Wilhelm Müller und die deutschen Philhellenismen

  • Veröffentlicht 24.01.23

Wer war Wilhelm Müller und wie wurde er zum „Griechen-Müller“? Welche Imaginations- und Ausdrucksformen bestimmten sein philhellenisches Engagement? Inwiefern lässt sich dieses Engagement als repräsentativ für seine Zeit und das Schaffen des Dichters bezeichnen, inwiefern weicht es von beiden ab? In welchen internationalen Netzwerken entwickelte sich Müllers poetische, journalistische und übersetzerische Vermittlungstätigkeit zwischen den beiden Kulturen? Welche Wirkung entfaltete er mit dieser Tätigkeit und wie wurde ihrer in Deutschland und Griechenland gedacht?

Inhalt

    Ein deutscher Philhellene und die deutschen Philhellenismen

    Der Versuch, den deutschen Philhellenismus als Pluraletantum, d.h. „als eine Summe miteinander verbundener Haltungen zu erforschen, die nur im Plural Sinn ergeben“,1So das Ziel der zwischen dem 3.  und 5. November 2021 am Centrum Modernes Griechenland ausgerichteten Konferenz Die deutschen Philhellenismen, aus der vorliegender Beitrag hervorgegangen ist. Vgl. https://www.cemog.fu-berlin.de/aktivitaeten/veranstaltungen/konferenz-philhellenismen.html.lässt sich auf unterschiedliche Weise denken: zum einen als chronologische Explikation eines Phänomens, das von der Griechenliebe der Römer über die humanistische und neuhumanistische Neuaneignung der Antike über den politischen Philhellenismus des 19. Jahrhunderts bis in die europäischen Identitätsdiskurse der Gegenwart reicht; zum anderen als die Untersuchung einer Imaginationsform, die von vornherein in der verflochtenen Perspektive verschiedener kultureller Transfers und politischer Anliegen stand.2Vgl. hierzu exemplarisch die Sammelbände von Gilbert/Agazzi/Découltot (2009) und Vöhler/Alekou/Pechlivanos (2021), die das Phänomen in dieser doppelten Perspektive erschließen. In beiden Zusammenhängen kann die philhellenische Bewegung der 1820er Jahre, in deren Folge Griechenland seine staatliche Unabhängigkeit erlangte, als ein zentraler Katalysator für die Zusammenführung der verschiedenen Strömungen angesehen werden, die den neuzeitlichen Philhellenismus prägten. Einer der bekanntesten deutschen Akteure dieser Bewegung war der Dichter, Publizist und Übersetzer Wilhelm Müller, der sich aufgrund seines vielfältigen Einsatzes zum Wohl der Griechen unter seinen Zeitgenossen den Beinamen des „Griechen-Müller“ erwarb. Der vorliegende Beitrag möchte nicht nur einen Eindruck seines vielfältigen Tätigkeitsspektrums vermitteln, sondern auch die unterschiedlichen „Philhellenismen“ beleuchten, die darin zum Ausdruck kommen.

    Der Bildungs- und Lebensweg eines deutschen Philhellenen

    Der 1794 in Dessau geborene und 1827 ebendort verstorbene Wilhelm Müller lässt sich in mancherlei Hinsicht als typischer Vertreter des deutschen Philhellenismus bezeichnen. Das gilt ebenso für seinen Ausbildungsweg wie für seine politische Sozialisation und für den literarisch-publizistischen Charakter seines philhellenischen Engagements.3Zur sozialen und ideologischen Verortung des deutschen Philhellenismus vgl. Hering, 1994, 28–42, 53–58. Aufgewachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen, schrieb sich Müller 1812 an der gerade neu gegründeten Berliner Universität ein, wo er sich neben der Klassischen Philologie vor allem dem Studium der englischen und deutschen Sprach- und Literaturgeschichte widmete. Von den unterschiedlichen Einflusssphären, in die er während dieser Jahre geriet, zeugen exemplarisch seine Lehrer Friedrich August Wolf (1759–1824) und Johann August Zeune (1778–1853). Bei dem berühmten Altphilologen Wolf erlernte Müller nicht nur sein philologisches Handwerkszeug, sondern machte auch Bekanntschaft mit dessen Vorstellungen über die mündliche Entstehung und Überlieferung der homerischen Epen. Von dem patriotisch gesinnten Germanisten Zeune ließ er sich für das nationale Kulturerbe der altdeutschen Dichtung begeistern. Die Ansichten dieser beiden Lehrer wiederum stimmten mit dem volkstümlichen Dichtungsideal zusammen, das ihm in den Kreisen der Berliner Romantik vermittelt wurde. Exemplarisch seien hier lediglich die Namen Clemens Brentano, Ludwig Tieck und Friedrich de la Motte Fouqué genannt, mit denen Müller zeitweise in enger Verbindung stand.4Die derzeit kompetenteste Darstellung zu Müllers Berliner Lehr- und Studienjahren bietet Erika von Borries, 2007, 32–68. Zu Müllers wissenschaftlicher Ausbildung und Prägung durch F. A. Wolf vgl. weiterführend Gad, 1989, 39–55.

    Die prägende politische Erfahrung jener Jahre stellte für Müller wie für viele seiner Altersgenossen die Teilnahme an den antinapoleonischen Befreiungskriegen dar, deretwegen er 1813 und 1814 sein Studium unterbrach. Die patriotische Hochstimmung dieser Tage brachte er in einer Reihe von Kriegsgedichten zum Ausdruck, die er 1816 gemeinsam mit vier weiteren Kampfgefährten in einer Sammlung unter dem Namen Bundesblüthen veröffentlichte. Wenn Müller wegen der Freiheitsattitüde dieser Gedichte alsbald in Konflikt mit der preußischen Zensur geriet,5Wie Müller in einem Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 14.2.1816 erwähnt, wurden einzelne Passagen des Bandes von der preußischen Zensur beanstandet, weil man in ihnen einen Verstoß gegen die jüngst erlassene „Verordnung wegen geheimer Bünde“ sah: „Wir beschwerten uns deswegen bei dem Zensor, aber er ließ verlauten, das Wort Freiheit käme zu oft in jenen Versen vor, und als ich ihm erwiderte: Ob denn der König nicht selbst aufgerufen hätte, für die Freiheit zu kämpfen? so meinte er: Ja, damals!“ (Müller, 1994, Bd. 5, 113).so ist dies mit Blick auf seine Karriere als „Griechen-Müller“ gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Denn einerseits ist hier bereits der politische Anspruch seiner späteren Griechenlyrik zu erkennen. Zum anderen erwächst der poetische Furor, mit dem Müller ab 1821 den Kampf der Griechen unterstützt, genau aus dem Zorn auf das restaurative Regime, das die Herrscher der Heiligen Allianz nach 1815 in ihren Ländern installierten.6Zum Zusammenhang von Müllers ‚deutscher‘ und ‚griechischer‘ Kriegslyrik vgl. Roth (2015). In einem Brief an Fouqué aus dem ersten Jahr der griechischen Erhebung fasste Müller diesen Zusammenhang in die folgenden Worte:

