Appell an den König
Während der sich im Herbst 1916 überstürzenden Ereignisse, an deren Ende der unumkehrbare, als „Nationales Schisma“ bezeichnete politische Bruch zwischen den Befürwortern eines Kriegseintritts Griechenlands an der Seite der Alliierten einerseits und den königstreuen Gegnern einer solchen Kriegsbeteiligung andererseits stand, brachte eine Gruppe von Intellektuellen ihre Unzufriedenheit über König Konstantins deutschlandfreundliche Haltung in Form einer leicht naiv angehauchten politischen Erklärung zum Ausdruck. Der König hatte mitten im Ersten Weltkrieg auf der Neutralität Griechenlands bestanden, die eindeutig im Interesse Deutschlands gewesen wäre. Heute, ein Jahrhundert später, klingt der Appell dazu etwas melodramatisch:
Oh König, all das große Unheil, das sich Tag für Tag in Nation und Staat anhäuft, und das noch größere, das nun klar am Horizont auftaucht, zwingt auch uns Arbeiter der Wissenschaft und der Kunst, ebenso uns Staatsbedienstete, die sich bislang vom politischen Streit ferngehalten haben, Ihnen unsere Meinung, die uns das Herz bedrängt, öffentlich auszusprechen. Oh König, Griechenland steht vor dem Abgrund – und dies als Folge der Neutralitätspolitik.1„Appell an den König“, in: Lefkoparidis, 1957, 259-262. Übersetzt vom Verfasser.
Des weiteren wird auf die fatalen Folgen der Machtkonstellationen auf dem Balkan hingewiesen. Diese Konstellationen könnten den Unterzeichnern der Deklaration zufolge als Resultat der außenpolitischen Haltung des Palastes betrachtet werden. Vermutlich aus taktischen Gründen wird nicht auf die eigentlich unumstrittene Verfassungsmäßigkeit dieser Haltung hingewiesen.2Alivizatos, 2011, 221-233. Ziel dieser Manifestation des Unmuts ist, eine Umkehr der Außenpolitik in Gang zu setzen. Der Akzent wird auf Argumente zur Unterstützung der Aufgabe der Neutralitätspolitik und zugunsten einer Beteiligung Griechenlands am Krieg auf der Seite der Entente Cordiale gesetzt.
Dieser Anfang Oktober 1916 verfasste Aufruf gelangte damals nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Die Aktion wurde im Laufe der Unterschriftensammlung verraten und von den Behörden verhindert, die darüber hinaus zu Verhaftungen beteiligter Personen schritt.3Angaben in der Fußnote zum Text des von Lefkoparidis verfassten Appells, 1957, 259. Exemplare, die nicht vernichtet wurden, gerieten in den Akten persönlicher Archive in Vergessenheit. In einem solchen Archiv hat sich eine Kopie mitsamt anderen nicht publizierten Notizen erhalten. Der Text gelangte Mitte der 1950er Jahre zur Kenntnis eines Teils des gebildeten Publikums, als der Gelehrte und Kritiker Xenophon Lefkoparidis die wichtigsten Publikationen des Politikers und Intellektuellen Alexandros Papanastassiou fast zwanzig Jahre nach seinem Tod herausgab. Laut Aussage des Professors der Juristischen Fakultät der Universität Athen, Konstantinos Triantafyllopoulos, der zum engeren Kreis der Initiatoren der Aktion zählte, war Papanastassiou Verfasser dieses Aufrufs und treibende Kraft bei der Unterschriftensammlung gewesen.4Einleitung von Triantafyllopoulos in: Lefkoparidis, 1957. Dieser Fall eines Protests gegen die Politik des Palasts war für Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. Es gibt jedoch Indizien, dass er Ende 1916 von einem breiteren Publikum nicht unbemerkt blieb. Wir können uns leicht vorstellen, dass Äußerungen des Unbehagens bzw. sogar offene Einwände gegen die Neutralitätspolitik in der sozialen Kommunikation nichts Seltenes waren. Zudem gab es noch keinen besonderen Grund zur Vorsicht: der Terror der einberufenen Stoßtrupps, also der eigentlichen paramilitärischen Einheiten, die mit ihrem Einsatz zu der Verschärfung von Willkür und direkten Unterdrückungsmaßnahmen seitens der königstreuen Regierungen dieser Jahre beitrugen, hatte vor den gewaltigen Ereignissen des 18. Novembers 1916 noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.5Zu diesen paramilitärischen Gruppen finden sich ausführliche Informationen in: Mavrogordatos, 1996. Beim Durchblättern von Zeitungen aus der damaligen Zeit wird ersichtlich, dass die Redefreiheit damals lediglich selektiv unterdrückt wurde. Die Existenz des Appells sickerte durch und war Gegenstand zuweilen hitziger Gespräche und auch gewalttätiger Auseinandersetzungen. Dafür gibt es Belege: In den Athener Zeitungen finden sich einige nicht besonders hervorgehobene, d. h. nicht auf der Titelseite, sondern nur im Inneren abgedruckte Meldungen, die auf derartige Ereignisse hinweisen. Doch gibt es auch Berichte zum Thema, die an leicht auffindbarer Stelle abgedruckt sind. Auf Seite 2 der Zeitung “Kairoi“ vom 8. November 1916 ist von Studentenprotesten die Rede, die sich gegen bestimmte Professoren an der Universität Athen richteten. Laut diesen Meldungen handelte es sich um royalistische Studenten, die sich gegen solche Universitätslehrer wendeten, über die Gerüchte im Umlauf waren, sie hätten sich in extrem kritischem Geist gegen den König geäußert. Dass es sich dabei um bloße Gerüchte handelte, lässt sich durch die Tatsache bestätigen, dass die Studenten, aber auch andere Anwesende, die nichts mit der Universität zu tun hatten, von den Professoren verlangten, die Teilnahme an entsprechenden Initiativen zu dementieren. Sie bestanden darüber hinaus darauf, ihnen dies schriftlich zu bestätigen. Eines der Opfer dieser königsfreundlichen Protestaktionen war der liberale Handelsrechtsprofessor Thrasyvoulos Petimezas, dessen Name auf der uns nachträglich bekannt gewordenen Unterschriftenliste mit dem Appell an den König zu finden ist. Den Emfpang des liberalen Professors im Vorlesungssaal ergänzte eine schreiende Gruppe, die wegen seiner verräterischen Pro-Entente-Haltung unverschämte, von Hochrufen auf den König begleitete Beschimpfungen gegen ihn ausstieß, mit Zitronenwürfen. Anfang November 1916 gab es an der Universität Athen viele ähnliche Vorfälle. Medienberichten zufolge führten die Gegenreaktionen der venizelosfreundlichen Studenten, die sich zur Verteidigung der Professoren versammelt hatten, zu heftigen Ausschreitungen und Eingreifen der Polizei. Diese Ereignisse waren Folge purer Gerüchte, denn niemand hatte damals den Text des Appells zu Gesicht bekommen. Es scheint aber, dass viele Zeitgenossen nicht nur von den Verfolgungen der Initiatoren der Unterschriftensammlung gehört, sondern auch eine Vorstellung davon hatten, worum es bei den Protesten ging.
