Einführung
Wiewohl die Nachbarschaft und langjährige politische Verbindung der Ionischen Inseln zur italienischen Halbinsel als in hohem Maße entscheidend für die Entwicklung ihrer kulturellen Dynamik angesehen wird, waren die Inseln auch unabhängig davon ein Ort, an dem sich seit jeher die Wege und Bahnen von Menschen, Ideen und Fertigkeiten kreuzten und damit die Erfahrungen des Westens und des Ostens mit den Gegebenheiten vor Ort kreativ ineinander verschmolzen. In diesem Zusammenhang hat der kommunikative Austausch zwischen den Ionischen Inseln und zeitweise aus dem deutschen Kulturraum herauswirkenden musikalischen Strömungen und Einflüssen nicht gebührende Beachtung gefunden. Zuweilen verlief diese kulturelle Begegnung ganz direkt (gewöhnlich über den italienischen Raum), zuweilen eher indirekt, während die Bedürfnisse und Interessen der jeweiligen Seite sich nicht immer trafen und je nach Epoche voneinander unterschieden. Besonders um die Wende des vorvergangenen Jahrhunderts gab es nicht nur einen Zusammenhang zwischen den deutsch-ionischen Annäherungen und der zentralen Bedeutung des deutschen kulturellen Vorbilds in Westeuropa, sondern auch mit den Positionen des griechischen Königshauses.
Die Welt der Oper
Die Aktivitäten auf dem Feld der Opernmusik, die als Hauptcharakteristikum der Kunstmusikpflege auf den Ionischen Inseln gilt, setzten höchstwahrscheinlich mit dem Werk eines sächsischen Komponisten ein, der seinerzeit im süditalienischen Raum seine Karriere begann. Bekanntlich wurde die erste Oper auf den Ionischen Inseln im Jahre 1733 auf Korfu aufgeführt, der einzigen Insel der venezianischen Levante, die über eine ständig bespielte Theaterbühne verfügte. Es handelte sich dabei um Gerone, tiranno di Siracusa (Hieron, Tyrann von Syrakus) auf ein Libretto von Aurelio Aurelli (Mavromoustakos, 1994/1995/2005)1Die diesbezügliche Aufführung blieb auch in der postum erweiterten, zweiten Auflage der Drammaturgiavon Leon Allatios nicht unbeachtet, vgl. Drammaturgia di Lione Allacci accresciutta e continuata fino all‘ anno MDCCLV, Venezia, 1755, 396., zu dem aller Wahrscheinlichkeit nach Johann Adolf Hasse (1699-1783) die Musik geschrieben hat, der zwar aus Sachsen stammte, seine Ausbildung aber in Neapel absolvierte und dort auch seine Karriere begann. Hasses Aufstieg während der 1720er Jahre in der Hauptstadt des damals von Österreich beherrschten süditalienischen Königreichs gestaltete sich außerordentlich erfolgreich, seine eben genannte Oper erlebte ihre Premiere im November 1727. Obgleich das in Lecce [Apulien] für die Aufführung auf Korfu gedruckte Libretto den Namen des Komponisten nicht anführt, muss man es für außerordentlich unwahrscheinlich halten, dass dieses Textheft zu einer älteren Vertonung gleichen Titels gehörte, deren letzte im Jahre 1700 auf die Bühne kam. Glaubhafter ist, dass man der um vieles aktuelleren Vertonung des Sachsen Hasse den Vorzug gab, der übrigens auch über direkte Beziehungen nach Venedig verfügte. Dafür spricht zumindest, dass das Werk erst fünf Jahre zuvor uraufgeführt wurde, im Rahmen des an der Antike orientierten Zeitgeistes an die Präsenz der alten Griechen in Süditalien anknüpfte und es gut möglich gewesen wäre, diese Faktoren angesichts der geographischen Nähe Korfus zu Neapel geltend zu machen.
Selbst im Zeichen des Niedergangs Venedigs sollte sich seit 1771 diese frühe Kontakterfahrung der Ionischen Inseln mit der Oper systematisch etablieren, als es (anfangs nur auf Korfu, von Beginn des 19. Jahrhunderts an aber auch auf den übrigen Inseln) zu einer fast ununterbrochenen Abfolge musikdramatischer Aufführungen kam. Getragen von der allgemeinen Popularität der Oper im 19. Jahrhundert setzte damit auf den Ionischen Inseln der direkte, prägende und dynamische Siegeszug der Musikdramatik ein, der sich bis zum Zweiten Weltkrieg fortsetzen sollte, um dann von nazideutschen Bomben, die alle baulichen Voraussetzungen für den Theaterbetrieb vernichteten, gewaltsam unterbrochen zu werden. Schon seit Ende des 18. Jahrhunderts verfügten die Ionischen Inseln über eigene Opernkomponisten, die sich hauptsächlich an der italienischen Oper orientierten. Organisatorisch wie künstlerisch erwiesen sie sich vor allem in Griechenland als maßgebende Vorbilder für die Musiktheaterpflege. In diesem Sinne war 1791 die komische Oper Gli amanti confusi ossia il brutto fortunato mit der Musik von Stefano Pojago das erste Opernwerk eines Komponisten aus Korfu; einschränkend sei angefügt, dass Pojago zwar auf Korfu zur Welt kam, sein Vater aber aus dem damals unter österreichischer Herrschaft stehenden Mailand stammte. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass das Musiktratat des Arztes Ioannis Frangkiskos Zullati aus Kefalonia Christoph Willibald Gluck unter die bedeutenden Opernschöpfer seiner Epoche einreiht (Zullati, 1787). Ebenso führt Nikolaos Mantzaros in seinem berühmten [auf Korfu erschienenen] Rapporto von 1851, dessen grundsätzlicher Bezugspunkt eigentlich die französische Oper des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist, neben zahlreichen italienischen Meistern Christoph Willibald Gluck und mit ihm Carl Maria von Weber und Mozart (jedoch nicht Beethoven) als führende Opernkomponisten an.
