Griechische Neutralität und die Wahrnehmung Deutschlands in der griechischen öffentlichen Meinung zu Beginn des Ersten Weltkriegs

  • Veröffentlicht 27.01.21

Wie nahm Griechenland sein politisches System und wie die griechische Öffentlichkeit den geopolitischen Kontext und die Entwicklungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs wahr? Was führte hauptsächlich zum Wandel der öffentlichen Meinung? Worin unterschieden sich die Franzosen von den Deutschen? Ist die verbreitete Meinung, dass die Politik der griechischen Neutralität im Ersten Weltkrieg eine von oben gefällte strategische Entscheidung war, die ausschließlich auf den Einstellungen und Präferenzen König Konstantins (Lemonidou I, 2017) und eines Kreises von Vertretern der politischen Eliten, der Armee, des diplomatischen Korps und der Bürokratie beruhte, wie es die griechische Geschichtsschreibung (Leon, 1974; Loulos, 2018; Richter, 2018) darstellt, die einzig mögliche Annäherung an dieses Thema? Durchaus nicht, denn diese Einstellung könnte als nur eine von mehreren Dimensionen der griechischen Neutralitätspolitik betrachtet werden, insbesondere da die Nutzung der Archive, zumal der französischen und britischen, aber auch anderer Primärquellen wie der Presse (Papadimitriou, 1989, 425–434), mittlerweile eine Strömung der Unterstützung der Neutralität von unten offenbart. Die genannten Quellen heben diese Möglichkeiten als legitime Entscheidung aufgrund einer breiteren sozialen Wahrnehmung hervor. Gemäß den damaligen Quellen drückte die Neutralität die Zurückhaltung eines großen Teils der Gesellschaft und des Offizierskorps gegenüber einer neuen militärischen Verwicklung nach den Verlusten während der Balkankriege 1912-13 aus. Diesen Trend spiegelte auch die „Bewegung der Epistratoi“ von 1916 (griechisch: επίστρατοι/ Reservisten; Πανελλήνιος Σύνδεσμος Εφέδρων – Π.Σ.Ε.) wider. Das waren die im September 1915 im Hinblick auf den Kriegseintritt Bulgariens mobilisierten Reservisten auf Seiten der Mittelmächte. Sie wurden im Juli 1916 nach einem entsprechenden Ultimatum der Entente demobilisiert und gründeten anschließend im ganzen Land Organisationen, die dem König und seiner Politik treu ergeben waren. (Mavrogordatos, 1996) In welcher Verbindung stand schließlich dieser Unwille zur wachsenden Wahrnehmung der deutschen Macht, insbesondere nach der Entwicklung von Militäroperationen an der Westfront im Winter 1914/15, die das Image Deutschlands als disziplinierte und wirksame politische und militärische Macht festigte?

Inhalt

    Die Ausgangsthesen

    Zu Beginn des Krieges im August 1914 schien das Bündnis Griechenlands mit der Entente selbst für einen Teil der Presse, die den König unterstützte, eine Selbstverständlichkeit zu sein. Das geopolitische Argument der maritimen Übermacht erschien unwiderstehlich. Da war die Tradition der britischen Marineherrschaft im östlichen Mittelmeerraum, die sich in aufeinanderfolgenden Krisen wie der Don Pacifico-Affäre von 1850, dem Krimkrieg, der anglo-französischen Besetzung von Athen und Piräus 1854-1857, dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877-1878 und in der britischen Seeblockade Griechenlands 1885-1886 manifestiert hatte. Diese Neutralität wurde jedoch als eine vorübergehende Haltung betrachtet, solange bis Serbien, Griechenlands Verbündeter seit 1913, von einer Balkanmacht oder Griechenland selbst von einem Verbündeten der Mittelmächte angegriffen werden würde.1Hasiotis, 2014, 5–6. So schrieb die griechische Zeitung Skrip:

    Wir als Seenation wollen nicht die Besonnenheit aufgeben und es mit dem Mythos des Krebses halten, der das Meer verließ und an Land gleich zur Beute des Fuchses wurde, […] indem wir uns den europäischen Mächten anschließen [gemeint sind die Mittelmächte]; […] offensichtlich werden wir dann zur Beute unserer natürlichen Verbündeten, der Triple Entente, da keine ihrer Mächte uns auf unseren Notruf hin zur Hilfe eilen würde.2Anastasopoulos, 04.08.1914.