Die Initiatoren
Die Hauptfigur Alexandros Papanastassiou war nicht nur ein herausragender Politiker:6Ein vollständiges Bild über den Werdegang und die Rolle, sowie die theoretischen Ansichten Papanastassious findet sich in: Anastasiadis/Kontogiorgis/Petridis, 1987 und Kyrtsis, 1988. auch seine Bildung und ideologische Orientierung, dazu seine politische Aktivität im Spannungsfeld zwischen liberaler Modernisierung und moderatem demokratischen Sozialismus trug ihm in den Reihen der griechischen Intelligenz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine besondere Position ein. Sein Beitrag in der Organisation von Kreisen politisierter Intellektueller wurde erstmals ersichtlich bei der Gründung der ‚Soziologischen Gesellschaft‘ von 1908. Der Reichtum seines politischen Denkens, das weitgehend von den Sozialwissenschaften seiner Zeit inspiriert war, fand in seinen regelmäßig erscheinenden Artikeln entsprechenden Niederschlag. Seine journalistischen Interventionen und theoretischen Schriften nehmen in seiner Laufbahn einen gleichen Stellenwert ein wie seine Rolle bei der Herbeiführung wichtiger politischer Wenden. In der politischen Geschichte des modernen Griechenland spielt er unter den Persönlichkeiten, die zur Etablierung der Griechischen Republik in den Jahren 1924-1935 beigetragen haben, als deren bedeutendste Figur eine herausragende Rolle.7Über Papanastasious Rolle in der Griechischen Republik der Jahre 1923-1935 vgl. Dafnis, 1997, 219-293.
Ohne Bezugnahme auf einige persönliche Eigenschaften Papanastassious wären diese Fakten von geringer Relevanz für seine Rolle als Verfasser des Appells an den König. Obwohl er unter dem Einfluss englischen Denkens und insbesondere der fabianischen Sozialisten stand8Als Fabianer oder Fabier (Fabians) werden die Mitglieder der immer noch heute existierenden Fabianischen Gesellschaft (Fabian Society) genannt. Diese Gesellschaft wurde 1884 als Organisation der Verteidiger gemäßigter sozialistischer Ideen gegründet., verdankte Papanastassiou die Fundamente seiner Bildung den Jahren, die er Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin verbracht hatte. Die Grundzüge seiner intellektuellen Identität lassen sich zum Teil auf Vorlesungen von Persönlichkeiten zurückführen, die im Mittelpunkt der geistigen Strömungen ihrer Zeit standen, wie z. B. Georg Simmel, dessen Vorlesungen Papanastassiou regelmäßig besuchte. Nicht weniger wichtig war für ihn das Studium von Abhandlungen, die für das intellektuelle Klima Deutschlands in dieser Zeit entscheidende Bedeutung hatten. Papanastassiou war unter anderem profunder Kenner des Werks zweier unterschiedlicher Gestalten der deutschen politischen Ökonomie der Kathedersozialisten, nämlich Gustav Schmoller und Adolf Wagner, wie auch Otto Gierkes, des wichtigsten Theoretikers des Genossenschaftswesens.9Kyrtsis 1988; Kyrtsis, 1996, 138-149. Wenn es, wie von Triantafyllopoulos bezeugt, tatsächlich zutrifft, dass es Papanastassiou war, der die Initiative zur Abfassung des Appells an das Gewissen des Königs ergriffen hatte, dann dürften die Gründe für die Auswahl der ersten Personen, die den Appell unterschrieben, mit in seiner Biographie wurzelnden Einstellungen zusammenhängen.
Die kurze, in Papanastassious persönlichem Archiv bewahrte Liste enthält – zusammen mit einer knappen Erwähnung des Tätigkeitsfeldes der entsprechenden Person – folgende Namen: 1) Nikolaos Politis, Universitätsprofessor, 2) Konstantinos Chatzopoulos, Dichter und Autor, 3) Alexandros Mylonas, Generalsekretär des Wirtschaftsministeriums, 4) Konstantinos Triantafyllopoulos, berufener (noch nicht angestellter) außerordentlicher Universitätsprofessor, 5) Nikolaos Kitsikis, Professor der Technischen Hochschule Athen, 6) Kyriakos Varvaressos, Direktor des Wirtschaftsministeriums, 7) Thrasyvoulos Petimezas, Universitätsprofessor.
Für mit dem Griechenland des 20. Jahrhunderts beschäftigte Historiker sind die Genannten insgesamt Persönlichkeiten mit tragenden Rollen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die enge Beziehung zu Deutschland während der Endphase des Kaiserreichs. Einige von ihnen, die die folgenden Dekaden überlebten, entwickelten eine ebenso tiefe Beziehung zum Deutschland der Weimarer Republik. Vier Persönlichkeiten aus dieser Gruppe (Triantafyllopoulos, Kitsikis, Mylonas und Varvaressos) erreichten ein Alter, das sie in die Situation brachte, die Erfahrungen der deutschen Besatzung und des ersten Jahrzehnts nach dem Zweiten Weltkrieg verarbeiten zu müssen. Alle Namen auf der Liste gehören Personen an, die bereits im Jahre 1916 auf Erfolge verweisen konnten und innerhalb der Athener Gesellschaft weitreichende Anerkennung genossen.
Der Älteste der am 3.10.1916 (dem Wortlaut nach mit „Eurer Majestät treue Untertanen“) Unterzeichnenden war Nikolaos Politis, Professor und ehemaliger Rektor der Universität Athen. Nikolaos Politis, nicht mit dem prominenten gleichnamigen Völkerrechtsexperten, Botschafter und Außenminister während der Regierung von Eleftherios Venizelos zu verwechseln, war eine besonders wichtige Figur an der Philosophischen Fakultät der Universität Athen. Nach dem Abschluss eines Jura- und Literaturwissenschaftsstudiums in Athen setzte er seine Studien in München und Erlangen fort, wo er den Doktortitel erwarb. Seine Beziehungen zu akademischen Kreisen Deutschlands blieben lebenslang bestehen, nicht zuletzt wegen seiner Freundschaft zu dem fast gleichaltrigen bayerischen Byzantinisten, Neogräzisten und Begründer der systematischen griechischen Volkskunde Karl Krumbacher, der aber in Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit religionswissenschaftlichen Themen auch einen bedeutenden Beitrag auf dem Gebiet der klassischen Altertumswissenschaften leistete. Überdies verfolgte er mit regem Interesse sowohl die literaturwissenschaftlichen als auch literarischen Entwicklungen seiner Zeit, letztere im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Dichter Georgios Drosinis in der Zeitschrift „Estia“. Im Tandem mit Spyridon Lambros, dem führenden Vertreter der konservativen Geschichtsschreibung, war er Herausgeber der „Neoellinika Analekta Parnassou“ („Neugriechische Parnassus-Analekten“). Politis und Lambros waren außerdem Mitherausgeber eines Bandes zu den Olympischen Spielen von 1896, der gleichzeitig auf Griechisch in Athen und auf Deutsch in Leipzig erschien.10S. Lambros und N. Politis, Die Olympischen Spiele, 776 v. Chr. -1896. N. Chr. Athen und Leipzig, Beck, 1896. Der Historiker Lambros, ebenfalls Professor der Philosophischen Fakultät an der Universität Athen, war in der Zeitspanne 27.9.1916 – 21.4.1917 Ministerpräsident der vom König gebildeten Regierung. Somit war er eine zentrale dramatis persona des „Nationalen Schismas“. Das war von erheblicher Bedeutung, denn Lambros, der nur wenige Tage vor der Aktion seiner Kollegen vom König als Ministerpräsident berufen worden war, ist derjenige, der die Einstellung der Verfolgungen anordnete, die nach der Entdeckung der Unterschrifteninitiative im Gange waren.11Lefkoparidis, 1957, 259. Der nach seinem Berliner Studium in Leipzig promovierte königstreue Ministerpräsident fühlte sich offenbar den sozialen Netzwerken der Mitbürger mit höherer Bildung zugehörig, deren Bewahrung er angesichts der scharfen politischen Gegensätze nicht aufs Spiel setzen wollte. Er empfand es als seine Verpflichtung, besonders diejenigen zu schützen, mit denen er sich nicht nur der gemeinsamen griechischen, sondern auch der gemeinsamen deutschen Bildung wegen verbunden fühlte. Und es versteht sich von selbst, dass dabei auch persönliche Beziehungen von entscheidender Bedeutung waren.
