Darstellungen Chinas in der neugriechischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. „Das chinesische Kaiserreich“ in Konstantinos Koumas‘ „Geschichten der menschlichen Taten“ (1830-32) und die deutschen Einflüsse seiner Vermittlung

Welche Gründe veranlassten griechische Historiker des 19. Jahrhunderts wie z.B. Konstantinos Koumas (1777-1836), sich mit China zu beschäftigen? Welchen Einfluss hat die deutsche Geschichtsschreibung auf die Darstellung Chinas in Koumas΄ Istoriai ton anthropinon praxeon apo ton archaiotaton chronon eos ton imeron mas (Geschichten der menschlichen Taten vom Altertum bis zu unseren Tagen, 1830-1832), und worin besteht der Unterschied zwischen seinem Werk und den von ihm benutzten deutschen Quellen? Wie bewerteten Koumas und andere griechische Historiographen seiner Zeit Staatsform, Philosophie, Religionen, Sprache und Kunst der Chinesen? Wie verhält sich ihre Einstellung zur chinesischen Kultur zu den Grundsätzen der europäischen Aufklärung und zu den eher allgemeinen Vorstellungen über den ‘‘Orient‘‘, die zu dieser Zeit in Europa vorherrschten?

Inhalt

    Einführung1Dieser Essay ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf der Konferenz Transferts culturels, Médiations et médiateurs en Grèce moderne (1830-1940) (Kulturtransfers, Vermittlungen und Mittler im modernen Griechenland) – organisiert am 10.-11. Dezember 2020 vom Ethniko Idryma Erevnon (Nationales Hellenisches Forschungszentrum) und der École française d’Athènes (EFA) – gehalten wurde. Für die Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche möchte ich mich bei Herrn Athanassios Tsingas bedanken.

    Was das Wissen des Westens über das neuere China angeht, spielten die Jesuitenmissionare eine entscheidende Rolle. Ihre Schriften waren jahrhundertelang die Hauptquelle dessen, was die Europäer über das Reich der Mitte wussten. Sie lösten während der Aufklärung bestimmte Debatten aus (Hillemann, 2009, 3, 16), die teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein andauerten: War das kaiserliche China ein Vorbild der aufgeklärten Monarchie oder das Nonplusultra der Orientalischen Despotie? Bewiesen die altchinesischen philosophisch-religiösen Systeme, dass Monotheismus und bewundernswerte moralische Lehren auch außerhalb des Christentums existierten, oder offenbarten sie den Irrtum und den Aberglauben der Chinesen, die nur durch die Christianisierung zu tilgen waren? Welcher Platz wurde China auf der zivilisatorischen Rangliste zugewiesen, an deren Spitze die Westeuropäer ihre eigene Kultur platzierten, und auf welche Faktoren war die vermeintliche Überlegenheit des Westens zurückzuführen?

    Diese Fragen lösten unter den westlichen Gelehrten heftige Kontroversen aus. Wie Forschungsbeiträge über den europäischen Orientalismus hervorgehoben haben, war China, wie auch andere östliche Kulturen, in innereuropäische politische, religiöse und ideologische Konflikte verwickelt und repräsentierte dabei in erster Linie das „orientalische Andere“, das im Gegensatz zu den grundlegenden Merkmalen der europäischen Zivilisation stand (Lehner, 2011, 5; Girardot, 2002, 4). Vereinfachend kann man von zwei gegenläufigen Tendenzen im westlichen Denken sprechen: einerseits der Strömung der Sinophilie, die das soziopolitische System sowie die philosophischen, moralischen und ästhetischen Prinzipien der Chinesen lobpreiste und der Ansicht war, dass China auf mehreren Ebenen ein positives Beispiel für die Europäer sein könne; andererseits der entgegengesetzten, die China und seine Kultur herabwürdigte und behauptete, dass es all jene Eigenschaften verkörpere, die den „Orient“ gegenüber dem Westen „minderwertig“ mache (Lehner, 2011, 96). Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert begann die Tradition der europäischen Sinophilie zu schwinden und ließ die negative Haltung erstarken. Dieser Wandel hing mit mehreren Faktoren zusammen; zum einem mit dem wachsenden Überlegenheitsgefühl der Westeuropäer, das sich aus dem Fortschritt der westlichen Wissenschaft und Technologie ergab, aber auch mit dem zunehmenden Verfall der chinesischen Qing-Dynastie, die das Eindringen westlicher Mächte in ihr Territorium nicht verhindern konnte, was allmählich zu den Opiumkriegen und anderen Konflikten führte (Mackerras, 1989, 43-44). Diese Ereignisse begünstigten die Entstehung einer Art kolonialistischen Diskurses, der die westlichen Begehrlichkeiten in Richtung China unterstützte.

    Angesichts dieser Strömungen und Entwicklungen in der westeuropäischen Geschichtsschreibung stellt sich die Frage, wie das Bild der chinesischen Kultur in der neugriechischen Geschichtsschreibung aussah und wie griechische Gelehrte bestimmte Muster der Gegenüberstellung von Ost und Westrezipierten, die die westeuropäische Vorstellung Chinas bestimmten.

