Die Rede von Emmanouil Vyvilakis
Am 14. Februar 1871 fiel die Wahl des aus Kreta stammenden Abgeordneten der Insel Syros Emmanouil Vyvilakis1Emmanouil Vyvilakis wurde 1806 auf Kreta in Vrises bei Rethymnon geboren. Er nahm an der griechischen Revolution von 1821 teil und diente unter dem Befehl von Frank Hastings, einem britischen Marineoffizier und Philhellenen, einem der Helden des griechischen Befreiungskampfes gegen das Osmanische Reich. Dank der finanziellen Unterstützung von König Otto I. von Griechenland studierte er Rechtswissenschaften in Deutschland und wurde nach seiner Rückkehr Präsident des Gerichts erster Instanz auf der Kykladeninsel Syros. Er nahm an der Kretischen Revolution von 1841 teil und verlegte später die Zeitung Radamanthys, in deren Kolumnen er die griechischen Regierungen aufforderte, in der sogenannten Kretischen Frage die Initiative zu ergreifen.auf die Platia Othonos, den Otto-Platz in Athen, um eine (vorbereitete) Rede zu halten. Dieser Platz war erst vor kurzem in Omonoia-Platz umbenannt worden, nachdem der Herrscherwechsel von 1864 eine Damnatio memoriae der gestürzten bayerischen Wittelsbach-Dynastie zur Folge hatte. Die versammelten Anhänger des Abgeordneten waren wahrscheinlich überrascht, als Vyvilakis, der 1823 an der Schlacht von Gramvousa,2[Anm. d. Üb.: Am 11. Dezember 1823 griff ein griechisches Korps von 2.000 Mann die Festung Gramvousa auf Kreta an, die Aktion scheiterte.] an der Bewegung der Chereti-Brüder,3[Anm. d. Üb.: Aufstand auf Kreta, der am 22. Februar 1841 ausbrach und nach wenigen Monaten niedergeschlagen wurde.] aber auch an der kretischen Revolution von 1866 teilgenommen hatte, das Thema, das in dieser Zeit das Interesse der Öffentlichkeit im Königreich monopolisierte, nämlich die Morde in Dilesi,4Eine Gruppe englischer und italienischer Bildungsreisender wurde im April 1870 durch die Räuber Takos und Christos Arvanitakis gefangengenommen. Schließlich wurden vier der Geiseln hingerichtet. Der Vorfall war für Griechenland eine große Blamage im Ausland und verursachte den Sturz der Regierung Zaimis. ignorierte und anfing, über die „Lehre von der Allmacht Gottes“ zu sprechen,5Vyvilakis, 1871, 3. also von der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reiches vor weniger als einem Monat. Im Text von Vyvilakis – der vor Verweisen auf das Alte Testament und insbesondere das politisch-militärische „Buch der Richter“ nur so strotzte –, koexistierten Militarismus, Konservatismus, Antiparlamentarismus und politischer Messianismus. In seiner Rede beschrieb er den Weg zur deutschen Einigung als den Weg, den auch Griechenland beschreiten sollte, um die Mission seiner nationalen Zusammenführung erfolgreich abzuschließen. Frömmigkeit, Patriotismus und Studium der antiken Griechen wären die drei Merkmale der deutschen Nation, aber auch die der deutschen Führung gewesen, die zur Vorherrschaft über die Franzosen geführt hätten. Laut Vyvilakis war Wilhelm I. von Preußen entweder der neue Jiftach6Ein alttestamentarischer israelitischer Richter. des Alten Testaments oder der neue Alexander der Große, während die Franzosen die zeitgenössischen Ammoniten und ihr Kaiser ein weiterer Luzifer wären, der seinen Thron über den Gottes erheben wollte.7Vyvilakis, 1871, 4-5, 15. Vyvilakis‘ Text ist nur einer – vielleicht der erste – der vielen Versuche, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reiches geschrieben wurden, um das deutsche Vorbild in der griechischen Öffentlichkeit zu propagieren. Die zahlreichen Artikel in der Tages- und Zeitschriftenpresse, die Reden von Parlamentariern, politische Essays, Biografien, Festtagsreden und Theaterstücke bezeugen, dass sich nach 1871 in die öffentliche Debatte über politische, staatliche, militärische, bildungspolitische und andere Themen, wie z.B. die traditionellen Schutzmächte Griechenlands, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Russland, noch ein weiteres Schwerpunktthema hinzugesellt hatte: nämlich Deutschland und insbesondere das Königreich Preußen.
Deutschland und Preußen präsentierten sich auf der internationalen Bühne durch die erzielten Erfolge als weit mehr als lediglich eine gut geölte Militärmaschinerie. Staatsorganisation, Rechtssystem, Behörden, industrielle Entwicklung und die Ausstrahlung von Konzepten und Institutionen machten das Deutsche Reich zu einem vorbildlichen Nationalstaat, der die Bewunderung all jener Griechen auf sich zog (und den Wunsch nach Nachahmung weckte), die das Unvermögen ihres Landes beklagten, das Piemont des Balkans8Zum Zusammenhang zwischen Megali Idea/Großer Idee und Risorgimento vgl. Liakos, 1985. zu werden oder auch nur das „kleine, aber ehrliche Griechenland“ zu sein. Insbesondere der gescheiterte Versuch des Landes, während des Krimkrieges die Vision der Großen Idee zu verwirklichen, ließ viele von einer Verflüchtigung, Verfälschung und vom Tod der Großen Idee sprechen.9Skopetea, 1988, 284. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Darstellung der Resonanz der Kriegsereignisse 1870-1871 auf den öffentlichen Diskurs Griechenlands bis 1889 – denn nach der Thronbesteigung Wilhelms II. von Preußen ein Jahr zuvor und der politischen Annäherung zwischen Berlin und Konstantinopel änderte sich das Bild des Deutschen Reichs in der öffentlichen Meinung Griechenlands erheblich.