Ein weiteres Mitglied dieser Gruppe der von Lambros geschützten Mitunterzeichner war eine emblematische Figur der griechischen Literatur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Konstantinos Chatzopoulos. Er war der erste Übersetzer des Kommunistischen Manifests, aber auch von Werken Goethes und Hofmannsthals. Chatzopoulos war vielleicht derjenige mit der tiefsten Beziehung zu Deutschland. Er lebte dort mit kleinen Unterbrechungen von 1900 bis 1914. Was ihn von den anderen abgrenzte, war seine Einordnung in die Reihen der deutschen Sozialdemokratie dieser Zeit und seine zentrale Rolle bei der Entwicklung der griechischen marxistischen Linken.12Noutsos, 1998. Jenseits seines Prestiges aufgrund seiner bedeutenden Eigenschaften als Literat und Übersetzer klassischer Werke, aber auch aufgrund seiner literaturkritischen Tätigkeit und außerordentlichen Kenntnis deutscher Literatur und deutscher theoretischen Strömungen, wurzelten Chatzopoulos‘ Beziehungen zu den anderen, eindeutig konservativeren Mitunterzeichnern in einer Dimension, die aus der Perspektive späterer ideologischer Auseinandersetzungen keineswegs als selbstverständlich angesehen werden kann. In den Jahren der Ereignisse um das ‚Nationale Schisma‘ entstand in Griechenland eine bemerkenswerte Beziehung zwischen sozialistischen und Modernisierungsströmungen, nicht nur ausgeprägt im Falle Papanastassious, sondern auch allgemein akzeptiert in den Kreisen des griechischen Liberalismus der 1910er Jahre und ebenso in manchen Fällen der Jahrzehnte danach.
Außer Papanastassiou, Politis und Chatzopoulos sind auch die anderen fünf Personen auf der Liste der Erstunterzeichner des Appells herausragende Persönlichkeiten. Erwähnt wurden bereits die Namen von Triantafyllopoulos und Thrasyvoulos Petimezas. Es handelt sich um zwei Juristen, die ihre wissenschaftliche Ausbildung dem ausgesprochen dynamischen wissenschaftlichen Ambiente der Juristischen Fakultät an der Berliner Universität in den Jahren 1900-1910 zu verdanken haben. Beide leisteten einen entscheidenden Beitrag zum neuen Elan der Entwicklung der Juristischen Fakultät an der Universität Athen. Ihre Präsenz im öffentlichen Leben, oft mit der Bekleidung hoher Ämter verbunden, war nicht von minderer Bedeutung für ihre berufliche Laufbahn. Letzterer Aspekt reiht Triantafyllopoulos und Petimezas unter die maßgeblichen Exponenten in der Geschichte der griechischen politischen Kräfte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Im Mittelpunkt der politischen Geschichte steht auch Alexandros Mylonas, der ebenfalls in Berlin studiert hatte. Nach einer Karriere als hochrangiger Staatsbeamter, der sich durch seine wirtschaftspolitische Funktion, insbesondere aber als Experte für Sozial- und Agrarpolitik einen Namen gemacht hatte, gründete er 1926 die Griechische Agrarpartei. Mylonas’ politische Orientierung entstand aus einer Ideensynthese, die sich innerhalb des breiten Spektrums von Sozialdemokratie und Liberalismus situieren lässt. Der renommierte Bauingenieur Nikolaos Kitsikis war trotz seiner Einordnung in sozialistische Kreise während seines Studiums an der Technischen Hochschule Berlin und trotz seines späteren Werdegangs als Kader und Abgeordneter der marxistischen Linken zur Zeit der Unterzeichnung des Appells ein fanatischer Anhänger des Liberalen Venizelos. Sein wissenschaftliches Renommee auf dem Gebiet der Baustatik und generell fortgeschrittener Methoden der Baukonstruktion, ferner seine Rolle bei den Auseinandersetzungen über die Zusammenhänge zwischen technologischer und sozioökonomischer Entwicklung, schließlich seine Laufbahn als Professor an der Technischen Hochschule Athen trugen ihm unangefochtenen Respekt ein, der auch während der Verfolgungen, die er aufgrund seiner linken Identität ertragen musste, nie angezweifelt wurde. Kyriakos Varvaressos schlug eine konventionellere, doch gleichermaßen glänzende berufliche Laufbahn ein. Auch er verbrachte seine Studienjahre in München und Berlin. Nach erfolgreichem Staatsdienst wurde er zum Professor der Politischen Ökonomie an der Universität Athen berufen und später Mitglied der Athener Akademie. Er besetzte den wichtigen Posten des Gouverneurs der Bank von Griechenland sowie eines Kabinettmitglieds, fast immer mit Zuständigkeiten im Bereich der Wirtschaftspolitik. 1944 nahm er als Vertreter Griechenlands an der Konferenz von Bretton Woods teil.13Ausführliches dazu findet sich in Varvaressos’ Kakridis-Biographie: Kakridis, 2017.