    Sein Sie mir nicht böse, weil ich bitter bin. Ich wollte lieber ein Loblied, als eine Satire auf die Zeit schreiben. Aber – ich kann nicht anders. Ich habe mit gekämpft, drum steht’s mir zu, auch mit zu klagen und zu zürnen. (Müller, 1994, Bd. 5, 204)

    Dass der griechische Freiheitskampf in „der deutschen Öffentlichkeit als metonymisch-metaphorischer Stellvertreterkrieg wahrgenommen“ (Polaschegg, 2005, 275) wurde, lässt sich nicht nur auf der diskursiven, sondern auch auf der performativen Ebene des zeitgenössischen Philhellenismus beobachten. So beschreibt Müller das deutsche Engagement für die aufständischen Griechen in einer Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1824 als eine primär poetische Angelegenheit:

    Aus dem Lande der Wirklichkeit flog die deutsche Begeisterung für die Freiheit der Griechen in die höheren Räume der Poesie, und Deutschland stellte sich mit der Leier in die Reihen der griechischen Kämpfer, die es mit dem Schwerte nicht verstärken durfte. In keiner Sprache ist so viel für die Sache Griechenlands geschrieben und gedichtet worden, als in der deutschen, und die Geschichte unsrer vaterländischen Poesie wird dereinst einen ganzen Reigen von Griechensängern des neunzehnten Jahrhunderts neben den Dichtern des deutschen Freiheitskrieges gegen die Franzosen aufzuzählen haben. ([Müller],10.3.1824, 233)

    Bekanntermaßen war es gerade Wilhelm Müller, der mit seinen Liedern der Griechen (1821–1826) den Reigen der zeitgenössischen deutschen „Griechensänger“ anführte, was sich nicht nur an den enthusiastischen Reaktionen aus der Presse und der literarischen Welt, sondern auch am Verkaufserfolg seiner „poetisch-politische[n] Ware“7Diese Bezeichnung wählte Müller (1994, Bd. 5, 230) selbst in einem Brief an seinen Verleger Friedrich Arnold Brockhaus vom 8.9.1822. ablesen lässt.8Zur Rezeption von Müllers Griechenlyrik in der deutschen Presse vgl. Leistner (2015); zu den Reaktionen in der literarischen Welt und dem Verkaufserfolg der Griechenlieder, deren Erlöse Müller der Sache der Griechen zukommen ließ, vgl. Czerannowski, 1994, 78–82. Allerdings hielt sich Müller in seinem Engagement für die Griechen keineswegs nur in den „höheren Räume[n] der Poesie“ auf. So gehörte der Dessauer Hofbibliothekar, der sich in den 1820er Jahren eine bürgerliche Existenz in seiner Heimatstadt aufbaute, zwar nicht zu denjenigen Enthusiasten, die Griechenland ab 1821 „mit dem Schwerte“ aufsuchten.9Einen Überblick über diese Gruppe, die sich überwiegend aus anderen Milieus als dem bildungsbürgerlichen Umfeld der „Philhellenen der Feder“ speiste, gibt Furneri (2009). Doch beteiligte er sich als Mitglied des Dresdner Griechenvereins auch ganz praktisch an der Unterstützung der „notleidenden Griechen“ und war zugleich als eifriger Wissens- und Kulturvermittler in ihrem Sinne aktiv. Die folgende Betrachtung soll einen Einblick in die unterschiedlichen Motive und Perspektiven vermitteln, mit denen sich dieses Engagement verband. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Gegensatzpaare des Alten und des Neuen, des Allgemeinen und des Besonderen sowie des Fremden und des Eigenen, anhand derer zugleich markante Denkfiguren des zeitgenössischen Philhellenismus beleuchtet werden.

    Das Alte und das Neue

    Müllers erster Kontakt mit der neugriechischen Kultur und Sprache datiert aus dem Jahr 1817. Damals hielt sich der junge Student für zwei Monate in Wien auf, um sich auf eine Forschungsreise nach Griechenland und Kleinasien vorzubereiten, wo er im Auftrag der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften antike Inschriften sammeln sollte. Wie wir aus seiner Korrespondenz und einer Anzeige der Wiener Zeitschrift Ermis o Lojios (Der gelehrte Hermes) wissen, ließ sich Müller damals von den Redakteuren dieser Zeitschrift höchstpersönlich in die Grundlagen ihrer Sprache einführen und mit Empfehlungsschreiben für den christlichen Orient ausstatten.10Wie ein Brief Müllers an seinen Lehrer Friedrich August Wolf vom 12. Oktober 1817 nahelegt, schien es der junge Reisende in Wien von vornherein auf die Bekanntschaft mit dem Kreis des Gelehrten Hermes abgesehen zu haben, von dem er dann auch seine grundlegenden Kenntnisse des Neugriechischen empfing: „Wenn mein zweimonatlicher [sic] Aufenthalt in dieser Stadt nicht allein angenehm, sondern auch für die Fortsetzung meiner Reise von dem besten Nutzen war, so bin ich Ihnen zunächst dafür verbunden. Denn, obschon Anthimus Gazes nicht in Wien ist, […] ferner Alexander Basilii als türkischer Konsul in Triest wohnt – so war mir doch der Name ihres Schulers Empfehlung genug bei allen Griechen. Der Nachfolger des Gazes, Theocletus [Farmakidis], Mitherausgeber des ‚Hermes Logius‘, übernahm die Besorgung Ihres Briefes an Alexander Basilii und schon in 8 Tagen hatte ich von letzterem eine Menge offener Empfehlungsbriefe nach allen Gegenden Griechenlands und Kleinasiens in Händen. Derselbe Theocletus, sowie der andere Herausgeber des ‚Hermes‘, Kokinakis, erboten sich mir zu Lehrern in der romäischen Sprache“ (Müller, 1994, Bd. 5, 123). Einen Abdruck des Akademiebeschlusses zu Müllers Forschungsreise sowie die Empfehlungsschreiben seines Lehrers Philipp Buttmann und der Gelehrten der Wiener Griechengemeinde liefert Lohre, 1928, 357–362.

    Das internationale Gelehrtennetzwerk um den Pariser Aufklärer und Sprachreformer Adamantios Korais (1748–1833), zu dem Müller durch die Vermittlung der Wiener Griechen Zugang erhielt, dürfte für seinen philhellenischen Werdegang nicht unerheblich gewesen sein. Das gilt sowohl für die nationalpädagogische Agenda des Blattes wie für dessen Verbindung zu den revolutionären Kreisen, die wenig später die griechische Erhebung organisieren und international dafür werben sollten.11Zur nationalpädagogischen Konzeption und dem internationalen Netzwerk der Zeitschrift vgl. Koumarianou, 1995, 88–129.

