Ein Stein des Anstoßes
Im Jahr 1953 erschien im Insel-Verlag das Buch Ölberge, Weinberge, das bis heute eine hohe Auflage erreicht hat und noch immer gelesen wird. Das folgende Zitat daraus mag zur Erklärung der Griechenlandbegeisterung seines Autors ausreichen: „Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg. Ich hatte mich als Dolmetscher gemeldet, ohne ein einziges neugriechisches Wort zu verstehn. Mich wundert noch jetzt, wie man so viel Glück auf eine so dreiste Lüge aufbauen kann. Aber es war, als hätte ich eine Zauberformel gefunden“ (Kästner, 1953, 12–13).
Diese ‚Liebe’ hat nicht nur literarisch ihren Niederschlag gefunden, sondern auch in Form einer kleinen Sammlung griechischer Kleinkunst. Dieser Aspekt des weitgefächerten kulturellen Interesses des Schriftstellers und Bibliotheksdirektors in Wolfenbüttel, Erhart Kästner, ist der Fachwelt weitgehend unbekannt,1Erhart Kästner war von 1950 bis 1968 Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. auch wenn die Sammlung 1966 für das Kestner-Museum (seit 2007 Museum August Kestner) in Hannover erworben werden konnte und seither in Teilen dauerhaft präsentiert wird. Sie ist der Grund für die Beschäftigung der Verfasserin mit ihrem Urheber, das erwähnte Zitat der Stolperstein zu einer tieferen Beschäftigung mit dieser Sammlung. Was steckt hinter dieser Aussage, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten lässt?
Die Antikensammlung Kästner
Der Charakter der kleinen Antikensammlung ist der einer Kollektion, wie sie in bildungsbürgerlichen Kontexten oder bei Griechenlandreisenden entsteht und vor allem typisch ist für den Zeitraum der 1950er- und 1960er-Jahre. Ohne konkretes Selbstzeugnis ihres Vorbesitzers über die Genese können aber nur unzureichende und wenig substantielle Aussagen zu Ort und Zeit ihrer Entstehung getroffen werden.
Interessanterweise hat die Sammlung antiker Kleinkunst mit ihren 75 Objekten im archivalischen Nachlass Erhart Kästners keinen Niederschlag gefunden.2Anmerkung der Kästner-Biographin J. Hiller von Gaertringen in einem Telefonat mit der Autorin im März 2013. Das muss verwundern, wenn man sich zum einen das eingangs formulierte Zitat ins Gedächtnis ruft, und zum zweiten Griechenland das prägende (Lebens-)Thema des literarischen Werkes seines Sammlers ist.
Die Gründe, die 1966 zum Verkauf führten, sind im Kontext von Bau- und Umzugsplänen zu suchen. Kästner plante, nach seiner Pensionierung Wolfenbüttel zu verlassen und sich mit seiner Familie in Süddeutschland niederzulassen. In einem Brief an seinen Freund und Weggefährten aus Leipziger Tagen, den Kunsthistoriker Erhard Göpel,3Vgl. den sehr fundierten Artikel „Erhard Göpel“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 25.06.2017 [abgerufen am 05.11.2017], URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Erhard_G%C3%B6pel&oldid=166718058. erwähnte Kästner im Dezember 1965 seine Pläne: „In der Gegend zwischen Freiburg und Basel ist man uns eben sehr freundlich entgegen gekommen. […] wir werden etwas sehr modernes [sic!] bauen, wie es sich gehört […]. Ihr könnt Euch denken, dass wir nun mancherlei Geschäfte haben: Bilder verkaufen […]. Antiken verkaufen, Bücher verkaufen, Geld schaffen.“4E. Kästner in einem Brief an Erhard Göpel vom 03.12.1965; zitiert nach Raabe, 1984, 186–187 Nr. 82.
Weitere Hinweise auf seine Antikensammlung sind bei Kästner nicht zu finden. Ebenso wenig liegen auf Seiten des Museums bzw. der Landeshauptstadt Hannover als Trägerin des Museums Hinweise zu Ankaufsverhandlungen oder zu einem Kaufvertrag vor. Auch das Stadtarchiv Hannover, das die Altakten des Museums verwahrt, verzeichnet keinerlei Unterlagen wie Korrespondenzen o.ä. Somit bleiben die Inventarbucheinträge sowie die Erwähnungen zu den Neuerwerbungen, die regelmäßig in den Hannoverschen Geschichtsblättern publiziert wurden, die bisher einzigen belegbaren Informationen. Dort heißt es in den Neuerwerbungsberichten: „Die kleine Antikensammlung von Dr. Erhart Kästner, Wolfenbüttel, […] konnte geschlossen übernommen werden“ (Schlüter, 1966, 289).5Die Sammlung wurde geschlossen für 30.000,00 DM erworben (Eintrag Inventarbuch).
Die Sammlung, deren Objekte ausnahmslos dem hellenischen Kulturkreis zuzuordnen sind, hat mit der Gefäßkeramik und der Kleinskulptur/Plastik ihre ausgesprochenen Schwerpunkte. Die 36 Gefäße aus Ton umfassen den Zeitraum von der späten Bronzezeit Kretas (Spätminoisch II B, 1500–1450 v. Chr.) bis in das 20. Jahrhundert, wobei zu diesen späten Objekten selbstverständlich keine antiken Originale, sondern zwei Nachahmungen bzw. Fälschungen zu zählen sind. Der Großteil der Gefäße datiert zwischen dem 8. und 4. Jahrhundert v. Chr. und ist vornehmlich dem attischen und korinthischen Stil zuzuordnen. Eine regionale Ausnahme bildet der apulische Glockenkrater des „Wolfenbüttel-Malers“ [https://nds.museum-digital.de/object/6377]. Er ist das bedeutendste Objekt der Kästner’schen Sammlung, da er das namengebende Stück dieses Vasenmalers ist, der nach dem einstigen Aufbewahrungsort bei seinem Vorbesitzer benannt ist.6Der Notname für diesen Maler leitet sich von Kästners Wohn- und Wirkungsort Wolfenbüttel ab. Die Vasenforschung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich von John D. Beazley geprägt wurde, verwendet zur Unterscheidung einzelner Vasenmaler Namensbezeichnungen, die in der Regel einen ‚Notnamen‘ darstellen. Denn der wahre Urheber eines Vasenbildes ist nur in den seltensten Fällen bekannt, nämlich nur dann, wenn er sein Werk persönlich signiert hat. Beazley ging davon aus, dass Vasenmaler sich in regelmäßig wiederholten Details zu erkennen geben, wie gleichartige Ausführungen einzelner Körperteile, ein bestimmter Pinselstrich usw. hinter solch einem Notnamen verbirgt sich somit auch der Wolfenbüttel-Maler. Seine besonderen Eigenarten sind die Art, wie die beiden Manteljünglinge des Glockenkraters dargestellt werden sowie die Schreibtafel, die über ihnen hängt.