Auf den Bühnen der Ionischen Inseln waren auch Sängerinnen zu Gast, die in Verbindung zum deutschsprachigen Raum standen. So hatte sich 1788 und 1789 Marianna Molz Terpin von Triest her auf den Weg nach Korfu gemacht (Mavromoustakos, 1995, 177-180; Curiel, 1932), während das neu hergerichtete Theater der Insel die Opernsaison 1815 mit der in Rom tätigen Primadonna Anna Stoisman eröffnete.2Gazetta Ionia 60 (19.8.1815), 1-2.
Im selben Theater sang im Mai 1846 auf der Durchreise ins ottonische Athen die legendäre Mezzosopranistin Caroline Unger (ital. Carolina Ungher),3Gazzetta Uffiziale degli Stati Uniti delle Isole Jonie, 71 (27.04/09.05.1846), 14–16, «Nobile Teatro di San Giacomo – Corfù: La sera del 6 Maggio 1846», Album Jonio I/III (20.05.1846), 23-24, «La bocca», Album Jonio Ι/ΙX (20.07.1846), 70-71.eine der wenigen deutschsprachigen Sängerinnen ihrer Generation, der man in Italien Wertschätzung entgegenbrachte. Ebenfalls 1846 auf der Durchreise nach Athen machte der anerkannte Flötist Michael Folz, der in Italien auch als Herausgeber tätig war, mit einem Konzertauftritt auf Korfu Station.4Gazzetta Uffiziale degli Stati Uniti delle Isole Jonie, 90 (7/19.9.1846), 21 und Gazzetta Uffiziale degli Stati Uniti delle Isole Jonie 103 (7/19.12.1846), 22–23.
Zwischen den Ionischen Inseln und dem deutschsprachigen Raum war auch in umgekehrter Richtung ein Strom von Sängerinnen unterwegs, wobei die italienische Halbinsel stets als unentbehrliche Zwischenstation diente: 1846 trat die aus Korfu stammende, international renommierte Altistin Elena Angri mit großem Erfolg in Wien auf und bekam vom österreichischen Kaiser den Titel einer Kammersängerin verliehen (Koussouris, 1999; Lountzis, 2009, 395-400).
Über die eben genannten Fälle künstlerischen Kontaktes mit dem deutschsprachigen Raum hinaus sollte man nicht übersehen, dass das Publikum der Ionischen Inseln über das Opernrepertoire auch mit den Werken und der Gedankenwelt Schillers und anderer deutscher Dichter und Schriftsteller in Berührung kam. Die Rede ist hier natürlich von sämtlich auf Schillertexten basierenden Opernlibretti wie Guglielmo Tell, Maria Stuarda, I briganti, Giovanna d’Arco, I Masnadieri, Luisa Miller und Don Carlos in ihren jeweiligen Vertonungen von Rossini, Donizetti, Mercadante und Verdi (Sambanis, 2014). Auch in diesem Zusammenhang manifestiert sich insofern erneut die italienische Vermittlerrolle, als die jeweiligen Librettisten die ursprünglichen deutschen Texte gemäß der Metrik und den sonstigen Vorgaben der italienischen Oper in italienischer Sprache aufbereiteten. Einem noch darüber hinausgehenden Fall begegnen wir in der gleich zweifachen Übersetzung und Bearbeitung der auf Goethe fußenden Oper Faust von Charles Gounod, deren zunächst französischsprachige Version ins Italienische übersetzt und damit zu einem Teil des italienischen Opernrepertoires wurde. Demgegenüber hielt sich die Oper Mefistofele von Arrigo Boito, deren Libretto von vornherein auf Italienisch verfasst wurde, enger an die deutsche Vorlage. Im Laufe der fast zwei Jahrhunderte überspannenden Theateraktivitäten auf den Ionischen Inseln kamen alle eben angeführten Opernwerke regelmäßig auf die Bühne. Gemeinsam mit Büchern und Notenausgaben, die dort in der gebildeten Gesellschaft kursierten, trugen die einschlägigen Opernstoffe, auch wenn sie die Filter italienischer und französischer Sichtweise durchliefen, auf ihre Weise zur Bekanntschaft des Publikums der Ionischen Inseln mit der Welt der deutschsprachigen Literatur bei.
Musikdarbietungen außerhalb der Theater
Nachdrücklich ist neben dem eben Geschilderten hervorzuheben, dass in den Salons auf den Ionischen Inseln mindestens seit den 1830er Jahren auch Klavierwerke von Komponisten aus dem deutschen Kulturraum zu hören waren (Martinelli, 1842),5Ouverture pour le piano-forte composée et dedicée à Monsieur Chevalier de Mayersbach par un jeun Gentilhomme Ionien de quatorze ans le Sieur J[sic].C[alichiopulo] Manzaro, Vienne, Matthieu Artaria et Comp, [1835].ferner ein Teil der Klavierschulen deutschen Unterrichtsmethoden folgte, 1835 in Wien eine dem österreichischen Konsul auf Korfu gewidmete Klavierouvertüre aus der Feder des jungen Spyridon Chalikiopoulos Mantzaros veröffentlicht wurde und dass es in den 1870er Jahren als Charakteristikum musikliebender Kreise auf Korfu galt, mit Beethovens Schaffen vertraut zu sein (Padovan, 1872, 2). Hinsichtlich der bunten Vielfalt dessen, was auf den Ionischen Inseln in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an Höreindrücken rezipiert wurde, ist ebenso von Interesse, dass während der Osterprozessionen der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche die Bläserkapelle der britischen Garnison den Trauermarsch aus Händels Saul zu Gehör brachte (Liddell Hart, 1999, 219-220). Das heißt: ein im anglikanischen Raum weitverbreitetes Musikstück aus der Feder eines zugewanderten Komponisten aus Sachsen fand seinen Weg bis hin zu den Ionischen Inseln, um dort, vermittelt durch britische Militärmusik-Ensembles, zu orthodoxen und katholischen Kirchenfesten beizutragen.