    Wichtige Aspekte des modernen griechischen Orientalismus im 18. und 19. Jahrhundert sind im Rahmen der Erforschung der neugriechischen Aufklärung bereits untersucht worden – dazu gehören z.B. die Übersetzungen von Werken der arabischen und indischen Literatur und die wissenschaftliche Tätigkeit bahnbrechender griechischer Orientalisten der Neuzeit wie Dimitrios Galanos (1760-1833) und Dimitrios Alexandridis (1784-1851?) (Tabaki, 1984, 316-337). Die Haltung der neugriechischen Gelehrten gegenüber China und seiner Kultur ist jedoch bislang nicht systematisch untersucht worden. Sie mögen sich mit China nicht in demselben Maß beschäftigt haben wie mit den näher gelegenen und vertrauteren östlichen Zivilisationen, aber das bedeutet nicht, dass sie vom internationalen Interesse an China völlig unberührt blieben und dass China in der neugriechischen Geschichtsschreibung unerwähnt geblieben wäre.2Ein besonderes, frühes Beispiel dafür ist das Werk Kitaya Doulevousa (Κιταΐα Δουλεύουσα) von Chrysanthos Notaras (1655-1731), der den Untergang der Ming-Dynastie und die Eroberung des chinesischen Reiches im 17. Jahrhundert durch die Tataren beschreibt, die die Qing-Dynastie installierten. Kitaya basiert größtenteils auf einem Buch in slawischer Sprache von Nikolaos Spatharios, der Augenzeuge dieser Ereignisse war. Sein Werk stand in der Tradition der paradigmatischen Geschichtsschreibung. Notaras schenkte das Werk Ioannis Konstantinos Vassaravas, dem Herrscher der ungarischen Walachei. Es wurde zu einem viel späteren Zeitpunkt von Émile Legrand in der Reihe Bibliothèque Grecque vulgaire, Bd. III (Paris: Maissonneuve, 1881) veröffentlicht. Wenn wir beispielsweise ins 18. Jahrhundert zurückblicken, so erscheint uns die 1763 in Venedig erschienene Istoria tou Vassiliou tis Kinas (Die Geschichte des Königreichs China) von Jeorjios Konstantinou bemerkenswert, „zusammengestellt von den präzisesten englischen, französischen und italienischen Historikern“ (Konstantinou, 1763). Dies war der zweite, eigenständige Band einer geplanten Weltgeschichte. Konstantinou stellt im Vorwort fest, dass „in Ermangelung an Historikern, d.h. Welthistorikern unter uns Griechen die östlichsten Teile Asiens und die dortigen Königreiche den meisten geschichtsfreudigen Lesern unbekannt, fast namenlos […] geblieben sind “ (ebd., 2). Sowohl Konstantinou als auch andere neugriechische Historiographen unternahmen den Versuch, diesen Mangel zu beheben, denn ein Grundprinzip der neugriechischen Aufklärung war, dass zur intellektuellen Bereicherung der Hellenen nicht nur die Kenntnis der griechischen Geschichte, sondern auch die Aneignung eines allgemeinen historischen Wissens gehöre. Bezeichnend ist die Aussage von Anastassios Konstantas, dem griechischen Übersetzer des Werkes Curiosités naturelles, historiques et morales de l’ empire de la Chine des französischen Gelehrten Antoine Caillot (1759-1839) aus dem Jahr 1846, auf das wir noch zurückkommen werden. Dort heißt es:

    Für jeden kultivierten Landsmann, der die Geschichte seiner Nation von Anfang an kennt, ist es zweifelsohne ein nicht unbedeutender Schatz, Kenntnisse über die beachtenswertesten Nationen der Welt zu haben, wie weit sie auch von den eigenen Gefilden entfernt sein mögen […] denn auch sie sind, obwohl sie keine Verbindung mit uns haben […], Kinder derselben Menschenfamilie, zu der auch wir gehören, und Bewohner desselben Planeten (Konstantas, 1846, α).

    Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der allgemeinen oder Universalgeschichten in der neugriechischen Historiographie erheblich zu. In der Regel wird China darin im Rahmen der östlichen Zivilisationen behandelt. Darüber hinaus veröffentlichten Zeitschriften gelegentlich sowohl vor als auch nach der griechischen Revolution (1821–1829) in Übersetzung Artikel zu China sowie chinesische Literatur, wie es auch zu anderen östlichen Zivilisationen üblich war. Im Filolojikos Tilegrafos (Philologischer Telegraph) von D. Alexandridis finden sich auch Rezensionen zu Werken westeuropäischer Sinologen (Tabaki, 1984, 330). In einigen wenigen Fällen wurden auch Bücher, die sich ausschließlich mit China befassen, ins Griechische übersetzt, so z.B. Caillots Curiosités naturelles, historiques et morales de l’ empire de la Chine (1818), auf das bereits hingewiesen wurde.

    Es ist ersichtlich, dass sich die neugriechischen Gelehrten in ihrem Wissen über China auf ausländische, vor allem westeuropäische Quellen stützten. Diese Vermittlung ist ein entscheidendes Element, das uns im Folgenden beschäftigen wird.

    Der vorliegende Essay konzentriert sich insbesondere auf die Darstellung Chinas in dem zwölfbändigen Werk Istoriai ton anthropinon praxeon (Geschichten der menschlichen Taten) des neugriechischen Aufklärers Konstantinos Koumas (1777-1836), eine der wichtigsten neugriechischen Universalgeschichten (Stassinopoulou, 1992). In der Geniki Istoria (Allgemeine Geschichte) von Polyzoidis/Kremos aus dem Jahr 1890 werden Koumas‘ Istoriai als „die einzige nennenswerte allgemeine Geschichte, die in griechischer Sprache von 1831 bis zur Gegenwart geschrieben wurde“ bezeichnet (Kremos, 1890, νη΄).

    Im Untertitel des Werkes erklärt Koumas, dass seine Istoriai eine freie Übersetzung der Werke hervorragender deutscher Historiker sei. Zu Koumas´ Quellen gehören tatsächlich einige der bekanntesten deutschen und deutschsprachigen Autoren von Weltgeschichten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Karl Friedrich Becker (1777-1806) und Johannes von Müller (1752-1809) (Stassinopoulou, 1992, 144). Insbesondere was die Istoriai-Abschnitte über China betrifft, gehören zu Koumas´ Quellen Werke des Historikers und Theologen Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und des Forschers asiatischer Kulturen Heinrich Julius Klaproth (1783-1835), die beide international anerkannt und praktisch Zeitgenossen von Koumas waren. Daher waren die Aussagen zu China, die Koumas seiner neugriechischen Leserschaft vermittelte, nach den Maßstäben der damaligen Zeit stichhaltig und aktuell. Kremos weist darauf hin, dass Koumas‘ Istoriai „in der Übersetzung selten falsch sind, wogegen die Texte der meisten seiner Vorgänger […] voller paradoxer Dinge sind“ (Kremos, 1890, νη΄). Hier muss klargestellt werden, dass die „freie Übersetzung“ nicht bloß eine Redewendung ist. Wie Maria Stassinopoulou bemerkt, und wie wir noch sehen werden, übt Koumas die Rolle des kritischen Übersetzers aus. Er trifft eine selektive Auswahl dessen, was er überhaupt übersetzt bzw. überträgt (Stassinopoulou, 1992, 143). Die Istoriai können daher als ein wichtiges Beispiel für den Austausch zwischen der deutschen und der neugriechischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert betrachtet werden, wie auch und für den selektiven Transfer des historischen Wissens von ersterer zu letzterer.