Die Ereignisse der Jahre 1864 bis 1870
Bis 1870 blieben die nationalen Ziele von Deutschen und Griechen unerfüllt oder machten, wenn überhaupt, nur geringe Fortschritte. Die deutsche Einigung, d.h. die Aufhebung der Kleinstaaterei, und die Sicherung des Bürgerlichen Rechts, waren Dauerthemen. Der erste Versuch der Frankfurter Nationalversammlung, Deutschland im Jahr 1848 zu vereinen, schlug fehl und brachte die inhärente Unfähigkeit der Versöhnung zwischen den sogenannten Kleindeutschen und Großdeutschen zu Tage. Gleichzeitig erwies sich das griechische Königreich als unfähig, die Vision der Großen Idee und die Befreiung der Gebiete, die es als rechtmäßig griechisch betrachtete, zu verwirklichen. Die Parker- oder Don-Pacifico-Affäre,10Krise in den griechisch-britischen Beziehungen in den frühen 1850er Jahren, Ergebnis des Überfalls einer Gruppe von Griechen auf das Haus des britischen Staatsbürgers David Don Pacifico. Die britische Regierung forderte vom griechischen Staat die Zahlung einer enormen Entschädigung; deren Nichtzahlung führte zur Seeblockade Griechenlands durch die britische Flotte. der gescheiterte Versuch Griechenlands, sich im Krimkrieg auf die Seite Russlands zu stellen, die anschließende Blockade von Piräus durch die französische Flotte und die verschiedenen Krisen im Rahmen der Kretischen Frage zeigten auf dramatische Weise, wie der Status der drei Schutzmächte Großbritannien, Frankreich und Russland die Ausübung einer unabhängigen Außenpolitik einschränkte und den Eskapismus nicht begünstigte.11Skopetea, 1988, 283-284. 1864 wurde jedoch der erste wichtige Schritt unternommen, um die nationalen Bestrebungen von Griechen und Deutschen zu erfüllen.
Der Wechsel des Herrschergeschlechts in Griechenland ging mit der Rückgabe der Ionischen Inseln an das kleine Mutterland einher. Gleichzeitig verpflichtete sich das Königreich Preußen in Deutschland, mit Waffengewalt die Idee der nationalen Einheit zu realisieren, und entriss mit Hilfe Österreichs die Herzogtümer Schleswig und Holstein der Krone Dänemarks. 1866 war ein weiteres Jahr wichtiger Entwicklungen sowohl für die Griechische als auch für die Deutsche Frage. Während Preußen mit dem Sieg über Österreich im sogenannten Siebenwöchigen Krieg den großen Rivalen bezwang und den Norddeutschen Bund gründete, gelang es Griechenland im selben Jahr nicht, die Kretische Frage zu internationalisieren. Die Kretische Revolution 1866-1869 wurde von den Großmächten und insbesondere von Frankreich als innere Angelegenheit des Osmanischen Reiches angesehen, denn ein eventueller Gebietsverlust würde die Orientalische Frage wieder in den Vordergrund rücken. In den Jahren 1870-1871 verfolgte Griechenland – nunmehr lediglich als Beobachter, wegen der Morde in Dilesi der internationalen Entrüstung ausgesetzt und gezwungen, seine irredentistischen Bestrebungen auszusetzen – auf den Titelseiten der Presse die aufeinanderfolgenden deutschen Siege im Deutsch-Französischen Krieg. Am 18. Januar 1871 erfuhr Griechenland zusammen mit dem Rest der Welt die Proklamation der Deutschen Reichsgründung und die Ernennung Wilhelms I. von Preußen zum deutschen Kaiser im Schloss Versailles – in einer Zeremonie mit starker Symbolik.
Die griechische Presse und der Deutsch-Französische Krieg
Die ersten Siege der vereinten deutschen Armee gegen die Franzosen im Sommer 1870 begrüßte der größte Teil der griechischen Presse erfreut und zeigte sich zufrieden mit den Erfolgen gegen das Regime Napoleons III., dem wichtigsten Befürworter der Integrität des Osmanischen Reiches während seiner letzten Krise in der Kretischen Frage.12Die plötzliche Germanophilie sowohl der Presse als auch der Bevölkerung blieb den französischen diplomatischen Vertretungen im griechischen Königreich nicht verborgen. So protestierte der französische Botschafter Baude und meldete seinem Vorgesetzten verbittert, dass die griechischen Handelsschiffe von Syros mit den preußischen Farben beflaggt worden seien und dabei ein großer Teil der Bevölkerung von Syros seine starken pro-preußischen Gefühle gezeigt habe (vgl. Marinou, 2015, 111). Die Zeitung Ethikon Mellon schrieb am 1. August 1870: „Hier ist nun der Abgrund, in den Napoleon III. die mächtigste der europäischen Nationen geführt hat […]. Das Schicksal des gegenwärtigen Krieges ist ein übergroßes Zeugnis des moralischen Niedergangs […].“ Sie sprach weiter von dem „ungerechtesten Krieg gegen Deutschland“, den Frankreich je angezettelt hätte.13Unbekannt, Ethikon Mellon, 01.08.1870.
Im selben Geist behauptete die Zeitung Alithia: „Die hiesigen Befürworter Preußens sind zahlreicher und bis vor Kurzem hatten sie irgendwie nicht einmal unrecht, gegen Frankreich nachtragend zu sein und sich, angesichts all des Übels, das die Napoleonische Regierung verursacht hatte, dessen Demütigung herbeizuwünschen.“14Unbekannt, Alithia, 11.07.1870.
In einem ersten Versuch, die preußische Vorherrschaft zu rechtfertigen, stellte die Zeitung fest, dass es in Preußen unmöglich sei, den Militärdienst zu umgehen. Im selben Armeeregiment sehe man „Herren und Diener Seite an Seite stehen“ und auch die Staatsdiener des preußischen Königreichs hätten sich selbstverständlich zum Dienst gemeldet. Für den Autor war Griechenland das genaue Gegenteil: „Die seligen griechischen Staatsbeamten zeigten in keinem einzigen Fall einen übermäßigen Ehrgeiz, es den Staatsdienern Preußens oder Deutschlands gleichzutun. Die Verhätschelten Griechenlands lieben es, beim Tanz und beim Glücksspiel an vorderster Front zu glänzen – und sich ansonsten dem Schwarzpulver möglichst fernzuhalten.“15Unbekannt, Alithia, 01.08.1870.
Die Zeitung Alithia vertrat eine moderatere Germanophilie.