Überdenkt man bei der Lektüre des Appells an den König die obigen biographischen Angaben, dann fragt man sich, ob das politische Wunschdenken seines Verfassers und der Mitunterzeichner oder anderer, die sich damals an ähnlichen Initiativen beteiligten, ihren Ursprung ausschließlich in ereignisbedingter politischer Analyse und in damit zusammenhängenden Emotionen hatte. Viele Partien des Textes erwecken eher den Eindruck, als riefen die politischen Ereignisse in diesen Intellektuellen mit deutschem universitärem Hintergrund eine Reihe von Problemen wach, die mit ihrer persönlichen und sozialen Identität zu tun hatten und sich nur mühsam verdrängen ließen. Es hat den Anschein, als hätten die Fragen nach ihrer Identität und Selbstwahrnehmung diese Menschen, die so unerschütterlich daran glaubten, aufgrund ihres Status die Entwicklungen beeinflussen zu können, in eine gewisse Realitätsferne getrieben, die man bei gescheiten und gut informierten Intellektuellen sonst nicht erwarten würde. Richtet man aus unserer großen zeitlichen Distanz den Blick auf die politische Geschichte der damaligen Zeit, klingt die Ansicht, diese Kreise um den Palast seien trotz der Kompromisse, die sie mit den Alliierten eingehen mussten, in der Lage gewesen, ihren Kurs zu wechseln, nur wenig überzeugend. Noch schwerer vorstellbar ist, Derartiges sei unter dem angeblichen Einfluss erfolgt, den einige Intellektuelle mit Studienerfahrungen in Deutschland ausübten. Trotz mancher ihnen zögerlich entgegengebrachter Bekundung von Respekt beruhte ihr Prestige nicht auf einer entsprechenden Anerkennung seitens des königstreuen und oft in jeder Hinsicht extrem konservativ gesinnten Teils der Athener Gesellschaft. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass dieses Gefühl für die Möglichkeiten einer Kehrtwende und damit eines Kriegseintritts Griechenlands aus der Interpretation der labilen Verhältnisse, der ambivalenten politischen Konstellationen und der Unschlüssigkeit vieler beteiligter Akteure entstanden ist.
Zwei kritische Monate im Herbst 1916
Der 18. November 1916 ist der Tag, an dem jedermann bewusst wurde, dass der Bruch zwischen der neutralitätsfreundlichen königlichen Regierung und den Kräften der Entente von nun an unumkehrbar war. Die Intervention der Streitkräfte der Alliierten mit vorwiegend französischen, aber auch britischen und italienischen Kontingenten überraschte die Athener bei Tagesanbruch. Diese Entwicklung war Folge der Nichteinhaltung der Abmachungen, die der König schweren Herzens zur Rettung seines Throns, zur Kontrolle eines Teils des Territoriums und der griechischen Streitkräfte mit den Alliierten vereinbart hatte. Griechenland war bereits geteilt, als Venizelos am 12. September 1916 Athen Richtung Kreta verließ und dort die Bildung eines separaten, der Entente zugeneigten griechischen Staates proklamierte, dessen Regierung sehr bald nach Thessaloniki umsiedelte. Die Kontrolle über den größten Teil des mazedonischen Raums durch Venizelos‘ „Regierung der Nationalen Verteidigung“ und alliierte Kräfte verwickelte auch griechische Truppenkontingente in Schlachten des Ersten Weltkriegs. Unter diesen Bedingungen galt eine „Taktik der schwachen Neutralität“ von Seiten des geschrumpften königstreuen griechischen Staats als notwendig, wenn denn die Verpflichtungen, die Konstantin gegenüber seinem Schwagers Wilhelm II. eingegangen war, erfüllt werden sollten.141889 heiratete der damalige Kronprinz von Griechenland Konstantin Prinzessin Sophie von Hohenzollern, eine der Schwestern Wilhelms II. Insofern bemühten sich die königstreuen Regierungen, nichts zu unternehmen, was die Alliierten als Provokation interpretieren konnten. Die Vereinbarungen mit den in Athen weilenden Vertretern der Entente beinhalteten unter anderem die Auslieferung von Kriegsmaterial, Einschränkung der Bewegungsfreiheit des königstreuen Heeres und Einstellung des Botschaftsbetriebes der der Entente feindlich gesonnenen Mächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Türkei. Die Einengung der Bewegungsfreiheit der Palast-Regierungen war von zentraler Bedeutung für die Briten und Franzosen. Die einzelnen Expeditionskorps der Alliierten hatten sich seit Anfang Oktober 1915 in Thessaloniki versammelt. Die sich hinter dem Schleier der Neutralität abspielenden Aktivitäten der deutschlandfreundlichen griechischen Regierung stellten sichtlich eine Bedrohung dar. Die Alliierten waren entschlossen, die Situation in den Griff zu bekommen. Der Auslöser für offene Feindseligkeiten war die Entstehung eines zweiten griechischen Staates, dessen Regierung zielsicher die Beteiligung am Krieg gegen die Zentralmächte anstrebte. Die Vorbereitungsmaßnahmen intensivierten sich seit Mitte September 1916 durch die Präsenz der französischen Kriegsmarine in der Bucht von Faliron, unmittelbar nachdem Venizelos Athen verlassen hatte, sowie durch die Unterstellung der griechischen Expeditionstruppen in Mazedonien unter den Befehl des französischen Generals Maurice Sarrail. Auch der größte Teil der griechischen Kriegsmarine, die Venizelos folgte, spielte an der südöstlichen Kriegsfront eine immer größere Rolle. Was die Verhältnisse in Athen betraf, war die Forderung an die Offiziere des königstreu gebliebenen Teils der Flotte von Bedeutung, den Franzosen die Verschlüsse der Geschütze auszuhändigen. Französische Militäreinheiten mit einer Stärke von bis zu zweitausend Mann hatten bis dahin die Rolle einer Ordnungsmacht in der Region von Piräus und Athen (als Hauptstadt des vom König kontrollierten Gebiets) übernommen. Zur gleichen Zeit kam es fast täglich zu Kontakt zwischen König Konstantin und den Vertretern Frankreichs und Großbritanniens. Die Kompromisse wurden immer schmerzhafter. Man kann sich vorstellen, dass unter solchen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit heftigerer Reaktionen immer größer wurde. Die fehlende Bereitschaft bzw. Unfähigkeit des Kreises um den König, die auferlegten Bedingungen zu erfüllen, nicht zuletzt wegen der Willkür der von ihnen aufgebotenen paramilitärischen Einheiten, provozierte ein auf den 18. November gesetztes Ultimatum des französischen Admirals Louis Dartige du Fournet. Die militärische Intervention der Alliierten an diesem Tag entwickelte sich zu einer alles andere als harmlosen Episode. Die paramilitärischen Einheiten schafften es mit Unterstützung der königlichen Armee, die viel kleineren Landungstruppen abzuwehren. Die Reaktion erfolgte unmittelbar nach der Bombardierung Athens durch die Flotte der Alliierten. Nach dieser Entwicklung waren beide griechischen Staaten – der prodeutsche von Athen und der an die Alliierten gebundene von Thessaloniki, unausweichlich in einen Kriegszustand hineingeschlittert. Direkte Folge dessen waren Gewaltausschreitungen in Athen und anderen Regionen, die sich gegen den Teil der Bevölkerung richteten, der als illoyal betrachtet wurde. Mit Sonnenuntergang des 18. Novembers 1916 nahmen die Ausschreitungen gegen all diejenigen zu, die den Verdacht erweckten, in irgendeiner Weise Venizelos-Anhänger zu sein. Die Mordanschläge und öffentlichen Anprangerungen zogen sich über mehrere Tage hin.15Mavrogordatos, 2015, 86-107.