Werke deutscher Komponisten fanden auch Eingang in die Abonnementkonzerte, die die 1840 gegründete Philharmonische Gesellschaft Korfu veranstaltete. Deren Bläsergruppe wurde 1841 mit in Prag erworbenen Instrumenten ausgestattet, die über den in Baden geborenen und auf den Ionischen Inseln tätigen Kaufmann Lorenzo Baechle nach Korfu vermittelt worden waren.6Verwaltungsarchiv der Philharmonischen Gesellschaft Korfu, Generalversammlungsprotokolle (12.09.1840-11.12.1841), Nr. 42 (10./22.04.1841). Derselbe Kaufmann unternahm es auch, 1843 die neugegründete Philharmonische Gesellschaft von Zakynthos mit Instrumenten zu versorgen (Mousmoutis, 2011). Auch der griechisch-deutsche Militärkapellmeister Andreas Seiller, nach Auskunft der Wählerverzeichnisse der Insel übrigens voll eingebürgert, war der Philharmonie Korfu eng verbunden. Dass man gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht im geographisch näherliegenden Italien, sondern in Wien und Triest nach neuen Leitern für das Bläsercorps der Philharmonie Korfu suchte, scheint zusammen mit dem Umstand, dass Ernst Luedecke und Edward Smith ihre führenden Positionen in der Institution nur für eine kurze Zeitspanne bekleideten, ein Hinweis darauf zu sein, dass die Ionischen Inseln auf Beziehungen zum deutschsprachigen Raum ausgerichtet waren.7Die betreffenden Unterlagen befinden sich im Verwaltungsarchiv der Philharmonischen Gesellschaft Korfu, und dort hauptsächlich in den Korrespondenzen und Protokollbänden der Verwaltungskommission. Nicht von ungefähr scheint diese Orientierung mit der breiteren Verankerung deutscher Kultur im italienischen Raum und mit der Verflechtung des Umfelds der griechischen Staatsführung mit Deutschland zu tun zu haben. Dazu passt, dass in dieser Zeit auf den Ionischen Inseln die Präsenz von Musikstücken deutscher Herkunft im Repertoire der Bläser- und ebenso der Vokalensembles ständig zunahm.
Die Präsenz der Hegel’schen Ideenwelt
Auch auf dem Feld geistig-intellektueller Auseinandersetzung mit Musik ist der deutsche Faktor auf den Ionischen Inseln mehr als deutlich. Besonders in Bezug auf den deutschen Idealismus ist die Gestalt von Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros von entscheidender Wichtigkeit. Allerdings spricht Spyridon Zampelios in diesem Zusammenhang offen darüber, dass der Dialog Dionysios Solomos – Mantzaros über ästhetische Fragen einer der Auslöser dafür war, dass sich der Dichter näher mit der Philosophie des deutschen Idealismus befasst habe und dies zu einem der Gründe für den literarischen Niedergang des Grafen von Zakynthos geworden sei (Zampelios, 1859, 74.) Die Beziehung von Dionysios Solomos zur Hegel’schen Philosophie ist schon seit längerem nachgewiesen und wird von kompetenter Seite weiter erforscht, die dabei auf die im Vergleich zum italienischen Raum wenig entwickelte philosophische Sichtweise auf den Ionischen Inseln aufmerksam macht (Veloudis, 1989; Veloudis, 1992, 80-86; Xanthoudakis, 2005). Indessen scheint Mantzaros an diesem Zusammenhang entscheidend beteiligt gewesen zu sein und, sollte er nicht Nikolaos Lountzis und seinen bekannten Aktivitäten und übersetzerischen Initiativen zuvorgekommen sein, so doch ganz wesentlich zu Dionysios Solomos’ Kontaktnahme mit der Hegel’schen Weltsicht beigetragen zu haben. Schlüsselfaktor für das Ganze war höchstwahrscheinlich aber auch in Mantzaros’ Fall dessen direkter Kontakt zu Mitgliedern der Familie Lountzis.8Außerordentlich vielsagend ist hier ein Exemplar des idealistisch eingefärbten Rapporto von 1851, das Mantzaros selbst Ermannos Lountzis widmete (Archiv der Familie Lountzis). Ebenso hervorzuheben ist Mantzaros’ Aufenthalt auf Zakynthos im Mai 1865 im Hause Lountzis (vgl. Nørgaard, 1996, 382, 388).
Darüber hinaus lässt sich Mantzaros’ Wandel hin zu einer philosophischen Annäherungsweise an die Musik genau auf den Beginn der 1830er Jahre verorten, also einen Zeitraum, der sowohl mit dem kurzen Korfu-Aufenthalt des Sensualisten Paolo Costa als auch mit der Rückkehr von Ermannos Lountzis auf die Ionischen Inseln zusammenfällt, der „von Natur aus der Philosophie zuneigte“ (Deviasis, 1894, 266). Das bekräftigt die Ansicht, die Bedeutung der Hegel’schen Ideenwelt für Mantzaros’ reife Jahre könne auch viel zum Verständnis der Reifeperiode von Dionysios Solomos beitragen.