Die Hauptlast der Verteidigung der deutschen Sache hatte Eon, das Hauptorgan der prorussischen Fraktion Griechenlands, getragen, das sich der Orthodoxie und einem milden Antiparlamentarismus verschrieben hatte. Das war keineswegs abwegig: Die konservativen Anhänger der prorussischen Partei waren enttäuscht vom unglücklichen Ausgang des Krimkrieges für die russische Armee und danach vom Wandel Russlands von einem Beschützer der Orthodoxie zum Beschützer ausschließlich der slawischen Brüder auf dem Balkan. So suchten sie in Bismarcks Deutschland eine angemessene Alternative.
Nach der Schlacht von Sedan und der Gefangennahme des französischen Kaisers, aber vor allem nach der Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles, ging Eon, die bis dahin ihre Genugtuung über die Schwächung Frankreichs, des Hauptkonkurrenten von St. Petersburg im südöstlichen Mittelmeer, nicht verborgen hatte, zu einem überschwänglichen Ton über. Auf der Titelseite der Neujahrsausgabe [von Eon] begrüßte der Lyriker Jeorjios Paraschos in seinem Gedicht Ansprache des Jahrhunderts (Prosfonisis tou Eonos) den neuen preußischen Geist des auferstandenen Friedrichs des Großen; Preußen wird angesprochen als „edle Nation“ und „Generalmarschall des Jahrhunderts“.16Jeorjios Paraschos, Eon, 01.01.1871.
Laut Eon war das neue, preußisch dominierte Deutsche Reich den Franzosen nicht nur militärisch überlegen. Was die Deutschen auszeichne, sei die moralische Überlegenheit, die sich einfach zur militärischen Potenz dazugeselle. Der Professor und spätere Rektor der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen, Ioannis Soutsos, schrieb dazu:
Untersucht man die Moral der beiden Länder Frankreich und Deutschland, ist leicht zu erkennen, dass die geistig so agile preußische Nation ein tiefes Bewusstsein ihrer Mission hat, gleichzeitig ziemlich gebildet und diszipliniert ist. Diese Nation genießt das Glück nicht endender Aktivität und ist, durchdrungen von Patriotismus, vom Bedürfnis nach materiellen Freuden noch nicht korrumpiert. Und sie behält weiterhin den brennenden Glauben an all das und die Ehrfurcht vor all dem, was [unseren] Respekt verdient. Welch betrüblicher Gegensatz!17Ioannis Soutsos, Eon, 05.07.1871.
Für die germanophile Presse hatte sich Deutschland und insbesondere Preußen vom unzuträglichen Einfluss der Aufklärung ferngehalten – eine bereits früher geäußerte Erkenntnis, die jetzt wiederaufkam. Für Eon waren die Deutschen von den Predigten des „misanthropischen unerbittlichen Feindes der politischen und sozialen Vorherrschaft und der Privilegien […], des Vorläufers der religiösen Ausschweifung“ Voltair und denen der Proudhon-Anhänger, die „das verheerende Beispiel der Machtergreifung durch Gewalt, Raub und Meineid gaben“ unberührt geblieben.18Unbekannt, Eon, 05.07.1871.
Gleichzeitig lobte das Blatt den Widerstand Deutschlands als Antemurale christianitatis gegen die Barbarisierung Europas, verkörpert durch die Flut an Zuvans19Muslime aus den französischen Kolonien, die in der französischen Armee dienten. im Dienste der napoleonischen Armee und zum Widerstand gegen die „Horden von Wilden und Fremdländischen […], die Napoleon aus Afrika geholt hatte […], um diese Muslime und Barbaren europäischen christlichen Bürgern, zivilisierten und schlussendlich [unseren] freien Brüdern entgegenzustellen.“ Die Zeitung ging noch einen Schritt weiter und gestand Deutschland die Führung in allen Kulturbereichen zu, wie aus folgendem Auszug hervorgeht:
Die deutsche Nation führt heute die geistige Arbeit der gesamten Menschheit an, es gibt keine Wissenschaft, in der sie nicht unablässig herausragende und herrliche Dienste leistet. Lediglich der in diesen trivialen Wahrheiten nicht Eingeweihte ist heute nicht im Bilde darüber, dass die deutsche Nation an der Spitze der Kunst steht, dass sie durch religiöse Erleuchtung erfüllt und gebildet ist; denn nirgendwo auf der Welt ist Bildung so weit verbreitet wie in Deutschland, auch der letzte deutsche Landbewohner ist des Schreibens und Lesens kundig. Wer weiß nicht, dass Deutschland in Bezug auf die allgemeine politische Organisation führend ist, oder dass es nur wenige Länder gibt, in denen, wie in den deutschen Staaten, nicht nur dem Buchstaben nach die Gewissens-, die Unterrichts- und die Pressefreiheit und im allgemeinen die Demokratie etabliert und anerkannt ist – und das von den Palästen der Herrscher bis hin zur Hütte des letzten Bauern?20Unbekannt, Eon, 11.09.1870.
Den Zeitungen Ethnikon Mellon, Alithia, aber hauptsächlich Eon und seiner offensichtlichen Germanophilie gegenüber sahen sich die griechischsprachige Zeitung Neologos aus Konstantinopel, aber auch Elliniki Anexartisia, Semaphore und Klio zu einer Antwort verpflichtet. Die griechische frankophile Presse konterte, dass die Gefahr bestünde, dass sich der preußische militaristische Geist durchsetze und damit die Doktrin der „Schaffung großer ethnischer Gruppen“ durch Auflösung und Absorption nicht so mächtiger Staaten; gleichzeitig wurde der deutsche Philhellenismus während der griechischen Revolution von 1821 im Vergleich zum französischen als weniger bedeutsam herabgewürdigt. Eon übernahm die Antwort auf diese Thesen, aber auch auf die Anschuldigungen französischer Zeitungen, die Redakteure von Eon würden auf der Gehaltsliste des preußischen Botschafters in Athen, Johann Emil von Wagner, stehen. Der Behauptung des Neologos, Preußen und das Deutsche Reich würden das „Prinzip der Eroberung“ verkörpern, setzte Eon das Argument entgegen, dass durch die Eingliederung von Schleswig und Holstein sowie die Auflösung des Königreichs Hannover nach dem preußischen Sieg im Deutschen Krieg von 1866 nur eine Bevölkerung mit deutschem Nationalbewusstsein einverleibt worden sei. Der Redakteur bestand nachdrücklich auf dem Fakt des Bellum iustum, also des gerechten Krieges, im Namen der Nation und versuchte sich dann in einem Vergleich von besonderer Bedeutung für die griechische Öffentlichkeit. Eon präsentierte das moderne Deutschland als Spiegelbild des antiken Griechenlands in der Gegenwart und implizierte, dass Preußen eine ähnliche Rolle eingenommen habe wie Makedonien im 4. vorchristlichen Jahrhundert, als es alle Griechen vereinte, bevor es den panhellenischen Feldzug gegen die Achämeniden antrat.21Unbekannt, Eon, 23. 07.1870.