    Müllers Forschungsreise war aber auch noch aus einem anderen Grund von Bedeutung. Denn obwohl er durch eine Pestepidemie in Konstantinopel dazu genötigt wurde, seine Reiseroute von Griechenland und Kleinasien nach Italien zu verlegen, fand sein Interesse am modernen Griechenland gerade dort den fruchtbarsten Nährboden. Unter der Sonne des Südens nämlich lernte er einen Umgang mit der antiken Überlieferung kennen, der sich für seine Sicht auf die griechische Volkskultur als äußerst folgenreich erweisen sollte. So heißt es an einer Stelle seines Reiseberichtes Rom, Römer und Römerinnen (1820):

    Ich liebe das Altertum mit dem frischen Leben der neuen Welt umschlungen zu sehen. Man genießt so beides freudiger und erkennt es tiefer durch den nahen Gegensatz. Bei uns mag sich das klassische Altertum immerhin in Gelehrtenstuben und Antiquitätensälen verschließen: wir haben keinen natürlichen Boden, Luft und Leben dazu. Aber es fehlt in Rom nicht, und der Pulcinell ist nicht fremdartiger im Kolisseum als eine blauäugige Stickerin, die mit einem Strauße Vergißmeinnicht und Matthissons Elegie auf den Ruinen eines deutschen Bergschlosses sitzt. (Müller, 1994, Bd. 3, 239)

    Ins Poetische gewendet, ist es genau diese Mischung als Altem und Neuem, Erinnertem und Gegenwärtigem, die der junge Heinrich Heine meint, als er dem mittlerweile arrivierten Dichter und Literaturkritiker Wilhelm Müller 1826 bekennt, dass er zuerst bei ihm gelernt habe, „wie man aus den alten vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann“.12Heinrich Heine an Wilhelm Müller. Brief vom 7. Juni 1826. In: Heine, 1970,S. 250.

    Aber nicht nur Müllers literarischer Stil, sondern auch seine Sicht auf Griechenland sollten durch seine italienischen Reiseerfahrungen eine entscheidende Prägung erfahren. So sucht er auch hier im modernen Volksleben die Spuren des klassischen Altertums – und findet sie in der 1824-25 erschienenen Volksliedsammlung Chants populaires de la Grèce moderne des französischen Philologen Claude Fauriel. In dieser Sammlung, die er innerhalb weniger Monate nach ihrem Erscheinen ins Deutsche übersetzt,13Maufroy (2015) hat gezeigt, dass Müller als deutscher Herausgeber der Neugriechischen Volkslieder durchaus eigenständige Akzente setzte. Zu Müllers Übersetzungspraxis vgl. einstweilen Hillemann (2020). Eine eingehendere Untersuchung zu diesem Thema wurde auf der Konferenz Wilhelm Müller und die Übersetzung (Erlangen, 8.–9.10.2021) präsentiert, deren Akten derzeit in Vorbereitung sind. vermeint er „die eigenthümliche Poesie der Nachkommen eines Volkes“ zu erkennen, „das vor allen anderen in jeder Beziehung des Lebens und der Kunst ein Volk der Poesie genannt zu werden verdient.“ (Fauriel/Müller, 1825, Bd. 1, VII). Gemäß dem romantischen Diskurs seiner Zeit sieht Müller die Kontinuität des griechischen Volkslebens in der Verbindung des griechischen Nationalcharakters mit der griechischen Natur verbürgt. Die griechischen Volkslieder, die er in Anspielung auf Herder als „Stimmen der Völker“ (Fauriel/Müller, 1825, Bd. 1, XII) bezeichnet, erscheinen ihm dabei als ideales Vermittlungsmedium dieses Zusammenhangs.14Zur philhellenischen Verbindung der Volkslieder mit der griechischen Natur und der griechischen Nation vgl. Güthenke, 2008, 111–115; zur Vermittlung dieser Denkfigur in Müllers Griechenliedern vgl. ebd., S. 116–139. So bemerkt er in einem Stellenkommentar seiner deutschen Fauriel-Ausgabe: „Dieses Lied führt uns auf den heiligen Olympos, den alten Sitz der Götter, deren Stelle in der neuen Zeit die freien Räuber eingenommen haben.“15Fauriel/Müller, 1825, Bd. 1, 75. Dieser Kommentar fehlt in der Fauriel-Ausgabe, stammt also offenbar von Müller selbst. Vgl. Fauriel, 1824, 29–31.

    Von der gleichen romantischen Sichtweise wie seine Neugriechischen Volkslieder sind auch Müllers eigene Lieder der Griechen beherrscht, in denen sich der Dichter die Form des „Rollengedichtes“ zunutze macht, um seinem Publikum das griechische Volk in einer „nach Landschaften, Volkscharakteren und Altersklassen geordnete[n] Reihe“ (Hartung, 1996, 91) vor Augen zu stellen. Wenn er sich hierbei immer wieder auf antike Schauplätze, Begebenheiten und Heldenfiguren bezieht, so bewegt er sich damit zwar in der etablierten Bildwelt der zeitgenössischen Philhellenenliteratur.16Zur antiken Topik der philhellenischen Literatur vgl. Löbker (1998). Dies geschieht allerdings in der Überzeugung, dass der „Geist der alten Welt“ nicht „in Steinen“, sondern in den „freien Waffen“ der Griechen wohne, womit sich Müller dezidiert gegen den klassizistischen Antikekult vieler Zeitgenossen wendet. So heißt es in einem seiner Griechengedichte: „Laßt die alten Tempel stürzen! In uns ist der alte Geist, / Der uns einen neuen Tempel, einen ewigen verheißt“ (Fauriel/Müller, 1994, Bd. 1, 262). Den Ort, an dem dieser Geist nach wie vor lebendig sei, findet Müller nicht bei den „Feldbewohnern“ und in den „grauen Mauertrümmern“, sondern in der griechischen Natur, den unzugänglichen Insel- und Bergregionen, deren wilde Einwohner damals wie heute die alte „Lebensluft“ der Freiheit atmeten (Müller, 1994, Bd. 1, 245).

    Das Allgemeine und das Besondere

    Dasselbe performative Verständnis der Antike als eines lebendigen Handlungsvollzugs vermittelt Müller auch in den zahlreichen Pressebeiträgen über Griechenland, die er zwischen 1821 und 1826 in diversen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht.17Zu diesem Aspekt von Müllers philhellenischer Aktivität vgl. ausführlicher Hillemann (2015). Zu den Presseorganen, mit denen Müller in diesem Zusammenhang zusammenarbeitet, gehören u.a. das Literarische Conversations-Blatt aus Leipzig und das Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände, deren Besitzer Friedrich Arnold Brockhaus und Johann Friedrich Cotta für ihre liberale Gesinnung und ihr philhellenisches Engagement bekannt waren. Es ist sicher kein Zufall, dass dieselben Verleger sich auch besonders für die Vermittlung von Müllers Griechenlyrik engagierten. Vgl. Leistner, 2015, 190.