Die 31 zur Gattung der Kleinplastik zählenden Objekte gehören der archaischen bis hellenistischen Zeit an. Ihre Herkunft bezieht sich auf Attika und Böotien.
Die Sammlung Erhart Kästners ist auf dem Online-Portal des Museum August Kestner bei museum digital zugänglich ( https://ex.musdig.org/sammlung-erhart-kaestner ), so dass an dieser Stelle auf eine vollständige Objektvorlage oder gar einen Katalog verzichtet werden kann.
Objekte ungeklärter Herkunft?
Wann Kästner die beschriebene Sammlung zusammengetragen hat, ist nicht abschließend zu klären. Tatsächlich hat er wohl bereits während seines ersten, kriegsbedingten Griechenlandaufenthaltes häufiger Antikenhändler in der Athener Altstadt aufgesucht und „eine kleine Sammlung zusammengekauft, von der das meiste bei Kriegsende in einem aus Dresden ausgelagerten Koffer mit Wertsachen verlorenging“ (Hiller von Gaertringen, 1994, 272–273). Was sich davon möglicherweise erhalten hat und ob es sich auch heute noch im Museum August Kestner befindet, ist nicht zu beantworten.
Kästner hat während des Krieges in Griechenland Objekte erworben. Hinweise darauf finden sich in den Überarbeitungen zur Neufassung des Buches Griechenland (1942) für Ölberge, Weinberge. Für diese Neufassung wurden nicht nur der ursprüngliche Text überarbeitet, sondern auch gänzlich neue Texte verfasst, darunter das Kapitel Schustergasse. Hierin beschreibt Kästner die o.g. Athener Antiquitätenläden in der Altstadt (Hiller von Gaertringen, 1994, 272–273).
Bisher war die Verfasserin immer davon ausgegangen, dass Kästner seine Sammlung erst nach dem Krieg zusammengetragen hätte. Aufgrund seiner Gefangennahme durch die Briten und des Aufenthalts im englischen Kriegsgefangenenlager in Ägypten (Tumilat) und im Re-Education-Camp Wilton Park7PoW Camp 300 Training-Centre Wilton-Park near Beaconsfield (Bucks.); vgl. Postkarte Kästner an seine Mutter, 26.12.1946 (HAB 6.1/9 Nr. 30). in England musste man davon ausgehen, dass diese Objekte bei der Inhaftierung konfisziert und nicht wieder zurückgegeben worden wären.
Durch Alexandra Kankeleit, die sich im Rahmen eines 2016 angelaufenen Forschungsprojekts der Aufarbeitung der Geschichte des DAI Athen während der NS-Zeit widmete,8Kurz vor Fertigstellung eines Vortrags Ende Januar 2018, dessen überarbeitete Schriftform dieser Beitrag darstellt, erhielt ich von Alexandra Kankeleit die o.g. Information. Vgl. auch Kankeleit, 2017. erhielt die Verfasserin wertvolle Hinweise, denen noch weiter nachgegangen werden muss. Ein Abschluss dieser Recherchen ist noch nicht in Sicht. Der aktuelle Stand sieht folgendermaßen aus:
Erhart Kästner war während seines Athen-Aufenthaltes mit Marika Veloudiou (1894–1990) befreundet. Sie war von der deutschen Ortskommandantur Athen als amtliche Fremdenführerin bestellt worden und organisierte während der Besatzungszeit archäologische Führungen für Wehrmachtsangehörige (Hiller von Gaertringen, 1994, 91; 130). Sie verwahrte einige persönliche Gegenstände Kästners während des Krieges, darunter wohl auch 400 Griechenlandbücher, wie Kästner im August 1946 aus Ägypten an Mutter und Schwester schrieb. Ebenso erwähnt Kästner in der Neufassung Ölberge, Weinberge eine Abmachung zwischen Marika Veloudiou und einem englischen Offizier: „Schon bald nach dem Krieg, während ich längst noch in Gefangenschaft war, hatte sie einen Major der britischen Luftwaffe genötigt, einen Koffer, den ich im Jahr 43 in Athen zurücklassen musste, mit dem Flugzeug nach England zu nehmen, um ihn auf diesem Umweg wieder in meine Hände gelangen zu lassen“ (Kästner, 1953, 32). Ob unter den von Veloudiou verwahrten Dingen oder im genannten Koffer womöglich auch antike Objekte waren, schildert Kästner nicht.
Marika Veloudiou war es auch, die Kästner bei seinem ersten Griechenland- bzw. Athen-Besuch nach dem Krieg 1952 als Erste aufsuchte und bei der er auch wohnte. Julia Hiller von Gaertringen hat in den späten 1980er-Jahren mehrere Gespräche mit Marika Veloudiou geführt und auf Audio-Kassetten aufgezeichnet. Diese wurden durch Alexandra Kankeleit erneut ausgewertet. In einem Gespräch erwähnt Marika Veloudiou darin Tetradrachmen, die sie während des Krieges für Kästner verwahrt hatte. Bisher gibt es aber keine weiteren Hinweise auf die oder eine Antikensammlung.9Nachrecherchen der Verfasserin im archivalischen Nachlass Erhart Kästners in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel (Mitte Februar 2018) haben die 2013 erhaltenen telefonischen Informationen seitens Hiller von Gaertringens zunächst bestätigt. Die Verfassserin erhofft sich dennoch weitere neue Ergebnisse durch das Forschungsprojekt des DAI Athen, denn in der Dissertation Hiller von Gaertringens wird nirgends die Antikensammlung erwähnt; auch ein Telefonat, das die Verfasserin im Rahmen der Katalogarbeiten für die Ausstellung Bürgerschätze 2013 (BürgerSchätze. Sammeln für Hannover – 125 Jahre Museum August Kestner, 12.09.2013 – 02.03.2014) mit Frau Hiller von Gaertringen bezüglich der Sammlungen geführt hat, ergab keine weiterführenden Hinweise. Vgl. Siebert, 2013.