Die Redakteure hatten eigentlich diese Analogie lediglich aus der ersten Ausgabe (1933) der Monographie Geschichte Alexanders des Großen des preußischen Historikers Johann Gustav Droysen abgeschrieben; dort wird die Geschichte des antiken Griechenland als legitimierendes Argument für die preußische Vormachtstellung in den deutschen Angelegenheiten verwendet. Wilhelm I. hatte nicht nur unter Kennern der Antike22Zur Entsprechung Makedonien-Preußen vgl. Thomas, 1994. den Spitznamen „Annexander“ erworben.23Vgl. Demandt, 2009, 451–452. Auf die Kritik, dass der deutsche Philhellenismus während des griechischen Unabhängigkeitskrieges nicht die Form einer organisierten Militärhilfe wie etwa im Falle des französischen Offiziers Charles Nicolas Baron Fabvier angenommen hatte, entgegnete Eon mit einer Auflistung hauptsächlich deutscher philhellenischer Gelehrter wie Wilhelm Müller, Friedrich Thiersch und Wilhelm Traugott Krug und betonte, dass die Übersetzungen der Werke von Homer und Aischylos durch deutsche Altphilologen genau das war, was „die Flotten der christlichen Staaten in der Seeschlacht von Navarino geleitet und die Lunte der Kanonen von England, Frankreich und Russland entzündet hatte.“24Unbekannt, Eon, 28.12.1870.
Zu den Vorwürfen der Käuflichkeit ging Eon in den Gegenangriff und prangerte den misslungenen Bestechungsversuch des Blattes durch eine Person an, die dem französischen Botschafter in Athen nahe stünde; Eon deutete dazu noch an, dass Neologos als Zeitung mit Sitz in Konstantinopel gezwungen war, den Interessen des Bürgen der osmanischen Integrität zu dienen, also Frankreich.25Unbekannt, Eon, 01.01.1871.
Die Schwächung Frankreichs kam, laut der prorussischen Zeitung, den Orthodoxen des Ostens wunderbar entgegen, da die Macht der römisch-katholischen Völker, zu denen die Franzosen gehören, zurückgehen würde; eine neue Welt, in der Deutsche und Slawen dominieren, würde schließlich der Präsenz des Islam in Europa ein Ende setzen.
Griechische Freiwillige im Deutsch-Französischen Krieg
Die Teilnahme von Griechen am Deutsch-Französischen Krieg war ein weiteres Thema, das die griechische Öffentlichkeit beschäftigte. Obwohl die Regierung Delijorjis nichts anderes tun konnte, als das Land aus einem Konflikt herauszuhalten, der es kaum betraf,26Marinou, 2015, 410. nahmen griechische Freiwillige auf beiden Seiten an den Kämpfen teil. Die Zeitung Alithia berichtete, dass Nachkommen einiger der namhaftesten Freiheitskämpfer den Deutschen zur Seite geeilt seien, wie Jeorjios Drakos, Sohn des Anführers der Soulioten, einer kriegerischen Gemeinschaft aus Epirus,, der auf Kosten Ludwigs I. von Bayern in München studiert hatte, der Sohn des portugiesischen Philhellenen Antonio Figueira d‘ Almeida, Emmanouil Almeida, sowie zwei Mitglieder der Familie Rangavis, Aristidis und Emilios Rangavis.27Unbekannt, Alithia, 01.08.1870.
Trotz der Behauptung des Eon, dass diejenigen, die nach Marseille gereist waren, um in der Armee Napoleons III. zu kämpfen, „an den Fingern abzuzählen sind“, scheint die Welle der frankophilen Freiwilligen größer (an die 1.500 Personen) als die der prodeutschen gewesen zu sein – trotz der Warnung von Eon „[…] dass jeder Tropfen deutschen Blutes, den ein Grieche vergießt, ein Schandfleck auf seiner Stirn ist, Zeichen schweren Unbills und abgrundtiefer Undankbarkeit.“28Unbekannt, Eon, 01.01.1871.
Es sollte jedoch bedacht werden, dass erst nach der Gefangennahme Napoleons III. in Sedan und der Wende des französischen Krieges von einem Angriffs- zu einem Verteidigungskrieg eine deutliche Zunahme der frankophilen Freiwilligen aus Griechenland zu verzeichnen war, eine Entwicklung, die später durch die Proteste des deutschen Botschafters Wagner gegenüber den Regierungen Delijorjis und Koumoundouros bestätigt wurde.29Marinou, 2015, 123. Mit ihren Kriegserinnerungen versuchten die Freiwilligen beider Lager ihre jeweilige Entscheidung zu begründen. Auf die Bewunderung, die die griechischsprachigen Journalisten nach 1871 auf der ganzen Welt – und nicht nur sie – dem deutschen Wesen im Allgemeinen entgegenbrachten, reagierte der Oberfeldwebel der Infanterie Alexandros Alexandrou in seinen Memoiren spöttisch und meinte:
Der preußische Stechschritt ist himmlisch, die Kanonaden der Preußen den Zeus΄schen Blitzen ebenbürtig, ihr Gegendonner wie der des Salmoneus,30Salmoneus war eine mythische Figur, die Zeus΄ Donnerschlag imitierte. ihr System der Kampfbataillone wunderbar, ihre Soldaten Helden und ausgebildete Doktoren, die gar die vergleichende und sanskritische Linguistik und Philosophie beherrschen, ihre Ulanen geschätzte pfeilschießende Pegasoi … und zu guter Letzt hört man sogar die Bediensteten in den Cafes, wie sie die eintretenden Kunden zu fragen pflegen, ob Sie ihren Kaffee auf „preußische Art“ zubereitet haben mögen!31Alexandrou, 1871, 122.