So augenfällig auch Mantzaros’ Bedeutung sein mag: auf die Hegelbezüge in seinem Spätschaffen gibt es nur wenige Hinweise. Seit 1826 trat Mantzaros dafür ein, Hauptzweck der Musik sei nicht, für den Augenblick zu erfreuen, künstlerische Fähigkeiten und Möglichkeiten vorzuführen oder einfach unterhaltsam zu sein. Vielmehr gehe es, wie bei jeder anderen Kunst auch, einerseits um die über das Schöne vermittelte Pflege und Beförderung des Wahren und Guten, andererseits um das Begreifen der äußeren wie inneren Welt als real erfassbaren Ausdrucks des Idealen und zugleich des großen Ganzen anhand eines seiner Teile (Kardamis, 2011). Parallel dazu gehe es bei der Erschaffung eines Kunstwerks in erster Linie um dessen theoretisches und philosophisches, eben auf dieses große Ganze Bezug nehmendes Konzept, und erst in einer zweiten Phase um seine gestalterische Verwirklichung als Tonschöpfung in der Welt des ästhetisch Wahrnehmbaren. Die Bezugnahme auf Hegel ist hier eindeutig und in vieler Hinsicht prägend. Auch sonst strotzen Mantzaros’ Einlassungen, vor allem seine Texte zur Harmonielehre, sein Rapporto (1851)9In der Tat nimmt Mantzaros auf Seite 8 dieser Ausgabe namentlich Bezug auf Schelling und Hegel (in dieser Reihenfolge), ein Umstand, der die oben angeführte Hypothese einer Verbindung zu Ermannos Lountzis indirekt bekräftigt. und die Cenni sul Conte Dionyssios Solomos von Bezugnahmen auf die eben angeführten Ideen Hegels, wobei Mantzaros in einer kurzen eigenhändigen Notiz den deutschen Philosophen sogar einmal namentlich erwähnt.10Archiv Benakis-Museum/Archiv Mantzaros 505/5/20.
Für Mantzaros war der Kontrapunkt, und insbesondere die Fuge das bevorzugte Feld für die praktische Umsetzung aller eben genannten Prinzipien, denn offenkundig sah er in ihr das Mittel von zeitloser Geltung, das ihm erlaubte, den sich aus der Vielfalt des Einzelnen formenden Weg zum großen Ganzen zu beschreiten. Zumindest seit 1826 kam es dazu, dass diese Binnendimension der Musik Verbindung zur griechischsprachigen Dichtung aufnahm und damit ein schöpferisches Einhergehen griechischer Verse mit der melodisch-harmonischen Zeitlosigkeit des Kontrapunkts glückte. Mit ihm vereint der Komponist zwei Konnotationen dessen, was die Romantik unter dem „Erhabenen“ subsumiert: Musik und nationales Empfinden. Mantzaros’ Reflexionen über das Verhältnis Sprache-Rhythmus hatten einen Vorläufer in der deutschen Übersetzung des der Metrik gewidmeten Teils der Musurgia Universalis von 1650 aus der Feder des deutschen Jesuiten und Polyhistors Athanasius Kircher.11Archiv Benakis-Museums/Archiv Mantzaros 505/10/84, auf den 20.3.1835 datierter Brief. Bemerkenswert ist, dass sich die ursprüngliche lateinische Ausgabe des Werks des hochgebildeten Autors in der Bibliothek der Ionischen Akademie befand (Staatliche Generalarchive-Archive der Provinz Korfu, Archiv des Ionischen Senats 303, 265, 10.1.1831). Die Musik gerät aufgrund ihrer Unbestimmtheit zur ästhetisch wahrnehmbaren Emanation umfassender, innerer wie äußerer harmonischer Einheit und vermag so dem großen Ganzen, dem Absoluten, der Hegel’schen Idee Ausdruck zu verleihen. An dieser Stelle darf nicht übergangen werden, dass Mantzaros 1844 dem bayerischen Herrscher Griechenlands König Otto eine unter ausgiebiger Verwendung der Fugenform durchkomponierte Vertonung des Hymnus an die Freiheit von Dionysios Solomos zueignete, was zur ersten vollständigen Übertragung dieser Dichtung ins Deutsche von der Hand des deutschen Philhellenen Joseph Mindler führte (Schlumm u.a., 2010). Es hat den Anschein, als habe für Mantzaros die Idee, Musik über die Kontrapunktik zur Trägerin philosophischer Vorstellungen zu machen, bereits um 1835 feste Gestalt angenommen. Überdies ergab sich seit Anfang der 1830er Jahre ein direkterer Kontakt mit den idealistischen philosophischen Strömungen in Deutschland und ebenso mit der Art und Weise, wie Victor Cousin in Frankreich und später Antonio Rosmini-Serbati in Italien diese modifizierten. Zum Kreis um Mantzaros auf den Ionischen Inseln zählten die schon genannten Brüder Ermannos und Nikolaos Lountzis (ersterer, ein Schüler Schellings, lebte von 1806-1868, der jüngere von 1812-1884), sowie, als Anhänger des Cousin’schen Eklektizismus, Petros Vraïlas Armenis (1812-1884). Diese Gegebenheiten ließen Mantzaros zu einem weiteren Glied in der eindrucksvollen Rezeptionskette der Ideen Hegels auf den Ionischen Inseln werden.
