Soziokulturelle Verflechtungen unter den deutschen, westeuropäischen und griechischen Eliten im ottonischen Griechenland

  • Veröffentlicht 01.12.20

Welche Bedeutung hatten die bayerische Regentschaft und die Regierungszeit König Ottos (1833-1862) als Periode der Etablierung und Konsolidierung des neugriechischen Staats für die Vertreter deutscher Eliten, die ins ottonische Griechenland kamen, um dort mit ihren Beiträgen tätig zu werden, und welche Bedeutung hatten ihre Kontakte und ihr Austausch mit gebildeten, wohlhabenden Griechen und Westeuropäern, denen sie dort begegneten? Worin bestand die Bedeutung der Verflechtungen zwischen den deutschen, westeuropäischen und griechischen Eliten für den Ausbau und die Funktion neuer staatlicher, regierungsamtlicher und bildungspolitischer Institutionen wie des Königlichen Hofs, der verschiedenen staatlichen Behörden und der Universität, und weiterhin für die architektonische Physiognomie und das gesellschaftliche Leben besonders der neuen Hauptstadt Athen zu einer Zeit, als die europäischen bürgerlichen wie aristokratischen Leitbilder kulturell über ihre größte Strahlkraft verfügten? Wie, wo, von welchen bzw. über welche Beziehungsgeflechte werden aus Deutschland bzw. Europa allgemein stammende soziale, bildungsrelevante, technische, städtebaulich-architektonische und in weiterem Sinne kulturelle Vorbilder, Umgangsformen, Werte und Ideale als Indikatoren gesellschaftlicher Differenzierung und Höherstellung beim gebildeten, wohlhabenden und aufstrebenden Bürgertum und ebenso beim Geburts- bzw. Titular-Adel transferiert, verbreitet und assimiliert?

Inhalt

    Mit den Augen eines jungen deutschen Archäologen: Momentaufnahmen aus den Jahren erster Verflechtung

    Für Näheres über die Begegnungen und Beziehungen zwischen Deutschen, (meist recht jugendlichen) Westeuropäern und Griechen, die sich durch Bildung und/oder ökonomisches Potential abhoben, sind für die Zeit kurz vor König Ottos Eintreffen in Griechenland, die Zeit des Regentschaftsrats darauf und für Ottos erste Regierungsjahre die Erinnerungen des Archäologen Ludwig Ross eine sehr aufschlussreiche Quelle. Ross (1806-1859) stammte aus dem norddeutschen Holstein und hatte in Kiel Klassische Philologie studiert; seit 1834 stand er als Oberkonservator und -verwalter an der Spitze der griechischen Archäologie, war dann Professor für Klassische Archäologie an den Universitäten von Athen (1837-1843) und seit 1845 in Halle.1Ludwig Ross begleitete und führte das königliche Paar häufig auf seinen Reisen ins Innere Griechenlands. S. Seidl 1981, 349. Was Deutsche wie Ross an Griechen, denen sie im Lande begegneten, vor allem anderen schätzten, waren ihre Deutschkenntnisse.So schreibt er Ende Juli 1832, als er per Schiff von Triest nach Hydra gereist war und dort drei Tage blieb, bis er ein Schiff nach Nafplio, der Hauptstadt des noch von bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen überschatteten Griechenland, gefunden hatte:

    Ich war schon auf jemand mit Deutschkenntnissen gestoßen, der mir bei meiner noch dürftigen Beherrschung der Sprache half. Es handelte sich dabei um Dr. Xanthos, der in Heidelberg studiert hatte, über viele gesellschaftliche Verbindungen verfügte und hier auf Hydra mit einer Nichte von Kountouriotis verheiratet war. (Ross, 1976, 33)

    Nafplio, wo Ross durch Vermittlung des berühmten Philologen, Neuhumanisten, Pädagogen und späteren Ratgebers König Ottos, Friedrich Thiersch „eine ganze Reihe namhafter und interessanter Persönlichkeiten“ kennenlernte, präsentierte sich damals als internationaler Kosmos im Kleinen. „Außer den Griechen und Albanern, die die Grundbevölkerung ausmachten, […] gab es […] Franzosen, Engländer und Russen, und dazu deutsche, polnische, Schweizer und portugiesische Philhellenen aus ganz Europa“ (Ross, 1976, 33).

    Bezeichnend für die Begegnungen und Vernetzungen einflussreicher Deutscher, Westeuropäer und Griechen kurz vor dem Eintreffen König Ottos ist der Bericht von Ross über die „sehr interessante Bekanntschaft“ mit dem österreichischen Konsul Georg Gropius „aus bekannter norddeutscher Familie“, der als junger Künstler Anfang des 19. Jahrhunderts Begleiter Wilhelm von Humboldts in Paris, dann von Lord Aberdeen in Italien war, um für ihn Antiken-Zeichnungen anzufertigen. Gropius hatte sich schließlich in Athen niedergelassen, wo er sich als Kaufmann betätigte und zeitweise verschiedene konsularische Vertretungen in der Stadt übernahm. Seine umfassende Bildung, Vertrauenswürdigkeit und jahrelange Erfahrung hatte ihn zum „Nestor aller Europäer in Griechenland“ gemacht (Ross, 1976, 34-35).

    Jedermann wandte sich an ihn mit der Bitte um erklärende Auskünfte, Einschätzungen, Vorschläge. Der französische Unternehmer Baron Rouen, der Engländer Dawkins, Verwalter der englischen Fregatte Lyons, […] die griechischen Minister, Senatoren und Parteiführer – alles drängte sich um ihn. (Ross, 1976, 35)

    Ross‘ Erwähnung einer Unterkunft, die er sich zu Herbstbeginn 1832 mehrere Wochen lang mit einigen Deutschen und in Deutschland ausgebildeten Architekten im halb zerstörten Athen teilte, vermittelt uns einen ersten Eindruck von der internationalen Architekten- und Archäologengemeinschaft, die zu Kapodistrias‘ Zeiten auf Ägina und in Nafplio zusammengefunden hatte und sich nun im als Hauptstadt vorgesehenen Athen niederließ. Zu seinen Mitbewohnern zählte sein späterer guter Freund Schaubert aus dem schlesischen Breslau, der griechische Architekt Kleanthis, wie Schaubert ein Schinkelschüler, sowie der Architekt Lüders aus Leipzig, der mit einer Griechin aus Wien verheiratet war und ein Haus für einen Griechen aus Wien errichtet hatte, wo Ross für mehrere Wochen Aufnahme fand (Ross, 1976, 50-51).

    Im selben Zeitraum trafen verschiedene bereits namhaft gewordene Architekten, Philologen, Kunstmaler u.a. aus England, Frankreich und der Schweiz in Athen ein, um dort den Winter zu verbringen. In dieser buntgemischten Gesellschaft gebildeter Europäer bürgerlicher bzw. adliger Herkunft kam es so ständig wie regelmäßig zu Gesprächen und geistigem Austausch.

    Die Archäologen und Künstler waren tagsüber mit ihren Ausgrabungen und Forschungen beschäftigt oder erholten sich auf der Jagd in der Umgebung Athens. Wenn es dämmerte, trafen wir uns fast alle an der Tafel des Hotels von Casali2Der Hotelbesitzer Casali, ein Philhellene aus Italien, „war mit einem Zimmermädchen aus Wien verheiratet, für die der Wiener Kongress zum glanzvollen Höhepunkt ihres Lebens geworden war. Sie gab einem deutlich zu verstehen, dass sie viele der hochgestellten Größen Wiens, darunter Fürsten, ganz aus der Nähe kennengelernt hatte“ (Ross 1976, 58). und zogen dann abends mit Laternen in der Hand zu den Häusern von Finley, Hill oder, wie wir Deutschen, zu Schaubert. (Ross, 1976, 58)

    Ross vermerkt, dass die Zahl der Griechen, die über eine in Deutschland, Frankreich, Italien oder England erworbene europäische Universitätsbildung verfügten, noch sehr gering war. Außer einigen Juristen und Philologen gab es lediglich Ärzte – ein Grund dafür, dass eine stattliche Zahl von Inhabern staatlicher Ämter, Ministern und offiziellen Ratgebern Ärzte waren (so beispielsweise Kolettis, Mavros, Manssolas, Glarakis etc.).

