontrast zu den anderen „kleinen Lemuren und Affengesichtern“ (ebd., 84). Bald klärt sich der Sachverhalt auf; der Vater des Mädchens war Däne, so dass ihr helles Äußeres nordischem Einfluss zu verdanken ist. Den Reisenden erscheint sie gerade deshalb als Verkörperung der alten Griechen: „Man soll sich nicht irremachen lassen. Woher auch die alten Griechen gekommen sein mögen: dies war ihr Blut. Mit beiden Beinen fest auf der Erde und ums Haupt ein höheres Geleucht. Rein, sauber und klar: die weißen Götter“ (ebd.). Die modernen Griechen hingegen sind für Kästner nur eine Fußnote der Geschichte, die immerhin Schonung verdient hätten: „Selbst die Römer, weniger ehrfurchtsvoll in Kulturdingen, als wir zu sein es verpflichtet sind, ließen Athen unzerstört. Sie taten es mit einer Begründung, an die man sich heute in einer Stunde des Unmuts gegen Neugriechenland erinnern soll. Sie beschlossen nämlich, ‚gegen die Lebendigen Nachsicht zu üben um der Toten willen‘“ (ebd., 46f.).
Kästners Griechenlandbuch verbindet auf eklektische Weise Traditionen kulturkritischen Schreibens und eskapistischer Innerlichkeit mit Elementen des Technikkults des Dritten Reichs und vor allem mit Positionen der NS-Ideologie. Befremdlicherweise bedeutet dieses Jugendwerk für den Autor den Beginn einer erfolgreichen literarischen Auseinandersetzung mit Griechenland. Nach 1945 wurden die eigentümlichen Entstehungsbedingungen von Kästners Schriften über Griechenland offenkundig nicht als anstößig empfunden. So enthielt die 1953 unter dem Titel Ölberge, Weinberge publizierte Neufassung einige Zeilen, in denen Erhart Kästner seine erste Begegnung mit Griechenland im Krieg darstellt und von den Entstehungsbedingungen des Buches berichtet. Retrospektiv beschreibt er sein Verhalten im Krieg als Akt der inneren Emigration.
Betrachtet man allerdings den propagandistischen Ertrag seines Griechenlandaufenthalts, so wirkt das Bekenntnis des Autors geradezu zynisch: „Hätte ich damals erfahren, mir seien volle vier Jahre in diesem Lande beschieden, ich glaube, mich hätte die Freude zersprengt“ (Kästner 1974, 16). Im Kontext neuhumanistischer Strömungen der Nachkriegsjahre gewinnen Kästners nun mit christlichem Gedankengut angereicherte Griechenland-Bücher eine ungeahnte Popularität. Dies demonstriert, wie unter Ausblendung der jüngsten Geschichte Griechenland wiederum kurzzeitig zu einem Projektionsraum stilisiert wird, zu einem Bezugspunkt, der aufs Neue Orientierung geben soll. Die in einem Höchstmaß ideologisierte Gattung des Reiseberichts wird so retrospektiv als Medium des Rückzugs in eine unpolitische Innerlichkeit begriffen.17Vgl. ausführlich Meid, 2012, 355–374.
Desillusionierung. Wolfgang Koeppens Die Erben von Salamis oder Die ernsten Griechen (1962)
Wolfgang Koeppens Reisebericht Die Erben von Salamis oder Die ernsten Griechen (1962), die Druckfassung eines im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks entstandenen Radioessays,18Wolfgang Koeppen und seine Frau Marion, die allerdings erst einige Tage nach ihrem Mann in Athen eintraf, bereisten von Ende August bis Anfang September 1961 Griechenland. Der Autor besuchte die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten auf dem griechischen Festland, zudem einige der Inseln, nicht aber Kreta. Erstmals gesendet wurde sein aus Reisenotizen hervorgegangener Essay am 13. 2. 1962 im Abendprogramm des SDR unter dem Titel Die Erben von Salamis. Die ernsten Griechen. Ein Bericht von Wolfgang Koeppen. Die Druckfassung, die in der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift Jahresringe erschien, ist gegenüber dem Manuskript für die Rundfunksendung deutlich gekürzt. Dieser gekürzte Text liegt sämtlichen späteren sämtlichen Ausgaben zugrunde. Vgl. zu Koeppens Tätigkeit für den Rundfunk Todorow, 1986. markiert den Endpunkt einer Tradition. Zwar integriert Koeppen nahezu sämtliche Stereotype des philhellenischen Diskurses – er spricht von Pilgern, besucht die üblichen Sehenswürdigkeiten, spielt auf Mythen an –, setzt aber sein eigenes Schreiben zugleich davon ab und distanziert sich von emphatischen Aneignungs- oder Vereinigungsfantasien. Er schildert als Außenstehender eine Reise, die nicht mehr eine Suche nach Traditionsbeständen ist und ebenso wenig den Versuch darstellt, diese Traditionen zu erleben. Sein Text ist von vornherein frei von emphatischen Bedeutungszuschreibungen.
Zugleich stellt Koeppens Reisebericht einen Neubeginn dar, verabschiedet er doch endgültig die spätestens seit der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten unglaubwürdig gewordenen Stereotype über Griechenland. Koeppen schreibt trotz aller mythischen Versatzstücke dezidiert von einem entideologisierten Standpunkt. Dabei geht er nicht etwa aggressiv gegen eine fragwürdige Traditionslinie an; eher handelt es sich bei seinem Essay um einen auch wehmütigen Abgesang, um das Eingeständnis, dass die Erfahrung von Nähe nicht möglich ist. Aus dieser Perspektive verliert das klassische Erbe zwangsläufig an Bedeutung.