Laut Alexandrou setzten sich die „kolkrabenschwarzen deutschen Phalangen“ schließlich nur aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit durch; im Gegensatz zu Eon und Droysens Interpretation verglich Alexandrou die Franzosen mit den 300 von Leonidas und die Deutschen mit den Persern.32Alexandrou, 123. Stellvertretend für diejenigen, die unter dem preußischen Adler gekämpft haben, beschreibt Emilios Rangavis die Begeisterung, die die Aufforderung bei ihm ausgelöst hatte, am Krieg gegen Frankreich teilzunehmen, und seine Bereitschaft, sich für den Preußenkönig zu opfern.
Andere Werke zum Deutsch-Französischen Krieg
Zum Diskurs über den Deutsch-Französischen Krieg in der griechischen Öffentlichkeit muss schließlich auf die Verbreitung zahlreicher Werke zu diesem Thema im griechischen Original oder als Übersetzungen aus dem Deutschen verwiesen werden. Es gibt Geschichtsschreibungen, Biografien von Bismarck, Wilhelm I. und dem deutschen Kronprinzen, Studien des Oberst im griechischen Generalstab Ifikratis Kokkidis zur preußischen Armee und zu Generalfeldmarschall Moltke, aber auch das Theaterstück Der gefangene Kaiser oder Napoleon III. (Ο echmalotos avtokrator i Napoleon III.) des ruhmlosen Dramatikers Yakinthos, in dem die Deutschen als Exekutivgewalt der Nemesis auftraten. Thema sind die letzten Monate Napoleons III. auf dem Thron, von der Kriegserklärung gegen Preußen im Sommer 1870 bis zu seiner Gefangennahme unmittelbar nach der Schlacht von Sedan. Die Einflüsse des antiken griechischen Dramas auf das Stück sind überdeutlich. Der von Eitelkeit geblendete französische Kaiser wird von der moralisch überlegenen preußischen Nation besiegt und schließlich gestürzt. Die Sicht des Autors auf Preußen spiegelt sich im letzten Akt des Werkes in den Worten des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen wider:
Aber Preußen, dessen Flagge von Sieg zu Sieg eilt, dessen Kinder, von den edelsten Gefühlen getragen, voller Freude zum Altar des Vaterlandes schreiten, um dort geopfert zu werden, dieses Preußen kämpft heute die heiligste aller Schlachten gegen den arroganten und willkürlichen Despoten, gegen ein habgieriges Volk, das Preußen die besten Provinzen entreißen will; Preußen kämpft triumphierend gegen diejenigen, die die göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen treten, und will sein Schwert nicht eher niederlegen, bevor ein dauerhafter Frieden zustande gekommen ist; damit legt es den Grundstein für ein großes und vereintes deutsches Vaterland als Quell der Gottesachtung und der wahren Freiheit.33Yakinthos, 1870, 48.
Zu den Verfehlungen, die zum Sturz Napoleons beigetragen hatten, gehörte natürlich auch seine arrogante Haltung gegenüber Griechenland in der letzten Phase der Kretischen Frage. Eine namenlose weibliche Figur („den Göttern der alten Griechen ähnlich“), möglicherweise die Personifizierung Griechenlands, fordert auf der Bühne Napoleon auf, die Macht abzutreten, und verflucht ihn, für den Rest seines Lebens „wegen deiner rücksichtslosen Politik gegenüber meinen Söhnen, den Griechen“, von den Erinnyen34[Anm. d. Üb.: antike Rachegöttinen.] begleitet zu werden.“35Yakinthos, 1870, 58.
Der deutsche Sieg erweiterte die Debatte in Griechenland auch auf andere Bereiche, die es wert waren, erkundet und kopiert zu werden. Die Phrase „im Deutsch-Französischen Krieg hat der deutsche Lehrer die Franzosen besiegt“ wiederholt sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ständig in den Diskussionen darüber, wie Griechenland seine nationale Vision verwirklichen könne. 1872 veröffentlichte der spätere Bildungsminister Dimitrios Mavrokordatos das Memorandum zur Bildung des Volkes (Ypomnimation peri ekpedevseos tou laou). Darin forderte er die griechische Regierung auf, sich an dem für die nationalen Erfolge Deutschlands verantwortlichen Bildungssystem ein Beispiel zu nehmen. Für Mavrokordatos waren es nicht die „Kruppia“36[Anm. d. Üb.: gräkisierende Entstellung des Namens Krupp.] – also die Krupp-Kanonen –, die den Deutschen den Sieg beschert hatten, sondern das moderne Bildungssystem, das sich nicht an sinnentleerten Kenntnissen über die Antike orientierte, sondern die lokalen Besonderheiten und Traditionen der deutschen Staaten respektierte und auf die moralische Vollendung und die körperliche Ertüchtigung der Schüler Wert legte. Den deutschen Kindern würde man beibringen, dass es „ehrlicher (sei), eine Drachme lebenden Glaubens (zu besitzen) als hundert Litren historischer Weisheit und eher einen Tropfen wahrer Liebe als einen ganzen Ozean wissenschaftlicher Erkenntnisse.“37Mavrokordatos, 1872, 29. Gleichzeitig fänden schon früh Schieß- und Gleichschrittübungen statt, immer begleitet von religiösen und patriotischen Liedern, getreu dem Geist des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn. Diesen Schülern, die später die vorbildliche deutsche Verwaltung besetzen würden, schrieb Mavrokordatos den deutschen Erfolg zu. Als Beamte wären sie dann immer in der „Tradition der Etikette“ ansehnlich angezogen (schwarzer Gehrock und weißer Querbinder)“. Man würde sie häufigen Prüfungen unterziehen, während sie „ein moderates Gehalt bekommen, Familienväter sind und in ihrer Mehrheit keinerlei Beförderung beanspruchen oder erwarten.“38Mavrokordatos, 1872, 21. Am Ende des Memorandums bezeichnete Mavrokordatos die griechischen Schulbeamten als ungeeignet und betonte, dass die griechische Schule nur mit Hilfe von Sonderpädagogen, vor allem deutschen, ihre Ziele erreichen könne; er fragte sich: „Haben wir denn irgendeinen Schaden erlitten, bei Ulrichs, Ross, Wilke und Fabricius39Es handelt sich um den Altphilologen Heinrich Ulrichs, den Archäologen Ludwig Ross, beide Professoren an der Ottonischen Universität zu Athen, sowie um die in Athen und Nafplio tätigen Gymnasiallehrer Johann Carl Wilke und Carl Fabricius. Latein gelernt zu haben?“40Mavrokordatos, 1872, 60.