    Einige von ihnen „beherrschten das Deutsche auf bewundernswerte Weise“, und Drossos Manssolas, der zu Zeiten König Ottos gleich mehrere Male als Minister fungierte, sprach laut Ross, als sei er ein junger Mann aus Jena (Ross, 1976, 82-83). Charakteristisch für die griechisch-deutschen Begegnungen auf akademischer Ebene (schon seit dem ersten Semester, in dem die Universität Athen 1837 ihre Tätigkeit aufnahm) ist Folgendes:

    Was das Korps der Wissenschaftler betrifft, das sich nach Gründung der Universität nun formierte, so wurde das Haus des Ministerialrates [Christian August] Brandis3Professor der Philosophie an den Universitäten Berlin (1818-1821) und Bonn (seit 1821). zum gern in Anspruch genommenen Treffpunkt. Berliner Vorbildern folgend, wurde sehr bald eine sogenannte Griechische Gesellschaft gegründet, die aus Griechen und Deutschen bestand, welche sich einmal pro Woche trafen und gemeinsam Texte eines jeweiligen Autors lasen. (Ross, 1976, 131)

    Einleitende Bemerkungen zur Bedeutung und Definition der Verflechtungen

    In einem Zeitraum, in dem Europa und insbesondere der vielfach aufgesplitterte deutschsprachige Raum von der immer weiter voranschreitenden Koexistenz und gemeinsamen Dominanz einer ökonomisch starken, gesellschaftlich führenden und kulturell ausstrahlungskräftigen Aristokratie mit einem dynamischen, Ansprüche erhebenden, politisch emanzipierten, unternehmerischen, vor allem aber geistig und akademisch gebildeten Bürgerstand geprägt war („Bildungsbürgertum“),4Näheres zum Begriff „Bildung“ als gymnasial-universitäre, aber auch als umfassende Allgemeinbildung sowie das „Bildungsbürgertum“ im deutschsprachigen Raum s. Raptis 1998, 219-222. ist es von besonderer Bedeutung, wie infolge und vermittels der Verflechtungen aller Art Vertreter der traditionellen bzw. aus der Griechischen Revolution hervorgegangenen einheimischen Führungsschichten gemeinsam mit dem aufstrebenden Bürgertum europäische Vorbilder aristokratischer und bürgerlicher Provenienz übernahmen und assimilierten. Diese ergaben sich aus Verbindungen mit hochgestellten Bayern und anderen Deutschen und darüber hinaus mit Europäern in offiziellen Positionen, mit Offizieren, Diplomaten, Wissenschaftlern, freien Unternehmern, d.h. mit Vertretern jeweiliger nationaler wie zugleich kosmopolitischer Eliten, die im ottonischen Griechenland lebten und agierten.

    Trotz des politischen Scheiterns des bayerischen Projekts und der davon besonders zu Zeiten des Regentschaftsrates und der ersten Regierungsperiode König Ottos ausgelösten Reaktionen (1833-35/1835-1843) bleibt es im übrigen Fakt, dass damals die Fundamente des neugriechischen Staats mit dem Zentrum Athen als neuer Hauptstadt gelegt worden sind.5Seidl 1984, 22-23. Neu etablierte Institutionen wie der Königliche Hof, Strukturen der Exekutive und Rechtspflege, das Heer, die Universität und andere Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen, der Archäologische Dienst, dazu ein Gefüge aus privaten und staatlichen Aktivitäten (Stadtplanung und Bauvorhaben, öffentliche Arbeiten, freies Unternehmertum, Werkstätten, Läden, Vereine und Gesellschaften) erwiesen sich als besonders prädestiniert für Verflechtungen und zivilisatorisch-kulturelle Transfers. Angehörige des Hofs, Amtsträger und hohe Militärs, Diplomaten und Vertreter der Verwaltungsspitze, Universitätsprofessoren und -studenten, Architekten, Ingenieure, Rechtskundige und andere Freiberufler, Kunstmaler, Archäologen – mit einem Wort: der Kern des sogenannten Bildungsbürgertums stellte die maßgeblichen Figuren und Träger dimensionierter griechisch-deutscher Verflechtungen.6Zu dem Begriff „Bildungsbürgertum“ s. Raptis 1998, 219-222 und Kocka 1989. Dabei darf die Rolle der Hofdamen und anderer weiblicher Persönlichkeiten aus der nach europäischem Muster „gehobenen Gesellschaft“ nicht unterschätzt werden, die diese bei der Verbreitung bürgerlicher und aristokratischer Vorbilder spielten.7Aristokratinnen: s. Diemel 1998, Repräsentantinnen des Bürgertums: s. Kocka 1988.

    Bälle, Banketts, Ausflugsfahrten, Kleidung, Sitten und Umgangsformen, materielle Güter, Hygiene, Disziplin und Alltagsgestaltung der Neuankömmlinge trugen mittel- wie langfristig dazu bei, dass sich Griechinnen und Griechen dem bürgerlichen Lebensstil anpassen, wirtschaftlich, beruflich und gesellschaftlich den neuen Herausforderungen entsprechen und damit sozialen Aufstieg und gesellschaftliche Überlegenheit erreichen und zur Schau tragen konnten.8Zu den Kennzeichen und zur gesellschaftlichen Dynamik bürgerlicher Kultur s. Raptis 1998, 237-241 und Wolfgang Kaschuba 1995. Zwar stehen die deutschen und griechischen Eliten im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, doch waren ihre gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen insofern kein exklusives Phänomen, als sie in einen größeren europäischen Zusammenhang eingebunden waren. Dieser umfasste neben den Bayern bürgerlicher und adliger Abkunft, weiteren Deutschen, die im ottonischen Griechenland lebten und tätig waren, sowie autochthonen bzw. auswärtigen Griechen, die bei entsprechendem Anspruch und Weitblick führende Positionen einnahmen, auch gleichrangige Westeuropäer, welche dank der griechischen Unabhängigkeit mit einem deutschen Fürsten an der Staatsspitze in großer Zahl nach Griechenland gekommen waren, dort lebten und Karriere machten. Der deutsche Einfluss auf den griechischen Raum lässt sich überdies vollständiger ermessen, nimmt man ihn als fundamentale Konstante im Rahmen der Einwirkungen Europas insgesamt wahr. Nach Auffassung der bayerischen und der europäischen Eliten überhaupt konnte es zu einer umfassenden Wiedergeburt und Neuerrichtung Griechenlands ohnehin nur durch feste Anbindung an den Westen und schrittweise Anpassung an die westlichen Vorbilder kommen, eine Einstellung, die die griechische Elite, die an deutschen und westeuropäischen Universitäten studiert hatte, nur begrüßen konnte.9Hösch 1986, 81. Was allerdings die kulturelle Struktur betrifft, die das deutsche Element in seine Verflechtungen mit dem griechischen einbrachte, so handelte es sich dabei keineswegs um einen rein deutschen Beitrag, sondern zu großen Teilen um das Resultat vielfältiger Vermischung mit anderen westeuropäischen Vorbildern – im Falle Bayerns vor allem französischen.

    Deutsche, westeuropäische und griechische Eliten: Physiognomie, Dynamik und Parameter ihrer Verflechtungen

    Um verstehen zu können, wie im ottonischen Griechenland die Parameter, die Aktionsebenen und die Dynamik der Verflechtungen der etablierten bzw. sich noch herausformenden Eliten beschaffen waren, bedarf es genauerer Bestimmung ihres Charakters und ihrer Physiognomie. Was den ersten dieser beiden Pole betrifft, so sind unter dem Begriff „deutsche Eliten“ die Führungsschichten des im weiteren Wortsinn deutschsprachigen Raums zu verstehen, der also nicht als nationalstaatliche Größe zu denken ist. Seit dem Wiener Kongress (1815) bis zum österreichisch-preußischen Krieg von 1866 und der daran anschließenden Gründung des Norddeutschen Bunds verteilte sich die deutsche Nation auf 35 bis 39 unabhängige Staaten, die ihrerseits aus den 280 staatlichen Einheiten des deutschen Raums hervorgegangen waren, die es bis in die napoleonische Zeit gegeben hatte.

    In der für die griechisch-deutschen Beziehungen vor, während und nach der ottonischen Periode besonders wichtigen Habsburger Monarchie, unter der einschließlich der deutschen elf größere Nationalitäten ihren Lebensraum hatten, stellten in den städtischen Zentren auch ethnologisch nichtdeutscher Gebiete die Deutschen christlichen und jüdischen Bekenntnisses zumindest bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das dynamischste Bevölkerungselement. Ansonsten wurde das ökonomische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Monarchie, vor allem in ihrem österreichischen Teil, vom deutschen Element beherrscht,10Raptis 2005, 121-122. und dementsprechend dominierten deutsche Eliten einen großen Bereich des europäischen Kontinents, der sich von den Küsten Norddeutschlands bis zu den südslawischen Städten Ljubljana und Zagreb und vom Rheinland und der deutschsprachigen Schweiz bis zur westlichen Ukraine erstreckte. Das Deutsche hatte dort überall die Funktion einer lingua franca.