    In diesen Beiträgen, die zumeist auf der Besprechung aktueller Bucherscheinungen über Griechenland und den griechischen Freiheitskampf beruhen, versucht er nicht nur, seine Leser mit der griechischen Kultur und Zeitgeschichte bekannt zu machen, sondern auch in moralischer Hinsicht für die Griechen einzunehmen. Hierbei fungiert die Antike als ein ethischer Horizont, der die griechische Wiedergeburt als welthistorisches Ereignis signifiziert. So heißt es in der Totenrede des Spyridon Trikoupis, die Müller 1824 aus Anlass der Nachricht vom Tod Lord Byrons in Messolongi kolportiert: „Meine Freunde, die Wiedergeburt Griechenlands ist nicht allein eine Epoche für unser Volk, nein, für alle Völker. Denn sie ist eine Erscheinung, welche einzig dasteht in der politischen Geschichte der Welt“.18Wie ein Vergleich mit dem erstmals 1824 erschienenen, 1829 erneut in einem Sammelband mit Reden von Spyridon Trikoupis erneut abgedruckten Text zeigt, weist Müllers Übersetzung im Vergleich zum griechischen Original einige bedeutende Abweichungen auf (vgl. den Kommentar der Übersetzerin in der griechischen Sprachversion des vorliegenden Essays, wo der griechische Text nach dem Wiederabdruck von 1829 zitiert wird). Auch wenn unklar ist, ob Müllers Übersetzung auf Grundlage des griechischen Originals oder z.B. anhand einer französischen oder englischen Übersetzung erfolgte, ist es doch immerhin bezeichnend für den deutschen philhellenischen Diskurs und dessen politische Positionierung, dass die griechische „Revolution“ (επανάστασις) hier als „Wiedergeburt“ übersetzt wird. (Trikoupis, 18.08.1824, 758) Die Rede von der griechischen „Wiedergeburt“ erlaubt es Müller in seinen Berichten, das politische Geschehen des Unabhängigkeitskrieges an das vermeintlich universelle Kulturerbe der griechischen Antike anzukoppeln. So bezeichnet er etwa die griechischen Kriegstaten als „würdig, eine neue Ilias hervorzurufen“ ([Müller], 27.9.1824, Z. 1521), den griechischen Freiheitskämpfer Markos Botsaris als „Leonidas des wiedergeborenen Griechenlands“ (Müller, 11.10.1824, Z. 1601). Auf dieser Grundlage vermag Müller die singulären Ereignisse des Krieges als Wegmarken eines historischen Prozesses zu kennzeichnen, dessen Zielrichtung bereits als bekannt vorausgesetzt werden kann. So versieht er die kritischen Anmerkungen des französischen Marineoffiziers Olivier Voutier über „die Ausschweifungen eines rohen Volks, das nur erst seine Ketten zerbrochen hat“, mit dem optimistischen Zusatz: „allein der Sieg der Freiheit veredelt die wildesten Menschen“ (LCB, Nr. 74, 27. März 1824, 296).

    Mit dieser allgemeingültigen Deutung im Ton von Schillers „Freiheitsevangelium“ deutet Müller zugleich seine Distanz vom humanistischen Philhellenismus der Weimarer Klassik an. Denn wenn Schiller in seinem bekannten Gedicht über Die Worte des Glaubens den „Sklaven, wenn er die Kette bricht“ dem „freien Menschen“ (Schiller, 2004, 215) geradezu entgegenstellt, fängt für Müller die moralische Befreiung des Menschen überhaupt erst mit dessen politischer Befreiung an. Ebenso quer steht seine Griechenliebe aber auch zu dem kosmopolitischen Griechentum eines Johann Wolfgang Goethe, der wie Müller griechische Volkslieder übersetzt und diese in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum als grenzüberschreitende „Weltpoesie“ präsentiert.19Zu Goethes entsprechender Aneignung griechischer Volkslieder vgl. Kambas (2008). Eine vergleichende Untersuchung von Goethes und Müllers Übersetzungstechnik unternimmt Hillemann (2020), vgl. hierzu auch Anm. 13. Wenn Müller Goethes klassisch-universalistischen Übersetzungsstil, in dem etwa die griechischen Dörfer zu „Gefilden“ oder die Kleften zu „Kämpfern“ verallgemeinert werden, ausdrücklich missbilligt, so hat das damit zu tun, dass der Wert der griechischen Volkslieder für ihn gerade in der „kraftvoll ausgesprochene[n] Nationalität des Volksgesanges“ (Müller, Januar 1825, 54) liegt. Dass die Dichtung überhaupt für Müller ihren Wert erst durch die lebendige Aussprache der Gegenwart gewinne, unterstreicht er in einer Rezension verschiedener Griechendichtungen, in der er u.a. dem Hölderlin-Schüler Wilhelm Waiblinger attestiert, „mit Griechenlands Freiheit ein zu freies poetisches Spiel“ zu treiben. Waiblingers Griechenliedern, die er expressis verbis als „Nachahmungen Goethe’scher Poesie“ kenntlich macht, fehle es demnach sowohl an den „griechischen Farben“ wie an „der Kraft und Fülle der Begeisterung, welche ihr erhebender Gegenstand wol erwecken müßte“ (Müller, 10.3.1824, 234). Dem vermeintlichen Vorbild von Waiblingers Dichtung indessen waren Müllers eigene Griechenlieder offenbar etwas zu lebendig und konkret. So soll sich Goethe gegenüber der Schriftstellerin und Übersetzerin serbischer Volkslieder Therese von Jakob über Müllers Dichtung wie folgt mokiert haben: „Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot! Lorbeern her! Blut! Blut! […] das ist noch keine Poesie“.20Die von Jacob selbst kolportierte Aussage wird hier zitiert nach Müller, 1994, Bd. 1, 314.

    Das Fremde und das Eigene

    Aus heutiger Sicht werden wir uns vermutlich diesem Urteil anschließen oder zumindest irritiert über die mordlustige Rhetorik von Müllers Griechenliedern sein, in denen allenthalben von Rache, Blut und Tod die Rede ist. Noch merkwürdiger ist aber die Tatsache, dass Müller selbst in seiner übrigen Dichtung ganz andere Töne anschlägt, etwa in den zeitgleich entstandenen und durch Schuberts Vertonungen weltberühmt gewordenen Gedichtzyklen Die schöne Müllerin und Die Winterreise. Auf welche Weise diese Dichtungen dennoch mit Müllers Griechenliedern zusammenklingen, wurde bereits mit Blick auf die politischen Zeiterfahrungen des ehemaligen deutschen Freiheitskämpfers angedeutet. Demzufolge könnte es sich bei der Todessehnsucht des liebeskranken Müllerburschen und des einsamen Wanderers womöglich um die emotionale Kehrseite des kriegerischen Furors handeln, den Müller in seinen Griechenliedern zur Schau stellt.21Einen entsprechenden Versuch, den Winterreise-Zyklus im Rahmen der gesellschaftlich-politischen „Stimmungslage“ der Restaurationszeit zu kontextualisieren, unternimmt etwa Gad, 1989, 119–141.