Musik und Musiker bei Mesmerismus-Sitzungen
Mantzaros zeigte sich auch an der Wirksamkeit der Musik im Rahmen alternativer Behandlungsmethoden interessiert. 1841 experimentierten zwei Personen aus seinem Umfeld, der Arzt Angelos Kojevinas und der Physiker Francesco Orioli, damit, Kranke mit der umstrittenen Methode des animalischen Magnetismus zu behandeln, die der Österreicher Franz Anton Mesmer gegen Ende des 18. Jahrhunderts initiiert hatte. Im Rahmen dieser Therapieexperimente wurde auch Musik eingesetzt. Für ihren Rückgriff auch auf dieses Feld wandten sich Kojevinas und Orioli an bekannte Musiker Korfus bzw. an Amateure (meistens Verwandte der Patienten). So nahmen bei ihren Mesmerismus-Sitzungen im April/Mai 1841 Nikolaos Mantzaros und sein Sohn Spyridon sowie der Mantzaros-Schüler Domenikos Padovas als Assistenten am Klavier teil.
Der Einfluss der Ideen Herders auf das musikkünstlerische Schaffen auf den Ionischen Inseln
Im selben Jahrzehnt 1840-50, in dem die Forderung nach der Vereinigung der Ionischen Inseln mit dem Königreich Griechenland immer drängender gestellt wurde, machte sich im kreativen Musikleben der Inseln die Präsenz der Ideen Johann Gottfried Herders über den Vorrang traditioneller Volksmusik gegenüber städtisch-bürgerlicher Musik und das Gewicht ihrer Bedeutung für die nationale Identität immer mehr bemerkbar: Damit trat die nichtbürgerliche Volkskultur als fortschrittlich gesonnene Wächterin wahren Griechentums auf den Plan. Es ist interessant zu beobachten, wie hier der musikalische Folklorismus auf den Ionischen Inseln einen Weg einschlug, der sich den in Literatur und Dichtung präsenten folkloristischen Elementen anschloss. Ebenso interessant ist, dass dieser schöpferische Gebrauch des nichtakademischen Elements von Seiten griechischer Komponisten des 19. Jahrhunderts zu den frühesten im europäischen Raum zählt und die Ionischen Inseln von Anbeginn in direktem schöpferischem Dialog mit der entsprechenden Ideenwelt standen.
Es ist kein Zufall, dass sich die Beschäftigung mit der Folklore auf den Ionischen Inseln in Zusammenhang mit dem lautstarken Widerhall ergab, den die Causa Fallmerayer ausgelöst hatte. 1837 komponierte Antonios Liberalis (1814-1842) die Griechenlands Wiedergeburt besingende italienischsprachige Kantate L’orfano di Sulli (Das Waisenkind von Souli), in der „die ersten charakteristischen Vorboten einer ganz neuen nationalen Melodik aufklangen“ (Manzaro, 1842, 417). Das ist die früheste von den Ionischen Inseln stammende Erwähnung einer mutmaßlichen Verwendung musikalischen Materials nichtbürgerlicher Provenienz innerhalb einer akademischen Kunstkomposition aus der Feder eines musikalisch Kreativen, und zwar als kennzeichnendes Bauelement einer „nationalen Musik“. Antonios’ jüngerer Bruder Iosif Liberalis (1819-1899) ließ diese Verbindung der Herder’schen Ideen zur griechischen Kunstmusik noch deutlicher werden. Im April 1849, also unmittelbar nach dem für die Ionischen Inseln so blutigen Jahr 1848, veröffentlichte er in der Zeitung der Reformer Patris (Vaterland) einen Subskriptionsaufruf für die in Mailand geplante Veröffentlichung eines Klavierwerks mit dem Titel Le reveil du Klépht (das Erwachen des Klephten); dieser Aufruf war bezeichnend für das Aufkommen, die Verbreitung und die Aufnahme Herder’scher Überlegungen im Musikschaffen auf den Ionischen Inseln Mitte des 19. Jahrhunderts:
Nach ausgiebigem Studium unserer nationalen Volksmusik kam der Unterzeichnete nicht umhin, auf die unnachahmlichen Schönheiten aufmerksam zu werden, die uns das naive, ganz aus sich selbst schöpfende Aufblühen griechischer Genialität bietet und dabei ganz in ihrem natürlichen Urzustand zu verharren weiß. So suchte er sich aus dem jungfräulichen Bestand an nationalen Volksgesängen die schönsten und bezauberndsten heraus und verwendete sie als Themenmaterial für die Ausarbeitung einer abwechslungsreichen Klavierfantasie. In der Gewissheit, dass das Bewusstsein nationaler Gemeinsamkeit, das die Griechen schon immer ausgezeichnet hat, ihn allein nicht davon ausschließen wird, sieht er sich ermutigt, seine das Schöne liebenden Mitbürger und Mitmenschen griechischer Herkunft zur Subskription aufzurufen, um die Druckkosten bestreiten zu können.12„Aufruf“, Patris (Vaterland) 15, (23.4/4.5.1849), 76.