    Die ersten und mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren in beinahe ganz Europa eine von der Ausstrahlung des deutschsprachigen Raums geprägte Periode, denn dort entstanden Vorbilder, die in Wissenschaft, Ausbildung, Verwaltung und Kunst hohes Prestige erlangten. Auf gesellschaftlich-sozialer Ebene verband sich die kulturelle Ausstrahlung des politisch zersplitterten deutschen Raums schon seit Ende des 18. Jahrhunderts mit der Koexistenz bzw. gegenseitigen (teilweise konkurrierenden) Einflussnahme zwischen einer wirtschaftlich starken, mancherorts auch Kleinstaaten anführenden und kulturell ausstrahlungskräftigen Aristokratie und einem dynamischen, politisch aufstrebenden, gesellschaftlich anerkannten und einflussreichen Bürgertum, das unternehmerisch, vor allem aber akademisch gut geschult war.11Über die von einzigartiger Vielfalt und interner Durchhierarchisierung gekennzeichnete deutsche Aristokratie s. Reif 1999. Zum deutschen Bürgertum im europäischen Rahmen s. Kocka 1988.

    Die Bedeutung, die der deutsche Soziologe Norbert Elias dem Einfluss der höfischen und generell aristokratischen Kultur auf die allgemeine Entwicklung der Wertvorstellungen, Umgangsformen und Kultur im neueren Europa beimisst, hat im Fall des deutschen (und österreichischen) Adels ihr besonderes Gewicht.12Elias 1997. Ob es nun von ihren städtischen oder ländlichen Wohnsitzen aus oder in Ausübung hoher staatlicher Ämter geschah: Es waren hauptsächlich hochgestellte Adlige wie Fürsten, Herzöge und Grafen, die als Angehörige der höfischen Aristokratien in Wien, Berlin, Dresden, München, Stuttgart, Hannover, Wiesbaden, Kassel und anderswo kultiviertes Verhalten und kulturelle Werte pflegten und verbreiteten. Dabei trug die europaweite Verzweigung führender deutscher Adelshäuser über Heiraten und Thronbesetzungen – von Großbritannien bis Russland und von Skandinavien bis Griechenland – das Ihre zu kulturellen Transfers vom deutschen Raum ins übrige Europa bei.13Raptis 2010, 150 u. 157. Über kaiserliche/königliche Höfe und Hofgesellschaften in den deutschen Staaten (unter Einschluss der Habsburger Monarchie) s. Möckl 1990.

    Andererseits verfügte das deutsche Bildungsbürgertum mit seinen öffentlichen Funktionsträgern und Freiberuflern mit qualifizierten Abschlüssen über ein hohes Prestige, das auf Anerkennung, wertschätzender Nutzung und Auszeichnung seitens der deutschen Staaten und ebenso auf der enormen Entwicklung und Hochschätzung vor allem der gymnasialen und universitären Bildung im deutschsprachigen Europa beruhte.14Über das Bildungsbürgertum und die Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland s. Wehler 1987, 210-217 u. 281-303 sowie Wehler 1996, 210-237 u. 478-520. Die deutschen klassisch-neohumanistischen Gymnasien, die technischen Schulen und polytechnischen Institute, die sich zu Technischen Universitäten weiterentwickelten, erfreuten sich gesamteuropäischer Anerkennung, zugleich waren seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die deutschen Universitäten mit ihrer Verbindung wissenschaftlicher Forschung und akademischer Lehre zum Vorbild für die ganze Welt geworden.15Wehler 1987, 292. Die 1815 anlässlich des Wiener Kongresses erfolgte Eingliederung vieler deutscher Kleinstaaten in größere, entsprechend gewichtigere Staaten gewährleistete diesen ein großes Reservoir an gebildeten und erfahrenen staatlichen Funktionsträgern und Wissenschaftlern – so auch Bayern mit seiner während der ottonischen Periode so zentralen Bedeutung für die griechisch-deutschen Verflechtungen. Dafür sind die einzelnen, teils ordentlichen, teils von Fall zu Fall herangezogenen Mitglieder des ottonischen Regentschaftsrats ein bezeichnendes Beispiel für die Bildung, gesellschaftliche Stellung und Qualifikation der Bayern und sonstigen Deutschen, die nun an die Spitze der griechischen Verwaltung gesetzt wurden: Joseph Ludwig Graf von Armansperg (1787-1853), aus hochrangigem altbayerischem Adel und Gatte einer Münchner Hofdame, diente seit 1829 als Innen-, Wirtschafts- und später als Außenminister des Königreichs Bayern, bevor er in Griechenland den Vorsitz des Regentschaftsrats übernahm.16Seidl 1981, 337-338. Der aus einer Beamtenfamilie stammende, ein ideales Beamtentum verkörpernde Karl August Ritter von Abel (1788-1859) übernahm nach seiner Rückkehr aus Griechenland die Position des bayerischen Innenministers, während Georg Ludwig von Maurer (1790-1872), bevor er im neu entstandenen griechischen Königreich die Etablierung des Rechts- und Schulwesens und dazu die Lenkung der kirchlichen Angelegenheiten übernahm, als Juraprofessor an den Universitäten von Heidelberg und München gelehrt hatte und von Ludwig I. zum lebenslangen Reichsrat des Königreichs Bayern ernannt worden war.17Ebd., 337 u. 347.

    Die Werte, Vorbilder, Umgangsformen, Formen kultivierten Lebens und gesellschaftlichen Bewusstseins, die die deutschen Bürger und/oder Adligen teilten, glichen in hohem Maße denen der anderen europäischen Eliten, die entsprechend geprägt auch im ottonischen Griechenland zu finden waren und dort mit gleichgestellten Deutschen und Griechen in Beziehungen des Austausches und der Verflechtung traten.18Zur europäischen (und deutschen) Bürgerkultur s. Kocka 2000, 155-167 bzw. die deutsche Originalausgabe Kocka 1995, 17-22. Über das Überleben und die Bewahrung des gesellschaftlichen und kulturellen Kapitals des Adels in den Ländern West- und Mitteleuropas im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts s. Raptis 2010, 148.

    Die deutsch-bayerischen Einflüsse dürfen nicht als ausschließliche Grundlage überbewertet werden, auf der es in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Kontakten zwischen der griechischen Welt und dem Westen kam: auch vor dem Eintreffen König Ottos und der Etablierung seiner Herrschaft verfügten die Griechen über Wege der Kommunikation mit dem Westen und zur Übernahme moderner bürgerlicher Vorbilder, und zwar vor allem in den Zentren der griechischen Diaspora (Wien, Budapest, Venedig, Triest, Marseille, Amsterdam, London u.a.m.), sowie in den deutschen Universitätsstädten, den Donaufürstentümern und den Großstädten des Osmanischen Reichs mit bedeutender westeuropäischer Präsenz wie Konstantinopel, Smyrna und Thessaloniki.

    Die historische Forschung hat erwiesen, dass davon abgesehen die griechischen kaufmännischen und geistigen Eliten auf dem Balkan und im Osmanischen Reich überhaupt zumindest bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle bei der Übernahme und Verbreitung von Elementen west- und mitteleuropäischer Kultur spielten. Schon seit dem 18. Jahrhundert wurden die Griechen mitsamt zahlreichen griechischsprachigen bzw. hellenisierten Serben, orthodoxen Albanern und besonders Vlachen aufgrund ihrer Mobilität und geographischen Omnipräsenz zu einer Art balkanischer Bürgerklasse , deren kontinentale Handelsgeschäfte mit dem größtenteils deutschen Mitteleuropa eine bedeutende Diaspora griechisch-orthodoxer Gemeinden entstehen ließ.19Tziovas 2003, 4-6.

    Andererseits sollte nicht die neue Dynamik unterschätzt werden, die sich für die griechisch-westeuropäischen Verflechtungen mit dem Eintreffen des neuen bayerischen Herrschers und seiner Entourage in Griechenland ergab, ebenso wenig die Gründung des neuen Staates und die Bestimmung Athens zu seiner neuen Hauptstadt (1834). Denn der Königliche Hof und die neuen Strukturen im südgriechischen Territorium ließen einen aus sich selbst heraus wirkenden Pol entstehen, der im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Anziehungskräfte entwickelte, erstmals Führungsgruppen und -persönlichkeiten um sich sammelte und neue, grundsätzlich westlich orientierte gesellschaftliche und kulturelle Vorbilder assimilierte, pflegte und verbreitete.20Vgl. Petropoulos/Koumarianou 1977, 19.