    Ein ästhetisches Vorbild für den nihilistischen Weltschmerz, den er in seiner Winterreise zur Schau stellt, konnte Müller in Lord Byron finden, mit dem er sich sowohl als Literaturkritiker wie als Dichter fortwährend auseinandersetzte.22Vgl. Gad, 1989, 75–84. Zu Müllers philhellenischer Byron-Rezeption vgl. Hillemann (2021). Müllers Beschäftigung mit Byron reicht bis in die frühen 1820er Jahre zurück und lässt sich neben der Übersetzung eines englischsprachigen Byron-Aufsatzes für die Brockhaus-Zeitschrift Hermes (1821) und einer von ihm selbst verfassten Byron-Biographie (1825) u.a. an mehreren literaturkritischen Artikeln ablesen, die zwischen 1821–1825 in verschiedenen Zeitschriften erschienen. An die Stelle von Müllers anfangs teilweise durchaus kritischer Haltung gegenüber dem literarischen Werk des britischen Romantikers trat ab dem Jahr 1823, in dem Byron von Italien nach Griechenland übersetzte, zunehmend die Bewunderung für dessen praktisches Engagement im Dienste des griechischen Freiheitskampfes.

    Wenn er diesen in seiner Dichtung als „Held der Leier“ (Müller, 1994, Bd. 1, 230) preist, so bezieht er sich damit freilich auf Byrons praktische Unterstützung des griechischen Freiheitskampfes, die er in seiner 1825 erschienenen Biographie des britischen Dichters als dessen ultimatives Lebensziel darstellt.23Die große Byron-Biographie, die durch Byrons Engagement im griechischen Freiheitskampf und dessen Tod im April 1824 ein außerordentliches öffentliches Interesse auf sich zu ziehen versprach, verfasste Müller auf Wunsch seines Verlegers Heinrich Brockhaus. Sie erschien im Mai 1825 als Heft Nr. XVII der Reihe Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. Zu den inneren Beweggründen von Byrons Griechenland-Expedition heißt es dort: „Wenn irgendetwas wahr in Byrons Leben und Werken ist, so scheint kein Gefühl es mehr zu sein, als seine Liebe für Griechenland und für die Freiheit. Jedes Gefühl allein hätte ihn zu dem Entschlusse bestimmen können, welcher sein Leben und seinen Tod verherrlicht hat: wieviel mehr beide!“ (Müller, 1994, Bd. 4, 254).

    Beeindruckt zeigt er sich aber auch von der poetischen Art und Weise, in der Byron, etwa in Childe Harold’s Pilgrimage oder Don Juan, Griechenland zu einer Seelenlandschaft der modernen Selbstentfremdung werden lässt. Müllers 1823 erschienenes Dramenfragment Leo, Admiral von Cypern gibt sich als Versuch zu erkennen, Byrons melancholischen Philhellenismus für die eigene Dichtung produktiv zu machen. Die fingierte Handlung des Stückes führt uns in das mittelalterliche Königreich Zypern, dessen christliche Bevölkerung sich im Krieg mit dem muslimischen Sultanat Ägypten befindet. Der Protagonist wurde als Findelkind von dem ägyptischen Seeräuber Abu Abdallah großgezogen, dem er in der Gegenwart des Stückes als Admiral der zypriotischen Flotte wiederbegegnet. Das Geheimnis seiner Herkunft und seine widersprüchlichen Loyalitätsgefühle lassen Leo zu einem Heimatlosen werden, der sich trotz seiner ganzvollen militärischen Laufbahn als Ausgestoßener fühlt: „Ein Fremdling bin ich stets der Welt gewesen / und mir […] Keine Bande knüpfen / An ein Geschlecht mich, oder an ein Volk, / An eine Stadt, ein Land, an einen Boden“ (Müller, 16.05.1823, 305f.) Inwiefern auch Müller selbst sich als einen „Fremdling“ im eigenen Land empfand, verbleibt im Bereich der Spekulation. Fest steht allerdings, dass er in seiner Griechenlyrik häufig genug die Seiten wechselt und, indem er aus dem Munde der Griechen spricht, die eigenen Landsleute zu „Fremden“ erklärt. So heißt es etwa in den Eingangszeilen von Griechenlands Hoffnung: „Brüder, schaut nicht in die Ferne nach der Fremden Schutz hinaus, / Schaut, wenn ihr wollt sicher schauen, nur in euer Herz und Haus“ (Müller, 1994, Bd. 1, 226); in Die Griechen an die Freunde ihres Altertums werden die Fremden selbst angesprochen: „Das Alt’ ist neu geworden, die Fern ist euch so nah, / Was ihr erträumt so lange, leibhaftig steht es da“ (Müller, 1994, Bd. 1, 219).

    Was da genau in der Gestalt der Griechen für ihn „leibhaftig“ wurde, führte Müller nicht nur in seiner Griechenlyrik aus. Wie gezeigt werden sollte, ging es ihm in seinem philhellenischen Engagement sowohl um politische wie um kulturelle Werte, um bürgerliche und nationale Freiheit ebenso wie um die lebendige Volkskultur einer vermeintlich naturgewachsenen Gemeinschaft. Dass die Griechen für ihn zur Projektionsfläche all dieser Idealvorstellungen wurden, hat sowohl mit Müllers klassisch-philologischer Bildung wie mit seinem gesellschaftlich-politischen Wirkungsumfeld, aber auch mit der romantischen Weltanschauung seiner Zeit zu tun. Ebenso vielfältig wie die Motive und Entstehungszusammenhänge sind auch die Ausdrucksformen von Müllers Philhellenismus, unter denen wir neben seiner politischen Griechenlyrik und seinem byronischen Dramenexperiment auch seine publizistische und übersetzerische Tätigkeit betrachtet haben. Wilhelm Müller kann somit als einer der produktivsten, vielseitigsten und damit repräsentativsten deutschen Philhellenen der Feder bezeichnet werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass gerade dieser Philhellene, der so viele Herzen für die Sache der Griechen erwärmte, drei Wochen vor der kriegsentscheidenden Seeschlacht von Navarino an einem Herzinfarkt verstarb. Vielleicht hätte er es uns aber erlaubt, das Urteil, das er in seinem Lebensbild über den früh verstorbenen Lord Byron ausspricht, auf ihn selbst zu übertragen: „er suchte ein Vaterland in der Fremde; er suchte Ruhe in der Unruhe, Frieden im Kampfe – und fand alles, was ihm im Leben gefehlt hatte, im Tode“ (Müller, 1994, Bd. 4, 274). Hierzu noch ein paar abschließende Worte.