Preußische und deutsche Vorlagen im parlamentarischen Diskurs Griechenlands
Gleichzeitig erfuhr der parlamentarische Diskurs in den 1870er Jahren eine extreme Preußisierung oder Germanisierung. Das preußisch-deutsche Beispiel – und oft sogar das Vorbild – wurde in der Zeitung der parlamentarischen Debatten (Ephimeris Syzitiseon Voulis) in vielen Angelegenheiten mehr als alle anderen erwähnt und verdrängte dabei das entsprechende italienische Beispiel des Risorgimento, also die italienische Vereinigung, die 1861 von Piemont ausgegangen war. Insbesondere das Zusammenfallen der Gründung des Kaiserreiches mit dem 50. Jahrestag der griechischen Revolution von 1821 und der Überführung der sterblichen Überreste des Patriarchen Gregor V41[Anm. d. Üb.: Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, der beim Ausbruch der griechischen Revolution eines gewaltsamen Todes starb. Er wurde in Odessa bestattet und seine Gebeine 1871 nach Athen überführt.] nach Athen im selben Jahr, führte unweigerlich zum Vergleich zwischen dem Scheitern Griechenlands und dem Erfolg Deutschlands. So schlug die Opposition nach den Morden in Dilesi vor, das deutsche System sowohl bei der Strafverfolgung als auch im Bereich der Prävention zu kopieren, und eine Landwehr nach dem Vorbild des „gesegneten Landes Preußen“42Efimeris Syzitiseon Voulis, 27.01.1871, 318.zu bilden, wie sich der Abgeordnete V. Lekkas äußerte. Anlässlich der Agrarreform der Regierung Koumoundouros im Jahr 1871 kritisierten ihre Gegner die preußischen Einflüsse auf das Gesetz, das versuchte, die Neuordnung des ländlichen Grundbesitzes mit dem Dienst in Strukturen zu verbinden, die der preußischen Landwache und Miliz ähnlich waren. Parallel dazu schlug der griechische Politiker, Jurist und Schriftsteller Pavlos Kalligas die Schaffung der Nationalen Zentralbank nach dem Vorbild der Deutschen Reichsbank vor.43Efimeris Syzitiseon Voulis, 15.12.1880, 535.
Da die Große Idee die Tagesordnung der politischen Debatten bestimmte, wurden für die griechischen Abgeordneten vor allem die deutsche Armee und das deutsche Bildungssystem zum Vorbild. Der „eiserne Staat“44Efimeris Syzitiseon Voulis, 13.11.1885, 296.– wie der Abgeordnete Palamidis Deutschland bezeichnete – und die Übernahme seines Militär- und Bildungssystems wurden am 8. Februar 1877 von Ministerpräsident Koumoundouros höchstselbst verteidigt:
Es ist nicht wahr, dass Preußen seine Größe nicht dem Militär verdankt. Preußen hat allerdings nicht nur eine große Armee geschmiedet, sondern erreicht, dass beim Militär die Bürger zu Brüdern werden, weil ihnen dort beigebracht wird, die Gesetze zu befolgen, und weil sich dort über die Disziplin das Gefühl von Heimat und Ehre entwickelt. Das ist, meine Herren, der Geist, der in der deutschen Armee vorherrschte und der Grund, warum es gelang, die Franzosen zu unterwerfen […].45Efimeris Syzitiseon Voulis, 18.02.1877, 661.
Zur gleichen Zeit verteidigte Kalligas ein dem deutschen Mobilisierungssystem sehr ähnliches Wehrpflicht- und Einberufungssystem, das das Wirtschaftsleben des Landes nicht durcheinanderbringen würde; so erinnerte er daran, dass Hegel sein Werk Phänomenologie des Geistes 1806 zur Druckerei brachte, während die Schlacht von Jena in vollem Gange war.46Efimeris Syzitiseon Voulis, 12.02.1881, 1061.
Der spätere Verteidigungsminister und über deutsche Angelegenheiten sehr gut informierte Jerasimos Zochios verteidigte das deutsche Bildungssystem energisch, obwohl er oft die blinde Nachahmung deutscher Standards kritisiert hatte: Dort sei nicht einmal einer von Tausend des Lesens und Schreibens unkundig.47Efimeris Syzitiseon Voulis, 26.11.1887, 124.
Wie erwartet, wurden aus der Debatte im Parlament Tatsachen. So wurden im Februar 1871 Elemente der militärischen Ausbildung in Schulen und Vereinen eingeführt; die Bildungsreform des Erziehungsministers Andreas Avjerinos von 1880 war stark vom preußischen Modell beeinflusst; der Deutschunterricht wurde dermaßen gestärkt, dass der Schriftsteller Anastassios Goudas 1876 meinte, dass nunmehr „Deutsch die ausschließliche Sprache der Gelehrten ist“; die ersten Geschütze wurden bei Krupp bestellt. Gleichzeitig wurden Persönlichkeiten der deutschen politischen Szene wie Reichskanzler Bismarck, Kaiser Wilhelm I. und der Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke zu Leitmotiven des parlamentarischen Diskurses in Griechenland. So forderte der Parlamentarier Dimitrios Dimitrakakis König Jeorjios I. zweimal auf – 1880 und 1885 –, so viel zu wagen wie Wilhelm I., sowie den Ministerpräsidenten Charilaos Trikoupis, eine ähnliche Wirtschaftspolitik wie Bismarck zu verfolgen.48Efimeris Syzitiseon Voulis, 26.11.1880, 315. Efimeris Syzitiseon Voulis, 19.10.1885, 33.