Der ‚Griechenlandliebhaber‘
Wer war der ‚Griechenlandliebhaber’ Erhart Kästner [http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/80546100]?10Die Ausführungen zur Biografie gehen in erster Linie zurück auf die Ausführungen bei Hiller von Gaertringen, 1994, sowie Nauhaus, 2003. Ein Blick in die diversen monografischen Arbeiten und Aufsätze, die über den ehemaligen Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel in jüngerer Zeit erschienen sind, gewährt ein der Intention des jeweiligen Autors geschuldetes indifferentes Bild der Person Kästners.
In Auswahl seien folgende Werke kurz skizziert und vorgestellt: Julia Hiller von Gaertringen beschäftigte sich mit dem umfangreichen Autorennachlass Erhart Kästners in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Ihre 1994 veröffentliche Dissertation ist die erste ausführliche Personalbiografie, die zugleich die Einordnung von Kästners literarischem Schaffen darstellt sowie die Betrachtung der Rezeption seines Werkes bis 1992 zusammenfasst.
Mit einem anderen Fokus, aber ebenfalls den des Kästner‘schen Nachlass betrachtend erläutert Julia Nauhaus (2003) das Verhältnis Kästners zur Kunst und den Künstlern seiner Zeit anhand von Briefen und Werkmanuskripten. Demgegenüber wirft Arn Strohmeyer (2006) einen äußerst kritischen Blick auf das ‚Gesamtphänomen‘ Kästner und den Kultautor der 1950er- und 1960er-Jahre, indem er ihn als ‚Wehrmachtsschriftsteller‘ enttarnt.11Zur Problematik der harschen Kritik Strohmeyers an Kästner vgl. auch Gilbert, 2011, 259.
Helga Karrenbrock (2015) stellt Kästners schriftstellerisches Werk im Kontext der griechisch-deutschen Erinnerungskultur dar, wobei der Vergleich von Griechenland und Ölberge, Weinberge im Mittelpunkt der Betrachtung steht.
Nafsika Mylona (2015) setzt sich mit Kästners Lichtaphorismen und Delphi-Beschreibungen auseinander und vergleicht diese mit anderen nationalsozialistisch gesinnten Schriftstellern im Kontext der NS-Ideologie. Einen völligen anderen Ansatz verfolgt Frank Schulz-Nieswandt (2017), indem er das literarische Gesamtwerk Erhart Kästners aus intertextueller und religionswissenschaftlicher Perspektive rekonstruiert.
Um den Autor Kästner zu verstehen, ist es – allen literaturwissenschaftlichen und historischen Betrachtungen zum Trotz – notwendig, an dieser Stelle einen biografischen Abriss folgen zu lassen, der die nötigen Basisinformationen liefert, um das literarische Werk einordnen zu können. So wird Kästner einige Male selbst zu Wort kommen. Zitate scheinen nämlich am besten geeignet, hinter den Autor zu blicken.
Erhart Kästner wuchs als drittes von fünf Kindern des Gymnasiallehrers Heinrich Friedrich Kästner und dessen Ehefrau Elisabeth (geb. Seidl) in einem konservativ bürgerlichen Familienumfeld auf. In Regensburg und Augsburg verbrachte er seine Kindheit und Schulzeit, die er mit dem Abitur, das er, wie er selbst formuliert, „als ein national gesinnter Bildungsbürger, der sich für das auserwählte Mitglied einer besonderen Geistesaristokratie hielt“ im Frühjahr 1922 abschloss (Hiller von Gaertringen, 1994, 41). Er begann zunächst eine zweijährige kaufmännische Lehre in einem Leipziger Antiquariat, um in den wirtschaftlich unruhigen Zeiten während der Weimarer Republik in den Jahren vor der Weltwirtschaftskrise einen ‚Brotberuf‘ zu haben. Berufsbegleitend besuchte er jedoch bereits Vorlesungen und Seminare an der Universität, bevor er schließlich in Leipzig, Freiburg sowie Kiel Germanistik, Geschichte und Philosophie studierte.
Der Bibliothekar
Nach dem Abschluss der Dissertation in Germanistik12Erhart Kästner, Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit. Eine dichtungsgeschichtliche Studie über die Form der Wirklichkeitserfassung, Leipzig, J.J. Weber, 1929. begann Kästners bibliothekarische Laufbahn mit einem Volontariat (1927–1929) an der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden und der Universitätsbibliothek in Leipzig. Die bestandene Laufbahnprüfung für den höheren Bibliotheksdienst führte ab 1930 zu einer Festanstellung an der Sächsischen Landesbibliothek. Zu Kästners vielfältigen Aufgaben gehörten das naturwissenschaftliche Referat sowie Sonderaufgaben aus dem Handschriften-Bereich und bibliothekseigene Ausstellungen. Gerade auf diesem Gebiet hatte er sich bereits während des Volontariats hervorgetan, als er anlässlich der Gedenk-Ausstellung zu Lessings 200. Geburtstag (1929) im Dresdner Neuen Rathaus erste Erfahrungen sammeln konnte und große Anerkennung seitens des Direktors der Sächsischen Landesbibliothek, Dr. Martin Bollert, erfuhr. So wurde Kästner eine weitere Ausstellungskonzeption und Katalogerarbeitung übertragen: die Goethe-Ausstellung 1932 auf der Brühlschen Terrasse.
Kästner stand den nationalsozialistischen Entwicklungen der Zeit skeptisch bis ablehnend, wenngleich opportunistisch gegenüber, wie er sich auch schon zuvor aus politischen Aktivitäten eher herausgehalten hatte. Er verhielt sich der neuen politischen Situation gegenüber abwartend, die spätestens mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 deutlich geworden war. Trotz dieser Zurückhaltung erreichte Martin Bollert 1934 für den jungen Kollegen dessen Ernennung zum verantwortlichen Referenten der Handschriftenabteilung, die mit dem Aufbau bzw. der Neueinrichtung eines speziellen Buchmuseums mit sehr erfolgreichen Sonderausstellungen verbunden war (Kästner, 1936; Nauhaus, 2003, 41–54.). Diese Aktivitäten weisen bereits auf Kästners Interessen und Schwerpunkte in seiner Zeit als Direktor in Wolfenbüttel voraus.
In der sehr prägenden Leipziger und Dresdner Zeit knüpfte Erhart Kästner viele Kontakte zu Künstlern, Architekten und Verlegern, die später seinen weiteren Werdegang kennzeichnen sollten.