    Nachklänge und Überkreuzungen

    Dass sich Wilhelm Müllers Griechenlyrik im Land ihrer Bestimmung selbst lange Zeit einer relativ geringen Bekanntheit erfreute, ist sicher auch dem langen Schatten seines poetisch-biographischen Vorbilds Lord Byron geschuldet.24Zur griechischen Rezeption Wilhelm Müllers vgl. Antonopoulou (2015). Demzufolge wurde Müller in Griechenland bis in die jüngste Vergangenheit, wenn überhaupt, primär als romantischer Dichter der Winterreise wahrgenommen. Im Zuge des 200-jährigen Jubiläums seit dem Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges deutet sich allerdings eine „Neuentdeckung“ des „Griechen-Müller“ an. So ist Müller etwa in der 2021 erschienenen, im Auftrag der Takis-Sinopoulos-Stiftung von Thanasis Galanakis herausgegebenen Anthologie Χαίρε, ω χαίρε, Ελευθεριά! Ο Αγώνας του 1821 στην ελληνική και ξένη ποίηση [Sei gegrüßt, o sei gegrüßt, Freiheit! Der Unabhängigkeitskrieg von 1821 in der griechischen und internationalen Dichtung] mit 11 Griechenliedern vertreten und nimmt damit unter den 43 in dieser Sammlung erfassten nichtgriechischen Autorinnen und Autoren (u.a. Byron, Goethe, Hugo, Puschkin) den größten Raum ein.

    Doch wurde Müllers philhellenisches Engagement auch von griechischer Seite bereits im 19. Jahrhundert anerkannt und gewürdigt. So wurde etwa das Anliegen des 1883 ins Leben gerufenen Komitees zur Errichtung eines Wilhelm-Müller-Denkmals in Müllers Heimatstadt Dessau nicht nur durch höchste griechische Staats- und Bildungsinstitutionen wie die griechische Gesandtschaft zu Berlin und die Athener Universität, sondern auch durch die griechische Regierung gefördert, die hierfür den gesamten Marmor stiftete.25Zum Dessauer Müller-Denkmal und dem Beitrag Griechenlands zu dessen Errichtung vgl. Hosäus (1891) und Leistner (2006). Hosäus’ Aufstellung der auswärtigen Mitglieder des Denkmalkomitees (S. 2f.) sind u.a. die Namen des damaligen griechischen Gesandten zu Berlin Alexandros Rizos Rangavis (1809–1892) und des Athener Universitätsprofessors Athanassios Roussopoulos (1823–1898) zu entnehmen. Zu den öffentlichen Institutionen und deren Vertretern, die sich an der Denkmalerrichtung beteiligten, wird neben der Athener Universität, dem griechischen Staatsministerium und der Berliner Gesandtschaft, seit 1897 vertreten durch Angelos Vlachos (1838–1920), auch das griechische Königshaus selbst gezählt (S. 4). Unter den privaten Förderern wird schließlich der Beitrag der Triester Griechengemeinde besonders hervorgehoben (ebd.). Wie der Herausgeber der 1891 zur feierlichen Enthüllung des Dessauer Müller-Denkmals (Abb. 1) erschienenen Festbroschüre betonte, handelte es sich bei dem durch den Dessauer Hofbildhauer Hermann Schubert (1831–1917) realisierten Standbild überhaupt um das erste auf deutschem Boden errichtete Denkmal aus griechischem Marmor (Hosäus, 1891, 4). Von dem „innigen Bunde“ zwischen Deutschland und Griechenland (ebd.), der in dieser Geste zum Ausdruck gebracht werden sollte, zeugt auch dessen Symbolik. So ist auf der Rückseite des aus lakonischem Marmor gefertigten Sockels die folgende Inschrift (Abb. 2) zu lesen.

    ΤΩι ΤΗΣ ΕΛΛΗΝΙΚΗΣ ΕΛΕΥΘΕΡΙΑΣ ΑΟΙΔΩι
    ΤΟΝ ΛΙΘΟΝ ΕΚ ΤΩΝ ΑΤΤΙΚΩΝ ΚΑΙ ΛΑΚΟΝΙΚΩΝ ΛΑΤΟΜΕΙΩΝ
    Η ΕΛΛΑΣ ΕΥΓΝΩΜΟΝΟΥΣΑ26In deutscher Übersetzung: „Dem Sänger der griechischen Freiheit / den Stein aus den attischen und lakonischen Steinbrüchen / das dankbare Hellas“.

    Die Materialität und das archaisierende Idiom dieser Inschrift legen ein ebenso beredtes Zeugnis über die klassizistischen Grundzüge der deutschen Fremd- wie der griechischen Eigenperspektive auf das staatliche Gebilde ab, das zum Anfang des Jahrhunderts aus dem Zusammenwirken von Hellenen und Philhellenen hervorgegangen war. Eine entsprechende Verflechtung der Perspektiven lässt sich auch mit Blick auf das aus attischem Marmor gefertigte Denkmal-Mittelstück bemerken, dessen Seitenreliefs die vier Genien von Müllers künstlerischem und wissenschaftlichem Schaffen abbilden (Vorderseite: Poesie, Rückseite: Wissenschaft, links: Deutschland, rechts: Hellas). Das durch eine Frauengestalt im antikisierenden Gewand personifizierte Griechenland, das sich hier „das Kreuz mit der Linken ans Herz drückend, mit der Rechten das Schwert schwingend“ aus der „türkischen Knechtschaft“ (Hosäus, 1891, 31) emporhebt (Abb. 3), wirkt wie eine zarte Schwester der wehrhaften Germania (Abb. 4), die auf der gegenüberliegenden Seite ihren Harnisch zeigt. Wenn Hosäus zu letzterer anmerkt, dass hier das Deutschland abgebildet sei, „wie es 1813 im Geiste der Freiheitskämpfer, zu denen ja unser Dichter gehörte“ abgebildet sei, „einheitlich, stark, sicher sich vom Boden erhebend, gewappnet gegen jeden Feind“ (Hosäus, 1891, 31), so zieht er damit nicht nur eine Verbindungslinie zu dem von Müller unterstützten Freiheitskampf der Griechen, sondern ebenso zu der einige Jahrzehnte später mit Waffengewalt gegen Frankreich erstrittenen deutschen Einigung von 1870/71.

    Zur gleichen Zeit, zu der man Müller in seiner Heimatstadt ein antikisierendes Denkmal aus griechischem Marmor errichtete, beschloss die Athener Stadtverwaltung, eine zentrale Straße, die heute im Stadtteil Metaxourgeiou gelegene odos Myllerou, nach dem deutschen Philhellenen zu benennen (Abb. 5).27Zur wechselhaften Geschichte dieser Straße vgl. Stampoulou (2015). Da vielen Einwohnerinnen und Besuchern der griechischen Hauptstadt heute nicht mehr klar sein dürfte, wer sich hinter dem Namensgeber dieser Straße verbirgt, bemüht sich die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft Berlin seit einigen Jahren um die lokale Anbringung entsprechender Informationstafeln, ein Anliegen, das trotz mehrerer Anfragen bei der Athener Stadtverwaltung bis zum Abschluss dieses Textes (Sommer 2022) leider erfolglos geblieben ist. Auf diese Weise erhielt der deutsche Philhellene neben einem gräzisierten Antlitz auch einen griechischen Namen und fand sich solchermaßen in eine illustre Reihe internationaler Philhellenen gestellt, derer bis heute im Stadtbild der griechischen Hauptstadt gedacht wird – unter ihnen nicht zuletzt der große Lord Byron oder „Vyronas“ , nach dem standesgemäß ein ganzer Stadtteil benannt wurde. Wie sich in der Überkreuzung dieser beiden Erinnerungsgesten zeigt, waren der Philhellenismus und seine Protagonisten, die im Neuen das Alte, im Besonderen das Allgemeine, im Fremden das Eigene suchten, zu diesem Zeitpunkt bereits selbst zu höchst produktiven Projektions- und Repräsentationsfeldern der deutsch-griechischen Erinnerungskultur bzw. Erinnerungspolitik geworden. Wenn es im vorliegenden Beitrag darum ging, am Beispiel Wilhelm Müllers die Pluralität philhellenischer Handlungs- und Imaginationsformen zu erörtern, so deutet sich hier eine weitere vielversprechende Forschungsperspektive an, welche die pluralen Erinnerungsformen an den Philhellenismus und deren wechselnde Funktionen in der Geschichte der deutsch-griechischen Verflechtungen zum Gegenstand ihres Interesses macht.