Es liegt auf der Hand, dass sich nach dieser Abfolge von Ereignissen die Illusionen all derer verflüchtigt hatten, die Anfang Oktober in Erwartung einer möglichen Kursänderung gegen die Haltung des Königs protestiert hatten. Die Einschätzungen, die im Laufe der zwei Monate nach Venizelos’ Abgang aus Athen Hoffnungen auf das Entstehen eines zweiten ententefreundlichen griechischen Staates nährten, sollte man jedoch nicht als gegenstandslos einstufen. Die Indizien, die sich aus den Konsultationen und Verhandlungen ergaben, die der König höchstpersönlich bzw. seine Minister mit den Vertretern der Alliierten während der ganzen kritischen Periode von September bis November 1916 führten, eröffneten großen Spielraum für widersprüchliche Deutungen der Situation. Ein kurzer Blick auf die zwischen dem 12. September und dem 18. November erschienene Athener Presse genügt, um ein eindrucksvolles Bild der wechselhaften politischen Atmosphäre zu gewinnen. Unter den gegebenen Umständen kam es auf dem Boden des königstreuen Athener Staates zu so unvorstellbaren Ereignissen wie die ungehinderte Rekrutierung von Soldaten für die Armee der alliiertenfreundlichen griechischen Armee von Thessaloniki.16Die Athener Zeitungen, in denen ich nachgeschlagen habe, um die Ereignisse der zwei Monate des Jahres 1916 (vom 9.9.1916 bis zum 20.11.1916) zu rekonstruieren, sind die folgenden: Embros, Estia, Kairoi, Nea Imera, Patris.
Die Abmilderung entsprechender Gegenmaßnahmen war von den Alliierten aufgezwungen und Konstantin sah keinen anderen Weg, als die Kompromisse, die er eingehen musste, hinzunehmen. Nach Mitte Oktober 1916 waren trotzdem Versuche zur Verhinderung dieser Rekrutierungstätigkeit zu beobachten, ohne jedoch dem Zustrom von Freiwilligen nach Thessaloniki ein Ende zu setzen. Es kam sogar vor, dass in den Athener Zeitungen Aufrufe zur Konskription für die Armee von Thessaloniki abgedruckt wurden. Die Alliierten trachteten freilich nicht danach, diesen absurden Neutralitätsverhältnissen ein Ende zu setzen. Eher waren sie daran interessiert, die Organisation kriegswichtiger Ressourcen unter Kontrolle zu halten, und hatten keineswegs die Absicht, ihren Einfluss auf die politische Situation zu lockern. Als sich ab Ende November der Konflikt zwischen Athen und Thessaloniki in Richtung offener Kriegshandlungen, oft in Gestalt eines kuriosen Bürgerkriegs, zuspitzte, wurde es unmöglich, die deutschlandfreundliche Neutralität Athens noch weiter zu tolerieren. Bis zum letzten Moment trugen die aufeinanderfolgenden Verhandlungen zwischen den gegnerischen Parteien, über die es immer wieder Zeitungsmeldungen gab, zu allgemeiner Verunsicherung über deren Ausgang bei. Nachrichten über angebliche Direktverhandlungen des Palasts mit hochstehenden Vertretern der Alliierten zählten zu den typischen Meldungen dieser Wochen. In der Zeitung „Embros“ vom 4. Oktober 1916 ist zu lesen, dass Prinz Nikolaos von Griechenland in London weilte, während die britische Presse gleichzeitig, wie im selben Blatt berichtet, von Artikeln überflutet wurde, die die Politik des griechischen Königs anprangerten. In der folgenden Ausgabe vom 8. Oktober liest man, der griechische Kronprinz sei vom englischen König empfangen worden. Per Zufall erscheinen im selben Blatt Meldungen über die Entlassung aus der Staatsverwaltung und dem Richterstand von Anhängern des Großbritannienfreundes Venizelos. Der Alltag war bestimmt von in diametral entgegengesetzte Richtung weisenden Nachrichten.
Auch jener Teil des griechischen Publikums, der in der Lage war, in der ausländischen, vor allem französischen und britischen Presse verbreitete Informationen zu rezipieren, sah sich nach wie vor einem Dauerzustand der Desorientierung ausgesetzt. Erst gegen Ende November 1916 hörten die ausländischen Berichterstatter damit auf, die Situation als ambivalent darzustellen. Nur spärlich wurde in den Athener Zeitungen Berichte deutscher Zeitungen über Griechenland weitergegeben. Andererseits stößt man in der seriösen deutschen Presse auf eine große Zahl weitverbreiteter Kommentare, die sich mit der Frage der griechischen Neutralität befassen. In den zwei Monaten, die uns hier vor allem interessieren, erschienen Berichte zu diesem Thema immer häufiger. Einen Tag, nachdem Venizelos mit einer großen Zahl Vertrauter Athen verlassen hatte, veröffentlichte die Berliner Börsen-Zeitung einen beeindruckenden Leitartikel mit dem Titel „Griechenland und Wir“.17Berliner Börsen-Zeitung, 13.9.1916 Nach einigen Plattitüden über die tiefe geistige Verbundenheit zwischen Griechenland und Deutschland, ergänzt durch einen kurzen Hinweis auf die derzeitigen Wirtschaftsbeziehungen und die angeblich deutsche Prägung der griechischen Wirtschaftseliten (andere Bereiche der griechischen Elite bleiben unerwähnt), fährt der Verfasser des Artikels mit dem Urteil fort, die deutsche Einflussnahme sei nicht ausreichend, weil sie seit dem Kampf für die griechische Unabhängigkeit den Franzosen hinterhergehinkt sei. Anschließend wendet er sich der Neutralitätsfrage zu. Kurz gefasst lautet seine These, die Haltung König Konstantins sei ein Ausdruck von Mut und Verantwortungsgeist, ganz im Gegensatz zu Venizelos, dem er einen verheerenden Mangel an Verantwortung zuschreibt. Die Folge der Ereignisse, die zur Spaltung Griechenlands und zur Entstehung des Staates von Thessaloniki geführt hatten, wird auf britische Erpressungsaktionen zurückgeführt. Im selben Sinn werden auch die Gründe für die schwierige Lage, in der sich der griechische König befinde, definiert. Der unterzeichnende Publizist (H. Rouquette) war der Meinung, dass der König der offenen Zusammenarbeit mit den Zentralmächten deshalb nicht den Vorzug gegeben habe, weil er eine Blockade der Küsten Griechenlands durch die Briten mit absehbar katastrophalen Folgen für die Versorgung fürchtete. Kaum ein Tag vergeht ohne einschlägige Artikel in immer gleichem Ton zum Thema Griechenland: Voller Hass auf Venizelos, doch stets von Formulierungen begleitet, die nicht nur für Konstantin, dem Gemahl der Schwester des Kaisers, sondern auch für das griechische Volk die größte Sympathie bekunden. Die Berichte richten ihren Fokus auf undurchschaubare Verhältnisse in Griechenland und tragen oft charakteristische Titel wie „Die Vergewaltigung