    Die verwendeten Begriffe hatten wahrscheinlich ihre Berechtigung. Die Mittelmächte wurden Europäische Mächte genannt, da sie sich im geografischen Zentrum des europäischen Kontinents befanden. Sie waren die Gegenspieler der Entente, die zweifelsohne Großmächte Kontinentaleuropas wie Russland und Frankreich in sich vereinte; für die griechische öffentliche Meinung wurde die Entente jedoch hauptsächlich von der Seemacht Großbritanniens geprägt. Anfang September 1914 wurde das Aufhalten des deutschen Vormarsches auf französischem Territorium vorerst als großer Sieg Frankreichs wahrgenommen. Wie der damalige Oberstleutnant [Anm. d. Üb.: und spätere Diktator] Ioannis Metaxas3Lemonidou II, 2017., ein enger Mitarbeiter des Königs, feststellte, war die griechische Öffentlichkeit von den französischen Erfolgen begeistert, denen er selbst jedoch Skepsis entgegenbrachte.4Christidis, 1952, 355–356. Er vermerkte: „Die Leute hier waren hingerissen von den Siegen der Franzosen.“ Er schätzte jedoch, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung zumindest potenziell Deutschland zugewandt war: „Es gibt aber auch eine große, schweigende und abwartende Gruppe, die Deutschland gegenüber durchaus nicht feindlich gesinnt ist.“5ebenda, 361.

    Grundelemente der Differenzierung der öffentlichen Meinung waren Mentalität und ideologische Ausrichtung. So stellte Metaxas fest: „Die Menschen haben sich ihrem eigenen Charakter nach positioniert. Die den Franzosen Wesensgleichen hielten es mit den Franzosen, die den Deutschen Wesensverwandten mit den Deutschen.“6ebenda, 361.

    Erstere, so glaubte Metaxas, „sind einander wenig verbunden, sondern undiszipliniert, egoistisch.“ Genau die entgegengesetzten Eigenschaften hätten laut Metaxas die Deutschen: „[…] Disziplin und Taktik führen zur Vereinigung aller Bemühungen für einen Zweck, zu Gehorsam, Glauben an den Eid, Opferbereitschaft […] und hoher Moral.“ Laut Metaxas „produziert der Individualismus künstlerische Nationen, nicht jedoch Nationen des Fortschritts und der Kultur. Im Gegenteil, Individualismus ist ein spalterisches Element.“7ebenda, 366-367.

    Die Zeitung Skrip, die sich mit Bedacht der Neutralitätspolitik zuordnete, argumentierte, dass sich „der beseelte, moralische Geist des französischen Volkes als stärker erwiesen habe“ als die deutsche Kriegsmaschinerie und die überlegenen deutschen Mittel. Dennoch wurde Deutschland nicht ausschließlich als ein potentes militärisches Land mit autoritärem Regierungssystem und entsprechender politischer Kultur wahrgenommen. „Aber man muss auch zugeben, dass Deutschland Unrecht angetan wird, wenn es als Personifizierung von Gewalt, Tyrannei und Despotismus dargestellt wird, weil es in der Tat eine hochzivilisierte Nation ist, eine große Stütze und grundlegender Garant des menschlichen Fortschritts.“ Obwohl es beim damaligen Stand der Militäroperationen leicht gewesen wäre, die deutsche Politik zu kritisieren, hatte diese Athener Zeitung davon Abstand genommen. In Bezug auf die Ursachen des europäischen Konflikts wies sie Deutschland nicht die Hauptschuld zu: „Wenn es [Deutschland] sich heute mit Frankreich konfrontiert sieht, so liegt dies an einem traurigen Zusammentreffen historisch bedingter Gründe, die die beiden Völker durch die Macht des Schicksals und der Bestimmung zur Auseinandersetzung gezwungen haben.“8Skrip, 02.09.1914.

    Es gab auch einen Vorbehalt gegenüber dem Verlauf der Militäroperationen. Das Aufhalten des deutschen Vormarsches war nicht unbedingt das Ende des Krieges; so wurde angefügt: „Wir wissen noch nicht, ob der Sieg der französischen Waffen endgültig ist.“

    Auch sollte betont werden, dass es neben den Befürwortern der Neutralität auch Anhänger von Venizelos gab – bedeutende Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker –, die eine deutsche Ausbildung genossen hatten oder deutschen ideologischen Tendenzen nahestanden. Unter ihnen waren hochkarätige Politiker wie Alexandros Papanastasiou, der Schriftsteller Konstantinos Chatzopoulos, die Professoren Thrasývoulos Petimezas, Nikolaos Kitsikis und Konstantinos Triantafyllopoulos, der ehemalige Generalsekretär des Wirtschaftsministeriums Alexandros Mylonas, der später eine politische Karriere einschlug, sowie der namhafte Ökonom und Leiter des Wirtschaftsministeriums Kyriakos Varvaresos, der später Bankier wurde. Sie alle hätten sich für die Politik der Entente entschieden, da sie das Urteil von Venizelos in Bezug auf die nationalen Interessen teilten – auch wenn sie die Konfrontation der Reformisten mit den konservativen Kräften im Rahmen der griechischen Politik berücksichtigen mussten.9Kyrtsis, 2020.

    Im Gegensatz dazu war die Sicht einer Zeitung wie Empros auf die ideologische Dimension der Konfrontation auf französischem Boden klarer: „Sicher ist die Vernichtung und Versklavung dieses edlen Volkes, das sich mehr als jedes andere für die Freiheit des Individuums eingesetzt, dafür gekämpft und die Menschenrechte zur Doktrin des politischen und sozialen Glaubens erhoben hat, nicht vom Schicksal gewollt.“10Empros, 02.09.1914.