Privatsekretär bei Gerhard Hauptmann
Von besonderer Bedeutung war 1934 die Begegnung mit Gerhart Hauptmann.13Der amerikanische Hauptmann-Forscher Walter A. Reichert hatte den Schriftsteller auf den jungen Bibliothekar aufmerksam gemacht; siehe ausführlich Hiller von Gaertringen, 1994, 47–57. Nach einem Besuch des Schriftstellers und seiner Frau im Buchmuseum und einer Führung durch Erhart Kästner erfolgte eine Einladung nach Agnetendorf in die Villa Wiesenstein, Hauptmanns Wohnsitz seit 1901.14„Das alles hab ich mir ungefähr erträumt, seit ich auf dem Bettvorleger in meinem Zimmer liegend mit 16 Jahren zum ersten Mal den ‚Michael Kramer’ las.“ E. Kästner in einem Brief an seine Mutter vom 10.10.1934; zitiert nach Hiller von Gaertringen, 1994, 47. Hauptmann bot Kästner die Stelle als sein Privatsekretär an. Kästner, der die Gelegenheit zum Ausbrechen aus den immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen in Dresden nutzte, erwirkte die notwendige Beurlaubung vom Bibliotheksdienst, die zugleich verbunden war mit der Option auf seine Stelle zurückkehren zu können. Im Juni 1934 trat er seine neue Aufgabe an.15Nachhall findet diese Begegnung im umfangreichen Briefwechsel zwischen Kästner und Hauptmann. Vgl. Hiller von Gaertringen, 1994, passim.
Kästner beschrieb diese für ihn wichtige Zeit als nicht immer einfach, da Hauptmann sehr fordernd und wenig kritikfähig war, wie der junge Privatsekretär in Briefen an Freunde anklingen ließ: „Man kommt sich so sehr abhanden und die ewige Abhängigkeit drückt so sehr auf mein ganzes Naturell, dass ich nicht glaube, dass ich es noch sehr lange treibe“.16E. Kästner in einem Brief an Elisabeth Jungmann, seine Vorgängerin im Amt bei Hauptmann, vom 09.09.1936; zitiert nach Hiller von Gaertringen, 1994, 52 mit Anm. 165.
Schließlich kehrte Kästner in den Bibliotheksdienst zurück, und das Verhältnis zu Hauptmann verbesserte sich zusehends. Eine lebenslange Freundschaft, nahezu ein Vater-Sohn-Verhältnis sollte entstehen [http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/80546110].
Zwischen Bibliotheks- und Kriegsdienst
Die Rückkehr nach Dresden und sein Dienstantritt begannen mit einem NS-programmatischen Neujahrsappell seiner Kollegen, „eine schier gespenstische Versammlung von Lemuren, blutlosen Halbwesen, die lallend und flüsternd irgendwelche Verlautbarungen über Beamtenrecht, Partei und strenge Bestrafung entgegennahmen“, wie er notierte (Hiller von Gaertringen, 1994, 57). Allerdings währte die Zeit in Dresden nicht lange, denn nach einer weiteren Ausstellung17Titel der Ausstellung „Dichter der Gegenwart als Maler, Zeichner und Bildhauer“., die Kästner für das Buchmuseum organisiert hatte, erfolgte bereits im Sommer 1938 die Versetzung nach Leipzig. Hier sollte er an der vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung für 1940 geplanten Gutenberg-Reichsausstellung mitarbeiten, die aber unmittelbar nach Kriegsbeginn auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. So kehrte er nach Dresden und an die Landesbibliothek zurück.
Bis jetzt hatte er sich allen Zugeständnissen an die nationalsozialistischen Machthaber zum Trotz,18Einholung des Arier-Nachweises und Abgabe des Fragebogens laut Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums; Meldung zum Ausbildungskurs der Reichswehr (Oktober 1934; März 1935). Vgl. Hiller von Gaertringen, 1994, 45–46. aber unter Verzicht auf den Beamtenstatus, allem parteipolitischem Engagement entziehen können. Zum 1. Januar 1940 trat er dann doch in die NSDAP ein (Hiller von Gaertringen, 1994, 63–64; Klee, 2007, 291). Nur ein Vierteljahr später erfolgte die Einberufung zur militärischen Grundausbildung,19Luftwaffen-Baubataillon 1 im Luftgau IV (2. Kompanie). die er als „merkwürdige Mischung von blödsinniger Zeitvertrödelung und absoluter Unfreiheit“ beschrieb (Hiller von Gaertringen, 1994, 64). Kästner verspürte wenig Lust, als Gefreiter seinerseits Rekruten auszubilden, und auch andere Tätigkeiten als Soldat schienen den Kopfmenschen Kästner auszulaugen. Ein Unteroffizierslehrgang und eine hervorragende Prüfung eröffneten ihm die Aussicht auf eine Offizierslaufbahn.
Die Sammlung Töpfer
Noch einmal war allerdings seine bibliothekarische Expertise gefragt. Im März 1941 sollte Kästner im Auftrag des Direktors der Dresdner Gemäldegalerie und Sonderbeauftragten des Führers, Hans Posse (1869–1942) (Schwarz, 2004, 77–85), den Ankauf der Bibliothek des jüdischen österreichischen Rechtsanwaltes Ludwig Töpfer organisieren. Töpfer war 1938 nach Südfrankreich emigriert und hatte seine Sammlung zurücklassen müssen. Die Bücher waren für Hitlers „Führerbibliothek“ im Museum in Linz20Zur Bibliothek Töpfer, die nach dem Krieg in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland überging, siehe Wägenbaur 2005, passim; Schumacher 2012, passim. – Neben dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und dem Goethe-Museum in Frankfurt konnten 1972 für die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel 2.300 Bände aus dieser Bibliothek als Dauerleihgabe erworben werden. Ebenso Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (Lost Art-Datenbank): https://www.lostart.de/de/Fund/591829, [abgerufen am 21.02.2021); Näheres siehe Tisa Francini/Heuss/Kreis, 2001, 269ff. vorgesehen (Hiller von Gaertringen, 1994, 66). Dass es sich dabei um eine aus heutiger Sicht sehr problematische Aufgabe handelte, braucht eigentlich nicht eigens angemerkt werden. Nicht unerwähnt bleiben sollte aber in diesem Zusammenhang eines: 1972 erhielt die Herzog August Bibliothek, der Kästner bis 1968 vorstand, Teile der Bibliothek Töpfer als Dauerleihgabe der Bundesrepublik zur treuhänderischen Verwahrung. Im März 2020 hat die Bundesrepublik Deutschland die Privatbibliothek erworben, nachdem diese zuvor im Februar 2020 an die Erben restituiert worden war.21https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/bund-erwirbt-wertvolle-buechersammlung-von-erben/, Meldung vom 05.03.2020 [abgerufen am 21.02.2021]; https://www.frankfurt-live.com/die-bibliothek-ludwig-töpfer-120024.html, Meldung vom 06.03.2020, [abgerufen am 21.02.2021]. Es handelt sich um etwa 2.300 Bände der einstmals aus rund 10.000 Büchern bestehenden Bibliothek, die seinerzeit Martin Bormann 1943 erworben hatte.