    In der Einleitung der Istoriai stellt Koumas klar, dass der Begriff „Allgemeine Geschichte“ (Jeniki Istoria) eigentlich auf eine universelle Geschichte der Menschheit verweist. Dort heißt es:

    Weil aber die Völker dieser Erde weder ihren Geist soweit kräftigen oder kräftigten, wie sie sollten, noch in gleichem Maße, spricht die Allgemeine Geschichte weder von allen Völkern noch von allen in gleichem Maße, denn sie beschäftigt sich mit der Bildung und dem Grad der Vervollkommnung der geistigen Kräfte des Menschengeschlechts (Koumas, 1830, 2).

    Laut Koumas befasse sich die Allgemeine Geschichte in erster Linie mit den sogenannten historischen Nationen, deren Hauptmerkmal darin bestehe, dass sie „zum universellen Fortschritt und zur Bildung der Menschheit“ beigetragen hätten (ebd., 3). Unter Berufung auf den deutschen Physiologen Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) merkt Koumas an, dass es allgemein üblich sei, die Menschheit in fünf Geschlechter einzuteilen: Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Amerikaner und Malaien (ebd., 16-17). Über die Kaukasier schreibt Koumas, dass „sie hauptsächlich ein historischer Stamm sind und eine außergewöhnliche Vorliebe für Bildung haben“ (ebd., 18). Es ist offensichtlich, dass Koumas eine westlich geprägte Sicht der Weltgeschichte und Kultur vertritt, was auch aus seiner folgenden Behauptung hervorgeht:

    Bislang kann sich die Allgemeine Geschichte allein nur mit dem kaukasischen Stamm befassen. Ist die Rede von der Bildung außerhalb dieses Stammes, wie z.B. im Falle der Chinesen, so ist deren Bildung längst abgestorben und stagniert, während die des kaukasischen Stammes noch lebt und Tag für Tag in der Vervollkommnung ihres Wissens fortschreitet (ebd.).

    Wir sehen hier ein erstes Beispiel der Gegenüberstellung von Chinesen und Abendländern, auf die wir noch zurückkommen werden. Die Stagnation, die Koumas der chinesischen Bildung zuschreibt, ist eines der am weitesten verbreiteten Stereotypen in der westlichen Geschichtsschreibung dieser Zeit. Demnach sei die chinesische Kultur durch Immobilität bis hin zur Nekrose gekennzeichnet, während sich die westliche Kultur immer schon durch Beweglichkeit und Vitalität ausgezeichnet habe. Wir werden im Weiteren sehen, wie Koumas den angeblichen Stillstand der chinesischen Bildung interpretiert.

    Die Darstellung des antiken China

    Der erste Band der Istoriai befasst sich mit der Geschichte der Zivilisationen des Altertums, beginnend mit Indien. Er konzentriert sich auf jene asiatischen Völker, „die eine direkte Verbindung und Beziehung zum Abendland und dessen Kultur hatten“ (ebd., 28). Auch hier zeigt sich einmal mehr die Ausrichtung der Istoriai gen Westen. In Bezug auf die Chinesen stellt Koumas fest, dass die Griechen des klassischen Altertums nichts von ihrer Existenz wussten und dass sie auch weder von den Juden noch von den Persern erwähnt wurden (ibid., 35). Er argumentiert weiter, dass „diese Nation nichts zur menschlichen Zivilisation beigetragen hat“ (ebd., Fußn.). Aus diesen Gründen, behauptet Koumas, wurde das alte China oft nicht in die Allgemeinen Geschichten über antike Völker einbezogen. Deswegen würde sich das Interesse der Ethnographen auf die Geschichte des neuzeitlichen und zeitgenössischen China konzentrieren (ebd.). Trotz dieser Tendenz schreibt er:

    Bei Milliot (Claude-François-Xavier Millot, 1726-1785) und anderen Historiographen wird einiges über das Altertum dieses Volkes erzählt. Damit also der Leser über dieses offensichtliche Defizit nicht enttäuscht ist, habe ich aus den Werken neuerer Schriftsteller zitiert und zwischen den Indern und den Ägyptern auch einige wenige Dinge zu den Chinesen eingefügt (ebd.).

    Der Vollständigkeit halber also, und nicht weil es an sich wertvoll wäre, verweist Koumas in den Istoriai kurz auf das alte China.

    Koumas erwähnt einige erstaunliche technische Errungenschaften Chinas, z.B. das Graben von Kanälen, und stellt auch fest, dass die Chinesen lange vor den Europäern die Seidenkunst und den Buchdruck entdeckt hätten (ebd., 36, 39); seine allgemeine Haltung ist jedoch ablehnend. So behauptet er zum Beispiel kategorisch, dass „bei den Chinesen keine Spur von Philosophie, Poesie, Astronomie, Musik und allen Künsten, die den Geist erheben, vorhanden ist“ (ebd., 38). Angesichts der Rolle, die Philosophie, Musik, Poesie und andere Künste in der chinesischen Kultur spielten, offenbart diese Aussage das Ausmaß der Unkenntnis und abwertenden Betrachtungsweise von Koumas und seinen westlichen Quellen.