Im Gegensatz dazu beschuldigte der Abgeordnete G. Filaretos 1890 Trikoupis, sich arrogant und zentralistisch zu verhalten, was denjenigen recht gab, die Trikoupis „Bismarck des Orients“ schimpften.49I agorevsis tou Ellinikou Kinovouliou (Die Reden im griechischen Parlament) 1843-1909, 1964, 27.
Bismarcks Außenpolitik und die Griechen
Kleiner, aber nicht unbedeutend, fiel die Diskussion über Deutschland als diplomatischer Partner und Verbündeter Griechenlands aus, vor allem als neue Feinde in der Region auftauchten und den früheren großen Gegner, das Osmanische Reich, in den Schatten stellten. Mit der Gründung des bulgarischen Exarchats im Jahr 1870 und der anschließenden Schaffung „Großbulgariens“ durch den Frieden von San Stefano 1878 stellte sich der bulgarische, von Russland angestiftete Panslawismus als die unmittelbarste Bedrohung für die Erfüllung der Großen Idee heraus, insbesondere in Gebieten Makedoniens, auf die die griechischen Gebietsansprüche alles andere als selbstverständlich waren. Obwohl Bismarcks Entschluss, Deutschland von den balkanischen Komplikationen der Orientalischen Frage fernzuhalten, durch den Satz „Der Balkan ist mir nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ untermauert worden war, gab es viele, die auf die deutsche Unterstützung als Bollwerk gegen die slawischen regionalen Ambitionen hofften. Es gab daher eine Verschärfung des griechischen öffentlichen Diskurses über Deutschland sowohl anlässlich der Berliner Balkan-Konferenz 1878 als auch der Abtretung der Region Thessalien an Griechenland im Jahr 1881 mit diplomatischer Unterstützung des eisernen Kanzlers. Aristarchos Veis, Angestellter der griechischen Botschaft in Konstantinopel und später stellvertretender Leiter des Pressebüros des stellvertretenden Gouverneurs von Kreta, war einer der ersten, die sich ein Bündnis von Griechen und Deutschen gegen die slawische Vorherrschaft vorstellen konnten. Veis widmete sich im 2. Band seines vierbändigen Werks Die bulgarische Frage und die neuen Verwicklungen des Panslawismus im Osten (To voulgarikon zitima ke e nee plektane tou panslawismou en Anatoli) unter anderen Führern Westeuropas auch Bismarck; er forderte ihn auf, nach dem Schlag, den er dem Katholizismus und dem Papsttum im Westen versetzt hatte, eine neue Kampagne gegen den Panslawismus im Osten zu starten, zugunsten von Griechisch-Orthodoxen und Protestanten, Griechen und Deutschen.50Veis, 1875, 5. Timoleon Philimon, der Direktor der prorussischen Zeitung Eon, reagierte heftig auf Veis; die Kontroverse über die Bündnisse Griechenlands wurde öffentlich in den Kolumnen der Zeitungen ausgetragen. Als natürlichen Verbündeten Griechenlands sahen Deutschland auch der Journalist Vlassis Gavriilidis in seinem Werk Griechenland und Panslawismus (Ellas ke Panslavismos)51Gabriilidis, 1869, 17–18. und Charilaos Meletopoulos in Die Europäische Diplomatie in Griechenland (I evropaiki diplomatia en Elladi),52Meletopoulos, 1888, 125. allerdings nicht im selben Ausmaß.
Bismarcks Unwillen, sich mit den griechischen Angelegenheiten zu befassen, ließ erst nach, als 1881 die Gespräche zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich über die Annexion Thessaliens zum Stillstand gekommen waren und die Gefahr bestand, dass beide Seiten militärisch eingriffen. Dank der Vermittlung der internationalen Gemeinschaft und insbesondere der deutschen Diplomatie konnte die Auseinandersetzung abgewendet werden. Bismarck bot Griechenland seine Unterstützung an, nachdem er die Zusicherungen der sofortigen Begleichung der seit Ottos Zeiten anhängigen Schuldenverpflichtungen des Landes gegenüber Bayern erhalten hatte. Die deutsche Vermittlung wird anschaulich in einer Karikatur der Zeitung Aristofanis (17.01.1881) dargestellt, in der Bismarck als zuverlässiger Vermittler auftritt, jedoch auch geneigt ist, das schwächere Griechenland zu schützen.53Louvi, 2002, 166. Im Gegenteil dazu war die Darstellung von Bismarck in der griechischen Presse weniger schmeichelhaft nach der Besetzung Ostrumeliens durch Bulgarien im Jahr 1885 und der Forderung Griechenlands, durch die Annexion von Epirus dafür entschädigt zu werden. Die Drohung der Regierung Dilijannis, in das osmanische Territorium einzudringen, die sogenannte bewaffnete Bettelei, stieß bei den Großmächten und insbesondere beim deutschen Kanzler auf Widerstand; diesmal zeigte ihn der Karikaturist der Zeitung To Asty (25.05.1886), wie er mit türkischem Fes vehement das osmanische Territorium verteidigt.54Louvi, 2002, 288-289. Auf der gleichen Wellenlänge karikierte die politsatirische Zeitung O Neos Aristofanis, angesichts der für die deutsche Diplomatie unangenehmen Wendung der Ereignisse in der letzten Phase der Orientalischen Frage, einen panischen Wilhelm I.55Sapranidis, 1974, 64. Schließlich richtet Jeorjios Souris in der Zeitung O Romios56[Anm. d. Üb.: O Romios war eine in Versen geschriebene satirische Wochenzeitung. Ihr Schöpfer und einziger Autor war Jeorjios Souris, einer der bedeutendsten satirischen Dichter des neuzeitigen Griechenlands, auch als zeitgenössischer Aristophanes bezeichnet.]folgende Verse an den deutschen „Oberdiplomaten“:
Und du, der Kanzler der infamen Deutschen,
du setzt Himmel und Erde gegen uns in Bewegung,
du, der Höllenhund, der nicht verrecken will,
du, der du jeden unsrer Häfen verrammelt hältst,
du, der du alle deine Kriegsschiffe in unsere Gewässer schickst,
weil du΄s so magst, weil du΄s so willst.