    In den diversen Analysen gab es jedoch auch das Element des Realismus. Im Mittelpunkt stand das Abwägen der Siegeschancen jeder Koalition. Hierbei wurde nicht geprüft, ob die grundsätzlichen Annahmen, die Ausführung der Gegebenheiten und die Schlussfolgerungen korrekt waren; es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass diese Gewichtung, auch wenn es sich dabei nur um eine Vermutung handelte, den Standpunkt beeinflusste. Auf Ebene der Eliten wurden diese Bewertungen durch die grundlegende eigene Ausrichtung beeinflusst. Charakteristisch ist ein Gespräch zwischen dem Premierminister Eleftherios Venizelos,11Lemonidou III, 2017. Befürworter der Entente und insbesondere Großbritanniens, auf der einen Seite, und dem Generalstabschef Dousmanis sowie dem Oberstleutnant Metaxas, dem wichtigsten Stabsoffizier dieser Zeit. Beide Offiziere gehörten zum inneren Kreis von König Konstantin und orientierten sich an Deutschland. Dieses Gespräch wird uns von Metaxas überliefert und fand wahrscheinlich am 22. September 1914 statt. Venizelos hatte die Offiziere um ihre Einschätzung des Kriegsausgangs gebeten. Die Antworten von Dousmanis und Metaxas waren zurückhaltend, sie sind in der Aussage von Metaxas zusammengefasst: „Deutschland wird nicht besiegt werden.“12Christidis, 1952, 318. Dies bedeutete jedoch nicht, dass es keine Zweifel gab. Sowohl im August als auch im September, zu einer Zeit also, als Zweifel über das Vermögen der deutschen Streitkräfte, der französischen Gegenoffensive standzuhalten, aufgekommen waren, traf sich Metaxas des Öfteren mit Falkenhausen, dem deutschen Militärattache in Athen. Dieser versicherte ihm wiederholt, dass die Operationen für Deutschland gut liefen, Metaxas hatte jedoch, ohne große Zweifel an dieser Ausführung zu hegen, Vorbehalte bis zur Klärung der Vorgänge.13Christidis, 1952, 362.

    Grundlage der Neutralitätspolitik war die Abschätzung der Kräftekorrelation im Dunstkreis von König Konstantin und die Beurteilung des Operationsverlaufs.14Kennedy, 1989, 249–354. Metaxas ging davon aus, dass die Deutschen die Franzosen besiegen würden, ohne jedoch ihren Widerstand vollständig brechen zu können. Danach würden sie sich im Osten gegen die Russen wenden. Auch hier ging er davon aus, dass sich die Deutschen durchsetzen würden, jedoch auch diesmal, ohne den russischen Widerstand vollständig brechen zu können – „wegen der Weite des Landes“.

    Daher würden sich die Deutschen in den Kämpfen zu Lande durchsetzen, würden aber geschwächt daraus hervorgehen, ohne dass ihre Gegner vollständig besiegt wären. Großbritannien würde sich aber auf der See völlig durchsetzen. In einer direkten Konfrontation mit den Briten würde Deutschland verlieren; das Verharren der deutschen Flotte in ihren sicheren Stützpunkten, würde Deutschland eine Seeblockade einbringen. Auf diese Weise könnte Großbritannien seine Bedingungen diktieren; wenn sie nicht völlig unerträglich wären, müsste Deutschland sie akzeptieren. In diesem Fall könne er, Metaxas, die Auswirkungen auf Griechenland nicht beurteilen. Aus dieser Analyse geht hervor, dass selbst Militärs, die wie Metaxas, Deutschland und seine militärischen Fähigkeiten bewunderten, Großbritanniens Seemacht überschätzten und als überlegen einstuften.15Christidis, 1952, 336-338.

    Diese Mischung aus Glauben und Zweifel war auch bei den Anhängern der Entente verbreitet. In ihren Augen war die britische Stärke von größter Bedeutung. Als das britische Parlament die Mobilisierung von mehr als 1,5 Millionen Männern mit dem Ziel genehmigte, Bodentruppen nach Frankreich zu entsenden, stellte Empros Anfang September fest: Großbritannien „droht nicht mehr nur. Es sagt den Kriegsausgang mit Sicherheit voraus. Es spricht nicht von einem zwanzigjährigen Krieg. Das wäre nur der Fall, wenn Deutschland bei den Operationen zu Lande […] die Oberhand behalten würde. Die Wahrheit ist, dass [Großbritannien] sich entschieden hat […], sich aktiver […] auch am Kampf zu Lande zu beteiligen.“ Die Schlussfolgerung lautete: „Die Deutschen können nicht so viele Feinde gleichzeitig besiegen.“16„Die britische Admiralität zum gegenwärtigen Krieg“, Empros, 01.09.1914.