    Bemerkenswert ist bei Koumas auch der Überblick über die spirituellen und religiösen Traditionen Chinas. Während der Aufklärung kam in Westeuropa eine Bewunderung für Konfuzius auf. Er wurde als rationaler Vermittler; eines Kodex edler und praktischer moralischer und gesellschaftspolitischer Grundsätze gepriesen (Mungello, 2013, 96-97; Israel, 2007, 7-8). Diese Tendenz findet sich auch in der neugriechischen Geschichtsschreibung. So stellt Konstantinou beispielsweise fest, dass Konfuzius „viele lobenswerte moralische Zitate hinterlassen hat“ (Konstantinou, 1763, 203). Darvaris bemerkt, dass der „berühmte Philosoph Konfuzius […] wie ein anderer Sokrates seine Landsleute durch seine Lehre aufklärte, [und] ihre Sitten durch seine Präsenz und seine Schriften verbesserte“ (Davaris, 1818, 335). Der Vergleich zwischen Konfuzius und Sokrates, den Darvaris anstellt, sowie zwischen anderen chinesischen Denkern und antiken griechischen Philosophen hatte eine lange Tradition in der westlichen Geschichtsschreibung (Lehner, 2011, 303). Zum einen verschaffte sie dem westlichen Publikum Zugang zum chinesischen philosophischen Denken, zum anderen bezeugte sie die Wertschätzung für die chinesischen Philosophen in der Hinsicht, dass diese für würdig befunden wurden, mit den Altvorderen der westlichen Philosophie verglichen zu werden. Im Vergleich zu Konstantinou und Darvaris ist Koumas΄ Hinweis auf Konfuzius eher neutral und zurückhaltend. Obwohl Koumas Konfuzius als einen großen Weisen und Lehrmeister Chinas bezeichnet, meint er, dass viele der Berichte über ihn so unzuverlässig seien, dass er für die Nachkommenden „eine rätselhafte und fast mythische Person“ bleibe (Koumas, 1830, 36-37). Anschließend behandelt er kurz die Werke, die Konfuzius zugeschrieben werden, ohne jedoch einen positiven Kommentar hinzuzufügen oder Parallelen zu antiken griechischen Philosophen zu ziehen, die Konfuzius in den Augen der neugriechischen Leser Autorität verleihen würden (ebd.). Wie bereits erwähnt, war Koumas der Ansicht, dass das philosophische Denken im antiken China überhaupt nicht gepflegt worden sei.

    Zu beachten ist auch das negative Bild des Buddhismus in den Istoriai. Koumas bezeichnet ihn, unter Ignorierung des Konfuzianismus und Vernachlässigung des Taoismus, als die „dominierende“ Religion in China (ebd., 38). Er spricht von der geistigen Versklavung der Chinesen durch die buddhistischen Mönche: Die Chinesen, so argumentiert er, „erheben ihren Geist nie über das, was die Bonzen [hier in der ursprünglichen Bedeutung: buddhistische Mönche] vorgeben“ (ebd.). Hier ist der antiklerikale Geist der Aufklärung zu erkennen. Für weitere Informationen zum Buddhismus verweist Koumas auf eine Studie des bedeutenden deutschen Forschers für asiatische Sprachen und Kulturen Heinrich Julius Klaproth (1783-1835)], „Ueber die Fo-Religion in China“. In dieser Studie legte Klaproth die Grundprinzipien des Buddhismus dar. Doch damit nicht genug – er behauptete auch, dass viele Lehren des Christentums vom Buddhismus stammten (Klaproth, 1802, 165). Falls Koumas diese Theorie bekannt war, so vermied er es höchstwahrscheinlich, sie zu erwähnen, denn das hätten die griechisch-orthodoxen Christen als Blasphemie aufgefasst. Wir können also sagen, dass dies möglicherweise ein erstes Beispiel für die selektive Art und Weise ist, wie Koumas Informationen über China von ausländischen Quellen an die neugriechische Leserschaft weitergab.

    Koumas übt Kritik an der chinesischen Ästhetik, was eine Reaktion auf den europäischen Chinoiserie-Trend (Nachahmung der chinesischen Kunst und Philosophie) sein mag, aber auch auf die sozialen Gepflogenheiten der Chinesen und den Rückstand in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse. So schreibt er:

    Er [der Chinese] neigt jedoch dazu, seine Phantasie für Drachen und Ungeheuer zu nutzen, zeichnet kunstvoll unregelmäßige Formen und liebt große und unwirtliche Gebäude, die er mit viel Eitelkeit ausschmückt. Er erfreut sich am Anblick kleiner und heftig zerquetschter Füße; er gibt sich kleinlichen Komplimenten und Verbeugungen des Körpers hin und hat kein Gefühl für wissenschaftliche Erkenntnisse (Koumas, 1830, 38).

    Wie Koumas selbst erklärt, hat er diese Äußerungen aus Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit übernommen. Tatsächlich sind sie eine gekürzte Übersetzung der folgenden Herder‘schen Passage:

    Eine Mongolische Organisation gehörte dazu, um sich in der Einbildungskraft an Drachen und Ungeheuer, in der Zeichnung an jene sorgsame Kleinfügigkeit unregelmäßiger Gestalten […] in ihren Gebäuden an wüste Größe oder pünktliche Kleinheit […] an lange Nägel und zerquetschte Füße, an einen barbarischen Troß von Begleitern, Verbeugungen, Cerimonien, Unterschieden und Höflichkeiten zu gewöhnen (Herder, 1787, 12).

    Die Gabe der freien, großen Erfindung in den Wissenschaften scheint ihnen, wie mehreren Nationen dieser Erdecke, die Natur versagt zu haben (ebd.).

    Hier sei angemerkt, dass Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit sowohl der Tendenz zur Idealisierung als auch der zur Abwertung Chinas entgegentritt und seine Absicht zum Ausdruck bringt, einen Mittelweg zu beschreiten (ebd., 8-9). So heftet Herder den Chinesen zwar viel Negatives an, lobt aber z.B. im Sinne der Aufklärung das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen im chinesischen Reich (ebd., 7). Koumas schließt sich Herder in diesem Punkt nicht an. Auch hier kann man also von einem selektiven Schöpfen aus der deutschen Historiographie sprechen.

    Die Darstellung des neueren und zeitgenössischen China

    Koumas kommt im zehnten Band der Istoriai im Rahmen seiner Untersuchung der neueren Geschichte der asiatischen Völker auf China zurück. Sein Text stammt, wie er schreibt, „mit geringfügigen Änderungen“ aus der 1814 erschienenen Weltgeschichte des „weisen deutschen Eichhorn“ (Koumas, 1831, 408).3Zur weiteren Bedeutung von Eichhorns Weltgeschichte für Koumas‘ Werk siehe Stassinopoulou, 1992, 187f.

