Auf intellektuellen Pfaden im Reich der Töne: Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros und seine philosophisch fundamentierte Musikauffassung

  • Veröffentlicht 09.01.23

Stand musikalisches Schaffen auf den Ionischen Inseln unter idealistischem Einfluss? Was haben Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros und sein philosophischer Austausch mit Dionysios Solomos dazu beigetragen? Spielten die Ideen Hegels auf den Ionischen Inseln eine Rolle als gedanklich-konzeptionelle Grundlage für Musik? Welcher Art waren dort seit Ende des 18. Jahrhunderts bis 1864 die Interferenzen zwischen musikalischem und philosophischem Leben?

Inhalt

    Mantzaros und Solomos

    Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros (1795-1872) ist heute vor allem als Komponist der griechischen Nationalhymne auf Verse des Dichters Dionysios Solomos aus Zakynthos (1798-1857) bekannt. Dabei war schon in frühen, bald nach dem Tod des Komponisten erschienenen biographischen Texten davon die Rede, dass er „kein philosophischer Dilettant“ gewesen sei (Papajeorjios, 1875, 3) und über „umfassende philosophische Kenntnisse verfügte“ (De Viasis, 1878, 191). Diese knappen Hinweise führten mit ähnlichen weiteren, wie sie in frühen biographischen Texten über Mantzaros, aber auch im Schaffen des Komponisten selbst zu finden sind, zur Entdeckung eines überaus selten wahrgenommenen Bereichs seines schöpferischen Denkens. Die Rede ist hier von einem in seiner Reifezeit gewählten philosophisch grundierten Zugang zur Musik – eine Facette der vielschichtigen Aktivitäten des Tonschöpfers aus Korfu, die den Komponisten letztlich nicht nur von den Fesseln seiner „monumental“ eindimensionalen Verhaftung mit der Hymne befreite, sondern auch alternative „Schlüssel“ für das Verständnis des reifen Spätwerks von Solomos bereitstellte. Spezifisch mit Bezug auf den deutschen Idealismus wird uns von Spyridon Zampelios berichtet, es seien exakt die in Zusammenhang mit den bekannten übersetzerischen Initiativen der Familie Lountzis stehenden Gespräche zwischen Solomos und Mantzaros über ästhetische Fragen gewesen, die den Dichter in Kontakt zur deutschen idealistischen Denkschule gebracht hätten und – so Zampelios – eine der Ursachen für den literarischen Niedergang des Grafen aus Zakynthos gewesen seien (Zampelios, 1859). Im Übrigen ist Solomos’ Beziehung zur Hegel’schen Philosophie schon seit längerer Zeit nachgewiesen und wird in maßgeblichen Studien weiter erforscht, wobei auch das im Vergleich zum italienischen Raum frühzeitige Auftreten dieser philosophischen Ansätze auf den Ionischen Inseln betont wird (Veloudis, 1989; Veloudis, 1992, 79-96; Xanthoudakis, 2005). Desungeachtet scheint auch Mantzaros‘ Rolle bei der Verbreitung transalpiner Philosophie im Bereich der Ionischen Inseln von Bedeutung zu sein. Was Solomos betrifft, scheint diese Rolle sogar entscheidend gewesen zu sein, denn selbst wenn Mantzaros nicht schon vor Nikolaos Lountzis’ bekanntem übersetzerischem Engagement für Solomos tätig geworden ist, hat er doch sicherlich zu Solomos’ Berührungen mit der Hegel’schen Weltsicht zumindest parallel beigetragen.

    Eine Schlüsselfunktion hatten bei Mantzaros allem Anschein nach seine direkte Beziehung zu Mitgliedern der Familie Lountzis, aber auch seine langjährige freundschaftliche und familiäre Verbindung mit dem Philosophen und Politiker Petros Vrailas-Armenis. Ferner lässt sich Mantzaros’ Hinwendung zu einer philosophisch ausgerichteten Musikauffassung auf den Beginn der 1830er Jahre verorten, d.h. in einer Zeit, die mit dem kurzem Korfu-Aufenthalt des Sensualismus-Anhängers Paolo Costa und dem Tod Hegels (1831), dem dynamischen Erscheinen von Vrailas im kulturellen Umfeld der Ionischen Inseln sowie der Rückkehr von Ermannos Lountzis dorthin zusammenfällt, welcher ebenfalls „von Natur aus der Philosophie zuneigte“ (Deviasis, 1894, 266). Schon seit Anfang 1829 verband Mantzaros und Solomos eine sogleich sehr enge Freundschaft, nur wenig später hatten sie die erste, „volkstümliche“ Vertonung des Hymnus an die Freiheit vollendet, deren erster von insgesamt 24 Teilen 1865 zur griechischen Nationalhymne erklärt wurde. Die Beziehung zwischen Komponist und Dichter setzte sich ungetrübt und mit großer Intensität bis zum Tod des Letzteren fort (1857), und insofern kann die Bedeutung der Hegel’schen Ideen für Mantzaros‘ Reifezeit offensichtlich auch viel zum Verständnis der dichterischen Reifezeit von Solomos beitragen. Zugleich erschließt sich über diese Ideen ein interessanter Zugang zum kompositorischen Schaffen der Reifezeit des Tonschöpfers aus Korfu.