    Deutsche, weitere Europäer, autochthone, vornehmlich aber aus anderen Gebieten stammende, wohlhabende und kultivierte Griechen besetzten die Positionen am Hof,21Wenn auch gering an Zahl, spielten die Griechen aus anderen Gebieten doch eine bedeutende Rolle im ottonischen Griechenland: zum einen handelte es sich um Insulaner aus Chios und Psara, die in Hermoupolis auf Syros als Unternehmer tätig waren, zum anderen um im Westen ausgebildete Intellektuelle und Gelehrte sowie um erfahrene Fanarioten mit nützlichen Fähigkeiten für politische und geistige Führungspositionen. Petropolulos/ Koumarianou 1977, 19. im diplomatischen Korps, im Heer und im Bildungswesen und entsprachen so dem gesteigerten Bedarf an Kenntnis, Qualifikation und Erfahrung, wobei sich Kaufleute, Gewerbetreibende und freie Unternehmer vorrangig in Athen und in zweiter Linie in städtischen Zentren der Provinz niederließen, um sich die zunehmende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zunutze zu machen. Bei der Analyse der Verflechtungen zwischen den verschiedenen Führungskreisen ist die Grenzmarke der Revolution von 1843 im Auge zu behalten, bei der es zur Entfernung der meisten Fremden, vor allem der Bayern und sonstigen Deutschen aus ihren Positionen im staatlichen Mechanismus und zu ihrer Ersetzung durch Griechen kam.

    Fest im Blick: der Westen und die griechische Antike – zu den ideologischen Rahmenbedingungen der Verflechtungen

    Die Verflechtungen der deutschen, westeuropäischen und griechischen Eliten waren von einer stabilen Westorientierung der letzteren gekennzeichnet – sie hatte sich im Vergleich zur Entwicklung der westlichen Ausrichtung der Eliten anderer Balkanvölker beachtlich früh eingestellt.22Skopetea 2003, 71. Nach Auffassung der bayerischen und auch der westeuropäischen Eliten generell würde es zu einer Wiedergeburt und einem Wiedererstehen Griechenlands nur über eine enge Anbindung an den Westen und die schrittweise Anpassung an seine Leitbilder kommen können – eine Position, mit der die griechische geistige Elite, die grundsätzlich an westeuropäischen, vor allem deutschen Universitäten studiert hatte, durchaus willkommen war.23Hösch 1986, 81. Die europäischen Eliten kennzeichnete intensives Interesse am einstigen Lebensraum des klassischen Griechenland, den sie gewissermaßen als legitimes Erbe des Westens betrachteten – schließlich zählte die griechisch-römische Antike zu den Grundpfeilern europäischer Identität und europäischen Überlegenheitsgefühls gegenüber der übrigen Welt, deren koloniale Eroberung und Abhängigkeit von den westeuropäischen Ländern bis Ende des 19. Jahrhunderts zum Abschluss kam.24Über Griechenland als legitimes Erbe s. Skopetea 2003, 176.

    Die Entdeckung und Aneignung des kostbaren Erbes der griechischen Antike durch das geistig aufgeschlossene Bürgertum und den gebildeten Adel in Großbritannien und Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts prädestinierte die Griechen im Vergleich zu anderen Balkanvölkern von vornherein für eine Europäisierung, auch wenn man aus Europas bevormundendem Blickwinkel diese wegen ihrer kulturellen Unreife und der für manche Europäer deprimierenden Umstände im griechischen Raum vor, während und unmittelbar nach der griechischen Revolution von 1821 als Bestandteil eines „nichteuropäischen Orients“ wahrnahm.25Fuhrmann 2011, 45-48. Die griechische Nation – so Elli Skopetea – war ihrerseits von Anfang an entschlossen, die Rolle einer Art Kommunikationskanals zu übernehmen, der sich in den Dienst der Kultivierung des orientalischen Ostens und seiner Öffnung nach Westen in einer Art und Weise stellte, die aus dem europäischen Einfluss zuweilen einen eigentlich griechischen werden ließ.26Skopetea 2003, 176.

    Die Verflechtungen als kulturelle Transfers

    Die Verflechtungen der Eliten im ottonischen Griechenland lassen sich auch im Prisma kultureller Transfers von Deutschland und Westeuropa in den griechischen Raum untersuchen, erfüllen sie doch exakt die Grundannahmen der Theorie vom Kulturtranfer („cultural exchange“): die theoretische Betrachtung der Eliten-Verflechtungen steht im Einklang mit einer breit angelegten Auffassung des Kulturbegriffs, der unter Gütern und Gegenständen kultureller Transfers und Verflechtungen materielle bzw. geistige Güter, politische und andere institutionelle Formen, dazu Objekte wie Bücher, wissenschaftliche Instrumente, Arten der Kleidung, Sichtweisen, Werte und kulturelle Usancen versteht, die von einer Kultur in die andere übertragen werden.27Stedman/Zimmermann 2007, 9. Sie bestätigt auch, dass „Nationalkulturen“ nie aus sich heraus homogene Einheiten sind, sondern prinzipiell von Kulturtransfers zehren,28Ebd. 10-11, 14. die zum Zusammenhalt einer gesellschaftlichen Schicht (wie in unserem Fall der Eliten der ottonischen Zeit) beizutragen vermögen.29Schmale 2003, 42. Besonders nützlich zum Verständnis der sich auf Ebene der Eliten vollziehenden kulturellen Transfers vom deutschen und weiteren westeuropäischen Raum nach Griechenland ist die Sicht von M. Gassert: Ihm zufolge ist der Transfer fremder kultureller Elemente, sofern er sich in kleinen Schritten vollzieht und viel Eingewöhnungszeit in die aufnehmende Kultur in Anspruch nehmen kann, ein gutes Mittel zur allmählichen Einführung des Neuen, Innovativen in eine Kultur.30Gassert 2001, 65-71, zitiert nach Kafantojias 2013, 140-141.

    Akteure der Verflechtung: Bayern, Deutsche insgesamt, Griechen und Westeuropäer

    Wiewohl eine beträchtliche Zahl von Europäern, vorwiegend Philhellenen und Militärs meist bürgerlicher bzw. adliger Abkunft, bereits während oder kurz nach der Revolution von 1821 nach Griechenland gekommen waren, erwiesen sich doch die Ankunft König Ottos in Griechenland und die Ausrufung Athens zur Hauptstadt der griechischen Monarchie (1833-1834) als eigentliche Marksteine für die massenhafte Niederlassung von „Fremden“, also von Ausländern und Griechen auswärtiger Herkunft. „Der Hof, die Ministerien und die Botschafterposten fungierten als Pole der Anziehung. Sie wurden vorwiegend mit Ausländern besetzt, die eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung der europäischen Gemeinschaften in Athen spielten.“ (Potamianos, 2017)

    Unter den etwa 10.000 Bayern und übrigen Deutschen, die mit Otto nach Griechenland kamen, um mit ihren Diensten zur Gründung des neu entstandenen Staates beizutragen, waren 5.000 Militärs (Offiziere), Amtsträger, Beamte, Ärzte, Architekten, Techniker und Ingenieure, Rechtskundige, Künstler und weitere Freiberufler, Wissenschaftler, Universitätsprofessoren und Archäologen.31Seidl 1984, 22-23. Viele Deutsche, die sich in Athen niederließen, waren Spezialisten im Straßen-, Häuser- und Gartenbau etc., während zahlreiche andere sich freiberuflich als Drucker, Buchhändler, Gastwirte, Restaurantbetreiber und Apotheker betätigten. Auch 1843, nach der Beendigung der „Bavarokratie (Bayernherrschaft)“, die einen massenhaften Abzug deutscher Amtsträger, Militärs und Beamten aus Griechenland zeitigte, waren es nicht wenige Deutsche, die in Griechenland blieben, weil sie Griechinnen geheiratet oder sich in Athen als Techniker, Kaufleute und Wissenschaftler niedergelassen hatten. Ihre Zahl belief sich 1862 auf 400 Personen.32Potamianos 2017.

    Obwohl insgesamt nicht sehr zahlreich, bildeten die Professoren der König-Otto-Universität in Athen eine distinguierte kosmopolitische Elite. Sieben der 34 Erstberufenen waren Deutsche (die im Zusammenhang mit der 1843er Revolution wieder entlassen wurden),33Konstantinou 1986, 202. während mehr als die Hälfte der (griechischen) Professoren, die bis 1870 an der Athener Universität lehrten, an verschiedenen Universitäten der eigenständigen Staaten Deutschlands und Österreichs studiert hatten.34Lappas 2003, 153-154.