Nach Griechenland
Einen Tag nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Griechenland, am 7. April 1941, wurde Kästner ins Reichsluftfahrtministerium nach Berlin bestellt und nach seinen Griechischkenntnissen, selbstverständlich den neugriechischen, befragt. Am 27. April 1941 erreichte die deutsche Wehrmacht Athen und zeigte mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne auf der Akropolis deutlich, wer die neuen Machthaber waren. Dies markiert den Beginn einer beispiellosen wirtschaftlichen Ausplünderung nicht nur der griechischen Hauptstadt, die mit der katastrophalen Hungerkrise im Winter 1941/42 einen gleichermaßen dramatischen wie moralisch verwerflichen Höhepunkt erreichte (Králová, 2016, 42–47).
Am 16. Juni 1941 wurde Erhart Kästner als Dolmetscher, dem das Abiturzeugnis das Graecum bescheinigte, an das Luftgaukommando Südost II nach Athen abkommandiert. Als Angehöriger der Stabskompanie war er in der psychologischen Eignungsstelle für Piloten tätig, die ihm die Gelegenheit bot, sich dem aktiven Dienst an der Waffe und der Frontlinie zu entziehen.
Athen bot – trotz der humanitär dramatischen Lage der hungernden Bevölkerung – selbst in dieser Zeit für den Wehrmachtsangehörigen einen entsprechenden kulturellen Ausgleich. Kästner konnte durch Museums- und Theaterbesuche oder Ausflüge in die nähere Umgebung das intellektuelle Vakuum seiner soldatischen Aufgaben kompensieren. Lesepausen in der Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts, das speziell für deutsche Wehrmachtsangehörige eine kleine Präsenzbibliothek mit der wichtigsten Literatur zu Kultur, Geschichte und Archäologie Griechenlands zusammengestellt hatte,22Vgl. die Jahresberichte des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches: Haushaltsjahr 1941/42 (JdI 57, 1942, VIII) sowie Haushaltsjahr 1942/43 (JdI 58, 1943, VI). beförderten sicherlich auf ihre Weise das besondere Griechenland-Interesse, ebenso wie die Bekanntschaft zu vor Ort tätigen Archäologen insbesondere auf der kulturhistorischen Ebene zu Anregungen führte. Der Kontakt zu den Archäologen Gabriel Welter (1890–1954)23Vgl. „Gabriel Welter“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand: 4. Mai 2022 [abgerufen am 08.06.2022], URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gabriel_Welter&oldid=222603095. und Emil Kunze (1901–1994)241938–1942 Ausgrabungsleiter in Olympia. Vgl. Fittschen, 1995, 2–7; Schiering, 1995, 13–29. sowie zum Institutsdirektor Walther Wrede (1893–1990)25Walther Wrede war zunächst Zweiter, dann Erster Sekretär am Deutschen Archäologischen Institut Athen. In dieser Funktion dann Ortsgruppenleiter Athen und auch Landesgruppenleiter der AO der NSDAP Griechenland. Vgl. Krumme, 2012., dessen Villa Kästner zeitweise als Wachmann beschützte, waren auf ihre Weise prägend. Einige seiner Eindrücke von diesen Ausflügen und Bekanntschaften verarbeitete er in Artikeln, die nicht nur in Frontzeitungen erschienen.
Das Land der Öl- und Weinberge
Während eines Ausflugs nach Ägina im Januar 1942, den er zusammen mit seinem Kameraden Helmut Kaulbach (1908–1942) unternahm, entstand schließlich die Idee zu einem Griechenland-Buch. Mit Unterstützung des unmittelbaren Vorgesetzten Major Bruno Schaar erhielten die beiden den offiziellen Auftrag des Kommandierenden des Luftgaus Südost, General Wilhelm Mayer26Vgl. „Wilhelm Mayer (General)“, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 01.02.2018 [abgerufen am 12.06.2022], URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wilhelm_Mayer_(General)&oldid=173563438., durch Griechenland zu reisen. Sie sammelten Material für ein Buch, das den Zweck haben sollte, „Offizieren und Mannschaften, die im Kriege längere Zeit in Griechenland verbringen, ein kleines Buch der Erinnerungen und Einführung in die Denkwürdigkeiten und Schönheiten des Landes in die Hand geben zu können“ (Hiller von Gaertringen 1994, 96–108; Strohmeyer, 2000, 8; Strohmeyer, 2006, 39). Kaulbach, der das Erscheinen des Buches nicht mehr erlebte, fertigte die Abbildungen in Form kleiner Zeichnungen.
Es war, wie Michaela Prinzinger es formuliert, „ein Buch im Sinne General Mayers: Es fehlen weder der Vergleich der deutschen Soldaten mit den blonden Achaiern Homers noch die Gegenüberstellung von Herakles und Siegfried oder die ideologischen Gegensätze von europäischem Norden und Süden inklusive negativer Stereotype über die Griechen. Und dennoch enthält es im Kern bereits Kästners originellen Zugang zur modernen Kultur Griechenlands“ (Prinzinger, 19.3.2017).
Erhart Kästner betrachtete sich als „Sendboten“ Hauptmanns in Griechenland (Hiller von Gaertringen, 1994, 258). Dieser hatte mit seiner eigenen Griechenlandreise 1907 und dem 1909 erschienenen Griechischen Frühling Kästner eine fortwährende Vorlage gegeben. Kästner sah die Chance, sich das Land schreibend zu erschließen, und betrachtete seine literarischen Aktivitäten als eine Fortsetzung von eben diesem Werk: „Es steckt ja in dem, was ich da für unseren Luftgau kritzele, sowieso nichts als der heißgeliebte ‚Griechische Frühling‘“, schrieb Kästner an Hauptmann (Prinzinger, 19.3.2017).
Das war der Beginn von Kästners zahlreichern Griechenlandbüchern, die bis heute erscheinen, und vielleicht auch der Impuls für das Sammeln antiker Kleinkunst. Diese Bücher, beruhend auf Erfahrungen und Erlebnissen, die Kästner als Angehöriger der deutschen Besatzungsmacht zwischen 1941 und 1945 in Griechenland gemacht hat, inspirierten Generationen von Griechenlandreisenden.