    Einzelnachweise

    • 1
      So das Ziel der zwischen dem 3.  und 5. November 2021 am Centrum Modernes Griechenland ausgerichteten Konferenz Die deutschen Philhellenismen, aus der vorliegender Beitrag hervorgegangen ist. Vgl. https://www.cemog.fu-berlin.de/aktivitaeten/veranstaltungen/konferenz-philhellenismen.html.
    • 2
      Vgl. hierzu exemplarisch die Sammelbände von Gilbert/Agazzi/Découltot (2009) und Vöhler/Alekou/Pechlivanos (2021), die das Phänomen in dieser doppelten Perspektive erschließen.
    • 3
      Zur sozialen und ideologischen Verortung des deutschen Philhellenismus vgl. Hering, 1994, 28–42, 53–58.
    • 4
      Die derzeit kompetenteste Darstellung zu Müllers Berliner Lehr- und Studienjahren bietet Erika von Borries, 2007, 32–68. Zu Müllers wissenschaftlicher Ausbildung und Prägung durch F. A. Wolf vgl. weiterführend Gad, 1989, 39–55.
    • 5
      Wie Müller in einem Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 14.2.1816 erwähnt, wurden einzelne Passagen des Bandes von der preußischen Zensur beanstandet, weil man in ihnen einen Verstoß gegen die jüngst erlassene „Verordnung wegen geheimer Bünde“ sah: „Wir beschwerten uns deswegen bei dem Zensor, aber er ließ verlauten, das Wort Freiheit käme zu oft in jenen Versen vor, und als ich ihm erwiderte: Ob denn der König nicht selbst aufgerufen hätte, für die Freiheit zu kämpfen? so meinte er: Ja, damals!“ (Müller, 1994, Bd. 5, 113).
    • 6
      Zum Zusammenhang von Müllers ‚deutscher‘ und ‚griechischer‘ Kriegslyrik vgl. Roth (2015).
    • 7
      Diese Bezeichnung wählte Müller (1994, Bd. 5, 230) selbst in einem Brief an seinen Verleger Friedrich Arnold Brockhaus vom 8.9.1822.
    • 8
      Zur Rezeption von Müllers Griechenlyrik in der deutschen Presse vgl. Leistner (2015); zu den Reaktionen in der literarischen Welt und dem Verkaufserfolg der Griechenlieder, deren Erlöse Müller der Sache der Griechen zukommen ließ, vgl. Czerannowski, 1994, 78–82.
    • 9
      Einen Überblick über diese Gruppe, die sich überwiegend aus anderen Milieus als dem bildungsbürgerlichen Umfeld der „Philhellenen der Feder“ speiste, gibt Furneri (2009).
    • 10
      Wie ein Brief Müllers an seinen Lehrer Friedrich August Wolf vom 12. Oktober 1817 nahelegt, schien es der junge Reisende in Wien von vornherein auf die Bekanntschaft mit dem Kreis des Gelehrten Hermes abgesehen zu haben, von dem er dann auch seine grundlegenden Kenntnisse des Neugriechischen empfing: „Wenn mein zweimonatlicher [sic] Aufenthalt in dieser Stadt nicht allein angenehm, sondern auch für die Fortsetzung meiner Reise von dem besten Nutzen war, so bin ich Ihnen zunächst dafür verbunden. Denn, obschon Anthimus Gazes nicht in Wien ist, […] ferner Alexander Basilii als türkischer Konsul in Triest wohnt – so war mir doch der Name ihres Schulers Empfehlung genug bei allen Griechen. Der Nachfolger des Gazes, Theocletus [Farmakidis], Mitherausgeber des ‚Hermes Logius‘, übernahm die Besorgung Ihres Briefes an Alexander Basilii und schon in 8 Tagen hatte ich von letzterem eine Menge offener Empfehlungsbriefe nach allen Gegenden Griechenlands und Kleinasiens in Händen. Derselbe Theocletus, sowie der andere Herausgeber des ‚Hermes‘, Kokinakis, erboten sich mir zu Lehrern in der romäischen Sprache“ (Müller, 1994, Bd. 5, 123). Einen Abdruck des Akademiebeschlusses zu Müllers Forschungsreise sowie die Empfehlungsschreiben seines Lehrers Philipp Buttmann und der Gelehrten der Wiener Griechengemeinde liefert Lohre, 1928, 357–362.
    • 11
      Zur nationalpädagogischen Konzeption und dem internationalen Netzwerk der Zeitschrift vgl. Koumarianou, 1995, 88–129.
    • 12
      Heinrich Heine an Wilhelm Müller. Brief vom 7. Juni 1826. In: Heine, 1970,S. 250.
    • 13
      Maufroy (2015) hat gezeigt, dass Müller als deutscher Herausgeber der Neugriechischen Volkslieder durchaus eigenständige Akzente setzte. Zu Müllers Übersetzungspraxis vgl. einstweilen Hillemann (2020). Eine eingehendere Untersuchung zu diesem Thema wurde auf der Konferenz Wilhelm Müller und die Übersetzung (Erlangen, 8.–9.10.2021) präsentiert, deren Akten derzeit in Vorbereitung sind.
    • 14
      Zur philhellenischen Verbindung der Volkslieder mit der griechischen Natur und der griechischen Nation vgl. Güthenke, 2008, 111–115; zur Vermittlung dieser Denkfigur in Müllers Griechenliedern vgl. ebd., S. 116–139.
    • 15
      Fauriel/Müller, 1825, Bd. 1, 75. Dieser Kommentar fehlt in der Fauriel-Ausgabe, stammt also offenbar von Müller selbst. Vgl. Fauriel, 1824, 29–31.
    • 16
      Zur antiken Topik der philhellenischen Literatur vgl. Löbker (1998).
    • 17
      Zu diesem Aspekt von Müllers philhellenischer Aktivität vgl. ausführlicher Hillemann (2015). Zu den Presseorganen, mit denen Müller in diesem Zusammenhang zusammenarbeitet, gehören u.a. das Literarische Conversations-Blatt aus Leipzig und das Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände, deren Besitzer Friedrich Arnold Brockhaus und Johann Friedrich Cotta für ihre liberale Gesinnung und ihr philhellenisches Engagement bekannt waren. Es ist sicher kein Zufall, dass dieselben Verleger sich auch besonders für die Vermittlung von Müllers Griechenlyrik engagierten. Vgl. Leistner, 2015, 190.
    • 18