    In einer Zeit, in der die Kunstmalerei noch überragende Bedeutung für die Repräsentation und das Selbstverständnis der europäischen Eliten hatte, war die Anwesenheit von ausländischen Künstlern im ottonischen Griechenland von maßgeblichem Gewicht für die Begegnungen und den Austausch auf den Feldern der Kunstmalerei und Plastik. Italiener wie Pierre Bonirote, Raffaello Ceccoli und Vicenzo Lanza, doch vor allem deutsche Künstler wie u.a. Peter von Hess, Carl Wilhelm Heideck, Karl Krazeisen, Karl Rottmann, Ludwig Thiersch, Josef Petzl, Karl Rahl, Christian Siegel legten kunsterzieherische Fundamente und richteten junge Studenten der Kunstmalerei und Bildhauerei in der 1837 gegründeten Kunstschule Athen nach München aus, das zur Zeit des bayerischen Königs Ludwig I., Vater König Ottos und leidenschaftlichen Unterstützers Griechenlands, ein bedeutendes kulturelles und künstlerisches Zentrum Deutschlands war.35Charalambidis 1986, 144.

    Zu den griechischen Stipendiaten in München zählten einige der bedeutendsten Kunstmaler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und namhaften Vertreter der griechisch-deutschen Verflechtungen wie Theodoros Vryzakis, Nikiforos Lytras (von 1866 bis 1904 Professor an der Kunsthochschule Athen), Konstantinos Panorios, Konstantinos Volanakis, Jeorjios Iakovidis, Polychronis Lembessis, Jeorjios Chatzopoulos und Symeon Savvidis als Angehörige der sogenannten „Münchner Schule“. Der glanzvollste Fall war Nikolaos Gysis, der 1880 zum Ehrenmitglied und 1888 zum Ordentlichen Professor der Münchner Akademie der Bildenden Künste ernannt wurde.36Ebd. 144-145 u. 147.

    Eine Schlüsselstellung beim Ineinanderwirken griechischer, deutscher und weiterer Eliten Europas nahm im ottonischen Athen die besonders internationale und kosmopolitische Gemeinschaft der Architekten ein: sie waren in den ersten Herrschaftsjahren König Ottos auf eigene Initiative aus ganz Europa nach Griechenland und insbesondere nach Athen gekommen, um die antiken Monumente vor Ort zu studieren. Eine beträchtliche Zahl unter ihnen brachte sich und ihr Können in besoldeten Positionen ein.37Travlos/Kokkou 1977, 521.

    Zu einem Zusammenwirken ausländischer und griechischer Architekten kam es in kleinerem Maßstab bereits zu Zeiten der Regentschaft von Kapodistrias, der im Juli 1829 ein „Korps der mit Festungsbau und Architektur betrauten Offiziere“ etablierte, welches – unter Teilnahme griechischer und französischer Offiziere aus der Armee Maisons – dem französischen Oberst Garnot unterstellt war. Viele dieser ersten Militäringenieure bildeten später den Kern des Ingenieurkorps, das unter König Otto gegründet wurde. Ein charakteristisches Beispiel für die Verflechtungen und die Zusammenarbeit dieser Zeit war das Absolventenpaar der Berliner Akademie der Künste Stamatios Kleanthis (aus Velvendos bei Kozani) und Eduard Schaubert (aus dem schlesischen Breslau), beide Schüler des berühmten preußischen Architekten Karl Friedrich Schinkel, die im Juni 1830 zu „Regierungsarchitekten“ ernannt wurden.38Ebd. 520. Viele der bayerischen Ingenieure, Architekten und Landvermesser, die 1833 mit König Otto in Griechenland eintrafen, stellten mit anderen, die ihnen in den Jahren darauf folgten, das Personal der damals eingerichteten architektonischen Dienststellen aus. Die deutschen Baumeister G. Lüders, Röser und Hoffer, der Däne Chr. Hansen, dazu Th. Komninos und als Planer der junge P. Kalkos waren die ersten, die die Architekturabteilung des Innenministeriums unter Eduard Schaubert (1834-1843) besetzten.39Ebd. 521.

    1838 traf der junge dänische Architekt Theophil Hansen in Griechenland ein, wo sich sein Bruder Christian bereits aufhielt. Mit seinen richtungsweisenden Schöpfungen im kaiserlichen Wien (Musikverein, Parlament und Börse in der Ringstraße)40In Anerkennung seiner Verdienste wurden ihm von Kaiser Franz Josef die Adelstitel eines Ritters und danach eines Barons verliehen. sollte er im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Architekten des Klassizismus in Europa zählen. Als weiterer Architekt ließ sich ein Jahr vor der Entthronung König Ottos (1861) der 24jährige Sachse Ernst Ziller, der nach seinem Studium in Dresden drei Jahre als Planungszeichner im Wiener Architekturbüro seines Mentors Theophil Hansen (1813-1891) tätig gewesen war, dauerhaft in Griechenland nieder. Ziller, einer der größten Architekten des europäischen Neoklassizismus, plante und überwachte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Errichtung hunderter öffentlicher und privater Gebäude in Athen und Umgebung und wirkte damit prägend auf die Physiognomie des griechischen städtischen Raums ein.41Lambraki-Plaka 2010, Kassimati 2010, 15 und Travlos/Kokkou 1977, 525-526.

    Im Rahmen der „wahrhaften Baurevolution“, zu der es in den Regierungsjahren Ottos dank der internationalen Architektengemeinschaft kam, war auch der Beitrag namhafter, an europäischen Schulen und Akademien ausgebildeter griechischer Baumeister wie Stamatios Kleanthis, Lyssandros Kaftantzoglou, Dimitrios Zezos und Panajis Kalkos (letzterer mit einem Stipendium König Ottos von 1837-1843 in München) von erheblichem Belang.42Travlos/Kokkou 1977, 522.

    Die Fälle griechischer Professoren, Kunstmaler und Architekten, die während oder nach der ottonischen Epoche im Anschluss an einen Auslandsaufenthalt bzw. an ein Studium dort ihre Tätigkeit aufnahmen, erweisen, dass sie in ihren jungen Jahren, als sich abzeichnete, dass sie auf künftige Führungspositionen im Staat und in der Gesellschaft Griechenlands zusteuern würden, in Kontakt und Austausch mit Vertretern hauptsächlich akademischer Eliten u.a. im deutschsprachigen Raum, in Frankreich und Italien gekommen waren und somit ihre Verflechtungen auf griechischem Boden Folge wie auch immer gearteter Verflechtungen im vorwiegend deutschsprachigen Europa waren oder diesen bereits vorausgegangen waren.

    Von besonderem Interesse ist bei diesen räumlich und zeitlich aufeinanderfolgenden Verflechtungen die Hauptstadt der habsburgischen Monarchie Wien, die das bedeutendste Zentrum der griechischen Diaspora und für die längste Zeit des 19. Jahrhunderts die bevölkerungsreichste Stadt der deutschsprachigen Welt war. Als Sitz der meisten griechischen Handelshäuser außerhalb des Osmanischen Reichs trat Wien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als bedeutendes unternehmerisches, geistiges und verlegerisches Zentrum des Griechentums in Erscheinung,43Sirinidou 2007, 130. dessen Großkaufleute voll und ganz in das Wiener Bürgertum integriert waren.44Sirinidou 2011, 369-370. Wenngleich die griechisch-deutschen Verflechtungen in Wien ihre eigene Geschichte und Dynamik haben und nicht mit denjenigen im ottonischen Griechenland vermengt werden dürfen, so bezeugt doch mancher persönliche Lebensweg die Querverbindungen zwischen griechisch-deutschen Verflechtungen auf österreichischem, deutschem und schließlich griechischem Boden.

    Bemerkenswert ist der Fall des in Wien geborenen Anastassios Christomanos, eines hervorragenden, an deutschen Universitäten und technischen Hochschulen in Berlin, Karlsruhe und Heidelberg ausgebildeten Wissenschaftlers, der 1869 zum Chemieprofessor und später zum Rektor der Athener Universität gewählt wurde.45Stassinopoulou 2006, 168-169. Ebenfalls in Wien geboren war auch Maria Manoussi, Enkelin des aus Siatista stammenden Großkaufmanns mit ungarischem Adels- und Gutsbesitzertitel Ioannis Manoussis (1764-1831), die 1849 in Athen den hochangesehenen Juristen, Universitätsprofessor und Politiker Pavlos Kalligas heiratete: er wurde nach Studienzeiten auch in München an der Universität Heidelberg als Jurist promoviert. Theodoros Manoussis (geb. 1793 in Siatista, gest. 1858 in Athen) war ein Neffe von Ioannis Manoussis, der als Kind und junger Mann in Ungarn und in Wien gelebt und dann in Dresden und Leipzig studiert hatte; er wurde 1840 zum Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Athen ernannt und dort für das akademische Jahr 1845-1846 zum Rektor gewählt.46Laiou 1982, 152-153 u. 162-175. K. Th. Dimaras bemerkt dazu treffend: „Das neu errichtete Staatswesen bedurfte kultivierter und gebildeter Menschen: Manoussis‘ umfassende Bildung, seine finanzielle Unabhängigkeit und seine Deutschkenntnisse erleichterten ihm den Aufstieg enorm […]“.47Politis 2000, 170.