Griechenland ist für Kästner nicht ein Land romantischer Besinnung, sondern das der Ölberge und Weinberge, der täglichen Auseinandersetzung mit sehr konkreten Aufgaben des Lebens, zu deren Bewältigung jene demütige, sich ihrer selbst sichere Bescheidenheit der einfachen Berghirten besser taugt als die fruchtlose, weil letztlich den Lebenswillen lähmende Reminiszenz an einstmalige historische Größe. Kästners Sprache ist immer gebändigt von einem fast klassischen Formbewusstsein, die in der Vision eines Bildes aufzublühen vermag, der neben der Prägnanz des Striches Duft, Klang und Farbe eignet.
So formulierte es der Süddeutsche Rundfunk anlässlich des Erscheinens der Taschenbuchausgabe von Ölberge, Weinberge im März 1974, die auf das Griechenland-Buch von 1942 zurückgeht.27Das Zitat wurde der Verlagsseite des Suhrkamp-Verlages entnommen: http://www.suhrkamp.de/buecher/oelberge_weinberge-helmut_kaulbach_31755.pdf [aufgerufen am 01..06.2022]. Mittlerweile (26.10.2020) ist Ölberge, Weinberge in der 21. Auflage erschienen.
Im Frühjahr 1952 fuhr Kästner erstmals nach dem Krieg wieder nach Griechenland, um seinem Manuskript für Ölberge, Weinberge den letzten Feinschliff zu verpassen. Dazu benötigte er ein Visum, das beim Konsulat in Hamburg beantragt werden musste. An seine Mutter schreibt er diesbezüglich:
dabei muss man schwören, dass man während des Krieges nicht in Griechenland war. Ich weiß noch nicht, wie ich da rauskomme, es ist wie immer bei den Fragebogen, auch wenn man das beste Gewissen hat: sagt man ja, gibt es heillose Umstände, sagt man nein, hat man den Gewissensdruck. (Zitiert nach Hiller von Gaertringen, 1994, 321 Anm. 44.)
Es ist nicht bekannt, wie Kästner dieses Problem für sich gelöst hat, jedenfalls kommt er am 23. April 1952 – elf Jahre nach der Besetzung Athens durch die Deutschen – in Piräus mit der Fähre aus Brindisi an.
Die ‚bereinigte’, erstmalig 1953 erschienene Nachkriegsversion dieses Werks wird als „neue Fassung des Buches Griechenland (Berlin: Gebr. Mann 1942), welches man als eine Skizze zum vorliegenden Band auffassen möge“ (Kästner, 1953, 4)28Auf dem Schmutztitel der erstmalig 1953 in Insel-Verlag erschienenen Ausgabe von Ölberge, Weinberge abgedruckte Vorbemerkung., angeboten. Durch den Begriff der Skizze wird die Kriegsausgabe als etwas Unfertiges, ursprünglich nur als Idee vorliegendes Gedankenmanuskript tituliert, was es aber nicht gewesen ist.
So finden die Zeit der deutschen Besatzung, die mit ihr verbundenen Ereignisse, die Handlungen, die seitens Angehöriger der deutschen Wehrmacht an der griechischen Bevölkerung begangen wurden,29Kurzer historischer Überblick bei Hiller von Gaertringen 1994, 73–76; Strohmeyer 2006, 16–32. aus Gründen der zeitlichen Abfolge der Ereignisse in den Kriegsausgaben selbstverständlich keinen Widerhall in Kästners Büchern. Nur vereinzelt werden der Krieg und seine Auswirkungen thematisiert, werden die deutschen Besatzer sogar als willkommen und bewunderungswürdig beschrieben, wie eine Szene in der unmittelbaren Nähe zum Heiligtum in Olympia dokumentiert: „Auf einer Bergwiese stand ich lange bei einer Hirtenfamilie. Der Mann war Soldat an der Metaxaslinie30Verteidigungswall der griechischen Armee im Zweiten Weltkrieg entlang der griechisch-bulgarischen Grenze in Ostmakedonien und Thrakien. gewesen. Wie überall in Griechenland hat der einfache Mann für Deutschland nichts als uralte Achtung und Bewunderung“. (Kästner, 1942, 138–140)
Die „blonden Achaier“ und das „Unternehmen Merkur“
Im 1942/3 erschienenen Griechenland steht noch der Sieg der nordischen Deutschen und die Rückkehr der arischen Rasse in das angestammte Südland ganz im Duktus nationalsozialistischen Gedankenguts. So wundert es nicht, wenn im ersten Kapitel die aus Kreta zurückkehrenden deutschen Soldaten als „die ‚blonden Achaier‘ Homers, die Helden der Ilias“ beschrieben werden. Im Volltext klingt das so:
An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr und auf einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke unser wartete. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der benachbarten Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond.
Da waren sie, die „blonden Achaier“ Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht, strahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor, der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der blondlockige Achill. Wie anders sollten sie denn ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre weiter nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählen, die wohl viel heldenhafter, viel kühner waren als alle Kämpfe um Troja. (Kästner, 1942, 9–10)
Kästner beschreibt die Soldaten, die am „Unternehmen Merkur“ beteiligt waren. Diese erste große Luftlandeoperation der Geschichte war Teil des Balkanfeldzugs 1941, an deren Ende deutsche Fallschirm- und Gebirgsjäger am 21. April 1941 Kreta einnahmen und – allem Widerstandswillen der kretischen Bevölkerung zum Trotz – bis 1945 besetzt hielten (Richter, 2011; Králova, 2016, 29–30; Apostolopoulos, 2022). Die Folgen für die Menschen auf Kreta waren bekanntermaßen fürchterlich; den auch damals keinesfalls vom gültigen Kriegsrecht gedeckten Repressalien und Vergeltungsmaßnahmen, die vor allem der befehlshabende General Kurt Student anordnete, fielen bis 1945 mehr als 8.000 Kreter zum Opfer (Kondomari, Kandanos). Die Kunstwerke sind scheinbar verschont geblieben, wie es im heute zynisch und beschämend zugleich klingenden Geleitwort General Mayers zu Griechenland heißt: „So wie während des Feldzuges 1941 in Griechenland und Kreta kein einziges klassisches Kulturdenkmal durch unsere Waffen beschädigt worden ist, so bringen wir, wohin wir auch kommen, echter Kultur stets die Achtung entgegen, die ihr gebührt.“ (Kästner, 1942, 5)
1953 erscheint die oben zitierte Episode dann so:
An einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke wartete ein entgegenkommender Zug. Unsere Wagenreihe schob sich langsam an der anderen entlang. Es waren Fallschirmjäger von Kreta und eine Flakbatterie; auf den flachen Eisenbahnwagen standen vertäut die Geschütze, überpudert von Staub, darauf und dazwischen standen und saßen die Kämpfer, kurze Hose, Sonnenbrille und Tropenhelm. Ihre Körper waren in den wenigen Tagen kupfern gebrannt, ihre Haare weißblond. (Kästner, 1953, 14)
Nach Auffassung des französischen Zeithistorikers und NS-Experten Johann Chapoutot
wurde der deutsche Blitzkrieg in Griechenland als vierter nordischer Zug nach Süden dargestellt und aufgefasst, in ein Land der Griechen, das es nach langem rassischen Verfall zu verteidigen und zu regenerieren galt. Die symbolische Einverleibung der Kulturen des Altertums in die Geschichte der indogermanischen Rasse wurde so zur Legitimierung und Rechtfertigung der territorialen Einverleibung. Die Eroberung Griechenlands im Jahr 1941 wurde begleitet […] und gestützt von einem Diskurs, der sich […] auf die Vergangenheit der indogermanischen Rasse in Griechenland bezog. (Chapoutot, 2014, 104)
Bei Kästner war daher 1942/43 insbesondere Sparta
in anderem Sinn dazu berufen, Helenas Heimat zu sein. Denn Sparta galt immer als das Land der schönsten griechischen Frauen, was natürlich mit der sorgfältig gewahrten Rassenreinheit des dortigen Adels zusammenhängt. Da die Lakedämonerin als groß, blond und blauäugig überliefert wird, muss man sich Helena ebenso denken“ (Kästner, 1943, 242).