Es ist klar, dass die Bezugnahme auf die „schönsten und bezauberndsten Gesänge aus dem jungfräulichen Bestand an nationalen Volksgesängen“ in direktem Zusammenhang mit der Nutzung nichtbildungsbürgerlicher Elemente steht, die über ihre musikalische Verarbeitung das Ausgangsmaterial für eine Komposition künstlerischen Charakters lieferten. Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass der freiheitlich denkende Liberalis es für unnötig erachtete, ein vollständiges Manifest oder eine ausführliche Studie zur Unterstützung seiner Ansichten über „nationale Musik“ in Druck zu geben. Vielmehr scheint er sich absolut sicher gewesen zu sein, dass seine Leser und potentiellen Subskribenten volles Verständnis für seine patriotischen und musikästhetischen Maximen hatten, zumindest soweit sie den örtlichen gebildeten Kreisen bekannt waren. Den Weg, Elemente aus der musikalischen Folklore (des Epirus wie der Ionischen Inseln) in ihre Kompositionen dynamisch einzubeziehen, beschritten in den direkt anschließenden Jahren auch andere Komponisten der Ionischen Inseln. Führend unter ihnen war dabei der Zakynthier Pavlos Karrér (1829-1896) mit seinen patriotischen Opern Markos Botsaris (1858), Frosyni (1868), Despo (1875), aber auch mit einer Fülle vokaler und sonstiger weiterer Kompositionen (Xepapadakou, 2006; ebenso ihre Veröffentlichung von 2013; Leotsakos, 2003). Ein demgegenüber ganz besonderer Fall: in der erstmals auf ein vollständig griechischsprachiges Libretto zurückgreifenden komischen Oper Der Kandidat (1867) von Spyridon Xyndas (1817-1896) hat die Präsenz des folkloristischen Elements nichts mit dem romantisch verklärten Bild der patriotischen Opern zu tun, sondern leistet, ganz im Gegenteil, einen treffsicheren Beitrag zu einer realistischen klanglichen Beschreibung der ländlichen ionischen Inselwelt, der die akzentuiert sozialkritische Haltung des Werks unterstützt (Kardamis 2017). Der Rückgriff auf die „nationale griechische Volksmusik“ und den kreativen Gebrauch des folkloristischen Elements durch Komponisten der Ionischen Inseln setzte sich auch nach der Vereinigung der Ionischen Inseln mit Griechenland von 1864 fort, nun in den Parametern zunehmender nationaler Erregung im Königreich. Führende Komponistenpersönlichkeiten waren dabei Jeorjios Lampelet (1875-1945), Dionysios Lavrangas (1860-1941) und Alexandros Grek (1876-1959). Diese brachten zwischen 1901 und 1905 nicht nur ihre Thesen zur nichtakademischen griechischen Musik auch schriftlich-theoretisch zum Ausdruck, sondern bezogen das folkloristische Element ebenso energisch wie vielfältig in ihre Werke ein. Nicht überflüssig ist hier ein Hinweis darauf, dass für die Komponisten der Ionischen Inseln dieser Gebrauch des folkloristischen Elements niemals von schöpferischer Manieriertheit geprägt war.
Die Ionischen Inseln und der Wagnerismus
Nicht unbedeutend war aber auch die Präsenz der Ionischen Inseln, was die Aufnahme des auf direkte und vielfältige Weise das kulturelle Gepräge des späten 19. Jahrhunderts bestimmenden Wagnerismus in Griechenland betraf (das hier dazu Gesagte stützt sich auf Kourbana, 2017). Als ausnehmend interessant erwies sich dabei die Position von Margarita Alvana Miniati (1821-1877), die eine spezifisch auf das Musikdrama Lohengrin bezogene Studie über den Wandel, den Wagners Ideen über das Theater auslösten, verfasste und 1873 in Umlauf brachte. Als bekanntester Wagnerianer auf den Ionischen Inseln gilt der aus Ithaka stammende, aber auf Korfu zu Ansehen und Erfolg aufgestiegene Dionysios Rodotheatos (1849-1892). Nach Studienjahren auf Korfu und in Neapel hielt er sich Ende der 1860er Jahre im Norden Italiens auf, wo er ganz aus der Nähe die Neuorientierung miterlebte, die der direkte Kontakt Italiens mit den Musikdramen Wagners in Gang setzte. Rodotheatos soll auch in Deutschland und Frankreich studiert haben und gilt als frühester griechischer Symphoniker, ungeachtet des wichtigen Platzes, den auch die Oper in seinem Schaffen einnahm. Vor allem seine Oper Oitona (Korfu, 1876) verarbeitet viele „ästhetische Versatzstücke“ aus dem europäischen Norden (Kardamis, 2012). Auch ein weiterer Komponist aus Korfu, Dimitrios Andronis (1866-1918), war in diesem Klima einer sich neuorientierenden italienischen Musikwelt zu Hause: 1890 dazu berufen, die Philharmonische Gesellschaft Korfus neu zu strukturieren, spielte er 1902 eine führende Rolle bei der Produktion der Erstaufführung von Wagners Lohengrin in italienischer Sprache. Bei dieser Inszenierung, mit der auch das neue Theater der Stadt Korfu eingeweiht wurde, handelte es sich um die erste Aufführung eines Wagnerwerkes auf griechischem Boden (Kourbana, 2013). Und wieder war es der über Italien laufende Kontakt mit dem deutschen Kulturraum, der dieser neuen Epoche im Musiktheaterleben der Ionischen Inseln ihr Gepräge verlieh und zur Zeit der Jahrhundertwende und danach der „Giovine Scuola“ Italiens mit ihrer klaren Bezugnahme auf transalpine Vorgaben besonderen Status einräumte.
Es sei betont, dass auch die Musik von Spyridon Samaras den wagnerianischen Zeitgeist atmete, der die oben dargelegten Anpassungen auf italienischem Boden so kennzeichnete und die Aufführung seiner für Blaskapelle bearbeiteten Werke zusammen mit solchen von Rodotheatos erklärlich macht.13Vgl. Ugo Foscolo I/10, 23. August/4. September 1887, 80.