      Wie ein Vergleich mit dem erstmals 1824 erschienenen, 1829 erneut in einem Sammelband mit Reden von Spyridon Trikoupis erneut abgedruckten Text zeigt, weist Müllers Übersetzung im Vergleich zum griechischen Original einige bedeutende Abweichungen auf (vgl. den Kommentar der Übersetzerin in der griechischen Sprachversion des vorliegenden Essays, wo der griechische Text nach dem Wiederabdruck von 1829 zitiert wird). Auch wenn unklar ist, ob Müllers Übersetzung auf Grundlage des griechischen Originals oder z.B. anhand einer französischen oder englischen Übersetzung erfolgte, ist es doch immerhin bezeichnend für den deutschen philhellenischen Diskurs und dessen politische Positionierung, dass die griechische „Revolution“ (επανάστασις) hier als „Wiedergeburt“ übersetzt wird.
    • 19
      Zu Goethes entsprechender Aneignung griechischer Volkslieder vgl. Kambas (2008). Eine vergleichende Untersuchung von Goethes und Müllers Übersetzungstechnik unternimmt Hillemann (2020), vgl. hierzu auch Anm. 13.
    • 20
      Die von Jacob selbst kolportierte Aussage wird hier zitiert nach Müller, 1994, Bd. 1, 314.
    • 21
      Einen entsprechenden Versuch, den Winterreise-Zyklus im Rahmen der gesellschaftlich-politischen „Stimmungslage“ der Restaurationszeit zu kontextualisieren, unternimmt etwa Gad, 1989, 119–141.
    • 22
      Vgl. Gad, 1989, 75–84. Zu Müllers philhellenischer Byron-Rezeption vgl. Hillemann (2021). Müllers Beschäftigung mit Byron reicht bis in die frühen 1820er Jahre zurück und lässt sich neben der Übersetzung eines englischsprachigen Byron-Aufsatzes für die Brockhaus-Zeitschrift Hermes (1821) und einer von ihm selbst verfassten Byron-Biographie (1825) u.a. an mehreren literaturkritischen Artikeln ablesen, die zwischen 1821–1825 in verschiedenen Zeitschriften erschienen. An die Stelle von Müllers anfangs teilweise durchaus kritischer Haltung gegenüber dem literarischen Werk des britischen Romantikers trat ab dem Jahr 1823, in dem Byron von Italien nach Griechenland übersetzte, zunehmend die Bewunderung für dessen praktisches Engagement im Dienste des griechischen Freiheitskampfes.
    • 23
      Die große Byron-Biographie, die durch Byrons Engagement im griechischen Freiheitskampf und dessen Tod im April 1824 ein außerordentliches öffentliches Interesse auf sich zu ziehen versprach, verfasste Müller auf Wunsch seines Verlegers Heinrich Brockhaus. Sie erschien im Mai 1825 als Heft Nr. XVII der Reihe Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. Zu den inneren Beweggründen von Byrons Griechenland-Expedition heißt es dort: „Wenn irgendetwas wahr in Byrons Leben und Werken ist, so scheint kein Gefühl es mehr zu sein, als seine Liebe für Griechenland und für die Freiheit. Jedes Gefühl allein hätte ihn zu dem Entschlusse bestimmen können, welcher sein Leben und seinen Tod verherrlicht hat: wieviel mehr beide!“ (Müller, 1994, Bd. 4, 254).
    • 24
      Zur griechischen Rezeption Wilhelm Müllers vgl. Antonopoulou (2015). Demzufolge wurde Müller in Griechenland bis in die jüngste Vergangenheit, wenn überhaupt, primär als romantischer Dichter der Winterreise wahrgenommen. Im Zuge des 200-jährigen Jubiläums seit dem Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges deutet sich allerdings eine „Neuentdeckung“ des „Griechen-Müller“ an. So ist Müller etwa in der 2021 erschienenen, im Auftrag der Takis-Sinopoulos-Stiftung von Thanasis Galanakis herausgegebenen Anthologie Χαίρε, ω χαίρε, Ελευθεριά! Ο Αγώνας του 1821 στην ελληνική και ξένη ποίηση [Sei gegrüßt, o sei gegrüßt, Freiheit! Der Unabhängigkeitskrieg von 1821 in der griechischen und internationalen Dichtung] mit 11 Griechenliedern vertreten und nimmt damit unter den 43 in dieser Sammlung erfassten nichtgriechischen Autorinnen und Autoren (u.a. Byron, Goethe, Hugo, Puschkin) den größten Raum ein.
    • 25
      Zum Dessauer Müller-Denkmal und dem Beitrag Griechenlands zu dessen Errichtung vgl. Hosäus (1891) und Leistner (2006). Hosäus’ Aufstellung der auswärtigen Mitglieder des Denkmalkomitees (S. 2f.) sind u.a. die Namen des damaligen griechischen Gesandten zu Berlin Alexandros Rizos Rangavis (1809–1892) und des Athener Universitätsprofessors Athanassios Roussopoulos (1823–1898) zu entnehmen. Zu den öffentlichen Institutionen und deren Vertretern, die sich an der Denkmalerrichtung beteiligten, wird neben der Athener Universität, dem griechischen Staatsministerium und der Berliner Gesandtschaft, seit 1897 vertreten durch Angelos Vlachos (1838–1920), auch das griechische Königshaus selbst gezählt (S. 4). Unter den privaten Förderern wird schließlich der Beitrag der Triester Griechengemeinde besonders hervorgehoben (ebd.).
    • 26
      In deutscher Übersetzung: „Dem Sänger der griechischen Freiheit / den Stein aus den attischen und lakonischen Steinbrüchen / das dankbare Hellas“.
    • 27
      Zur wechselhaften Geschichte dieser Straße vgl. Stampoulou (2015). Da vielen Einwohnerinnen und Besuchern der griechischen Hauptstadt heute nicht mehr klar sein dürfte, wer sich hinter dem Namensgeber dieser Straße verbirgt, bemüht sich die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft Berlin seit einigen Jahren um die lokale Anbringung entsprechender Informationstafeln, ein Anliegen, das trotz mehrerer Anfragen bei der Athener Stadtverwaltung bis zum Abschluss dieses Textes (Sommer 2022) leider erfolglos geblieben ist.

    Verwendete Literatur

    Zitierweise

    Marco Hillemann: «Wilhelm Müller und die deutschen Philhellenismen», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 24.01.23, URI : https://comdeg.eu/essay/112982/.