Oder er sieht die „symbolische Einverleibung der Kulturen des Altertums“ (Chapoutot, 2014, 104) so:
Nichts Südliches schlechthin, sondern Nördliches im Süden: das eben ist Griechenland. Immer wieder kann sich der Deutsche an Heimatliches erinnert fühlen, sei es unter den Tannen des Parnass oder an einem Abend auf dem Pentelikon, wenn der Wind Herdegeläut und den Geruch von Holzfeuern herzutreibt. Die beiden heiligsten Stätten der Griechen, Delphi und der Olymp, muten am nördlichsten an. Delphi: ein Hochalpental. Der Olymp: Nordberg. Es ist als ob ferne Erinnerungen nachklängen, Erinnerungen eines in den Süden verschlagenen, im Süden glücklich gewordenen Volkes, das dennoch im tiefen Grunde seines Herzens ein Heimweh nach Norden nicht verlor. (Kästner, 1943, 268–269)
Die Deutschen, schreibt Kästner, seien „als Freunde gekommen“, und wenn sich mal ein paar Soldaten in ein griechisches Dorf verirren, dann als „Besucher“ und nicht etwa, um die Bewohner zu schikanieren oder gar zu töten.
Die Nachkriegsausgaben
Die Nachkriegsauflagen seiner bereits im Kriege entstandenen Bücher erschienen – von NS-Gedankengut beeinflussten Formulierungen befreit und teilweise komplett überarbeitet – im Insel-Verlag: Kreta (1946), Ölberge, Weinberge (1953) und Griechische Inseln (1975).31Spätere Bücher mit Griechenlandbezug, deren Manuskripte allerdings nicht schon bereits während des Krieges entstanden sind, lauten Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos (1956), Die Lerchenschule. Aufzeichnungen von der Insel Delos (1964) und Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen (1973).
In den Nachkriegsausgaben fehlen manche Episoden völlig, wie die oben zitierte Begegnung mit dem Hirten, der an der Metaxas-Linie gekämpft hatte. In Ölberge, Weinberge wuden verunglimpfende Bemerkungen über die Griechen, ebenso wie Aussagen zur NS-Programmatik oder zur deutschen Besatzung gestrichen.
In den Nachkriegsausgaben wird Kästners eigenes Leben zum Stoff für eine letzten Endes autobiografische Erzählung. Er verharrt als scheinbar neutraler Beobachter seiner eigenen Vergangenheit in historischer Distanz, die es ihm ermöglicht, das eigene Erlebte zu relativieren und die historischen Ereignisse „als durch die Zeitläufe versehrter und belehrter Augenzeuge philosophisch zu deuten“ (Meid 2015, 224–225). Dazu wählt er konkrete Beschreibungen wie die Hungerkatastrophe von 1941/42 oder das Massaker von Distomo 1944,32Im Überblick mit weiterer Literatur dazu Králová 2016, 57–59. das überhaupt das einzige deutsche Kriegsverbrechen ist, das Kästner erwähnt. 1953, in Ölberge, Weinberge beschreibt Kästner einen Besuch in der Gegend von Distomo:
Wenn ich so ging, konnte ich das Dorf Distomo meiden, das vor acht Jahren [1944], im Krieg, der Schauplatz eines ungeheuren Blutbads war: der Pappas des Dorfes, mit oder ohne Willen, hatte zwei Lastwagen voller Soldaten in den Hinterhalt der Partisanen bei Steiri geschickt, darauf folgte eine planvolle Rache, sinnloses Morden an Frauen, Kindern und Bauern, wie es ein Land noch nach hundert Jahren im Gedächtnis behält. […] Man lud mich sofort zum Mitfahren ein. […] Dort [Distomo] war am Abend zuvor ein Fest der Muttergottes gewesen, man hatte bis zum Morgen getanzt und getrunken, denn das Dorf hatte sich in den acht Jahren wieder mit Bewohnern gefüllt. Die beiden […] bedrängten mich, den sie wohl für einen Engländer oder einen Amerikaner hielten, ich solle mit ihnen kommen: seltsames Ansinnen, auf dem Dorfplatz des Blutortes eine Trinkstunde zu halten. […] Aber es schien mir nun einmal bestimmt, in dieser bedrückenden Gegend zu feiern. Als ich eine Stunde danach […] nach Steiri gelangte, saß die männliche Jugend auf dem Dorfplatz vor dem Kafenion und trank […]. Ich musste teilnehmen. Es war besonders heiter und frisch: Jugend im Ring, gute Laune, Gelächter, das reizende Mädelchen eines erst dreiundzwanzigjährigen Vaters, […] mein Bauerngriechisch, das eine unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit ist, unablässiges Gläserheben und Gesundheit zutrinken, das mich zwang, dem Leben eine Ovation darzubringen, dem Überleben, das die Schrecken der Geschichte verzehrt. (Kästner, 1953, 231–232)
Was Kästner eigentlich zum Ausdruck bringt, ist, dass wohl doch alles gut werden kann. Was wäre gewesen, wenn die Menschen in Distomo oder Steiri ihn als Deutschen erkannt hätten?