    Die Verlängerung des Krieges und das Neutralitätsargument

    Mitte Dezember 1914 festigte sich bei den Unterstützern der Entente die Wahrnehmung der geostrategischen Bedeutung und die damit verbundene Erwartung ihres Sieges. In den einschlägigen Veröffentlichungen ist auch eine bemerkenswerte Fähigkeit auszumachen, Entwicklungen an den Kriegsfronten zu erfassen, sowie die Erkenntnis, dass die militärische Konfrontation andauern würde, da die militärischen Operationen in die von Stillstand geprägte Phase des Grabenkriegs eingetreten waren.17Lemonidou, 2020, 35. So bemerkte Empros: „Die Ereignisse des Krieges schreiten dermaßen monoton voran und in den letzten drei Monaten hat sich dermaßen wenig an der Westfront verändert, dass jede Schlacht, die mit dem Scheitern eines neuen deutschen Angriffs oder der Einnahme von 150 Metern Gelände durch die Alliierten enden wird, nicht mehr von Interesse ist.“ Erwähnt wurde auch, dass es „[…] auf beiden Seiten die Gewissheit gibt, dass hinter ihnen Millionen von Menschen und unerschöpfliche Ressourcen zur Verfügung stehen, […] so dass es [gemeint ist: das Ende des Krieges] in weiter Ferne liegt.“

    Die Kriegsverlängerung bedeute dieser Quelle zufolge „eine schlechte Prognose für die Deutschen, da die Alliierten somit Zeit hätten, „ihre verheerenden Kampfmittel“ zu entfalten. Der Unterschied lag in den Ressourcen, die die Entente abrufen konnte, während Deutschland faktisch allein dastand: „Alles, was Deutschland bereitstellt, ob Ressourcen oder Männer, muss von Deutschland selbst aufgebracht werden.“ Im Gegensatz dazu verfügten „die Alliierten […] über eine unerschöpfliche Fülle an Mitteln in Afrika, Asien und der Neuen Welt. […] Russland und England sind nicht einfach nur irgendwelche Staaten. Sie sind unbesiegbare Elemente. Das eine, Russland, als Landmacht, das andere, England, als Seemacht.“ Deutschlands Hoffnungen auf den Sieg bestanden lediglich bis zum Frühjahr 1915.18Εmpros, 13.12.1914.

    Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Diskussion über die Teilnahme Griechenlands am Krieg nicht mit den wirtschaftlichen Aspekten der Zeit in Verbindung gebracht wurde, obwohl die Presse über die Haushaltslage des Landes berichtete. Auf der Parlamentssitzung vom 19. Dezember räumte die Regierungsseite ein, dass die Verwaltung 1913 und 1914 ein Defizit hinterlassen habe, das entweder durch ein Darlehen oder durch Sondersteuern gedeckt werden müsste. In der Tat hatte Griechenland die Last der Balkankriege auf sich genommen und anschließend seine Staatsstruktur auf die neuen Länder übertragen. [Anm. d. Üb.: Die sogenannten neuen Länder waren die Gebiete, die dem griechischen Staat nach den Balkankriegen durch den Vertrag von Bukarest (28.07.1913) zugeschlagen wurden] Tatsächlich hatte Griechenland bereits auf dem französischen Geldmarkt einen Kredit mit einem ziemlich hohen Zinssatz aufgenommen.19Kostis, 2003, 93–95. Die Opposition beäugte die Defizite äußerst kritisch, und wir dürfen nicht vergessen, dass die Währung nach damaliger Sicht durch Gold oder andere Edelmetalle gedeckt sein musste und dass der Zwangsumlauf als Abweichung von der wirtschaftlichen und geldpolitischen Lehrmeinung als notwendiges Übel betrachtet wurde. Die Opposition betrachtete die Unfähigkeit der Regierung als gegeben, sich aufgrund des Krieges einen Kredit an den internationalen Finanzmarkt zu sichern; eine Einschätzung, die die Regierung nicht teilte.20Skrip, 20.12.1914.

    Auf jeden Fall fand die öffentliche Debatte bereits Anfang Dezember 1914 in einem klareren Rahmen statt. Bis dahin war eine Tendenz erkennbar, substanzielle Probleme zu vermeiden, insbesondere seitens der Neutralitätsbefürworter. Zu dieser Veränderung trugen die diplomatischen Aktivitäten in Bezug auf Bulgarien und die Haltung Sofias selbst zum Krieg bei. Tatsächlich war es so, dass der Bund des Osmanischen Reiches mit den Mittelmächten als gegeben galt. Die Haltungsfrage der Neutürken wurde zwar von den Athener Zeitungen sicherlich verfolgt, aber die bulgarische Politik und die Kontakte der Entente mit Sofia wurden in viel größerem Umfang und wahrscheinlich viel intensiver behandelt, weil dabei die Revisionsfrage des Territorialstatus, die aus den Balkankriegen hervorgegangen war, direkt aufgeworfen wurde. So schrieb Skrip am 1. Dezember, dass Bulgarien, „dieses besiegte, militärisch gelähmte und finanziell ausgelaugte Land es verstanden hat, auf dem Balkan die Rolle eines Hegemonialstaates zu spielen.“ Die Zeitung behauptete, Sofia habe verstanden, dass nicht derjenige als Gewinner dastehen würde, der sich beeile, sich einem der beiden Lager anzuschließen, sondern jener, der abwarten könne, um Hilfe oder sogar nur um freundliche Neutralität gebeten zu werden.