    Wie bereits erwähnt, misst Koumas dem Bildungsniveau der Nationen besondere Bedeutung bei, wobei er die europäische Bildung als überlegen einstuft und sie als solche der chinesischen entgegenstellt. Koumas geht im Abschnitt über das zeitgenössische China ausführlich auf die Schwächen der chinesischen Bildung ein. Er schließt sich Eichhorns Position an, wonach die Sprache ein wichtiger Bildungsindikator jedes Volkes sei, die einsilbige chinesische Sprache auf die Kindheit der Menschheit zurückzuführen sei und somit das niedrige intellektuelle Niveau der Chinesen zum Ausdruck bringe. Eichhorn schreibt:

    Die Sprache, der beste Maaßstab der Cultur einer Nation, befindet sich nach ihrer äußern und innern Bildung in Sina noch in einem Kindheitszustand, und zeigt daher die Sinesen noch auf einer untern Stufe der Menschheit (Eichhorn, 1814, 16).

    Er fährt fort:

    Wie bey den Wilden beym Reden der ganze Körper mit den Worten arbeitet, um ihre Begriffe auszudrücken; so bringt der Sinese durch Stimme, Gebehrden und Bewegung der Hände die Reihe seiner Begriffe in Zusammenhang und Verbindung: seine Rede ist abgerissen, unbestimmt, dunkel, immer figürlich und räthselhaft (ebd.,17).

    In Koumas΄ Istoriai findet sich eine fast wörtliche Übersetzung dieser Passagen. Dort heißt es:

    Die Sprache, das beste Maß für die Bildung der Nation, befindet sich noch in einem infantilen Zustand und verweist die Chinesen auf eine niedrige Menschlichkeitsstufe. […] Wenn die Wilden sprechen, mühen sie sich mit dem ganzen Körper ab, die Bedeutung ihrer Worte zu erklären. Ebenso bewegt der chinesische Redner Kopf, Hände und Füße, um seine Ideen zusammenzufügen; seine Rede ist immer gestückelt, unbestimmt, dunkel und rätselhaft (Koumas, 1831, 414-415).

    Eichhorn weist auch darauf hin, dass es den Chinesen aufgrund des hohen Zeitaufwands, den sie für das Erlernen der chinesischen Schrift aufwenden müssten, an Kenntnissen mangele, über die selbst die meisten halbgebildeten Völker verfügten. Er macht sich auch über ihre wissenschaftlichen Behauptungen lustig. So schreibt er:

    Seine Schrift ist zwar höchst kunstreich, […] aber ihre Zahl steigt auf 80,000, deren vollständige Erlernung ein ganzes Menschenleben kostet […] Die Sinesen sind daher, trotz des hohen Alters ihrer Nation […] in allen Kenntnissen eines nur halb gebildeten Volks weit zurück. Sie sollen große Mathematiker seyn, und können ohne Rechenbrett nicht rechnen; sie heißen große Astronomen, und können noch ohne fremden Beystand keinen richtigen Kalender machen; die Wunderkuren ihrer Aerzte werden von den Gestirnern geleitet, nicht von genauer Kenntniß des menschlichen Körpers, nicht von einer gesunden Pathologie (Eichhorn, 1814, 17, 18).

    Auch an diesem Punkt übersetzt oder paraphrasiert Koumas Eichhorn. Doch während Letzterer, wie wir gesehen haben, unspezifisch auf den Rückstand der Chinesen gegenüber den „halbgebildeten Völkern“ hinweist, verschärft Koumas den negativen Gegensatz zwischen China und Europa, indem er feststellt, dass die Chinesen in ihrem kognitiven Niveau selbst den „halbgebildeten“ Europäern unterlegen seien:

    Ihre Schrift ist ausgefeilt und gut lesbar, aber die Zahl ihrer Buchstaben erreicht 80.000, und kaum jemand kann sie alle im Laufe seines Lebens erlernen. […] Daher sind die Chinesen, obwohl ein sehr altes Volk […], in ihrem gesamten Wissen allen halbgebildeten Völkern Europas unterlegen [Hervorhebung durch den Verfasser]. Man nennt sie große Mathematiker, aber sie können nicht ohne Rechentafeln kalkulieren; man nennt sie große Astronomen, aber es gelingt ihnen nicht, ohne fremde Hilfe einen richtigen Kalender zu erstellen; die Heilbehandlung ihrer Ärzte richtet sich nach den Sternen, nicht nach der Pathologie (Koumas, 1831, 415).

    Koumas bringt die schlechte Bildung der Chinesen und ihre daraus resultierende intellektuelle Unterentwicklung mit dem Herrschaftssystem in Verbindung. Im antiautoritären Geist der Aufklärung beschreibt Koumas die chinesische Staatsform, die für ihn der Inbegriff des asiatischen Despotismus ist, in höchst negativer Weise. Auch hier folgt Koumas, wie wir sehen werden, Eichhorn. Koumas schreibt: „Die päpstlichen Missionare fanden dort den asiatischen Despotismus in einem Ausmaß vor, der in keinem anderen Staat Asiens anzutreffen ist. Der chinesische Kaiser wird als Sohn des Himmels bezeichnet und regiert als ein Wesen höherer Natur“ (ebd. 412).4Vergleiche bei Eichhorn: „Die Missionäre trafen darin den orientalischen Despotismus zu seiner ganzen schrecklichen Vollkommenheit, den er irgendwo in Asien erreicht hat, ausgebildet an. Wie der sinesische Kayser Sohn des Himmels heißt, so herrscht er auch wie ein unumschränktes höheres Wesen in seinem weiten Reich“ (Eichhorn, 1814, 13). So absolut wie die Macht des chinesischen Kaisers ist auch die seiner Vertreter, der Mandarine: „Wie der Kaiser agieren die Mandarine in den Provinzen uneingeschränkt“ (Koumas, 1831, 413).5Vergleiche bei Eichhorn: „Unumschränkt wie der Kayser über das ganze Reich, herrschen die Mandarinen in den Provinzen und Städten“ (Eichhorn, 1814, 14). Gierig und gewalttätig bereichern sie sich auf Kosten des Volkes. Er vergleicht sie mit Wölfen, die der Kaiser loslässt, um wehrlose Schafe zu reißen: „China wird also hauptsächlich mit der Rute regiert. Jeder Mandarin, der in eine Provinz geschickt wird, ist ein hungriger Wolf, den der Leitwolf loslässt, um die schwachen Schafe zu fressen“ (Koumas, 1831, 413).6Vergleiche bei Eichhorn: „Im eigentlichen Sinne wird daher Sina durch den Stock regiert. Jeder Mandarin, der in ein Amt tritt, ist der Regel nach ein ausgehungerter Wolf, den der Kayser losläßt, um die ihm übergebene Heerde zu verschlingen“ (Eichhorn, 1814, 14). Unwissend und abergläubisch, ertrage das chinesische Volk klaglos die Ungerechtigkeiten:           