Griechenlands“18Berliner Börsen-Zeitung, 20.10.1916 oder „Die Bedrückung Griechenlands“.19Berliner Börsen-Zeitung, 8.11.1916. Am 18.11.1916 erscheinen Depeschen von Korrespondenten über das schon erwähnte Ultimatum von Admiral Fournet, und bereits an den unmittelbar darauffolgenden Tagen kann man in der Zeitung dazu nachgelieferte, ausführliche Schilderungen der Geschehnisse lesen. Mit antizipatorischem Interesse beschäftigt sich die deutsche Presse mit der Tragweite des Ausgangs der Kriegshandlungen auf dem Balkan und insbesondere mit dem Los des regionalen Hauptverbündeten Bulgarien. In diesen Berichten und Kommentaren tritt aber noch eine zusätzliche Dimension in Erscheinung. Es lässt sich ein emotionaler Ton der Verfasser beobachten, der mit dem tieferen Wunsch nach einer Bindung Griechenlands an den Kurs Deutschlands einhergeht. Dieser Wunsch scheint sich aus dem Gefühl herzuleiten, dass die Ablehnung des Angebots zur Teilnahme am Kampf um die Vorherrschaft in Europa seitens der Griechen sowie die nach Meinung vieler Deutscher halbherzige Neutralität der griechischen Krone in einem gewissen Sinne entscheidende Elemente ihrer eigenen deutschen Identität zu zersetzen drohte. Die metaphysische Anlehnung an etwas Verschwommenes, das sie als „griechischen Geist“ umschrieben, war nicht mehr leicht mit der Kriegspolitik in Verbindung zu bringen.20Berliner Börsen-Zeitung, 13.9.1916. Die Auswirkungen solch einer kläglichen Stimmung implizierten Nachsicht gegenüber dem griechischen Volk. In diesem Rahmen schienen die Griechen nicht für ihr Schicksal verantwortlich zu sein. Sie wurden Opfer gezielter Erpressung bzw. harter Dilemmata, welche diesen deutschen Kommentatoren zufolge unter den spezifischen historischen Bedingungen unvermeidbar waren. Die Trauer mancher Deutscher über den Verlust einer für sie essentiellen Beziehung zu Griechenland, auf die sich ihre kulturelle Identität stützte, schob die Notwendigkeit psychologischer Gegengewichte in den Vordergrund, wie sie sich am Ideal des martialisch-heroischen Menschentyps festmachen ließen. Die perverse Normalität des Krieges, die Narzissmus mit Sadismus verschwisterte, erleichterte die Verarbeitung des partiellen Verlusts dieser imaginären, auf griechische Phantasmagorien bezogenen Quellen der Identität. Es ist wahrscheinlich, dass die widersprüchliche deutsche Bezugnahme auf ein fernes imaginäres Element scheinbar griechischen Ursprungs, das über seinen instrumentellen Wert für die auf die Griechen gerichtete Propaganda hinaus eine genuin sinnstiftende Quelle war, von Griechen, die mit deutscher Bildung imprägniert und auf dem Laufenden waren, nicht unbemerkt blieb. Sie nahmen es unterschwellig wahr, auch wenn sie Worte für eine Einordnung der direkten wie indirekten Signale zu finden Mühe hatten. Man kann vermuten, dass die erhaltenen Informationen auch bei denen, die in Deutschland studiert hatten, widersprüchliche Emotionen auslösten, die sich ohne Zaudern auf Venizelos‘ und der Alliierten Seite gestellt hatten. So entstand eine Sphäre sui generis der Verflechtung zwischen der griechischen und der deutschen Öffentlichkeit, die als Faktor psychologischen Einflusses auf die Politik in beiden Ländern zugleich von Bedeutung war. Weder als Folge des Krieges noch nach dem Waffenstillstand verschwand diese Sphäre der Verflechtung. Als Sinnquelle bestand sie weiter, trotz der jeweiligen einheimischen Konflikte bzw. internationalen politischen Differenzen in beiden Ländern. Es war unmöglich, Reminiszenzen zu überwinden, welche Emotionen weiterhin am Leben hielten.
Erinnerung und Identität
Die Wirren um die Ereignisse, die sich zwischen dem 12. September und 18. November 1916 abspielten, rissen einen großen Teil des griechischen Bildungsbürgertums in eine Stimmung, ihre prägenden Erfahrungen neu zu verarbeiten. Ihr sozialer Status und das Prestige, über die sie sich die Rolle des angesehenen Bürgers aneignen konnten, beruhten auf ihren Studienjahren in Deutschland bzw. anderweitig erworbener deutscher Bildung. Die Gründlichkeit ihres Studiums, die akademischen Titel und der substantielle Tiefgang ihrer Bildung waren sehr unterschiedlich. Die meisten hatten eine eher oberflächliche Beziehung zum deutschen Schrifttum und öfter als gemeinhin gedacht entsprach ihre Beziehung nicht ganz der gängigen Bewunderung für deutsche Bildung. Diese Beziehung zu den deutschen und zu den europäischen Verhältnissen im Allgemeinen war eher indirekt, ohne ausreichende Vorstellung von den örtlichen Gegebenheiten und ohne Bekanntschaft mit Personen außerhalb der griechischen Beziehungsgeflechte. Die Statistik der Abschlüsse griechischer Universitätsprofessoren bis zum Zweiten Weltkrieg zeugt, anders als allgemein angenommen und zum Teil durch die Häufigkeit deutschsprachiger Literaturangaben in ihren Publikationen verstärkt, von keiner nennenswerten Aufenthaltsdauer in deutschen akademischen Milieus.21Karakostas, 2010 undDaten aus dem Archiv der Nationalen und Kapodistrias Universität von Athen, der einzigen griechischen Universität bis 1925.
Es wäre angebracht, eher vom Nimbus einer diffusen Ausstrahlung als von eigentlichem Wissenserwerb als Folge spezifischer Zugehörigkeit zu deutschen akademischen und sozialen Netzwerken zu sprechen. Die Mehrheit derer, die auf ein Studium in Deutschland zurückblicken konnten, verdankt ihre Kenntnisse und ihr Verständnis der deutschen Kultur einem nur relativ kurzen Auslandsaufenthalt. Lediglich ein kleiner Kern, zu dem auch die Unterzeichner der „Erklärung an den König“ zählten, hatte sich während der Jahre in Deutschland höhere akademische Qualifikationen aneignen können. Dennoch bleibt bemerkenswert, wie ausgesprochen wirksam seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Rezeption deutscher Kultur in Griechenland war, auch wenn dieser Einfluss indirekt blieb und meist mit einer eher diffusen Verbreitung von Ideengut einherging. Darüber hinaus nährte dieser kulturelle Transfer in der Gesellschaft Wunschträume, durch das Streben nach Elementen deutscher Kultur und eine Zurschaustellung von deren vermeintlichen Aneignung den eigenen sozialen Status aufzuwerten. Für diejenigen, die ihren persönlichen Nimbus mit solchen Bezugnahmen aufbauen wollten, bot der Krieg allerdings keine günstige Gelegenheit.