    Das „Problem Mantzaros“

    In der Tat sind bis vor kurzem einige Mantzaros’ reifes Schaffen betreffende Fragen schwer erklärlich geblieben, sofern man seine Hinwendung zu einer philosophisch ausgerichteten Auffassung von Musik unbeachtet ließ. Auf diese Weise konstituierte sich parallel zu Solomos’ Reifephase ein „Mantzaros-Problem“, das man folgendermaßen zusammenfassen kann: Kompositionstechnisch kennzeichnet Mantzaros’ reifes Schaffen ein für uns heute nicht nachvollziehbares Beharren auf dem Kontrapunkt und insbesondere der Fugenform zu einer Zeit, in der sich das übrige Europa einmütig auf Orchesterkompositionen, sinfonische Gedichte und Opern konzentrierte (wobei die Oper im europäischen Süden zur Trägerin moderner musikalischer Ideen schlechthin wurde). Diese Feststellung macht den Komponisten zum absoluten Gegenteil dessen, was konventionell gepflegte Vorstellungen über die Musik der Romantik aussagen. Die einzigen Werke aus Mantzaros’ Reifezeit, die sich von der eben genannten Bevorzugung des Kontrapunkts abheben, gehören in den Bereich der „volkstümlichen“ Musik wie z.B. Blasmusik, bestimmte Stücke für Chor, Vokalkompositionen, die sich an das Vorbild des „deutschen Liedes“ halten, und Klavierwerke mittleren Schwierigkeitsgrads. Wie kam es also, dass sich ein Komponist des 19. Jahrhunderts künstlerisch dazu entschied, auf Distanz zu konventionellen zeitgenössischen Vorstellungen zu gehen, wo er doch in seiner Jugend ein außergewöhnliches kompositorisches Potential für diese an den Tag gelegt und sich das technische Können seiner Epoche vollständig angeeignet hatte? Wie konnte seine oben beschriebene Haltung charakteristisch für einen Tonschöpfer sein, der die Neuorientierung des nachnapoleonischen Europa und den dynamischen Aufstieg dessen miterlebt hatte, was man als „musikalische Romantik“ bezeichnete, und dies alles als ein direkter Zeitgenosse von Rossini, Donizetti, Bellini, Mercadante, Schubert oder Berlioz, der – zumindest, was seine italienischen Kollegen betrifft, in derselben „Kinderstube“ großgeworden war? Mantzaros’ Hinwendung zur Philosophie im Sinne eines kompositorischen Idealismus zu verstehen, könnte uns hier die eine oder andere Antwort vermitteln und ihn letztlich direkter mit den Maximen des vielgestaltigen 19. Jahrhunderts in Verbindung setzen.

    Schon um 1835 hatte sich in Mantzaros die Idee einer philosophisch ausgerichteten Musik verfestigt. Einzuflechten ist an dieser Stelle, dass die intellektuelle Welt auf den Ionischen Inseln seit Beginn der 1830er Jahre in näheren Kontakt mit den deutschen idealistischen Strömungen (Veloudis, 1992, 80-86) und auch deren Ausformungen in Frankreich und dann auch in Italien kam (Victor Cousin, Antonio Rosmini-Serbati). Persönlichkeiten von den Ionischen Inseln wie die bereits erwähnten Brüder Ermannos1Höchst interessant ist Mantzaros‘ eigenhändige Widmung eines Exemplars seines idealistisch eingefärbten Rapporto von 1851 an Ermanno Lountzis (Archiv Familie Lountzsis). Hervorzuheben ist ebenso Mantzaros‘ Aufenthalt im Haus der Familie Lountzis auf Zakynthos im Mai 1865 (Nørgaard, 1996, 382, 388).(1806-1868, ein Schüler Schellings) und Nikolaos (1798-1885) Lountzis sowie Petros Vrailas-Armenis (1812-1884, ein Anhänger des Eklektizismus von Cousin) zählten zu Mantzaros’ Umfeld. Bekanntlich beschäftigte sich Vrailas zu einer Zeit, als sich die fundamentalen ästhetischen Koordinaten der Reifezeit von Mantzaros bereits herausgebildet hatten, systematisch mit schottischer, englischer und deutscher Philosophie. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass Mantzaros den philosophischen Vorträgen von Vrailas und Vrailas wiederum denen von Mantzaros über Musik beiwohnte (Vrailas, 1973b, 508). Dabei fällt auf, dass Vrailas in seinem Text „Über Musik“ von Anfang an keinen Hehl daraus macht, wieviel er Mantzaros zumindest indirekt verdankt (Vrailas, 1973b, 508). Darüber hinaus trugen Konstantinos Stratoulis aus Levkada (1824-1892) und Spyridon Komnos aus Korfu (gleichfalls ein Anhänger Cousins) mit ihren Schriften und kritischen Stellungnahmen interessante Facetten zum Konnex der Ionischen Inseln mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts bei. Dabei taucht in einem Traktat von Stratoulis über Ästhetik sogar einmal der Name von Mantzaros auf (Stratoulis, 1856, 264). Mit all dem erweist sich Mantzaros als weiteres Glied in der Kette einer eindrucksvollen Rezeption des Idealismus und weiterer philosophischer Strömungen, die sich auf den Ionischen Inseln verbreiteten.