    Das Volk besteht aus einer Herde Sklaven, die nicht wissen, was menschliches Recht ist, weil es deren bescheidenes Heim nie betreten hat. Jedes edle Gefühl hat ihnen die Rute der Mandarine ausgetrieben. Sie wachsen in tiefster Unwissenheit und schlimmstem Aberglauben auf. (Koumas, 1831, 413).7Vergleiche bei Eichhorn: „Das Volk besteht aus einer Heerde Sklaven, die an keine Menschenrechte glauben, weil sie nie in ihrer Hütte gewohnt haben. Jeden edeln Sinn hat der Stock der Mandarinen in ihnen vertilgt. Sie wachsen in der tieffsten Unwissenheit und dem dicksten Aberglauben auf“ (Eichhorn, 1814,15).

    Wie wir sehen, schöpft Koumas auch in diesem Fall – gelegentlich wörtlich übersetzt – aus Eichhorns Weltgeschichte. Es sollte betont werden, dass diese düstere Beschreibung der chinesischen Herrschaft und Verwaltung eine Antwort des deutschen protestantischen Historikers und Theologen Eichhorn auf das idealisierte Bild Chinas war, das sich vor allem in älteren jesuitischen Schriften findet. Eichhorn übte scharfe Kritik an den Jesuiten, weil er der Meinung war, dass sich hinter deren Lobpreisung Chinas politische und religiöse Absichten verbargen – Propaganda für Absolutismus und Theokratie in Europa. So dramatisiert er die politischen und intellektuellen Verhältnisse, die Ende des 16. Jahrhunderts in China herrschten, als die Jesuiten erstmals dort eintrafen. Er schreibt:

    In diesem Zustand trafen die Jesuiten Sina an, als sie im letzten Viertel des 16ten Jahrhunderts ihre Mission daselbst anlegten. Und dennoch flossen sie lange in Lobreden auf denselben über. Sie wollten den Europäern die Vorzüge einer Theokratie im Beyspiel der Sinesen recht einleuchtend machen (Eichhorn, 1814, 18).

    Im gleichen Tonfall klagt Eichhorn die Jesuiten an: „… und sie verherrlichten die sinesische Regierung wegen der Weisheit, mit welcher sie den überklugen Menschenverstand im Zaum zu halten […] wisse“ (ebd.).

    Eichhorns doppelter Angriff auf den chinesischen Despotismus und seine jesuitischen Apologeten findet sich fast unverändert in Koumas΄ Istoriai wieder. Dort steht:

    In diesem Zustand fanden die Jesuiten China vor, als sie im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts als Missionare dorthin kamen. Und doch haben sie die Chinesen gewürdigt und wollten den Europäern nach chinesischem Vorbild die Tugenden der Theokratie nahebringen; und sie taten ihnen die Weisheit kund, mit der der menschliche Geist zur Glückseligkeit der Gesellschaft gezügelt wird! (Koumas, 1831, 415)

    Wir stellen also fest, dass die Ansichten des deutschen Protestanten Eichhorn und des griechisch-orthodoxen Aufklärers Koumas übereinstimmen, was die Ablehnung der jesuitischen Verherrlichung Chinas und die Verurteilung der Jesuiten als Gegner der Aufklärung angeht.

    An dieser Stelle können wir die Opposition zur Sichtweise des Franzosen Antoine Caillot hervorheben, die dieser in seinem Buch Curiosités naturelles, historiques et morales de l’ empire de la Chine (1818) zum Ausdruck bringt. Das Werk wurde, wie bereits erwähnt, 1846 von Anastassios Konstantas übersetzt (Kailottos, 1846, französisches Original Caillot, 1818). Ohne mit den Jesuiten immer einer Meinung zu sein, stellt Caillot, der vor der Französischen Revolution zum katholischen Priester geweiht worden war, fest, dass die zuverlässigsten Berichte über Chinavon den Jesuiten stammten, die fast alle „äußerst kenntnisreich und kritisch“ gewesen sein sollen (Caillot, 1846, c.).8Vgl.:„…missionnaires, hommes presque tous fort instruits et fort judicieux“ (Caillot, 1818, vii) [… Missionare, fast alle sehr gebildet und mit kritischem Geist]. Abgesehen von seinen lobenden Bemerkungen über sie verweist Caillot auf den patriarchalischen Charakter des chinesischen Staatswesens in einer Weise, die auf Bewunderung schließen lässt. Damit spielt er auf die Idealisierung der Monarchie als Institution in der europäischen Romantik an: „Was für ein bemerkenswertes Tableau ist doch ein dermaßen zahlreiches Volk, das eine einzige Familie unter einem Souverän bildet, dessen Gefühle gegenüber seinen Untertanen väterlich sind! Welch tugendhafte Züge schmücken die Geschichte dieser Nation!“ (Kaillotos, 1846, e).9Vgl.: „Mais quel important tableau que celui d’une immense population qui ne forme qu’une seule famille sous un souverain, dont les sentiments pour ses sujets ne sont ceux que de la paternité! Que de traits de vertus embelissent l’histoire de cette nation!“ (Caillot, 1818, x) [Aber wie wichtig ist das Bild einer riesigen Bevölkerung, die eine einzige Familie unter einem Herrscher bildet, dessen Gefühle für seine Untertanen nichts als väterlich sind! Wie viele tugendhafte Züge schmücken die Geschichte dieser Nation!]. Die unterschiedlichen Beurteilungen der chinesischen Monarchie durch den deutschen Protestanten Eichhorn und den französischen Katholiken Caillot, die jeweils von Koumas und Konstantas ins Griechische übertragen wurden, geben uns ein Beispiel dafür, wie solch widersprüchliche Ansichten über die chinesische Staatsform aus der westlichen Geschichtsschreibung auch in die neugriechische Geschichtsschreibung überging. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Caillots Lob des chinesischen patriarchalischen Reichssystems zu dem Zeitpunkt, in dem es ins Griechische übersetzt wurde, nach damals geltenden Maßstäben bereits überholt war und somit die von Eichhorn geäußerte Ansicht vorherrschend war.