Vergebene Chancen
Kästner lässt die einmalige Chance verstreichen, in den Vor- oder Nachworten der Nachkriegsausgaben, zumal den späteren der 1970er Jahre, die Gräuel der deutschen Besatzer zu erwähnen oder seine eigene Rolle kritisch zu hinterfragen.33Siehe auch Ruther 31.12.2012. In privaten Briefen tut er dies allerdings sehr wohl (Hiller von Gaertringen, 341). Zeit seines Lebens hat er sich hierzu nicht – mehr öffentlich – geäußert. So bleibt das Dilemma zu beurteilen, ob – wie es Hagen Fleischer formuliert hat – der „Dichter im Waffenrock“ ein „wahrer Arno Breker [Lieblingsbildhauer Hitlers; Anm. d. Verf.] der Feder“ (Fleischer, 1988, 35) gewesen ist. Dies ist, um mit Helga Karrenbrock zu sprechen, die „Problematik eines Wehrmachtsautors und seiner den Krieg überdauernden Rezeption […], der kein Faschist, aber mit Sicherheit auch kein Antifaschist war“ (Karrenbrock, 2015, 392).
So klafft eine große Lücke zwischen der noch immer vorhandenen Beliebtheit der Griechenlandbücher Kästners – vor allem bezogen auf Ölberge, Weinberge und Kreta – bei deutschen Reisenden und der in der Regel unbekannten Genese. Teilweise ausdrücklich als begleitende Urlaubslektüre von manchen Reiseführern empfohlen, bleiben der Leserin oder dem Leser die Hintergründe verborgen.
Einer der heftigsten Kritiker Erharts Kästners, der Bremer Journalist Arn Strohmeyer, vollzieht, geprägt durch seine eigene Biografie als Sohn eines sogenannten Wehrmachtsschriftstellers, eine klare Abrechnung mit dem Autor:
Die Weltanschauung, der Erhart Kästner im Krieg gedient hat, war verbrecherisch. Sich der Tatsache zu stellen, dass er ein Beteiligter war, (auch wenn er selbst nicht gemordet hat), hat er nicht fertig gebracht. Er glaubte ohne Vergangenheit leben und dennoch Zukunft gewinnen zu können. Die Schuld zu beschweigen verhindert die Versöhnung. Deshalb muss Unrecht benannt und wieder gutgemacht werden. Das ist Erhart Kästner den Griechen schuldig geblieben (Strohmeyer, 2006, 116).
Diese Haltung, das Nichterwähnen der deutschen Kriegsverbrechen in Griechenland, das Sinnieren über die eigenen erlittenen Entbehrungen während des Kriegs und in der anschließenden Kriegsgefangenschaft, führten nicht zur öffentlich wahrnehmbaren kritischen Auseinandersetzung. Selbst das Zeltbuch von Tumilat (Erstausgabe 1949), in dem Kästner einiges aus dieser Zeit und das Verhältnis zu Hauptmann aufarbeitet, schafft dies nicht. Ein Leserbrief aus Jaffa vom Februar 1961, der sich auf das Zeltbuch von Tumilat bezieht, fasst diese Haltung zusammen:
Es geht nicht aus Ihrem Buch hervor, dass Sie während der Jahre nicht ganz glücklich waren in Gesellschaft des grossen Mannes [Hauptmann, Anm. der Verf.], der dann so klein beigegeben hat. Auch mir ist die »Coventrierung« (um Görings schönes Wort zu benutzen) Dresdens sehr nahe gegangen. […] Sie schreiben »nie sind so viele Menschen vielleicht in einer Stunde zu Tode gequält worden, wie hier«. Das schreiben Sie, nachdem Sie wissen, dass die Deutschen Millionen, meistens jüdischer Menschen, wie Ungeziefer vernichtet haben, Millionen, unter denen ein Einstein, ein Freud, ein Kafka hätten sein können. Die 80jährige Witwe Liebermanns und meine Mutter waren jedenfalls dabei. […] Ich bin sicher, es hat viele Helden in Deutschland gegeben. Es gab »die Weisse Rose«, die Geschwister Scholl, bedeutender noch als die Leute vom 20. Juli, die erst sehr spät, nach erster Mitarbeit und nachheriger völliger Aussichtslosigkeit ihren Versuch unternahmen, der dann nicht gelang. Diese Leute werden in Deutschland nicht genügend verehrt. Ich weiss nicht, wenn ich in Ihrer Lage gewesen wäre, ob ich gerade ein Held gewesen wäre. Jedenfalls, wie ich mich kenne, hätte ich Partei ergriffen. Es gab einen Thomas Mann, Albert Bassermann, Adolf Busch u.s.w. aber Gerhart Hauptmann, aber Sie? Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so schreibe, Sie werden sich wahrscheinlich wundern, dass ich Ihnen überhaupt schreibe, es geschieht, weil Ihr Buch gut ist und weil ich mir meinem Zweifel Ihnen gegenüber Luft machen möchte. Ich grüsse Sie, Bruno Simon“.34Bruno Simon, Brief an Erhart Kästner. 2 Briefentwürfe, 2 Bl. (3 beschr. S.) masch. 6.33/1 Nr. 1 (Jaffa 1961), Herzog Anton August Bibliothek, Wolfenbüttel, Sig. HAB Sig. 6.33/1 Nr. 1.
Diese Worte eines nicht näher bekannten Bruno Simon mögen als passendes Schlusswort genügen.
Fazit
Und dennoch, die überaus zahlreichen und auch fundierten Informationen zu Leben und Werk Erhart Kästners reichen für eine abschließende Aussage zur konkreten Genese dessen kleiner Antikensammlung, der Herkunftsrecherche der Objekte und Erwerbsgeschichte durch ihren Vorbesitzer nicht aus. Sie helfen aber dabei, diese vor dem Hintergrund der in den Museen stattfindenden Provenienzforschung35Zu den Provenienzforschungen nach den Washingtoner Prinzipien der Landeshauptstadt Hannover vgl. Schwartz, 2019, 16–25. zumindest in einem anderen, kritischeren Licht zu betrachten. Ob sie der Kategorie des NS-bedingt entzogenen Kulturguts zuzuweisen ist, als Erwerb unter Kriegsbedingungen in Griechenland zustande kam oder später legal im Kunsthandel erworben wurde, muss offenbleiben. Es sind die fehlenden Zeugnisse auf beiden Seiten, Verkäufer (= Sammler) wie Käufer (= Museum), die die Beantwortung zusätzlich erschweren.