    Die „philosophische Wende“

    Mantzaros scheint von seiner vierten Italienreise im Oktober 1826 mit der Überzeugung zurückgekehrt zu sein, bei Musik gehe es nicht um ein Vergnügen für den Augenblick, um die Vorführung künstlerisch-technischer Fähigkeiten oder um reinen Zeitvertreib, also um Qualitäten, die eher mit der Nutzung der „prosaisch-materiellen“ Seite der Tonkunst zu tun haben. Im Gegenteil: hier tritt seine These zutage, dass die Musik wie alle Kunst dem Zweck diene, einerseits das Wahre und Gute zu kultivieren, andererseits als sinnlich spürbares Ausdrucksmittel des Idealen die äußere wie innere Weltordnung begreiflich zu machen. Für Mantzaros war Ziel der Musik, die Seele durch das Schöne zu erheben und zu formen, sie einem Begreifen des Ganzen und auf dem Wege philosophischer Annäherung der Hegel’schen Freiheit zuzuführen. In Hegels philosophischem System standen ja Poesie und Musik an erster Stelle, wenn es um die Befreiung des Geistes aus der Sphäre des Materiellen ging. Entsprechend zielte Mantzaros’ Schaffen in erster Linie auf theoretisch-philosophisches Erfassen mit Bezug auf das Ganze und erst dann auf dessen Umwandlung in ein schöpferisch (melodisch-rhythmisch-harmonisch) Geformtes ab, welches in der Sphäre des menschlich Hör- und Wahrnehmbaren Fuß fasst. Die für einen Komponisten unerbittlichen Rahmenbedingungen der damaligen „Opernindustrie“ scheinen Mantzaros von der Erschaffung größerer musikdramatischer Werke abgebracht zu haben (Padovan, 1872,3). In der Tat konnten diese Bedingungen keinen künstlerischen Zielen im Sinne von Mantzaros, sondern nur den Sachzwängen einer aufs Breitenwirksame und Materielle ausgerichteten künstlerischen Produktion dienen. Insofern gab es bei Mantzaros nun auch eine Neuausrichtung seiner pädagogischen Tätigkeit, die sich – zumindest bei seinen fortgeschrittensten und empfänglichsten Schülern – nicht bloß darauf beschränkte, simples Erlernen der „Produktion“ von Musik zu vermitteln: vielmehr scheint er zum philosophischen Erfassen der Idee angeregt zu haben. Diese subtile Differenzierung bereicherte den neapolitanischen Stil, der während des ganzen 18. Jahrhunderts der praktisch-handwerklichen Seite aller Musikausübung Priorität eingeräumt hatte.

    Die eben vorgestellten Ideen sind am „esoterischen“ wie auch am „volkstümlichen“ Schaffen aus der Reifezeit des Komponisten deutlich ablesbar. Obwohl sie dem äußeren Eindruck nach voneinander abweichende Wege beschreiten, bieten sie letztlich zwei sich eben nur äußerlich unterscheidende Abbilder derselben schöpferischen und gedanklichen Intentionen. Ausgehend vom neapolitanischen Stil entwickelte Mantzaros auch weiterhin seinen Glauben an die Grundsätze „schöner musikalischer Form“: Simplizität, luzide Transparenz, Spontaneität und Einheitlichkeit (Manzaro, 1851, 9-12; Vrailas, 1973, 329, 335). Von diesen vier Elementen schien für Mantzaros die spontane Intuition, der er besondere Bedeutung beimaß, am ehesten mit dem angeborenen Talent des jeweiligen Tonschöpfers verbunden zu sein, (Manzaro, 1851, 8; Vrailas, 1973, 330), während die übrigen Elemente für den berühmten Komponisten in unterschiedlichem Ausmaß Gegenstand seines Unterrichts werden konnten (Manzaro, 1851, 8). In allen Fällen betonte Mantzaros, dass „Wörter wie Tiefe, Einfachheit, Mystizismus, Romantik und dergleichen“ (Manzaro, 1851, 8) Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst seien, die das jeweils angeborene Talent des Künstlers zum Ausdruck kommen ließen. Der Kontrapunkt und besonders die „edle Kunst“ der Fuge waren für Mantzaros das bevorzugte Terrain, alle eben angeführten Prinzipien praktisch umzusetzen (Xanthoudakis, 2005): Wie in jeder Musikkomposition führte für ihn auch die Fuge scheinbar beziehungslos zueinander stehende Elemente zusammen, um über sie Einheit durch Schönheit zu erzielen, d.h. sein Blick galt der gleichzeitigen und gleichwertigen Verbindung von Tönen in der vertikalen wie horizontalen Dimension des Satzes und erreichte damit eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Musik. Befreit von der affektierten Attitüde des Barock und (wie in seiner volkstümlich gestalteten Musik) aufs Melodiöse ausgerichtet war die von Mantzaros bevorzugte Fuge eine klassisch-zeitlos etablierte Musikform, die dem entsprechend talentierten Komponisten schöpferische Möglichkeiten und zugleich dem Denker ein Instrument zum Verständnis eines stringenten, ganzheitlich ausgerichteten Rahmenkonzepts in die Hand gab. Klar formulierte melodische Linien (Vrailas, 1973, 330-331) im Stil des Klassizismus zeitigten und signalisierten die angestrebte „Einfachheit“, während die kreative Koexistenz der Gegensätze im Gefüge eines Ganzen (Konsonanz – Dissonanz – Entwicklung/harmonische Auflösung – Melodie – Form/Thema – Gegenthema – homophoner Abschluss) den Weg auch für modernere musikphilosophische Gedankengänge freimachte (Hegel’sche Triade: These – Antithese – Synthese).

    Anders gesagt scheint Mantzaros in der Fuge das Mittel (und nicht den Zweck) gesehen zu haben, das ihm erlaubte, Zugang zu den inneren Mechanismen musikalischer Kreativität und über diese zum Begreifen des philosophischen Ganzen und der Freiheit des Geistes zu gewinnen. Die Suche nach der Einheit der Dinge über die Vielfalt des ein Ganzes erstellenden Einzelnen – eine Idee, der man überall in Mantzaros’ Nachlass begegnet2Anthologie entsprechender Abschnitte aus Äußerungen von Mantzaros bei Xanthoudakis, 2003, 195-201; Brovas, 2006; Kardamis, 2011, 101-128. Vgl. auch den Denkansatz von Vrailas (1973, 326, 328, 333). – ist seit Heraklit und Aristoteles bis hin zu Newton und den idealistischen Philosophen zu Mantzaros’ Lebzeiten ein Gemeinplatz aller philosophischen Suche. Überdies scheint es in Mantzaros’ Denken einen festen Konnex zwischen der Wahrheit der musikalischen Wissenschaft, der Schönheit der musikalischen Kunst und dem Guten des subjektiven, pädagogischen und künstlerischen Wollens zu geben, – insgesamt Elemente, die in unmittelbarem Dienst einer transzendentalen Auffassung von Musik als Mittel der Philosophie standen (Vrailas, 1973, 340). Zugleich stellte die Emphase, mit der sich Mantzaros der Einfachheit und Reinheit der Form verschrieb, eine große Nähe zwischen ihm und den Aspirationen der griechischen Antike her und brachte damit eine zwar sehr eigene, aber ebenso direkte Bindung an die Essenz der alles überwölbenden „nationalen Vergangenheit“ zur Geltung. Daraus geht klar und deutlich hervor, dass Mantzaros in der Fuge eine Emanation überzeitlicher Werte erblickte, die nichts mit dem eindimensionalen, „sterilen“ und „akademischen“ Charakter zu tun hatte, den man ihr seinerzeit zuschrieb, zumal sie ihm als „freies, spontan aus sich hervorgehendes Gesetz“ galt, das „Einheit im Kunstwerk stiftet“.3Xanthoudakis, 2003, 196 (Zitat aus Mantzaros‘ Cenni sul Conte Solomos).