    Letzterer macht auch einen wichtigen Unterschied zwischen Chinesen und den Mandschurei-Tataren, die China im 17. Jahrhundert besetzten. Eichhorn betont, dass die tatarischen Eroberer im Gegensatz zu den Chinesen agil waren, und weist darauf hin, dass unter ihrer Herrschaft die Grenzen des chinesischen Reiches stark erweitert wurden (Eichhorn, 1814, 20-21). Er weist ferner darauf hin, dass die Mandschu-Kaiser viele Anstrengungen unternahmen, um ihre chinesischen Untertanen aus ihrer Lethargie zu holen. Der deutsche Historiker stellt fest, dass die Mandschu-Kaiser unter anderem sogenannte Mischehen zwischen den beiden Völkern förderten, um das Blut der Chinesen zu stärken:

    Daneben gaben sich die tatarischen Regenten alle Mühe, Regsamkeit in die trägen Sinesen zu bringen. Um das abgelebte sinesische Blut durch tatarisches aufzufrischen, begünstigten sie auf alle Weise die aus beyden Völkern gemischten Ehen (ebd.).

    Doch vergeblich, denn trotz der beharrlichen Bemühungen der Mandschu-Kaiser zeigten die Chinesen keine Anzeichen der Besserung:

    Schon über anderthalb Jahrhunderte dauern die Bemühungen mehrerer Kayser aus dem Hause des Mandschu fort, die Sinesen aus ihrem Phlegma aufzuregen; sie sind aber bis jetzt geblieben, was sie in frühern Jahrhunderten geworden waren, geschickt in einigen ererbten mechanischen Arbeiten, in denen sie andern Völkern zuvorgekommen waren; übrigens aber ein träger, anhaltender Arbeit abgeneigter, feiger, muthloser Schlag von Menschen, denen der lange Druck des Despotismus alle Schnellkraft geraubt hat, um ihre bisherige Geist und Seele lähmende Gewohnheiten aufzugeben (ebd., 23-24).

    Koumas stellt ganz allgemein, wieder eng an Eichhorns Text angelehnt, fest „Die Tataren-Kaiser taten ihr Bestes, um die trägen Chinesen zum Handeln zu bewegen“, und auch, dass „mehr als fünfzig Jahre viele Mandschu-Kaiser dafür kämpften, die Chinesen aus ihrer Lethargie zu erwecken“ (Koumas, 1831, 416, 418). Er übersetzt jedoch nicht die Absicht der Mandschu-Kaiser, das greise chinesische Blut durch eine Frischkur mit tatarischem zu beleben. Er beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Kaiser „die beiden Völker durch Heirat vermischten“ (ebd., 416), eine Formulierung, die die Bedeutung, die Eichhorn der Rolle des Blutes beimisst, mindert. Während Koumas also, wie bereits gesehen, in der Einleitung der Istoriai die westliche Vorstellung von der Überlegenheit des kaukasischen Volksstammes wiedergibt, vermeidet er es hier, seiner neugriechischen Leserschaft die Theorie zu vermitteln, dass das Blut der Völker mit der Zeit an Kraft verliere und belebt werden müsse.

    Ansonsten schließt Koumas΄ Abschnitt über das neuere und zeitgenössische China – wiederum in Anlehnung an Eichhorn – mit der Behauptung, dass die Chinesen trotz der Bemühungen der Tartaren-Kaiser

    auf dem Stand vor vielen hundert Jahren geblieben sind: Geschickt bei der Herstellung einiger traditioneller Erzeugnisse, wo sie andere Völker übertreffen, sonst aber in jeder anderen Hinsicht träge, feige, herzlos und durch lange Knechtschaft unfähig, Geist und Seele aufzuwerten (ebd., 418).

    Diese Schlussfolgerung des Abschnitts über China kann auch als Warnung an alle Völker im Namen der Aufklärung vor den Gefahren autoritärer Herrschaft und langer Knechtschaft verstanden werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Darstellung Chinas in den Istoriai – mit Ausnahme der Passagen zu den tatarischen Herrschern – durch die Reproduktion westlicher orientalistischer Stereotypen von der universellen Überlegenheit des Westens gegenüber einem intellektuell und kulturell unterlegenen  „Orient“ geprägt ist, was die westeuropäisch ausgerichtete Ideologie der neugriechischen Aufklärung widerspiegelt.

    Unter dem Einfluss der westlichen Geschichtsschreibung wurde China in der neugriechischen Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin mit Stagnation und Despotismus assoziiert, beispielsweise im 1890 erschienenen Werk von Sokratis Tsivanopoulos Istoria ton archeon anatolikon ethnon kai tou ellinikou ethnous mechri tou thanatou tou Megalou Alexandrou (Geschichte der antiken östlichen Nationen und der griechischen Nation bis zum Tod Alexanders des Großen). Tsivanopoulos zufolge „scheint diese uralte Nation [China] irgendwie von der alles bändigenden und verschlingenden Zeit übergangen worden zu sein, denn weder vergreist sie, noch verjüngt sie sich. Stattdessen kommt sie einer lebenden Kette unveränderlicher Menschen vom Anbeginn der Welt bis zum heutigen Tag gleich“ (Tsivanopoulos, 1890, 11-12). Tsivanopoulos verweist auch auf die bedingungslose Unterwerfung der Chinesen unter ihren Kaiser (ebd., 23-24).