Die widersprüchlichen Regungen, die in dieser Situation unter vielen gebildeten Griechen aufkamen, lagen im Wortlaut der „Erklärung an den König“ vom Oktober 1916 offen zutage:
Viele von uns verdanken ihre Bildung den deutschen Universitäten, und wir sind voller Bewunderung für das geistige Deutschland, das wir als unser zweites Vaterland ansehen. Doch das hält uns nicht davon ab anzuerkennen, dass Deutschland, von militaristischen Kreisen geleitet, sich insofern im Unrecht befindet, als es in der Welt den Geist des Unheils und gegenseitigen Gemetzels im Namen des Traums von der Weltherrschaft entfacht hat. Die Verwirklichung dieses Traums würde ausnahmslos die Unterjochung von Nationen, den Stillstand der Zivilisation und insbesondere aufgrund der allbekannten nahostpolitischen Interessen Deutschlands und der Überheblichkeit und tyrannischen Ansprüche seiner balkanischen Verbündeten die Zerstörung unserer eigenen Nation zur Folge haben. In dieser Hinsicht ist der Kampf der Schutzmächte22Mit den „Schutzmächten“ (wie sie in Griechenland genannt werden) sind die Signatarmächte der Londoner Beschlüsse von 1830 und 1832 gemeint, die sich nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1821-1827 auf die Gründung des Königreichs Griechenland einigten. und ihrer Verbündeten nicht nur ein gerechter Kampf für die Verteidigung der Freiheit der Nationen und der Zivilisation, sondern auch der einzige Kampf, der uns, sofern wir ihn aktiv unterstützen, die Wiederherstellung unserer nationalen Rechte und einen bleibenden Frieden gewährleisten kann.23„Appell an den König“, in: Lefkoparidis, 1957, 259.
Hier werden Grundzüge des psychologischen Mechanismus einer Rationalisierung von Emotionen augenfällig: Bestimmte Deutsche haben das Wesen deutschen Geistes verraten. Die in Griechenland heimischen Leugner dieses Geistes haben sich denjenigen angeschlossen, die unfähig sind, die deutschen Ursprünge ihrer Bildung und die politische Vernunft, die man sich zur Verteidigung der griechischen nationalen Interessen aneignen sollte, voneinander zu unterscheiden. Der Faden der Fantasie, der hier an der Hoffnung spann, Unvereinbares miteinander zu vereinbaren, führte zu weiteren illusionsbeladenen Gedankengängen: Der König, Inhaber des höchsten Amtes im Staate und von anerkannt profunder deutscher Bildung, jedoch mit dem britenfreundlichen Ministerpräsidenten Venizelos verfeindet, könne sich unter Umständen zu einem Kurswechsel bewegen lassen. Es würde ausreichen, seinen Patriotismus mit dem vermeintlich wahren Wesen deutscher Bildung in Einklang zu bringen.
Hier liegt nicht nur eine oberflächliche Schematisierung vor, zu der sich Papanastassiou und seine Freunde hinreißen ließen. Es handelt sich vielmehr um eine Rationalisierung tieferer psychologischer Hintergründe. In dieser Hinsicht sind die Beschreibungen am Anfang des Buches einleuchtend, in dem die Erklärung von 1916 mit einer Verspätung von vier Jahrzehnten publiziert worden ist (nachzulesen in der Einleitung von Konstantinos Triantafyllopoulos).24Triantafyllopoulos, Einleitung in Lefkoparidis, 1957, i-xxiv. Mit dem gefühlsbeladenen Ton, der sich oft in Erzählungen schöner Reminiszenzen aus Studienzeiten einschleicht, wird auf eine Versammlung in Berlin um die Weihnachtszeit 1903 Bezug genommen: Die jungen Leute, die auf der Suche nach der Geborgenheit weihnachtlichen Zusammenseins mit ihren Landsleuten aus allen Ecken und Winkeln Deutschlands in die Reichshauptstadt gekommen waren, hatten ihre Familien und Freundeskreise in Griechenland mit dem Ziel zurückgelassen, nach einem Studium in Deutschland über höhere Qualifikationen zu verfügen. Triantafyllopoulos rückt Papanastassiou, mit dem er bei dieser Gelegenheit offenbar zum ersten Mal zusammentraf, ins Zentrum solcher Erinnerungsnarrative. Im Rückblick sieht er in diesem Abend einen ersten Schritt zur Anknüpfung von Freundschaften, die Jahre später zu gemeinsamer intellektueller wie politischer Betätigung führten.
Jahr 1903: Ich kam nach Berlin aus einer kleinen deutschen Universität [Wahrscheinlich meint er Göttingen, d.V.], um mit meinen Landsleuten beim gemeinsamen Abendessen Weihnachten zu feiern. Als ich ankam, waren bereits einige mir aus Athen bekannte Studenten und weitere Teilnehmer, hauptsächlich Staatsbeamte eingetroffen, alle feierlich gekleidet und allesamt, damaliger Mode folgend, Schnurrbartträger. Dann erschien im Saal ein schmucker Kerl, der sich von den anderen unterschied: einfach, mit wallendem Haar und roter Krawatte, das Gesicht glattrasiert, die Augen strahlend, mit unterschwelligem Lächeln und leichtgeneigtem Kopf, ein charmantes Ganzes, das mich besonders beindruckte […]. Aus der Tischgesellschaft dieses Berliner Abends entstand nach unserer Rückkehr in die Heimat zusammen mit noch einigen anderen die Soziologische Gesellschaft. Sie wurde als Verein 1908 gegründet.25Triantafyllopoulos, Einleitung in Lefkoparidis, 1957, i-ii.
Diese Soziologische Gesellschaft beschränkte sich nicht nur auf intellektuelle Aktivitäten. Sie war zugleich ein Diskussionskreis, der sich mit Fragen der Entwicklung einer politischen Organisation beschäftigte, die das Ziel verfolgten sollte, später Gründerin einer Partei eines gemäßigten Sozialismus mit modernisierungspolitischer Orientierung zu werden. Will man die besonderen Tendenzen dieses Kreises verstehen, so darf man nicht ihre ideologische Orientierung übersehen. Doch wäre es ungerecht, die Einstellung dieser Gruppe zur Alltagspolitik auf rigide ideologische Muster zu reduzieren – das würde ihrem intellektuellen Anspruch nicht gerecht. Die Einschätzung der historischen Gegebenheiten dieses Kreises ergab sich aus der Interdependenz zwischen ihrer Beteiligung an der praktischen Politik und ihrem Wissensideal. Die Orientierung an Letzterem schöpfte aus der Erinnerung an den Umgang in Freundeskreisen in Berlin, Leipzig oder anderen kleineren oder größeren deutschen Städten mit renommierten Universitäten.