    Und Mantzaros zögerte keineswegs, die Hochschullehrer seiner Zeit dafür zu tadeln, dass sie im Kontrapunkt nur eine simple Übungsmethode und kein wirkmächtig-kreatives Werkzeug im Dienste angewandter Philosophie sahen.

    Eine Anzahl mehr als zwanzig Jahre nach Mantzaros’ „philosophischer Wende“ formulierter Gedankengänge von Vrailas beleuchten womöglich noch um einiges genauer, welche Faktoren in Mantzaros’ Reifezeit zum Wandel seines Denkens beigetragen haben. 1853 veröffentlichte Vrailas seine berühmte Studie zum damals brandaktuellen Thema der Auseinandersetzungen zwischen Klassikern und Romantikern, in der er unter anderem auf Folgendes aufmerksam macht:

    In allen Werken, welche die Zeit respektvoll bewahrt und die Welt über Jahrhunderte hin bewundert hat, müssen zwei Elemente im Verbund miteinander existieren (wie sie es auch getan haben): das Partielle und das Allgemeine, das lokal und das überall Gültige, das zeitweilig und das ewig Belangreiche, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort Passende, Wohlgefällige und Schöne und das überall und jederzeit Schöne, Wohlgefällige und Nachahmenswerte. (Vrailas, 1853, 37).

    Und mit Blick auf die unvergleichlichen Vorbilder aus der Vergangenheit mit ihrer wohlproportionierten Harmonie und Schönheit fuhr er fort:

    Ein Dichter, Historiker, Philosoph, Redner und Künstler sollte diese Vorbilder immer im Auge behalten, jedoch nicht um sie selbst sklavisch zu kopieren (das würde einen Epigonen, keinen Künstler kennzeichnen), sondern um Nachahmung als Mittel, nicht aber als Zweck in Anspruch zu nehmen (Vrailas, 1853, 37).

    Mantzaros’ Hinwendung zur „klassischen“ Technik des Kontrapunkts, die schon seit 1826 klar zutage trat, als er seinem Neapler Mentor Niccolo Zingarelli seine Dodici fughue widmete, erweist sich als nützlicher Indikator dessen, was der Komponist über Sinn und Bedeutung des Kontrapunkts im neapolitanischen Ausbildungssystem dachte. Das Besondere an Mantzaros ist, dass er diesen Sinn zu einer idealistisch orientierten Philosophie weiterentwickelte und damit letztlich, wie hier aufgezeigt, seinen ganz eigenen Weg gegangen ist.

    Musik und Dichtung

    Diese innere Dimension des Musikalischen in ihrer „philosophischen“ wie „volksnahen“ Ausprägung führte mindestens seit 1826 auch dazu, sie mit dem Einsatz griechischer Dichtung zu verbinden, womit ein schöpferisches Zusammengehen des griechischsprachigen Verses als lebendiges Sinnbild des Begriffs der Nation mit der Zeitlosigkeit des Kontrapunkts und der Formgebung der melodischen Linie gelang (Vrailas, 1973, 324ff.). Auf diesem Wege führte der Komponist zwei Begriffe zusammen, die das romantische Erhabene artikulierten: das Nationale und die Musik, die man mittlerweile wie keine andere Kunst für fähig hielt, ihre Rezipienten mit dem Ganzen in Verbindung zu bringen. Parallel dazu galt die Poesie im Rahmen des Hegel’schen Systems ohnehin als die höchste unter den romantischen Künsten. Losgelöst von der Welt des Materiellen und ausgestattet mit der Kraft des Wortes, konnte sie viel unmittelbarer in den Bereich des Transzendentalen und zu geistiger Freiheit hin geleiten. Mantzaros nahm sich die Prosodie als das musikalischste Charakteristikum eines Gedichts (und generell einer Sprache) zur Grundlage seines Komponierens. Das belegen auch die minutiösen Notizen über Versfüße, die man im Nachlass des Komponisten gefunden hat und die dem Ziel einer Erstellung dessen dienten, was sich als „nationaler Rhythmus“ definieren ließe. Ausgehend von der Metrik des Verses manifestierte sich dieser Rhythmus als grundlegendes Bauelement der harmonischen und melodischen Entwicklung einer Komposition (Glykofrydis-Leontsini, 2002, 105-113), – ein Verfahren, das möglicherweise an Entsprechendes von Friedrich Schlegel, aber auch von Schelling anknüpfte. Auf diese Weise verlieh Mantzaros seinen „esoterischen“, sprich kontrapunktischen Tonschöpfungen wie auch seinen volkstümlich gefassten griechischsprachigen Liedern und Chorstücken „nationales“ Flair. Dieser „nationale Rhythmus“ wurde so zum Element, das die in Mantzaros’ philosophisch-künstlerische Herangehensweise „Eingeweihten“ und die „einfachen“ Hörer bzw. Interpreten miteinander verband. Das dürfte die Erklärung dafür sein, warum Mantzaros bestimmte Verse oder auch vollständige Werke (wie etwa die Hymne von Solomos, Partien aus dem Lampros oder Dichtungen von Petrarca) mehrfach, und zwar sowohl in „esoterischer“ wie „volkstümlicher“ Art vertont hat. Die „Philosophisierung“ der Musik über den Kontrapunkt als Ausdrucksmedium für das Erhabene bildete sich bei Mantzaros schon um 1835 heraus, wie die kontrapunktisch-fugierende Vertonung von Teilen des Hymnus von Solomos belegt. Dabei hebt sich zunehmend deutlich ab, dass Mantzaros’ hier dargestellte Gedankenwelt und Herangehensweise zu eben dieser Zeit auch zum Nährboden für Solomos’ Denken und Forschen wurde.