    Im Falle Bulgariens schien die Triple Entente laut Medienberichten „eindeutige und ausdrückliche Versprechungen zur territorialen Befriedigung statt zur Neutralität“ gemacht zu haben. Bulgarien, so die Zeitung weiter, werde neutral bleiben, solange sich der Krieg nicht eindeutig zugunsten der Mittelmächte neige. Bulgarien wurde als konkreter territorialer Zugewinn Serbisch-Mazedonien zugesprochen und auch die Verlegung der zwischenstaatlichen Trennlinie nach Enos/Enez – Midia/Kıyıköy in Thrakien, einschließlich Adrianoupolis/Edirne; dazu meinte Skrip: „… und wer weiß, was noch, das nicht opportun ist, benannt zu werden.“ Die Anspielung betraf wahrscheinlich die Stadt Kavala und ihr Hinterland, die Anfang 1915 im Hinblick auf die Bemühungen der Entente, Griechenland zur Teilnahme am Dardanellenfeldzug zu bewegen, im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen sollte. Skrip stellte die Frage, was Griechenland als Gegengewicht erreicht hätte, da Venizelos im August 1914 voreilig erklärt hatte, sein Land wolle sich der Entente anschließen. Seine Politik, fügte die Zeitung hinzu, akzeptierte im Wesentlichen die Abtretung Thrakiens mit seiner gesamten griechischen Bevölkerung an Bulgarien. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass der Friede von Bukarest 1913 Ostmakedonien Griechenland und Westthrakien Bulgarien zugesprochen hatte, das später Griechenland zugeschlagen wurde. Es sollte auch bedacht werden, dass Venizelos im Rahmen einer parlamentarischen Debatte im März 1913, während der Zweite Balkankrieg noch in vollem Gange war, in seinem Bestreben, Komplikationen mit Bulgarien in Makedonien und Thessaloniki zu vermeiden, was in diesem Moment sein Hauptaugenmerk war, erklärt hatte, dass er das Angebot selbst dann ablehnen würde, wenn man ihm Thrakien anbieten würde, weil Griechenland der Halt fehle, so dass eine weitere Expansion seine strategische Verwundbarkeit noch steigern würde.

    Der Zeitungsartikel schloss mit einer Feststellung, die die politische Krise vom Februar 1915 beschrieb, das Ergebnis einer Meinungsverschiedenheit zwischen König und Premierminister war. Dort heißt es: „[…] Die Nation wird von einem großen Unglück bedroht sein, sollten nicht rechtzeitig solidere Hände die Zügel des Staates übernehmen […]“.21Skrip, 01.12.1914.

    Das bezog sich auf den militärischen Eingriff von 1909, als die alten politischen Eliten zugunsten von Venizelos und der von ihm geführten Partei der Liberalen von der Macht verdrängt wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber die alten Eliten, die die neue konservative Fraktion der griechischen Politik ausmachen würden, es jedoch nicht geschafft, für Venizelos und die Liberalen eine Gefahr zu werden.

    Es wäre die Intervention der Krone notwendig gewesen, um ein Gegengewicht zu Venizelos herzustellen und eine konträre politische Fraktion zu bilden.22Diamantopoulos, 2017; Mavrogordatos, 2015; Rizas, 2019. Der Propagandakrieg hatte daher durchaus politische Substanz und politisches Gewicht, es ging um mehr als nur darum, die öffentliche Meinung in eine bestimmte politische Richtung zu lenken. Das zeigte auch, dass die griechische „Nationale Spaltung“ aufgrund des innenpolitischen Hintergrunds von Anfang an eine Dimension hatte, die bewirkte, dass sich die Ansichten zwischen Venizelos und den Entente-Anhängern einerseits und dem König und den Anhängern der Neutralität andererseits gegenseitig ausschlossen.

    Zu dieser Zeit wurden Skrips Berichte über Deutschland immer positiver, und vor allem die prodeutsche Parteinahme der Zeitung war klar und offen. In diesen Stellungnahmen wurde nach den Schnittpunkten der griechischen Interessen und der deutschen Politik gesucht. So wurde am 6. Dezember auf deutsche Interventionen zugunsten griechischer Interessen verwiesen. Die erste betraf die Vermittlung des deutschen Kaisers bei den Verhandlungen zum Abschluss des Friedens von Bukarest (10. August 1913), wonach Kavala und Ostmakedonien an Griechenland abgetreten wurden. Die zweite deutsche Intervention betraf den Fall eines griechischen Unteroffiziers, des Maats Frangakis, der in der griechischen Botschaft an der Hohen Pforte diente und von einem Istanbuler Militärgericht zum Tode verurteilt worden war. Die deutsche Vermittlung führte zur Aussetzung der Urteilsvollstreckung und zu Frangakis´ Abschiebung. Aus politischer Sicht war vor allem die Bemerkung der Zeitung von Bedeutung, dass Deutschland eine „Großmacht“ sei, „die bei ihrer internationalen Karriere gewichtigen Bahnen folge“ und dass sie die Angriffe eines Teils der Athener Presse, die der Venizelos-Regierung nahe stand, einfach ignoriert hatte. Dazu sollte betont werden, dass sich Skrip auf „Fehlgriffe einer griechischen Übergangsregierung“ bezog.23Skrip, 06.12.1914.