Unbewältigte Trauer
Man kann sich gut vorstellen, dass der Appell von 1916 aus einem lange zurückliegenden, im Gedächtnis haftengebliebenen Rohentwurf entstanden ist, der womöglich am Weihnachtsabend 1903 in Momenten jugendlichen Palaverns auf ein schäbiges Papierstück hingekritzelt wurde – vielleicht in einer im Vergleich zu späteren Entwicklungen zusammenhangslosen Version verschiedenen Inhalts, aber aus tendenziell ähnlicher Gefühlslage. Mehrere Jahre später, während der spannungsreichen Entwicklungen von 1915 bis 1917, trübte sich die Erinnerung an frühere Sympathien für Deutschland ein – es war unvermeidbar, auf Distanz zu bisherigen Einstellungen zu gehen. Die dahinschwindende harmonische Anknüpfung an vergangene, doch nicht allzu ferne Erfahrungen führte unumgänglich in einen Zustand schwer zu verarbeitender Trauer, und dies trotz des Engagements für Venizelos, das Gelegenheit zu einer scheinbaren Ordnung der Emotionen bot. Doch fiel es nicht leicht, sich durch diesen Anschluss an politische Kreise mit liberaler und Pro-Entente-Gesinnung von einem so abstrakten Gegenstand der Bewunderung wie deutscher Bildung zu lösen, die weiterhin ihre prägende Wirkung auf die Mentalität dieser Kreise ausübte. Die Erschütterungen des Krieges ließen keinen Freiraum für eine alternative Wertorientierung von ähnlichem Gewicht. Die Venizelosanhänger unter den Intellektuellen mit deutschem akademischem Hintergrund waren nur zögernd bereit, ihre inbrünstige Bindung an die deutsche Bildung zu verleugnen. Es waren kalte Logik und Einsicht in die aus nationalem Interesse entstehenden Sachzwänge, die es ihnen erleichterten, einen Teil der eigenen Persönlichkeit zu unterdrücken, um sich auf die Seite der Alliierten zu schlagen. Im Text des Appells an den König ist zudem eine andere Dimension des geistigen Verhältnisses zu Deutschland feststellbar. Man kann dort eine Wahrnehmung von Deutschland als gespaltenem Objekt beobachten. Die Unterscheidung zwischen den positiven und negativen Seiten Deutschlands bot denjenigen, die seinen Geist bewundert hatten, einen gewissen Ausweg. Später, während der Weimarer Republik, hat diese Dimension an Signifikanz eingebüßt.26Über die Einstellungen der griechischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit s. Kyrtsis, 1996. Erneut geriet sie jedoch zur Zeit des Nationalsozialismus ins Zentrum des Interesses, stärker noch in den Jahren der Besatzungs- und Nachkriegszeit. Die einschlägigen Stellen wurden bereits zitiert:
…Deutschland, von militaristischen Kreisen geleitet, sich insofern im Unrecht befindet, als es im Namen des Traums von der Weltherrschaft den Geist des Unheils und gegenseitigen Gemetzels heraufbeschworen hat….
Damit wird insinuiert, dass das Land, vom Herrschaftswahn getriebener Militaristen dazu verführt, seine geistige Aufklärung, sein wahres Selbst verloren hatte. Trotzdem ist darauf hinzuweisen, dass das Konzept einer deutschen Nation im Zwiespalt keinen Ausweg dafür bot, mit der Trauer über den Verlust eines dahinschwindenden kohärenten Ideals zurechtzukommen. Es führte lediglich zu verstärkten Gemütsschwankungen, die die Liebe für „[…] das geistige Deutschland, […] das zweite Vaterland […]“ neben den Hass auf ein Land setzte, das „den Geist des Unheils und des gegenseitigen Gemetzels heraufbeschworen hat“. Dieses hochemotionale Schwanken, diese Hassliebe, die die Bewältigung der Trauer verhinderte, setzte sich nach dem Moment des nationalen Schismas der 1910er Jahre über Jahrzehnte hin fort. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verlor es seine Bedeutung als konstitutives Element der psychischen Verfassung von Griechen, die in Deutschland studiert hatten, als das Dilemma einer Wahl zwischen den beiden einander entgegenstehenden Gesichtern Deutschlands im Klima der politischen Nachkriegswelt bis zu einem gewissen Grad beseitigt werden konnte. Bis dahin ließ die unbewältigte Trauer Spielraum, zwischen zwei Alternativen zu wählen: der Hingabe an das „gute“ Deutschland, das hauptsächlich das Anliegen derjenigen war, die politisch liberalen oder linken Tendenzen folgten, und der Akzeptanz für ein Deutschland, das von Weltherrschaft träumte und vor dessen schrecklichem und mit der Bewunderung für eine große Kultur unvereinbarem Anblick es die Augen zu schließen galt. Auch als die deutsche Armee 1941 Athen eroberte, war für manche diese Verwirrung der Gefühle etwas, mit dem sich schwer fertig werden ließ. Die Dialoge in Karolina Mermingas romanhafter Erzählung über das Leben ihres Großvaters Konstantinos Mermingas (Chirurgieprofessor an der Universität Athen, der in Deutschland studiert hatte) geben solche inneren Widersprüche auf charakteristische Weise wieder.27Mermingas, 2017. Im folgenden Passus beschreibt die Autorin, wie sich Mermingas und der von den Besatzern eingesetzte Vizepremier der griechischen Regierung einander annähern. Letzterer hatte ihm in diesem fiktionalen Text vorgeschlagen, den Posten des von der Besatzungsmacht einzusetzenden Athener Bürgermeisters zu übernehmen. Zwischen dem Professor und seiner Familie soll sich folgendes ernstes Gespräch abgespielt haben:
̶ „Und was will er [Der Vizepräsident der Kollaborationsregierung] von dir?“
̶ „Mit denen zusammenzuarbeiten. Als mit deutscher Bildung Vertrauter werde ich zugleich als Verehrer Deutschlands eingestuft“.
̶ „Und bist du das?“ [….]
̶ „Ich bin Verehrer eines Deutschland, das mich geistig aufgezogen hat, und ich bestehe darauf, sein Bewunderer zu bleiben, auch wenn es nicht mehr existiert. Ich bin Feind, ich wiederhole: ich bin Feind dieses Landes und dieser Deutschen, die da jetzt in mein Land einmarschiert sind. Ich bitte darum, dasnicht weiter verdeutlichen zu müssen“. [ …. ]
̶ „Das heißt also, dass du mit denen zusammenarbeiten wirst“.
̶ „Also, ja. Ich werde es tun. Auf meine Weise. [….] Es muss ein neuer Bürgermeister ernannt werden, und zwar schnell, denn die Stadt braucht ihn dringend. [….] Und es muss jemand sein, der genügend vom öffentlichen Gesundheitswesen versteht und dazu jemand, den die Deutschen akzeptieren können, der in Deutschland studiert hat und die Sprache beherrscht…. [ …. ] Für die Deutschen werde ich sicher akzeptabel sein».28Mermingas, 2017, 517-519.
Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der unbewältigten Trauer griechischer Intellektueller aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit deutscher Bildung ist für das tragische Ende der Zusammenarbeit von Mermingas mit den Besatzern nicht weiter wichtig. Was aber unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte, ist die Art und Weise des Aufeinanderprallens der Dilemmata, die aus widersprüchlichen Phasen der Identitätssuche entstanden sind. Im Falle derjenigen, die den Appell an den König von 1916 unterschrieben hatten, war es wegen ihrer liberalen bzw. quasi-sozialistischen Orientierung relativ leicht, eine wenn auch eher oberflächliche Lösung bei der Unterscheidung zwischen Politik und Kultur zu finden. Diese Unterscheidung hat sie vor den Qualen schwer lösbarer und oft tragischer Dilemmata bewahrt. Doch diejenigen, die sich keine geeignete politische Mythologie zugelegt hatten, die dazu hätte beitragen können, Abwehrmechanismen gegen eine unkritische Bewunderung deutschen Geistes in Momenten entscheidender Verfeindung zu entwickeln, waren am Ende tragische Gestalten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schwer des ihnen auferlegten Stigmas wieder entledigen konnten.