    Beizufügen sind diesen philosophischen Koordinaten indessen auch die Ideen des französischen Philosophen und Organisten Pierre Hyacinthe Azaïs (1766-1845), dessen Name in Solomos’ schriftlichem Nachlass auftaucht. Auch wenn Solomos selbst des Französischen mächtig war, ist es doch mehr als wahrscheinlich, dass es Mantzaros war, der für ihn zur Informationsquelle über das Verhältnis des Franzosen zur Musik und deren Ideenwelt wurde (Merlier, 1990). Als Sohn eines Komponisten und selbst Musiker hatte Azaïs mit seinem Streben vom Einzelnen zum Universalen sein Anliegen zum Ausdruck gebracht, „die Musik als Harmonie der Töne mit der Philosophie als Harmonie der Ideen“ zu vereinen (Azaïs, 1836, xxi). Nicht ganz klar ist, ob sich Mantzaros von Azaïs’ doppelter Identität als Musiker und Denker hat einnehmen lassen oder ob diese Doppelidentität einfach auf eine schon fertig ausgeformte Position gestoßen ist. Sicherlich aber dürfte Azaïs’ gemäßigte Weltsicht Mantzaros’ reformerischen politischen Positionen nähergerückt sein, seit die Enttäuschung über die Auswüchse der Französischen Revolution die Sicht des französischen Denkers wandelte. Azaïs, der auch als Antipode Hegels galt, sah die Grundidee seiner materialistisch orientierten philosophischen Ausrichtung im Prinzip des gegenseitigen Ausgleichs und der allgegenwärtigen Balance innerhalb einer Welt, die sich in Gegensätzen zu manifestieren scheint. Doch bekundet er auch seinen Glauben an „eine den ganzen Kosmos durchwirkende Harmonie“ (Azaïs, 1837, 313):4Von besonderem Interesse ist nicht nur die Existenz des Buchs in der Bibliothek der Philharmonischen Gesellschaft Korfu, sondern auch der als Triptychon gestaltete Spruch „Einheit, Einfachheit, Wahrheit“ im Untertitel auf der ersten Seite.

    Ob es sich nun um eine aus geringfügig voneinander abweichenden Elementen oder um eine aus bedeutenden Unterschieden hervorgehende Einheit handelt, – es bleibt doch eine Einheit, deren Entstehen sich mit stützenden Maßnahmen erleichtern lässt. Diese Einheit realisiert sich nicht nur als Harmonie in der Musik, sondern auch in der Physik, in der Ordnung des anorganisch Seienden, in chemischer Harmonie, in der Physiologie bzw. Ordnung organischen Seins und schließlich im geordneten Gefüge der Ethik, schließlich in der Harmonie des häuslichen, städtischen und politischen Lebens. […] Musikalische Harmonie macht jegliche Harmonie verständlich, musikalische Unordnung jede Unordnung.

    Um was für soziale, politische, ethische, physische oder kosmische Phänomene es auch immer gehe: sie alle seien Resultat eines antinomischen Agierens zwischen Bewahrung und Erneuerung auf der Suche nach gegenseitiger Balance, die letztendlich nur für eine Rückkehr zu sich selbst stehe. In diesem Rahmen und über die physikalische Modellierung einer ganzheitlichen Deutung des inneren und äußeren Kosmos5In die gleiche Richtung zielt Solomos’ Formulierung „Auf diese Weise wird Transzendenz zu Präsenz“ (Veloudis, 1997, 20, 32, 50). integriert und verallgemeinert Azaïs die pulsierende Bewegung der musikalischen Prozesse, welche zwar in jedem gegebenen Augenblick eine Fülle harmonisch ineinander wirkender Töne und Klänge beinhalteten, zugleich aber danach strebten, in das Gleichgewicht des Einen und Einheitlichen zurückzufinden.6Mantzaros spricht von einem „einheitsstiftenden System“ innerhalb des pulsierenden musikalischen Geschehens (Studio Prattico d’Armonia, 156, 188-190; Archive des Benakis-Museums/Nikolaos Mantzaros-Archiv, 505/5/22. Die Gedanken von Solomos enthalten u.a. auch Bezugnahmen auf fragwürdige musikalische Definitionen (Xanthoudakis, 2005).

    Aufgrund ihres sich dem Begrifflichen entziehenden Wesens manifestiert sich Musik als Emanation genereller innerer wie äußerer Einheit und Harmonie bzw. verfügt zumindest über die Möglichkeit, das Ganze, das Absolute, die Idee im Sinne Hegels zum Ausdruck zu bringen (Vrailas, 1973, 322).