    Mit anderen Worten wurde indirekt die Frage eines notwendigen Regierungswechsels aufgeworfen und auf eine Verfassungsfrage verwiesen. Tatsächlich, würde man die Regierung, die das Vertrauen des Parlaments hatte, als temporär betrachteten, dann müsste natürlich – so wurde erst einmal indirekt und noch nicht ausdrücklich gefordert – ein anderes Machtzentrum die dauerhaften griechischen Interessen bestimmen, offensichtlich die Krone.

    Im Januar 1915, als nunmehr die Frage nach der griechischen Beteiligung am Krieg mit Nachdruck aufgeworfen worden war, wiesen die Anhänger der Neutralität auf die militärische Stärke der Mittelmächte hin, insbesondere angesichts des Angriffs auf die serbische Front: „Der Angriff der deutsch-österreichischen Truppen […] verspricht geradezu apokalyptisch zu werden […]. Der Plan des deutschen Generalstabs zielt auf die Vernichtung Serbiens ab.“ Der Angriff sollte mit „blitzartiger Entschiedenheit“ stattfinden.24Skrip, 12.01.1915.

    Das Entstehen einer Neutralitätsbewegung

    Wie ein britischer Diplomat ein Jahrzehnt nach dem Ausbruch der griechischen „Nationalen Spaltung“ mit schonungsloser Ehrlichkeit Anfang 1915 vermerkte, also zum Zeitpunkt, als die Entente Cordiale, das „herzliche Einverständnis“, den Wunsch äußerte, Griechenland möge in den Krieg eintreten, war die erste Begeisterung für das Bündnis etwas zurückgegangen, teils wegen der militärischen Erfolge Deutschlands und der deutschen Propaganda, teils aufgrund der eigenen Wahrnehmung und des Einflusses von König Konstantin. In derselben britischen Quelle wird außerdem angemerkt, dass man in der griechischen Öffentlichkeit auf Würdigungen der deutschen militärischen Fähigkeiten stieß. Nur wenige Griechen glaubten, dass Deutschland besiegt werden könne. In diesem Zusammenhang bestand allgemein der Wunsch, eine abwartende Haltung beizubehalten, vor allem für den hypothetischen Fall, dass die Entente doch Erfolge erzielen könnte, was 1915 jedoch absolut noch nicht absehbar war.25Foreign Office (FO) 371/11334, C 3257.

    Zu Beginn des Jahres 1915 zeichneten sich, unter Mitwirkung militärischer und diplomatischer Entwicklungen, detailliertere Einschätzungen zu den beiden gegensätzlichen geopolitischen Alternativen ab – das Bündnis mit der Entente oder die Einhaltung der von den Mittelmächten favorisierten Neutralität. Es handelte sich durchaus nicht nur um eine opportunistische Einschätzung; sie war keineswegs unerheblich für einen kleinen Staat, der die Entwicklungsaussichten und Siegeschancen jeder Koalition abzuwägen hatte. Es war ein tiefer gehender geopolitischer Ausdruck, der über ideologische Präferenzen und kulturelle Einstellungen hinausging. Der Teil, der zur Entente Cordiale tendierte, kam zu folgendem Schluss, aufgezeichnet in den Spalten der Athener Zeitung Empros anlässlich des Seegefechts bei Helgoland: „Der Seekrieg […] macht deutlich, dass die Vorherrschaft nicht auf deutscher Seite liegt […]. Geschwindigkeit und Feuerkraft bleiben im Kampf zur See immer noch die ausschlaggebenden Elemente.“ Insbesondere in Bezug auf die neuen Waffen, die dieser Krieg hervorgebracht hatte, wurde festgestellt, dass: „[…] U-Boote wie auch Flugzeuge im Moment nicht mehr als eine Zugabe darstellen […]. Unter solchen Bedingungen scheint der Europäische Krieg jedoch bisher nicht dazu bestimmt zu sein, die neuesten Schiffbau- und Marinetaktiken zu Fall zu bringen […]. Dies ist vielleicht auch für Griechenland von besonderer Bedeutung.“ Die Schlussfolgerung war, dass das Land seine Einstellung nicht ändern sollte, da Großbritannien auf See weiterhin seine Souveränität bewahrte.26Empros, 13.01.1915.