Von wagnerischen Einflüssen nicht unberührt blieben auch der aus maltesischer Familie stammende und in Neapel ausgebildete korfiotische Komponist Alexandros Grek sowie der aus Kefalonia gebürtige Komponist und Gründungsvater der griechischen Opern-Truppe Dionysios Lavragas, der in Frankreich studiert hatte. Im Fall des auf Korfu wirkenden Blasensemblemusikers und Komponisten Sotirios Kritikos (1888-1945) erreichten wagnerische Klänge die Ionischen Inseln über das Athener Konservatorium, wo der Komponist studiert hatte. Den Wagnerianern der Ionischen Inseln zuzurechnen ist auch der ebenfalls einer alteingesessenen Malteser Familie entstammende Komponist Lavrentios Kamilieris (1875-1956), der 1901 Bayreuth besuchte, dort den Fliegenden Holländer und Parsifal hörte und auch in direkte Verbindung mit der Familie Wagner kam – in den Jahren danach blieb er treuer Parteigänger der Wagner’schen Intentionen. In diese Zusammenhänge gehört auch ein kurz zuvor verfasster ausführlicher Zeitschriftartikel von Jeorjios Lampelet über Wagners Leistung und seinen über das Musikalisch-Theatralische hinausgehenden Einfluss auf Kunst und Literatur. Gleichermaßen bezeichnend ist die Präsenz der Ideen und Wirkung Wagners in den Texten von Nikolaos Episkopopoulos aus Zakynthos und entsprechenden über kirchliche Musik von Panajiotis Vergotis aus Kefalonia. Einen besonderen Platz behaupteten Wagnerwerke auch in den Artikeln und Radiosendungen des Korfuer Arztes Filoktimon Paramythiotis, der auf diesem Wege und mit Hilfe der damals neuen Medien dem Publikum der Ionischen Inseln diese so weit ausstrahlende neue Kunst nahebrachte. Den Komponisten von den Ionischen Inseln, die im deutschen Raum studiert hatten, sind hinzuzufügen: Jeorjios Topalis, der an der Seite Rubinsteins in Leipzig ausgebildet wurde, der überragende Tondichter Antiochos Evangelatos aus Kefalonia (1904-1981, Studium in Leipzig und Wien), die ebenfalls aus Kefalonia stammende Eleni Lampiri (1882-1960, Studium in Dresden) und Spyridon Doukakis aus Korfu (1886-1974), der in Berlin studierte. Letzterem scheint es zu verdanken zu sein, in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen Teile aus Wagners Opern Tannhäuser, Lohengrin und Rienzi bei religiösen Prozessionen eingesetzt und so eine spezifische Verschmelzung der Musik mit dem Religiösen und popularisierenden Kontakt mit Klängen aus Wagners Schaffen unter die Leute gebracht zu haben.
Die Rezeption der Musik der Ionischen Inseln von deutscher Seite
Alles bisher Geschilderte stellt, wenn auch eher im Sinne unvollständiger Hinweise, Material zur Beantwortung der Frage bereit, auf welche Weise die Ionischen Inseln mit der musikalischen Welt des deutschsprachigen Raums in Verbindung standen. Doch ebenso von Bedeutung ist, wie das Musikleben auf den Ionischen Inseln von deutschsprachigen Reisenden wahrgenommen wurde. Dabei ist sicherlich wenig überraschend, dass sich die aus dem deutschen Kulturraum kommenden Besucher – wie viele andere Nordeuropäer auch – der Ionischen Inselwelt in der Regel aus idealisiert neoklassizistischer und romantischer Perspektive näherten. In diesem Rahmen spielte der Konnex zur Antike und die Erschließung der nichtbürgerlichen Kultur sowie deren Betrachtung als Mittel zur Annäherung an umfassendere Werte, die den zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaften abhandengekommen waren, eine entscheidende Rolle. In eine ähnliche Richtung zielte schon 1826, ganz im Geist der Maximen Herders, die Volksliedersammlung des österreichischen Professors der Ionischen Akademie Leopold Joss (Joss, 1826). Gleich anderen, die die Gegend bereisten, blickten auch Besucher aus dem deutschsprachigen Raum mit Herablassung auf musikalische Aktivitäten, die ihnen von zu Hause her geläufig waren, oder erwähnten sie gar nicht erst. Das Musiktheater wird in der Regel nur mit ein paar knappgefassten Zeilen angesprochen, die Tätigkeit ortsansässiger Komponisten überhaupt nicht, das sonstige musikalische Leben in den städtischen Zentren der Ionischen Inseln kaum erwähnt. Angesichts dieses Hintergrunds überrascht die Hingerissenheit nicht, mit der die aus Bayern stammende österreichische Kaiserin Elisabeth in der für sie charakteristischen Depressivität und zugleich idealisierenden Sichtweise 1891 auf Korfu den Klang einer Hirtenflöte, den Gesang Oliven erntender Frauen, das Klagelied einer wie sie selbst vom Tod heimgesuchten Mutter oder den Tanz einer Dorfjugend aufnimmt, wobei die unvermeidliche Bezugnahme auf Wagners Werke nicht fehlen darf (Christomanos, o. J., 133-183).14Besonders auf den Seiten 181-182 ausführliche Bezugnahme auf Wagner, die aber eher die auch an anderen Stellen seines Berichts klar erkennbaren persönlichen Präferenzen von Christomanos widerspiegelt. 1904 sollte auch Elisabeths Cousin Erzherzog Ludwig Salvator in seiner legendären voluminösen Schrift über Zakynthos nachdrücklich auf die volkstümlichen Tänze und Gesänge der Insel und die dortige kirchliche Musik hinweisen ([Ludwig Salvator], 1904). Auch Bernhard Schmidt, der sich zwischen 1861 und 1863 als Hauslehrer und Erzieher der Familie Lountzis auf der „Blume der Levante“ aufhielt, befasste sich – fest von ihrer antiken Herkunft überzeugt – mit der Volksmusik und den Tänzen auf Zakynthos (Schmidt 1899).