    In Mantzaros’ nachgelassenen Aufzeichnungen und besonders in seinen Werken über Harmonie (Rapporto, 1851 [Abb. 1] und den Cenni sul Conte Solomos wimmelt es geradezu von Bezugnahmen auf die oben angeführten Ideen von Hegel und Azaïs (Xanthoudakis, 2003, 195-201; Brovas, 2006; Kardamis, 2008, 141-147; Kardamis 2011, 101-126) und ebenso auf Leitbegriffe wie „Eklektizismus“, „Idealismus“, „Einheit“, „einheitsstiftendes System“, „Spontaneität“ und anderes mehr. In seinem Willen, all dies zum Ausdruck zu bringen und zu kultivieren, scheint sich Mantzaros die Aufgabe zu stellen, einen „authentisch gemischten“ Stil zu erarbeiten.7So Solomos’ Formulierung, wiedergegeben bei Veloudis (1997, 32). Sein Eingehen auf das Postulat der Romantik, klassizistischer Lehre gemäß durch Verschmelzung von These und Antithese zur Synthese Neues zu kreieren, ferner sein Glaube an Genialität als eine Lebenskraft, die sich die Erfahrungen der Vergangenheit zu eigen macht, weiter seine theoretischen Ansichten über Harmonie und Fuge, Form und Formenlehre als Begriffe, die Einheit, Einfachheit, zeitlose Wahrheit, und damit letztlich das Ganze erlebbar machen, dazu seine philosophische Suche nach geistiger Freiheit, aber auch der Glaube, dass die „Werkzeuge der Nation“ wie etwa Sprache und Prosodie zumindest „in Teilen“ die Möglichkeit bieten, das Ganze zum Ausdruck zu bringen, verleihen Mantzaros’ Reifeschaffen jene zeitlosen Charakteristika, die später in vieler Hinsicht ihr Verständnis erschwerten, wenn nicht unmöglich machten. Das schöpferische „Scheitern“ an den konventionellen Maximen des 19. Jahrhunderts in Sachen Musik scheint sich genau daraus zu erklären, dass sich Mantzaros und ebenso der reife Solomos, nicht auf einen „Kompromiss zwischen philosophischer Theorie und künstlerischer Praxis“ einlassen wollten (Veloudis, 1992, 96).

    Mantzaros’ „esoterischer“ Zugang zur Musik (vergessen wir nicht, dass sich sein Wandel am Vorabend der Ermordung von Kapodistrias und der Niederwerfung der europäischen Erhebungen von 1831 manifestierte) war der Versuch, in einem Klima widriger Tendenzen und Enttäuschungen auf künstlerischer, gesellschaftlicher und politischer Ebene die Erfahrungen der späten Aufklärung mit der Impulsivität der Romantik in Einklang zu bringen – ein Vorhaben, das in einer solchen Zeit keineswegs verwundert. Es sollte nicht erstaunen, dass in Mantzaros’ nachgelassenen Aufzeichnungen (Abb. 2) die Namen und Gedanken von Hegel, Rosmini, Cousin, Kant und dem neapolitanischen Philosophen Pasquale Galuppi8Mit diesem stand Mantzaros schon seit 1844 in direktem Kontakt (Alvanas, 1873, 250-251). auftauchen (Azaïs bleibt zwar ungenannt, ist aber stillschweigend allgegenwärtig). Auch im Rapporto hatte Mantzaros (in dieser Reihenfolge:) Schelling und Hegel angeführt und dabei hervorgehoben, dass die Komponisten seiner Zeit, wiewohl sie sich auf diese Denker beriefen, deren Intentionen völlig falsch verstanden hätten (Manzaro, 1851, 8, 11). Er verabscheute entsprechend die „Überzogenheiten“ im Namen einer krampfhaften und ungerechtfertigten Reaktion gegen das Altüberlieferte, wiewohl diese letztlich das gängige Bild musikalischer Romantik kennzeichneten.

    Der reife Mantzaros hatte, so können wir zusammenfassen, deutlich seine Intention herausgearbeitet, das romantisch Erhabene, das Ganze und das Streben nach geistiger Freiheit in der Musik mit den philosophischen Begriffen Schönheit, Moral und Wahrheit zum Ausdruck zu bringen und dafür ein Ganzheit stiftendes System zu erstellen, das die Erfahrungen der Klassik und der Romantik miteinander ausbalancierte und eine Umsetzung der Hegel’schen Idee auf der materiellen Ebene des akustisch Wahrnehmbaren ermöglichte (Vrailas, 1973, 321). Im Einklang damit glaubte Mantzaros, dass die zeitlose Schönheit des Kontrapunkts, der Harmonie, der Melodie und des dichterischen Rhythmus nicht nur die Wahrheit und das Ethos erhabener Ideen, z.B. der Idee des Nationalen, zum Ausdruck bringe, sondern dass all dies auch eine Umsetzung der Idee an sich und einer auf dem Wege philosophischer Reflexion ins ästhetisch Wahrnehmbare gewonnenen geistigen Freiheit darstelle. Für Mantzaros war die „musikalische Wissenschaft“, insoweit sie sich im Dienste von Einfachheit, Reinheit und einheitsstiftender Gesetzesmäßigkeit verstand, gleichbedeutend mit dem Terminus „musikalische Kunst“ und somit der bestgeeignete Weg zum Verstehen der Dinge. Mantzaros selbst, ganz erfüllt von hegelianischen Bezügen, betonte mit Nachdruck „dass Kunstwerke in ihrer Ganzheitlichkeit“ der Schönheit, der Wahrheit und dem Erhabenen Ausdruck verliehen und „damit einen Geist entdecken und enthüllen, der sein innerstes Selbst artikuliert“ (Manzaro, 1851, 23).