    Fast zur gleichen Zeit, als die Frage der Teilnahme Griechenlands am Dardanellenfeldzug bereits aufgeworfen worden war, brachten Befürworter der Neutralität ein weiteres Argument vor: Die Bedrohung durch den Panslawismus, der die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Deutschland verlangte. Die panslawische Bedrohung beruhte auf Russlands führender Rolle in der Entente und war von zentraler Bedeutung für die geopolitische Analyse im Kreis um König Konstantin, da St. Petersburg, das im Falle eines Entente-Sieges die Kontrolle über die Seestraße abgesichert hätte, eine eventuelle Expansion Griechenlands Richtung Konstantinopel/Istanbul, dem Herzstück der griechischen „Megali Idea“, der Großen Idee, von vornherein ausgeschlossen hatte. Im Gegensatz zu Venizelos, den die Vision der griechischen Expansion nach Kleinasien faszinierte, war das Hauptanliegen für Konstantin der griechische Vormarsch in Richtung Konstantinopel. Was machte diese geopolitische Lesart, die die panslawische Gefahr betonte, fraglich? Russlands Bündnis mit Großbritannien im Jahr 1907. Großbritannien gab damit die Doktrin der Integrität des Osmanischen Reiches auf, die die britische Strategie seit 1815 bestimmt hatte, mit dem Ziel, die russische Unterstützung gegen Deutschland zu sichern. In diesem Zusammenhang erkannte Großbritannien Russlands Bestreben nach Kontrolle der Meeresenge an. Der anschließende Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite der Mittelmächte am 1. November 1914 besiegelte unwiderruflich diese bedeutende Umschichtung. Die Feststellung der primären Bedeutung der panslawischen Bedrohung rief eine gewisse Lesart der Geschichte der griechischen Revolution und infolgedessen auch des griechischen Staates hervor: „Die Bedrohung des Panslawismus ist der Hauptgrund, der einzige Grund für die Aufrechterhaltung der türkischen Tyrannei in Europa“, stellte Skrip fest.

    Die Bedrohung durch den Panslawismus ist der Grund, warum sich einige Mächte anfangs gegen die Gründung des griechischen Staates und danach gegen dessen Erweiterung ausgesprochen hatten […]. Und wir müssen erkennen: Wenn jemand Interesse daran hat, dass Deutschland aus diesem schrecklichen Kampf nicht am Boden zerstört hervorgeht, so ist das Griechenland; denn wenn Deutschland vernichtet ist, wird auch der letzte Damm gegen die panslawische Flut niedergerissen und alles bedroht sein, Freiheit und Kultur werden darin ertrinken.27Skrip, 31.01.1915.

    Ähnliche Feststellungen wie der oben erwähnte britische Diplomat in Hinblick auf die Verschiebung der griechischen öffentlichen Meinung machte bereits 1915 auch der französische Militärattache Oberstleutnant Braquet. Er hatte die Tendenzen der griechischen Eliten im Januar 1915 bereits bewertet, noch bevor die Meinungsverschiedenheiten eine tiefe Kluft zwischen den beiden Lagern geschlagen hatten. Griechenland nahm Großbritannien an erster Stelle als Seemacht wahr und erst danach als Wiege des Parlamentarismus; Frankreichs Kapital waren Kultur und Weltanschauung, der Wettstreit mit Deutschland spielte sich weitgehend in diesen Bereichen ab. Braquet merkte an, dass der königliche Hof nun germanophile Tendenzen zeige. Die deutsche Propaganda trug mit Beharrlichkeit und methodischer Vorgehensweise tendenziell Früchte. Die öffentliche Meinung, fügte der französische Militärattache hinzu, war im Allgemeinen immer noch frankophil; das war, was den französischen Offizier in erster Linie interessierte. Aber es gab auch keine Germanophobie mehr – in dem Punkt war die deutsche Propaganda erfolgreich gewesen. Es gab sogar ein Element, das Bewunderung bei der griechischen Öffentlichkeit auslöste, es war die „deutsche Organisation“ („l‘ organization allemande“). Dieser „neue Geist“ tauchte auch in der Presse auf. Der französische Militärattache bemerkte besorgt, dass zwei oder drei Athener Blätter seiner Meinung nach von den Deutschen „gekauft“ seien. Es habe immer schon eine „deutsche“ Fraktion in Athen gegeben, die jedoch bis dahin nur begrenzt war. Aber jetzt würden sich die Dinge ändern, diese Fraktion hätte Fortschritte gemacht. Königin Sophia, die Schwester des deutschen Kaisers, hatte bereits eine eher „militante“ Haltung eingenommen. Die königliche Familie hegte natürlich eine Vielzahl von Gefühlen und hatte Präferenzen, die hauptsächlich auf die royalen Eheschließungen untereinander und die daraus resultierenden Bindungen zurückzuführen waren: Prinz Nikolaus, der Bruder des Königs, orientierte sich an Russland, die anderen Brüder des Königs, die Prinzen Andreas und Christoph, an Großbritannien. Darüber hinaus wurde explizit der Thronnachfolger Georg erwähnt. Dieser Hinweis ist interessant, weil in der Literatur allgemein behauptet wird, dass der spätere König Georg II. die Ansichten seines Vaters König Konstantin übernommen habe und dass seine Orientierung an Großbritannien das Ergebnis der Niederlage Deutschlands im Jahr 1918 und seine Erfahrungen mit der Vertreibung Konstantins und dem Exil der königlichen Familie gewesen sei. Der französische Militärattache notierte jedoch bereits Anfang 1915, dass Georg deutlich erklärt habe, den Deutschen nicht nahezustehen. Im Grunde sei er „sehr englisch“, fügte der französische Oberstleutnant hinzu. Dasselbe galt auch für seinen Bruder, Prinz Alexander, König in den Jahren 1917–20, und seine Schwester, Prinzessin Elena. Braquet betonte jedoch, dass all das einem Tiefgang entbehre, und damit hatte er wahrscheinlich sogar Recht. Schließlich gab Konstantin in der royalen Familie den Ton an. Auf jeden Fall galt, so meinte Braquet, wie auch immer, im Prinzenkreis die eventuell vorhandene Sympathie mehr der Entente allgemein und nicht unbedingt Frankreich.