    Neben der Präsenz von Diplomaten, Militärs, Künstlern, Archäologen, Architekten, Ingenieuren/Technikern, Universitätsprofessoren und Wissenschaftlern wie Ärzten, Pharmazeuten und Chemikern, die als Vertreter der europäischen Eliten in Griechenland tätig wurden und eine maßgebliche Rolle bei den gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen mit den führenden Schichten des Griechentums spielten, ist auch diejenige von erfolgreichen Händlern und Gewerbetreibenden hervorzuheben, die schon seit den 1830er Jahren unternehmerischen und technologischen Fortschritt aus Europa in die griechische Hauptstadt brachten. Der Italiener Casali gründete mit seiner österreichischen Frau das erste Hotel der Stadt. Auch der Gründer des Kaffeehauses „Schönes Griechenland“, bis in die 1870er Jahre Brennpunkt des Athener Lebens, war Italiener. Aus Westeuropa stammten ebenso die nach westlicher Mode arbeitenden Schneider und Textilhändler, die in der Stadt ihre Läden eröffneten, während in den Jahren nach 1860 aus Frankreich kommende Friseure, bei denen viele Griechen in die Lehre gingen, zur Verbreitung und Verfeinerung der Frisierkunst beitrugen.48Potamianos 2017.

    Kurz vor bzw. nach der Vertreibung König Ottos wurden bayerische Unternehmer zu Gründern zweier großer Firmen, aus denen Wahrzeichen der griechischen Wirtschaft werden sollten: Gustav Clauss begründete die erste große und moderne Weinfabrikation in Griechenland („Achaia Clauss“) und Johann Georg Fix 1864 die erste in großem Maßstab produzierende Bierbrauerei „Fix“.49Ebd.

    Die Institutionen und der städtische Raum als Felder der Verflechtung

    Die ottonische Ära bot insofern besonders günstige Bedingungen für die Verflechtung der Eliten, als zu Ottos und der Bayern Zeiten die Grundlagen des erneuerten griechischen Staats geschaffen wurden50Seidl 1984, 22-23. und dazu Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen entstanden, die sich auf Initiativen und Aktivitäten führender Schichten stützten und die Herausformung und Integration neuer Eliten auslösten.

    Die Universität und das Polytechnikum

    Eine bedeutende Kernzone der grundlegend (aber nicht ausschließlich) griechisch-deutschen Verflechtungen im ottonischen Griechenland bildeten seit 1837 die Universität Athen (die erste auf dem Balkan überhaupt) und das Polytechnikum.51Raptis 2010 II, 99-100. Die Athener Universität wurde nach dem Vorbild deutscher Universitäten, vor allem Göttingens, strukturiert. Die Gründungserlasse von 1837, die getreue Übersetzung der Lehrstuhltitel aus dem Deutschen, die Rangabstufungen innerhalb des Lehrkörpers und die Besoldung der Professoren, dazu der Umstand, dass die Mehrheit der deutschen wie griechischen Professoren im für seine Universitäten berühmten Deutschland studiert hatten, bezeugen den deutschen Einfluss.52Tsirpanli 1979, 334-339.

    Der Universität war auch der Botanische Garten auf dem ehemaligen Anwesen von Chassekis unterstellt; dort wurde 1920 der Hochschule für Bodenkultur Athen eine Heimstatt gegeben. Deutsche Gärtner und Dendrologen begannen ab 1835 unter Anleitung von Nikolaus Karl Fraas, dem ersten Professor für Botanik an der neu gegründeten Athener Universität und seit 1847 Professor für Agronomie in München, mit der Einrichtung des Botanischen Gartens und ab 1839 auch des Königlichen Gartens.53Die endgültige Ausgestaltung des Königlichen Gartens erfolgte zwischen 1847 und 1854 durch den französischen Gartenarchitekten François Louis Bareaud; er kam aus Konstantinopel, wo er später die Gärten des Dolmabahçe-Palastes erschuf (Papageorgiou-Venetas, 2004, 40). Unter der Leitung des international berühmten und anerkannten Dresdner Botanologen und Agronomen Theodor von Heldreich folgte der Aufbau des Botanischen Gartens zeitgenössischen europäischen Vorbildern.54Bofilias 2004, 66-68 u. Papageorgiou-Venetas 2004, 36.

    Heldreich war zudem von 1858 bis 1883 leitender Betreuer des Naturkundlichen Museums der König-Otto-Universität, das Sammlungen der „Naturkundlichen Gesellschaft“ beherbergte. Diese war am 16. April 1835 von dem Pflanzenkundler und nachmaligen Professor für Systematische Botanik Nikolaus Karl Fraas (s.o.), dem Pharmazeuten und außerordentlichen Professor für Chemie und Experimentalphysik an der Universität Athen Xaver Landerer, ferner von dem Honorarprofessor der Naturgeschichte Kyriakos Domnandos aus Wien sowie von deutschen Ärzten und griechischen Naturforschern aus dieser Zeit gegründet worden.55Stefanidis 1948, 5-6, 33-34.

    Die deutsch-österreichische (und bayerische) Präsenz manifestierte sich im neu errichteten griechischen Staat besonders intensiv und nachhaltig bei der technischen Ausbildung und Modernisierung. Der bayerische Offizier Friedrich von Zentner, der erster Direktor des Polytechnikums (1837-1843) wurde und als Begründer der technischen Ausbildung in Griechenland gilt, nutzte seine beruflichen und gesellschaftlichen Verbindungen, wie etwa diejenige zum Leiter der Technischen Schule Wien G. Vollherr, um zu Unterstützung aller Art für sein neugegründetes Institut zu kommen (der König selbst wurde übrigens in derselben Richtung aktiv). Viele der Handbücher, weiteren gedruckten Materialien, Werkzeuge und Schaubilder von Konstruktionen für das Polytechnikum waren deutsch-österreichischer Herkunft.56Fenerli 2003, 164-166.

    Der Königliche Hof und die Entwicklung des gesellschaftlichenLebens in Athen

    König Ottos Hof und vor allem die dort stattfindenden Festlichkeiten wurden für die Eliten zum privilegierten Raum der Begegnung und Verflechtung, denn hier bot sich für Mitglieder der griechischen Mittel- und Oberschicht Gelegenheit, mit Deutschen und anderen Europäern aus Bürgertum und Adel in Kontakt zu kommen und sich zugleich mit der im wesentlichen deutschen Hofkultur vertraut zu machen.57Der europäische, nach Herkunft und Ausprägung eher heterogene Typus höfischer Kultur in den neuentstandenen Balkanmonarchien des 19. Jahrhunderts stand hauptsächlich unter dem Einfluss der deutschen Hofkultur. Dazu s. Lauer 1994, 411. Es handelte sich bei solchen Anlässen um 300 bis 500 eingeladene Personen (600 bis 700, wenn man die Gattinnen und Töchter hinzurechnet). Die meisten waren Funktionäre des Staatsapparats: Hochrangige Beamte, Offiziere, Parlamentarier und Senatoren. Jährlich wurden etwa sieben bis acht Bälle und Feste abgehalten, deren Anlässe verschiedene Jahrestage und natürlich der Karneval waren; zum 25. Jubiläum der Monarchie zählten auch Griechen aus der Provinz zu den Eingeladenen.58Hering 1994, 271 u. 274.

    Die Hofkultur übte bestimmenden Einfluss auf Formen und Charakter des gesellschaftlichen Lebens in der Hauptstadt aus. Diplomaten, Hofbeamte, Universitätsprofessoren, hochrangige Offiziere und die Präsidenten des Parlaments wie des Senats zählten häufig zu den Teilnehmern an abendlichen Bällen, die nach deutschem und westeuropäischem Vorbild in der Wintersaison stattfanden. Europäische Tänze, die von Griechen anfänglich nur als Minister und Adjutanten im Palast mitgetanzt wurden, verbreiteten sich relativ rasch auch bei gesellschaftlichen Veranstaltungen der mittleren und höheren Kreise, deren Garderobe, Umgangsformen und Lebensstil überhaupt sich zunehmend europäisierten.59Ebd. 276 u. 280.