    Befreit von der affektierten Attitüde des Barock, repräsentieren Mantzaros’ Fugen auf exemplarische Weise die auf dem Wege „klassischer Einfachheit“ vollzogene Entwicklung von harmonisch-melodischer Vielfalt zu ganzheitlicher Einheit, wie sie die Ideen Hegels und ebenso diejenigen von Azaïs in Vorschlag bringen. Unser Komponist aus Korfu gibt der Vokalmusik den Vorzug, weil sie als Sololied, Chorstück oder Oper Musik und Poesie als höchste Emanation romantischer Kunst in sich zu vereinen wisse. Um einiges weiter ausgreifende Überzeugungen hebt dagegen Vrailas hervor: höchster Gipfel menschlicher Kunst sei die Vereinigung „vollkommenster Musik“ (in Mantzaros’ Fall Kontrapunkt und Fuge) mit „schönster Dichtung“ (Vrailas, 1973, 325). Der korfiotische Tonschöpfer vertrat als Echokammer Hegel’scher Thesen dazu den Glauben, die Dichtkunst besitze der Musik gegenüber ein besonderes Gewicht; in diesem Kontext vertraute er Tommaseo an, dass „Musik der Aufnahme des Wortes den Weg bereite“ (Tommaseo, 1856, 110). Hierher gehört auch die Meinung des Komponisten, dass die zeitgenössischen Opern mit ihrer üppigen Orchestrierung dem Verständnis des Wortes nicht förderlich seien (Manzaro, 1851, 11) und dass sich manche unter ihnen damit vom romantischen Ideal entfernten.9Wegen ihrer beispielhaften musikalisch-schöpferischen Beiträge mit den Mitteln der Einfachheit, Tiefe und Natürlichkeit stellte Mantzaros jedenfalls bestimmte Komponisten, auch wenn sie keine Italiener waren oder aus früherer Zeit stammten wie Mozart, C. M. von Weber, Cimarosa, Leo, Vinci, Pergolesi, Jommelli, Traeta, Piccini, Guglielmi, Paisiello, Zingarelli, Durante, Porpora, Fenaroli, Mayr, Paër, Gluck, Lully, Rameau, Monsigny und Grétry in den Vordergrund, denen er als Zeitgenossen Rossini, Generali, Mercadante, Donizetti, Paccini, Ricci, Bellini und Verdi hinzugesellte (vgl. Manzaro, 1851, 9-12). Trotz der Tatsache, dass Mantzaros’ Fugen stets mit einem dichterischen Text einhergehen, scheint ihr Schöpfer der Ansicht gewesen zu sein, dass Fugen gleichzeitig dazu auch eine Art absoluter, autonomer Musik darstellten,10Von Interesse ist an diesem Punkt die Meinung romantischer Denker wie Tieck oder E.T.A. Hoffmann, die Palestrinas ebenfalls kontrapunktisches Schaffen als „absolute Musik“ wahrnahmen, welche dem Erhabenen Ausdruck verleihe (Garrat, 2002,52-57).weil sie selbst, ohne das Hinzutreten von Worten, eine eigenständige „musikalische Botschaft“ übermittelten, die völlig autonom und ganz für sich auf bestimmten musikalischen Regeln, rhythmisch-harmonischen Qualitäten und Tonbeziehungen fuße. Auf diese parallele Weise konnten Fugen auch ohne verbale Intervention ganz aus sich selbst heraus den Weg zum transzendentalen Ganzen aufzeigen, und kontrapunktische Kompositionen als Dichtung ohne Worte eine Verbindung zwischen dem klassischen und dem romantischen Ideal herstellen11Sehr interessant ist, dass Mantzaros für die Fugenanalyse Begriffe aus der poetischen Metrik und Versbildung verwendete (Brovas, 2006, 78-79). – womit das Ideal eines organisch gedachten künstlerischen Konzepts Gestalt gewann, wie es Solomos in seinen Gedanken beschreibt (Veloudis, 1997, 29).

    Mantzaros’ reife Kompositionen, mochten sie nun „volkstümlich geprägt“ oder „philosophisch-esoterisch“ ausgerichtet sein, zielten allemal darauf ab, durch Erleben des Schönen die seelische und ethische Bildung der Persönlichkeit zu fördern und das transzendentale Ganze in der Dimension des Hörbaren freizulegen. Die dazu verwendeten Mittel lassen auf den ersten Blick einen womöglich ganz anderen Eindruck aufkommen: Emphase auf das Melodiöse und eine in den „volkstümlichen“ Werken oft simple Direktheit, zu der sich im Fall der „nachdenklichen“ Vertonungen eine exquisite Formgebung (z.B. die Fuge) gesellt, schließlich die Erfordernis eines analytischen Verständnisses seitens philosophisch-künstlerisch gebildeter Kenner für das Ineinanderwirken der herangezogenen Bauelemente. Dies Vorgehen scheint im Gegensatz zu dem zu stehen, was Polylas – seinerseits von Anmerkungen von Zampelios dazu veranlasst – für Solomos’ reifes Schaffen geltend macht (Polylas, 1860, 18). Polylas verweist darauf, dass es Solomos durchaus darum ging, auch von der breiteren Menge verstanden zu werden. Ihm lag allerdings daran, eine Feinheit der Kunst [zu erreichen], deren Früchte auf das Empfinden und die Fantasie eines breiten Publikums einwirken, deren künstlerische Arbeit sich jedoch nur denen erschließt, die darin geschult sind, sich ins geistig Wesentliche und in die gedanklichen Zusammenhänge von Kunst zu vertiefen.

    So genau ein Kunstwerk auch auf einen bestimmten Zielpunkt fokussiert sein mag, es bleibt der Weg und das Mittel zum Begreifen des Absoluten – vor dem Hintergrund einer solchen Sicht erklärt sich Mantzaros’ kritische Haltung gegenüber „romantischen Übertreibungen“, die für ihn dem flachen Bedürfnis verhaftet blieben, bloß zu beeindrucken (Manzaro, 1851, 8). Somit stellt musikalische Vollkommenheit auf der Ebene des sinnlich Wahrnehmbaren keineswegs in Frage, dass die höchste Ausdrucksform des Geistigen weiterhin die Philosophie bleibt. Auch bei seinen „einfachen“ Kompositionen zeigt sich Mantzaros stets auf diese ausgerichtet, und es wurde aus ihm ein auf ganz eigene Weise geprägter janusköpfiger Myste, der sich in seiner Reifezeit bewusst für die transzendentalen Auswege der Philosophie und den Glauben an eine esoterische Dimension der Musik entschied, wie er sie zumindest wahrnahm. Vielleicht ist dies ein erster Ansatzpunkt für die Lösung des „Problems Mantzaros“, das – ähnlich wie das „Problem Solomos“ – erst aufgrund späterer Beobachtungen, d.h. außerhalb des Zeitrahmens, in denen die beiden tätig waren, Gestalt annahm.