Schon in den 1850er Jahren reagierten Musiker der Ionischen Inseln auf das Interesse, das der relativ neu etablierte Athener Hof den dortigen Volksliedern entgegenbrachte, ohne dabei zwangsläufig dem Beleg der „Authentizität“ den Vorrang einzuräumen, wie man es jedenfalls aus westeuropäischer Sicht definierte. Mantzaros unterrichtete in einem entwaffnend unverblümten Brief seinen in London weilenden brüderlichen Freund Jeorjios Drakatos Papanikolas, er schicke ihm auch „zwei griechische [Lieder] im Dialekt unserer Heimat, die ich der Versuchung erlag zu schreiben, indem ich Noten und Worte zusammenwarf, um daraus selbst Verse zu schmieden – sie werden Sie zum Lachen bringen! Sie müssen jedoch dazu wissen, dass man mir seitens des Athener Hofes die Bitte um einige Volkslieder zukommen ließ, und da ich nichts zur Hand hatte, machte ich mich daran, so gut ich’s fürs erste konnte, die unten angeführten Verse zu schreiben“.15Griechische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Literaturarchiv 121, auf den 19.11.1851 datierter Brief. Die Affektiertheit der König Otto gewidmeten Vertonung des Hymnus an die Freiheit scheint keinen Einfluss auf die Einstellung des Athener Hofs gegenüber der Bedeutung der ländlich-volkstümlichen Musik gehabt zu haben. Fünf Jahre später (1856) widmete Mantzaros’ Schüler Spyridon Xyndas König Otto eine Sammlung eigener Lieder in griechischer Sprache, bei denen wahrscheinlich auch er bemüht war, auf den Geschmack des Hofes einzugehen.16Diese liegen in der Bayerischen Staatsbibliothek vor, Mus.ms. 3539. Alles in allem scheint aber die exuberante Persönlichkeit Kaiser Wilhelms des Zweiten für die bekannteste Facette der deutschen Rezeption von den Ionischen Inseln stammender Musik gesorgt zu haben. Der deutsche Monarch hatte das „Achilleion“, vormaliges Palais von Kaiserin Elisabeth, erworben, das ihm von 1908 bis 1914 als Sommerresidenz diente (Wilhelm II, 1924). Der Kaiser nahm Beziehungen zu maßgeblichen Vertretern des städtisch geprägten Zentrums von Korfu auf, war aber auch von der Insellandschaft höchst angetan, der er sich im Rahmen der üblicherweise vorgegebenen Deutungsschemata annäherte. Er zeigte Interesse für die sich auf vielfältige Weise manifestierende nichturbane Kultur und ebenso für die archäologische Forschung in der Gegend. Das hinderte ihn nicht daran, das Blasorchester seiner Yacht in der Stadt spielen zu lassen bzw. Bläserensembles aus der Stadt oder des in der Nachbarschaft des Achilleion liegenden Dorfes Gastouri zu empfangen. Charakteristisch ist dabei allerdings, dass sich der Kaiser von der damals noch kraftvoll-vitalen Musikpflege auf dem Land ein Bläserarrangement mit Ausschnitten aus der Oper Der Kandidat von Spyridon Xyndas erbat, die 1867 ihre Premiere erlebt hatte und in der, wie schon erwähnt, das nichtbürgerliche Element eine entscheidende Rolle spielte.17Philharmonische Gesellschaft Korfu, Verwaltungsarchiv, Korrespondenzband 1900-1921, Nr. 4749 (13/26.06.1909).
All dies scheint entscheidend dazu beigetragen zu haben, dass der Kaiser den Komponisten Joseph Schlar und den Librettisten Joseph Lauf gemeinsam damit beauftragte, eine Oper Kerkyra (Korfu) zu schreiben, die dann ihre Premiere am 27.6.1912 in Berlin erlebte.18Vgl. auch „Nouvelles Diverses“, Le Menestrel 4271 (01.02.1913), 38.
In ihr kam mit den Mitteln des Musiktheaters genau die angesprochene zweifache Wahrnehmung der Ionischen Inseln zur Geltung. Unter Verwendung von Elementen aus der altgriechischen Musik (soweit der damaligen Forschung schon bekannt) spielt der erste Teil der Oper auf der antiken Insel der Phäaken, der zweite in der aktuellen Gegenwart des Kaisers. Dabei steht, unterfüttert von nordeuropäischen Denkmustern der Jahrhundertwendezeit, optisch wie musikalisch das ländliche, nichtbürgerliche Element im Vordergrund. Daneben gibt es auch hier Gegenläufiges: Der „Gastourotikos“ genannte Tanz, auch als „Tanz des Kaisers“ ein Begriff, gilt auch heute noch als einer der bekanntesten Volkstänze Korfus, bietet aber nichts anderes als die Melodie des deutschen Liedes Die Holzauktion von 1892. So bereicherte die Anwesenheit des Kaisers in der Gegend unbeabsichtigterweise das musikalische Repertoire auf dem Land und lieferte dazu gleich eine praktisch-konkrete Antwort auf die Diskussion über das unveränderliche und zeitlose Wesen der „jungfräulichen Gesänge der Nation“. Denn auch aus musikalischer Sicht begegneten sich auf den Ionischen Inseln zwei Welten und Sichtweisen: einerseits der neugriechische Kosmos auf der Suche nach dem Vermächtnis eines geistig-kulturellen Transfers, der sich insbesondere im gelehrten Umfeld der Ionischen Inseln nie anders als in Gestalt einer zeitgemäßen, in ständigem Dialog befindlichen Realität präsentierte; andererseits der deutschsprachige Kulturraum, der auch auf den Ionischen Inseln im Zeichen romantischer Projektionen und großspuriger neoklassizistischer Träumereien, zuweilen auch unvermeidlichen Hochmuts, nach seinen Ursprüngen suchte. Dazwischen als fast absoluter, aber nicht unumgänglicher Faktor die italienische Halbinsel mit ihren eigenen Resonanzen. Es liegt in der Natur der Sache: eine musikalische Reise von Berlin nach Zakynthos zeitigt viele, dabei oft fesselnde und bewegende Modulationen.