Und du, oh Kanzler und oller Mameluke,
du, der edelste Schläger des Westens,
du spielst wieder dein anrüchiges und schmutziges Spiel;
Mr. Gladstone, dem geht der Arsch auf Grundeis
und dein Gewicht, das spürt jedes Rückens Nacken –
aber die ausgleichende Gerechtigkeit, die wird΄s schon richten, dass du krepierst.
Die Episode von 1885–1886 hatte keinen Einfluss auf die generell positive Darstellung des Reiches, die durch die Hochzeit von Sophie, Prinzessin von Preußen, und Konstantin, dem griechischen Thronfolger, im Oktober 1889 deutlich verbessert wurde. Konstantins Verehelichung mit der Tochter von Kaiser Friedrich III., dem wichtigsten Unterstützer der Olympia-Ausgrabung des Deutschen Archäologischen Instituts, und Schwester des deutschen Kronprinzen Wilhelm II., schürte die Vermutung einer möglichen diplomatischen Distanzierung Griechenlands von den drei Schutzmächten und der Zuwendung zum Zweibund Deutschland-Donaumonarchie. In der Antwort des griechischen Parlaments auf die Rede der Krone anlässlich der Hochzeit des Thronfolgers hieß es, dass nun „die Hoffnung geboren ist, dass die Zugehörigkeit der Schwester des mächtigen deutschen Kaisers zur griechischen Dynastie dem Land [Griechenland] noch mehr positive und politisch relevante Sympathien seitens der großen deutschen Nation einbringen wird“;57Efimeris Syzitiseon Voulis, 15.10.1888, 9. bei einem Teil der Abgeordneten stieß diese Erklärung jedoch auf Widerstand. Obwohl solche Bedenken vorerst unbegründet waren, wurde die Presse nicht nur mit Berichten über die Anwesenheit des Kaisers in Griechenland überschwemmt, sondern auch mit Hofberichterstattungen über das Leben der Hohenzollern in Berlin, über die Liebes- und Treuebezeugungen ihrer Untertanen und sogar generell über den deutschen Alltag.
Veröffentlichungen über das Leben der zukünftigen Königin der Griechen erinnerten an die Hochzeit der byzantinischen Prinzessin Theophanu mit dem deutschen Kaiser Otto II.58Skordelis, 1889, 17. im 10. Jahrhundert; sie betonten nachdrücklich, dass der Name „Sophie/Sophia“ kein Zufall sein könne, da der Thronfolger Konstantin den Namen des letzten byzantinischen Kaisers trug und daher bestimmt war, als Sieger in Konstantinopel und in die Hagia Sophia zu ziehen.59Unbekannt, Keri, 14.10.1889.
Das griechische Volk reagierte darauf begeistert mit Briefen und Gedichten und drückte entweder den Wunsch gegenüber der Tochter des „Bruders (von Wilhelm) aus, sie möge mit Empathie [für die griechischen Interessen] sprechen“ oder drückte seine Erwartungen direkt dem Kaiser gegenüber aus.60Unbekannt, Keri, 11.12.1889.
Schließlich ist anzumerken, dass sich das positive Bild des Reiches allmählich in den schulischen Geschichtsbüchern widerspiegelte, verfasst unter bedeutender Mitwirkung des Historikers, Politikers und Universitätsprofessors Pavlos Karolidis. In seinem Werk unterstützte er nicht nur Bismarcks Politik, sondern engagierte sich auch systematisch für die Rehabilitation von Preußen, das sich zu Beginn des Jahrhunderts der Heiligen Allianz angeschlossen und gegen die aufständischen Griechen gestellt hatte.
Schlussfolgerungen
Griechenlands Interesse an Deutschland im öffentlichen Diskurs entstand durch Zwangslagen und durch die Suche der Griechen nach einem Staat, der ihnen als Vorbild dienen könnte – in einer Zeit, in der die bisherigen Schutzmächte Griechenland im Stich zu lassen schienen. Die feindselige Haltung der Briten nach den Morden in Dilesi, das Festhalten Russlands am Panslawismus und insbesondere Frankreichs Unterstützung der Hohen Pforte ließen viele Griechen in Richtung des Deutschen Kaiserreiches blicken, das sich für die griechischen Demütigungen während des Krimkrieges und während der Krise der Kretischen Frage 1866 zu rächen schien. Ich wage, ein Interpretationsschema vorzuschlagen: Wir sollten nach den Bahnen der ideologischen Verwandtschaft suchen, die die Anhänger der prorussischen Partei mit den Germanophilen verband, also die gemeinsamen Nenner Antiparlamentarismus, Militarismus, religiöser Eifer und politischer Messianismus. Noch bevor sich der slawisch-deutsche Konflikt manifestiert hatte, spielte die prorussische Zeitung Eon eine führende Rolle beim Aufzeigen des deutschen Weges, also der konservativen Revolution von oben, die Alternative zum liberaleren Vorschlag des britischen und französischen Modells. Es ist auch anzunehmen, dass die konservativsten Teile der griechischen Gesellschaft, die sich nach Russland orientierten, einen Bezugspunkt gesucht haben, als sie nach dem Russisch-Osmanischen Krieg 1877-1878 feststellten, dass St. Petersburg einseitig die Slawen unterstützte, die auf Makedonien Anspruch erhoben. Im Wesentlichen besetzte die Germanophilie im öffentlichen Diskurs den Zwischenraum zwischen der pro- und der antiwestlichen Strömung; die Germanophilen waren eher antiwestlich eingestellt, ohne dass sie in der prowestlichen Fraktion unterrepräsentiert waren. Obwohl Fragen der öffentlichen Verwaltung und der Bildungs- und Agrarpolitik auf der Tagesordnung standen, sollten wir keinen Zweifel daran hegen, dass sich die Debatte um das Kaiserreich in Griechenland seit seiner Gründung bis zur Niederlage im Ersten Weltkrieg auf zwei Hauptachsen bewegte: Armee und Monarchie, also die Mittel zur Erfüllung der Großen Idee. Schließlich konnte die Idee einer deutsch-griechischen Verständigung, um die Pläne von St. Petersburg auf dem Balkan zu vereiteln, im Königreich Griechenland nie richtig Fuß fassen; Berlin wollte sich nur ungern in einem Gebiet engagieren, über dessen Schicksal sich Russland und Österreich-Ungarn stritten, während das Regime der drei Schutzmächte Griechenlands keine Experimente erlaubte.