Und doch spielt Mythologie in Koeppens Reisebericht eine zentrale Rolle. Wie auch in seinen anderen Reisetexten gestaltet Koeppen eine zweite Ebene, die von mythischen Verweisen geprägt ist. Anders aber als bei den pseudomystischen Innerlichkeitsaufschwüngen der Jahrhundertwende handelt es sich im Fall von Koeppens Text um montierte Versatzstücke, die nichts mit der Innerlichkeit der Erzählerfigur zu tun haben. Die Beschreibung von Koeppens Griechenland-Erfahrung wird eingerahmt von deprimierenden Szenarien, die fraglich scheinen lassen, ob das spezifisch Griechische unter Bedingungen des modernen Tourismus überhaupt noch auffindbar ist.
Nach Delphi reist Koeppen mit dem Bus der Firma Hermes. Die Beschreibung dieser Fahrt bildet den Abschluss der Druckfassung von Koeppens Radioessay. Hier bündelt er auf einer knappen halben Seite noch einmal die Enttäuschungssignale, mit denen der Text begonnen hatte.
Nach Delphi fuhr ich mit „Hermes“ und seinem Komfort, bekam dafür alles in drei Sprachen dreimal erklärt, und ich weiß noch immer nicht, warum die Reiseführer sich verpflichtet fühlen, das Schulbuch aufzusagen und witzig zu sein. Genügte es nicht, wenn sie verkünden würden: wir sind in Delphi, habet Ehrfurcht, hier ist die Heilige Straße, dort der Felsen der Sibylle, hinter ihm der Apollon-Tempel, nutzet die Stunde, um vier Uhr geht’s weiter. So zürnt Apollon mit den Besuchern, und kein Orakelspruch wird ihnen auf den Weg gegeben. Ich trank mit amerikanischen Damen, französischen Lehrern und deutschen Geschäftsleuten aus dem kastilischen [!] Quell. Eine Holländerin fand alles einmalig. Der Parnaß hüllte sein Haupt in Wolken. Im Museum blickte der große Wagenlenker auf eine leere Bahn. Wünschen Sie Musik, fragte auf der Heimfahrt der Reiseleiter, und die Lautsprecher sangen „La Luna“, italienisch, deutsch, englisch. Es war aber kein Mond zu sehen (Koeppen, 2008, 263).
Koeppen inszeniert hier Abwesenheit. Wie auch bei der Beschreibung des Fluges von München nach Athen und seiner Streifzüge durch Athen ist die griechische Götterwelt potentiell anwesend. Allerdings ist ironischerweise gerade in Delphi, dem zentralen Kultort Griechenlands, die Vergangenheit fremd und unzugänglich. Dafür macht Koeppen die Reisebedingungen verantwortlich, die für einen Ort wie Delphi sichtlich unangemessen sind. Allerdings ist auch Koeppens Ratschlag an den Reiseführer ironisch zu verstehen. In dem parodistisch überzogenen, altertümelnden Gestus, den Koeppen imaginiert, klingt zugleich die ersatzreligiöse Tradition des Philhellenismus an, der abgewirtschaftet hat und in die Phase seiner touristischen Vermarktung übergegangen ist. Diese Art des Reisens bedeutet von vornherein den Verzicht auf Autopsie. Die Führung durch die Fremdenindustrie verhindert, dass der Reisende einen subjektiven Zugang zu den Objekten der Besichtigung gewinnen kann. Auch die Art der Wahrnehmung wird normiert, so dass die Reise mit „Hermes“ gerade nicht zu einer intensiven Begegnung mit Griechenland führen kann.
Fazit
Koeppens skeptische, tastende Annäherungen an ein fremdes Land stehen am Ende einer Traditionslinie, die mit emphatischen Bedeutungszuschreibungen begonnen hat. Gerade einmal 50 Jahre zuvor versuchten die Autoren der Jahrhundertwende voll Enthusiasmus, ihre idealisierten Vorstellungen von Hellas im modernen Griechenland wiederzufinden. Dass ihnen dies teilweise glückte, liegt bezeichnenderweise vor allem an den Projektionstechniken: Geschult an Mustern der Mystik kann es gelingen, von der Gegenwart zu abstrahieren bzw. diese als Ausgangspunkt für Aufschwünge in eine Welt des Mythos zu nehmen, die aber immer zugleich auf die Subjektivität des Schreibenden zurückverweisen.
Diese Schreibweisen sind noch für Erhart Kästners Griechenland-Bücher vorbildhaft. Insbesondere die Vereinnahmung philhellenischer Diskurse im Nationalsozialismus und eine unmenschliche deutsche Besatzungspolitik demonstrieren die Ideologisierung einer wirkmächtigen Tradition. Gerade in der Reiseliteratur sind von vornherein Mechanismen angelegt, die zeigen, wie es zu einem derartigen Missbrauch kommen kann. Denn die Fokussierung auf ein abstraktes Ideal, das erst im Vollzug der Reise mit Leben erfüllt werden soll, hat dann fatale Folgen, wenn aus der Begeisterung für die griechische Antike eine Abneigung gegen die griechische Moderne resultiert. Die Vehemenz, mit der Autoren seit der Jahrhundertwende das moderne Griechenland abwerten oder nicht zur Kenntnis nehmen, gehört zu den Kehrseiten des an dunklen Aspekten nicht eben armen deutschen Griechenland-Diskurses: Gerade die Stilisierung Griechenlands zu einem mit religiöser Bedeutung aufgeladenen Sehnsuchtsort prägt die Reiseliteratur im Positiven wie im Negativen.