    Zusammenfassung

    Bis vor relativ kurzer Zeit präsentierte sich das kompositorische Schaffen von Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros (1795-1872) als schwierig zu erklärender Fall: Während das Schaffen seiner jungen Jahre ein dynamischer Aufbruch in vollem Einklang mit dem allgemeinen Entwicklungsgeschehen in Europa kennzeichnet, ist sein Komponieren seit den 1830er Jahren vom Kontrapunkt, und hier besonders von der Fugenform bestimmt – Formen und Verfahren, die zu dieser Zeit als „akademisch“ und „steril“ galten. Doch das Denken, mit dem sich Mantzaros dem Idealismus und anderen philosophischen Strömungen außerhalb des italienischen Raums anschloss, und die Nachverfolgung der Art und Weise, wie sie der Komponist im damaligen Kulturraum der Ionischen Inseln für sich interpretierte, scheinen das „Problem Mantzaros“ hinreichend zu lösen. Mantzaros verschaffte sich seinen Zugang zum Wesen der Musik auf rein philosophischen Pfaden, auf welchen Hegels Thesen überragende Bedeutung zukam. Kritisch stand er „romantischen Überzogenheiten“ gegenüber, die von Komponisten herrührten, die seinem Dafürhalten nach das philosophische Denken Hegels und Schellings missverstanden hatten, obwohl sie sich auf deren Namen beriefen. Im Rahmen dieser Gegebenheiten erweist sich Mantzaros als ein Glied mehr in der Kette der Rezeption des Idealismus und anderer philosophischer Strömungen auf den Ionischen Inseln. Darüber hinaus scheint die Bedeutung der Ideen Hegels in Mantzaros’ reifen Jahren viel zum Verständnis der dichterischen Reifezeit von Solomos beitragen zu können.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Joachim Winkler

    Einzelnachweise

    • 1
      Höchst interessant ist Mantzaros‘ eigenhändige Widmung eines Exemplars seines idealistisch eingefärbten Rapporto von 1851 an Ermanno Lountzis (Archiv Familie Lountzsis). Hervorzuheben ist ebenso Mantzaros‘ Aufenthalt im Haus der Familie Lountzis auf Zakynthos im Mai 1865 (Nørgaard, 1996, 382, 388).
    • 2
      Anthologie entsprechender Abschnitte aus Äußerungen von Mantzaros bei Xanthoudakis, 2003, 195-201; Brovas, 2006; Kardamis, 2011, 101-128. Vgl. auch den Denkansatz von Vrailas (1973, 326, 328, 333).
    • 3
      Xanthoudakis, 2003, 196 (Zitat aus Mantzaros‘ Cenni sul Conte Solomos).
    • 4
      Von besonderem Interesse ist nicht nur die Existenz des Buchs in der Bibliothek der Philharmonischen Gesellschaft Korfu, sondern auch der als Triptychon gestaltete Spruch „Einheit, Einfachheit, Wahrheit“ im Untertitel auf der ersten Seite.
    • 5
      In die gleiche Richtung zielt Solomos’ Formulierung „Auf diese Weise wird Transzendenz zu Präsenz“ (Veloudis, 1997, 20, 32, 50).
    • 6
      Mantzaros spricht von einem „einheitsstiftenden System“ innerhalb des pulsierenden musikalischen Geschehens (Studio Prattico d’Armonia, 156, 188-190; Archive des Benakis-Museums/Nikolaos Mantzaros-Archiv, 505/5/22. Die Gedanken von Solomos enthalten u.a. auch Bezugnahmen auf fragwürdige musikalische Definitionen (Xanthoudakis, 2005).
    • 7
      So Solomos’ Formulierung, wiedergegeben bei Veloudis (1997, 32).
    • 8
      Mit diesem stand Mantzaros schon seit 1844 in direktem Kontakt (Alvanas, 1873, 250-251).
    • 9
      Wegen ihrer beispielhaften musikalisch-schöpferischen Beiträge mit den Mitteln der Einfachheit, Tiefe und Natürlichkeit stellte Mantzaros jedenfalls bestimmte Komponisten, auch wenn sie keine Italiener waren oder aus früherer Zeit stammten wie Mozart, C. M. von Weber, Cimarosa, Leo, Vinci, Pergolesi, Jommelli, Traeta, Piccini, Guglielmi, Paisiello, Zingarelli, Durante, Porpora, Fenaroli, Mayr, Paër, Gluck, Lully, Rameau, Monsigny und Grétry in den Vordergrund, denen er als Zeitgenossen Rossini, Generali, Mercadante, Donizetti, Paccini, Ricci, Bellini und Verdi hinzugesellte (vgl. Manzaro, 1851, 9-12).
    • 10
      Von Interesse ist an diesem Punkt die Meinung romantischer Denker wie Tieck oder E.T.A. Hoffmann, die Palestrinas ebenfalls kontrapunktisches Schaffen als „absolute Musik“ wahrnahmen, welche dem Erhabenen Ausdruck verleihe (Garrat, 2002,52-57).
    • 11
      Sehr interessant ist, dass Mantzaros für die Fugenanalyse Begriffe aus der poetischen Metrik und Versbildung verwendete (Brovas, 2006, 78-79).

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Kostas Kardamis: «Auf intellektuellen Pfaden im Reich der Töne: Nikolaos Chalikiopoulos Mantzaros und seine philosophisch fundamentierte Musikauffassung», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 09.01.23, URI : https://comdeg.eu/essay/112817/.