    In Tsivanopoulos‘ Istoria ist jedoch eine Differenzierung zu beobachten, die das festgelegte Bild eines politisch, intellektuell und kulturell einheitlichen „Orients“ untergräbt, der dem Westen diametral entgegensteht. In Bezug auf die Japaner bemerkt Tsivanopoulos, dass sie ein „energisches, agiles, kühnes und liberales“ Volk seien (ebd., 28, Fußn.). Auch wenn Tsivanopoulos sich Japans Öffnung zum Westen in der Meiji-Zeit nicht bewusst zu sein scheint, kann man davon ausgehen, dass seine Sicht unter dem Einfluss der neuen positiven Wahrnehmung Japans steht, die in der westlichen Geschichtsschreibung nach der Abschaffung des Shogunats und dem Beginn des ehrgeizigen Reformprogramms vorherrschte. Sie widerlegt zum Teil die vorherrschenden westlichen Vorurteile und Stereotypen über die Völker Asiens. Wir sehen, dass der aufbegehrende Aufschwung Japans – eines nicht-westlichen Landes, das Bewunderung und möglicherweise Nachahmung verdient – auch in der neugriechischen Geschichtsschreibung allmählich erkennbar wird.


    Zusammenfassung

    Der Essay ist Teil eines ersten Versuchs, die Sicht der neugriechischen Geschichtsschreibung auf China und ihre ideologischen Aspekte zu erfassen und zu analysieren. Die Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Darstellung Chinas in dem zwölfbändigen Werk Istoriai ton anthropinon praxeon (Geschichten der menschlichen Taten, 1830-1832) des neugriechischen Aufklärers Konstantinos Koumas (1777-1836), eine der wichtigsten neugriechischen Universalgeschichten des 19. Jahrhunderts, und die Einflüsse der deutschen Geschichtsschreibung auf das Werk. Die im Essay behandelten Fragen betreffen Koumas΄ Quellen, zu denen prominente deutsche Historiker und Sinologen des 18. und 19. Jahrhunderts (Klaproth, Eichhorn, Herder) gehören, sowie die Art und Weise, mit der Koumas ihre Arbeiten zu China heranzieht, seine Einstellung zu Themen, die von ideologischem, politischem und religiösem Interesse sind, wie z.B. seine Bewertung der patriarchalischen, kaiserlichen Staatsform Chinas, der chinesischen Ästhetik und Sprache sowie der dort vorherrschenden Religionen. In diesem Zusammenhang wird der Einfluss europäischer Grundsätze der Aufklärung auf Koumas΄ Werk ebenso untersucht wie auch die Übernahme bestimmter Muster der Ost-West-Gegenüberstellung, die die Einschätzung Chinas in der westlichen Historiographie bestimmten.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Athanassios Tsingas

    Einzelnachweise

    • 1
      Dieser Essay ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf der Konferenz Transferts culturels, Médiations et médiateurs en Grèce moderne (1830-1940) (Kulturtransfers, Vermittlungen und Mittler im modernen Griechenland) – organisiert am 10.-11. Dezember 2020 vom Ethniko Idryma Erevnon (Nationales Hellenisches Forschungszentrum) und der École française d’Athènes (EFA) – gehalten wurde. Für die Übersetzung aus dem Griechischen ins Deutsche möchte ich mich bei Herrn Athanassios Tsingas bedanken.
    • 2
      Ein besonderes, frühes Beispiel dafür ist das Werk Kitaya Doulevousa (Κιταΐα Δουλεύουσα) von Chrysanthos Notaras (1655-1731), der den Untergang der Ming-Dynastie und die Eroberung des chinesischen Reiches im 17. Jahrhundert durch die Tataren beschreibt, die die Qing-Dynastie installierten. Kitaya basiert größtenteils auf einem Buch in slawischer Sprache von Nikolaos Spatharios, der Augenzeuge dieser Ereignisse war. Sein Werk stand in der Tradition der paradigmatischen Geschichtsschreibung. Notaras schenkte das Werk Ioannis Konstantinos Vassaravas, dem Herrscher der ungarischen Walachei. Es wurde zu einem viel späteren Zeitpunkt von Émile Legrand in der Reihe Bibliothèque Grecque vulgaire, Bd. III (Paris: Maissonneuve, 1881) veröffentlicht.
    • 3
      Zur weiteren Bedeutung von Eichhorns Weltgeschichte für Koumas‘ Werk siehe Stassinopoulou, 1992, 187f.
    • 4
      Vergleiche bei Eichhorn: „Die Missionäre trafen darin den orientalischen Despotismus zu seiner ganzen schrecklichen Vollkommenheit, den er irgendwo in Asien erreicht hat, ausgebildet an. Wie der sinesische Kayser Sohn des Himmels heißt, so herrscht er auch wie ein unumschränktes höheres Wesen in seinem weiten Reich“ (Eichhorn, 1814, 13).
    • 5
      Vergleiche bei Eichhorn: „Unumschränkt wie der Kayser über das ganze Reich, herrschen die Mandarinen in den Provinzen und Städten“ (Eichhorn, 1814, 14).
    • 6
      Vergleiche bei Eichhorn: „Im eigentlichen Sinne wird daher Sina durch den Stock regiert. Jeder Mandarin, der in ein Amt tritt, ist der Regel nach ein ausgehungerter Wolf, den der Kayser losläßt, um die ihm übergebene Heerde zu verschlingen“ (Eichhorn, 1814, 14).
    • 7
      Vergleiche bei Eichhorn: „Das Volk besteht aus einer Heerde Sklaven, die an keine Menschenrechte glauben, weil sie nie in ihrer Hütte gewohnt haben. Jeden edeln Sinn hat der Stock der Mandarinen in ihnen vertilgt. Sie wachsen in der tieffsten Unwissenheit und dem dicksten Aberglauben auf“ (Eichhorn, 1814,15).
    • 8
      Vgl.:„…missionnaires, hommes presque tous fort instruits et fort judicieux“ (Caillot, 1818, vii) [… Missionare, fast alle sehr gebildet und mit kritischem Geist].
    • 9
      Vgl.: „Mais quel important tableau que celui d’une immense population qui ne forme qu’une seule famille sous un souverain, dont les sentiments pour ses sujets ne sont ceux que de la paternité! Que de traits de vertus embelissent l’histoire de cette nation!“ (Caillot, 1818, x) [Aber wie wichtig ist das Bild einer riesigen Bevölkerung, die eine einzige Familie unter einem Herrscher bildet, dessen Gefühle für seine Untertanen nichts als väterlich sind! Wie viele tugendhafte Züge schmücken die Geschichte dieser Nation!].

    Verwendete Literatur