    Eine Schlüsselrolle bei den gesellschaftlichen und kulturellen Verflechtungen der teils ausländischen, teils einheimischen Eliten der Zeit Ottos spielten die an den Hof bestellten deutschen Damen, die Diplomatengattinnen und andere Vertreterinnen der kosmopolitischen Elite. Die große Ehrenhofdame und Vertraute Königin Amalias, Wilhelmine von Plüskow,60Sie hielt sich von 1839 bis 1862 in Griechenland auf; danach begleitete sie das Königspaar ins Exil. unter deren Aufsicht und Schutz neben den deutschen Damen bei Hofe auch die westeuropäischen Gattinnen der deutschen Hofbeamten standen, vermittelt auf den Seiten ihres Tagebuchs (1846-1854) Momentaufnahmen ihrer Begegnungen mit europäischen wie griechischen Vertretern des politischen, geistigen und wirtschaftlichen Lebens bei Anlässen wie Spaziergängen, Ausflügen, Bällen, Diners und ähnlichem.61Plüskow 2014. Die häufigen Ausflüge und Reisen in der Frühlings- und Herbstzeit, die mit dem Besuch archäologischer Stätten einhergingen, boten gute Gelegenheit zu gesellschaftlichem Umgang zwischen gebildeten und wohlhabenden Griechen auf der einen und Ausländern auf der anderen Seite.62Busse 2010, 88.

    Eine der gebildetsten und kultiviertesten Gastgeberinnen Athens war in ihrem Hause die talentierte Pianistin und Kunstliebhaberin Irene Prokesch, Tochter des Wiener Musikprofessors Raphael Georg Kiesewetter und Gattin des österreichischen Botschafters, Anton Prokesch von Osten. Wie auch andere Häuser von Europäern bot ihre vom Wiener Architekten Anton Rösner entworfene Privatvilla in der Phidias-Straße Nr. 3 einem erlesenen Kreis eingeladener Gäste den Ort für Diners, Soireen und musikalische Abendveranstaltungen.63Ebd. 80 u. 86.

    Die Dominanz kultureller Vorbilder europäischer Provenienz innerhalb der hybriden Elite der Hauptstadt zu Zeiten König Ottos zeigte sich besonders nachdrücklich an der Verbreitung europäischer städtisch-bürgerlicher Kleidung, die im politischen und gesellschaftlichen Leben gern als Produkt einer überlegenen Leitkultur geschätzt und akzeptiert wurde.64Hering 1994, 274-275.

    Baulichkeiten und Elite

    Die Unterbringung von Institutionen wie Universität, Königlicher Hof, staatliche Dienststellen und Krankenhäuser, Bildungs-, Wissenschafts- und Wohltätigkeitseinrichtungen in teils neu errichteten, teils wiederhergestellten, dabei häufig wie Monumente bzw. Wahrzeichen wirkenden Gebäuden, die sich den Eliten als Foren der Verflechtung anboten, ließ diese teils schon existierenden, teils im Entstehen begriffenen Stätten für die Repräsentanten der griechischen und ausländischen (vorwiegend deutschen) Eliten zu Orten der Begegnung, des geselligen Umgangs und der gegenseitigen Einflussnahme werden und mit der Ausstrahlung ihrer sozialen wie kulturellen Vorbilder auf die Schichten einwirken, die bei deren Errichtung bzw. funktionalen Nutzung hier betroffen und einbezogen waren. Gleiches lässt sich, wenn auch in anders dimensioniertem Zuschnitt, über die Baulichkeiten der wohlhabenden Schichten in den städtischen Zentren sagen.

    Das Baufieber während der Regierungszeit König Ottos beschränkte sich nicht nur auf Athen. Aufgrund der weitreichenden Kriegszerstörungen gab es in einer ganzen Reihe von Städten wie Livadia, Theben, Messolongi, Argos, Tripolis und Kalamata Wiederaufbaubedarf; daneben kam es zu zehn Stadtneugründungen, unter denen Patra, Sparta, Piräus und Korinth die wichtigsten waren.65Petropoulos/Koumarianou 1977, 102. Die neoklassizistische Architektur, die während der ottonischen Zeit und später in Athen und Piräus so reüssierte, breitete sich auch in Provinzstädten wie Nafplio, Patras, Pyrgos, Tripolis, Sparta, Kalamata, Chalkida, Ermoupolis und Ägina aus. Öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Schulen, Theater, Museen, Gerichte, Krankenhäuser, Eisenbahnstationen und Markthallen, ebenso auch eine beträchtliche Menge an Wohnhäusern folgten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Stätten der Arbeit, der Bildung, des Austausches, des gesellschaftlichen Verkehrs, der Erholung und als Wohnungen der provinziellen Eliten dem Vorbild der Hauptstadt.66Travlos/Kokkou 1977, 528.

    In Athen als neuer Hauptstadt kam es indessen als Folge des dringenden Unterbringungsbedarfs für die neu zugezogenen Einwohner und all die vielen Dienststellen der Zentralregierung zu einem sprunghaften Bevölkerungsanstieg67Die Bevölkerung Athens wuchs in der ottonischen Periode um das Sechsfache: aus 7.223 Einwohnern im Jahre 1834 waren 1861 43.371 geworden (Dimitropoulou, 2005, 123-124). und damit verbundener rasanter Bautätigkeit.68S. Fußnote 65. Entsprechend drückte die kosmopolitische, ethnisch vor allem griechisch-deutsch gemischte Elite im ottonischen Griechenland als Finanziers, Planer, Funktionäre, Nutzer und Bewohner einer großen Menge neuer Gebäude der Stadt ihren städtebaulichen und architektonischen Stempel auf.

    Im Jahrzehnt 1834-1844 wurden der Palast, die Universität, die Staatliche Münzstätte und die Staatsdruckerei fertig gestellt. Zwischen 1834 und 1836 wurden um die 1.000 Privathäuser errichtet; 1842 gab es in Athen bereits 550 Wohnhäuser, die 10.000 Drachmen und mehr wert waren, darunter so luxuriöse wie diejenigen von Ambrosios Rallis, Manoussis, Lassanis, Rizaris u.a.69Ebd. Während der Herrschaft König Ottos wurden in der Hauptstadt von deutschen, dänischen, französischen und griechischen Architekten Bauten geplant, begonnen und durchgeführt, die den Charakter echter Wahrzeichen aufwiesen, darunter das Militärhospital am Makryjiannis, die Sternwarte, die Arsakion-Schule, die Augenklinik, das Polytechnikum, das Varvakion Lyzeum, die Akademie, das Alte Parlament, das Chatzikosta-Waisenhaus, das Amalien-Waisenhaus und das Staatliche Findelkinder-Haus.70Charalambidis 1986, 143-144, Dimitrakopoulos 1977, 178, Travlos/Kokkou 1977, 523 524.

    Epilog

    Die Zeit des Regentschaftsrates und der Königsherrschaft Ottos (1833-1862) war für die griechisch-deutschen Beziehungen und Verflechtungen auf institutioneller, ideologischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene insofern einzigartig, als sie mit der Gründung des neugriechischen Staats, dem Bau der neuen Hauptstadt Athen, dem Entstehen neuer Führungsschichten und neuer Formen gesellschaftlichen Miteinanders einherging und dabei auf der Grundlage deutscher und darüber hinaus westeuropäischer Vorbilder in einer Epoche erfolgte, in der der Westen über große Resonanz und großen Einfluss verfügte. Eine tonangebende und führende Rolle spielten in diesen griechischen „Gründerjahren“ die breit vernetzten und multidimensionalen Verflechtungen zwischen bedeutenden Vertretern der bereits etablierten wie sich noch etablierenden griechischen, deutschen und anderen westeuropäischen Eliten. Würdenträger, Offiziere, Politiker, Funktionäre im höheren Staatsdienst, Diplomaten, Wissenschaftler, Universitätsprofessoren, Architekten, Juristen, Künstler und weitere Freiberufler gaben unabhängig von ihrer Nationalität den Ton an und leisteten ihre Dienste in und für die neu eingerichteten Institutionen Königlicher Hof, Strukturen exekutiver und richterlicher Gewalt, Parlament, Heer, Universität und weitere Bildungs- und Forschungseinrichtungen, archäologischer Dienst, Botschaften etc. Indem sie so die ständig steigende Nachfrage nach Dienstleistungen befriedigten, ließen sie damit zugleich vor allem in Athen und in den großen städtischen Zentren eine dynamische, westlich orientierte und weitgehend kosmopolitische Elitegemeinschaft entstehen. Auch wenn die Politik des Regentschaftsrates und der Krone im Verein mit der übermäßig zahlreichen Präsenz bayerischer und anderer deutscher Amtsträger, Militärs, Professoren, Wissenschaftler usw. bei der einheimischen Bevölkerung negative Reaktionen und Widerstände auslöste, die in der Revolution vom 3. September 1843 gipfelten, so war und blieb doch ihre Rolle bei der Ausgestaltung der neugriechischen Gesellschaft maßgebend.71Hösch 1986, 86. Behalten wir dabei auch die Einflüsse und „kulturellen Transfers“ im Auge, die diese an griechische Schüler, Studenten, Mitarbeiter, ans Hauspersonal und überhaupt an alle weitergaben, mit denen sie Umgang hatten. Das äußere Erscheinungsbild, das Athen und die großen städtischen Zentren Griechenlands Ende des 19. Jahrhunderts boten, die öffentlichen Gebäude wie die Privathäuser und -villen, der Lebensstil, die Erziehung und Bildung, die Umgangsformen und der Wertekanon der geistigen und wirtschaftlichen Eliten bezeugen die langfristigen Aus- und Einwirkungen der ottonischen Königsherrschaft und der soziokulturellen Verflechtungen der vielgestaltigen Eliten dieser Gründungsepoche.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Joachim Winkler

    Einzelnachweise

    • 1
      Ludwig Ross begleitete und führte das königliche Paar häufig auf seinen Reisen ins Innere Griechenlands. S. Seidl 1981, 349.
    • 2
      Der Hotelbesitzer Casali, ein Philhellene aus Italien, „war mit einem Zimmermädchen aus Wien verheiratet, für die der Wiener Kongress zum glanzvollen Höhepunkt ihres Lebens geworden war. Sie gab einem deutlich zu verstehen, dass sie viele der hochgestellten Größen Wiens, darunter Fürsten, ganz aus der Nähe kennengelernt hatte“ (Ross 1976, 58).
    • 3
      Professor der Philosophie an den Universitäten Berlin (1818-1821) und Bonn (seit 1821).
    • 4
      Näheres zum Begriff „Bildung“ als gymnasial-universitäre, aber auch als umfassende Allgemeinbildung sowie das „Bildungsbürgertum“ im deutschsprachigen Raum s. Raptis 1998, 219-222.
    • 5
      Seidl 1984, 22-23.
    • 6
      Zu dem Begriff „Bildungsbürgertum“ s. Raptis 1998, 219-222 und Kocka 1989.
    • 7
      Aristokratinnen: s. Diemel 1998, Repräsentantinnen des Bürgertums: s. Kocka 1988.
    • 8
      Zu den Kennzeichen und zur gesellschaftlichen Dynamik bürgerlicher Kultur s. Raptis 1998, 237-241 und Wolfgang Kaschuba 1995.
    • 9
      Hösch 1986, 81.
    • 10
      Raptis 2005, 121-122.
    • 11
      Über die von einzigartiger Vielfalt und interner Durchhierarchisierung gekennzeichnete deutsche Aristokratie s. Reif 1999. Zum deutschen Bürgertum im europäischen Rahmen s. Kocka 1988.
    • 12
      Elias 1997.
    • 13
      Raptis 2010, 150 u. 157. Über kaiserliche/königliche Höfe und Hofgesellschaften in den deutschen Staaten (unter Einschluss der Habsburger Monarchie) s. Möckl 1990.
    • 14
      Über das Bildungsbürgertum und die Entwicklung des Bildungssystems in Deutschland s. Wehler 1987, 210-217 u. 281-303 sowie Wehler 1996, 210-237 u. 478-520.
    • 15
      Wehler 1987, 292.
    • 16
      Seidl 1981, 337-338.
    • 17
      Ebd., 337 u. 347.
    • 18
      Zur europäischen (und deutschen) Bürgerkultur s. Kocka 2000, 155-167 bzw. die deutsche Originalausgabe Kocka 1995, 17-22. Über das Überleben und die Bewahrung des gesellschaftlichen und kulturellen Kapitals des Adels in den Ländern West- und Mitteleuropas im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts s. Raptis 2010, 148.
    • 19
      Tziovas 2003, 4-6.
    • 20
      Vgl. Petropoulos/Koumarianou 1977, 19.
    • 21
      Wenn auch gering an Zahl, spielten die Griechen aus anderen Gebieten doch eine bedeutende Rolle im ottonischen Griechenland: zum einen handelte es sich um Insulaner aus Chios und Psara, die in Hermoupolis auf Syros als Unternehmer tätig waren, zum anderen um im Westen ausgebildete Intellektuelle und Gelehrte sowie um erfahrene Fanarioten mit nützlichen Fähigkeiten für politische und geistige Führungspositionen. Petropolulos/ Koumarianou 1977, 19.
    • 22
      Skopetea 2003, 71.
    • 23
      Hösch 1986, 81.
    • 24
      Über Griechenland als legitimes Erbe s. Skopetea 2003, 176.
    • 25
      Fuhrmann 2011, 45-48.
    • 26
      Skopetea 2003, 176.
    • 27
      Stedman/Zimmermann 2007, 9.
    • 28
      Ebd. 10-11, 14.
    • 29
      Schmale 2003, 42.
    • 30
      Gassert 2001, 65-71, zitiert nach Kafantojias 2013, 140-141.
    • 31
      Seidl 1984, 22-23.
    • 32
      Potamianos 2017.
    • 33
      Konstantinou 1986, 202.
    • 34
      Lappas 2003, 153-154.
    • 35
      Charalambidis 1986, 144.
    • 36
      Ebd. 144-145 u. 147.
    • 37
      Travlos/Kokkou 1977, 521.
    • 38
      Ebd. 520.
    • 39
      Ebd. 521.
    • 40
      In Anerkennung seiner Verdienste wurden ihm von Kaiser Franz Josef die Adelstitel eines Ritters und danach eines Barons verliehen.
    • 41
      Lambraki-Plaka 2010, Kassimati 2010, 15 und Travlos/Kokkou 1977, 525-526.
    • 42
      Travlos/Kokkou 1977, 522.
    • 43
      Sirinidou 2007, 130.
    • 44
      Sirinidou 2011, 369-370.
    • 45
      Stassinopoulou 2006, 168-169.
    • 46
      Laiou 1982, 152-153 u. 162-175.
    • 47
      Politis 2000, 170.
    • 48
      Potamianos 2017.
    • 49
      Ebd.
    • 50
      Seidl 1984, 22-23.
    • 51
      Raptis 2010 II, 99-100.
    • 52
      Tsirpanli 1979, 334-339.
    • 53
      Die endgültige Ausgestaltung des Königlichen Gartens erfolgte zwischen 1847 und 1854 durch den französischen Gartenarchitekten François Louis Bareaud; er kam aus Konstantinopel, wo er später die Gärten des Dolmabahçe-Palastes erschuf (Papageorgiou-Venetas, 2004, 40).
    • 54
      Bofilias 2004, 66-68 u. Papageorgiou-Venetas 2004, 36.
    • 55
      Stefanidis 1948, 5-6, 33-34.
    • 56
      Fenerli 2003, 164-166.
    • 57
      Der europäische, nach Herkunft und Ausprägung eher heterogene Typus höfischer Kultur in den neuentstandenen Balkanmonarchien des 19. Jahrhunderts stand hauptsächlich unter dem Einfluss der deutschen Hofkultur. Dazu s. Lauer 1994, 411.
    • 58
      Hering 1994, 271 u. 274.
    • 59
      Ebd. 276 u. 280.
    • 60
      Sie hielt sich von 1839 bis 1862 in Griechenland auf; danach begleitete sie das Königspaar ins Exil.
    • 61
      Plüskow 2014.
    • 62
      Busse 2010, 88.
    • 63
      Ebd. 80 u. 86.
    • 64
      Hering 1994, 274-275.
    • 65
      Petropoulos/Koumarianou 1977, 102.
    • 66
      Travlos/Kokkou 1977, 528.
    • 67
      Die Bevölkerung Athens wuchs in der ottonischen Periode um das Sechsfache: aus 7.223 Einwohnern im Jahre 1834 waren 1861 43.371 geworden (Dimitropoulou, 2005, 123-124).
    • 68
      S. Fußnote 65.
    • 69
      Ebd.
    • 70
      Charalambidis 1986, 143-144, Dimitrakopoulos 1977, 178, Travlos/Kokkou 1977, 523 524.
    • 71
      Hösch 1986, 86.

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Konstantinos Raptis: «Soziokulturelle Verflechtungen unter den deutschen, westeuropäischen und griechischen Eliten im ottonischen Griechenland», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 01.12.20, URI : https://comdeg.eu/essay/100837/.