    Dieser Unmut war zu diesem Zeitpunkt ein Indikator der Wahrnehmung einer gewissen französischen Einzigartigkeit seitens französischer Verantwortlicher und Staatsdiener. Denn Frankreich war damals das einzige europäische Land, das keine Monarchie hatte, sondern demokratisch war. Das strahlte natürlich zurück und spiegelte sich in der Haltung des in Griechenland dienenden französischen Militärs wider, in Athen die von Braquet genauso wie in Thessaloniki die von General Sarrail, der zum linken politischen Flügel der Dritten Französischen Republik gehörte. Das war aber die allgemeine französische Politik, die sich 1915-1917 ohne Rücksicht auf dynastische Bindungen entwickelte, anders als es bei Großbritannien und Russland der Fall war, deren Politik bis zum Frühjahr 1917 noch stark davon beeinflusst wurde. Hier soll auch auf ein Versäumnis von Braquet hingewiesen werden, das vielleicht nicht unbedeutend war. Es betraf den jüngeren Bruder von König Konstantin, Prinz Georg, der als Gatte von Marie Bonaparte Beziehungen zu Frankreich pflegte und im Frühjahr 1915 auch eine diplomatische Rolle als Gesandter Athens in Paris spielen sollte. Dass ein Verweis auf seine Person ausblieb, kann vielleicht durch die Tatsache erklärt werden, dass seine Verbindung zu Frankreich keine hochherrschaftliche und damit auch keine direkte zum französischen Staat war, sondern eher eine Verbundenheit mit dem Land und seiner Kultur im Allgemeinen. Mithin war Braquet 1915 noch der Ansicht, dass der Verlauf der Ereignisse momentan nicht besorgniserregend sei.

    Frankreichs Beziehungen zu Griechenland waren „tiefgreifend“. Wenn die Unsicherheit allerdings anhielte, wäre der Optimismus jedoch nicht mehr gerechtfertigt. Tatsächlich wies Braquet auf einen Aspekt hin, der nicht unerheblich war: Sechs Monate zuvor, also zu Beginn des europäischen Konflikts im August 1914, erwogen die Griechen ohne besonderen Unmut die Möglichkeit eines Kriegseintritts an der Seite der Entente. Diese Tendenzen schwächten sich jedoch allmählich ab und waren nun einer klaren pazifistischen Haltung gewichen. Beim Militär beschränkte sich die prodeutsche Haltung auf den Generalstab, dessen Offiziere fast alle an der Preußischen Kriegsakademie in Berlin ausgebildet worden waren. Exemplarisch sei hier Metaxas genannt. Im Gegensatz dazu hegte keiner der in Frankreich ausgebildeten Offiziere prodeutsche Tendenzen. Diese Situation spiegelte die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit wider, als die Regierung der Liberalen nach der militärischen Intervention von 1909 die Umstrukturierung und Ausbildung der griechischen Armee einer französischen Mission übertragen hatte, entgegen der Ansichten des damaligen Thronfolgers Kronprinz Konstantin, der zweifellos einer deutschen Ausbildung zugewandt war. Braquets Hinweis auf die große Bedeutung von Organisation und Kultur als ausschlaggebende Elemente zur Wahl der Anschauung und der militärischen Zugehörigkeit der Eliten im Ersten Weltkrieg war daher grundlegend. Das Gros der Offiziere, behauptete Braquet, schien die frankophilen Tendenzen der öffentlichen Meinung zu teilen. Aber die Zahl der Germanophilen wuchs.

    Es gab auch Anzeichen dafür, dass in den Reihen der Offiziere eine abwartende Haltung einsetzte. Die Offiziere waren der Ansicht, dass ihnen nach den Balkankriegen eine Pause gegönnt sein müsse. Wenn sie wieder zu kämpfen hätten, müsste das unter äußerst günstigen Bedingungen geschehen. Die territorialen Aussichten waren zu diesem Zeitpunkt nicht klar umrissen und stellten daher keinen starken Anreiz für einen Kriegseintritt dar.28Μinistere des Αffaires Εtrangeres (MAE), 244. Diese Tendenz war primär nicht auf politische Orientierung, Einflussnahme oder Propaganda zurückzuführen. Die Tendenz, einen Militäreinsatz zu vermeiden, war bereits im September 1913 offensichtlich, als sich der Stab des Königs mit der weit verbreiteten Forderung nach einer raschen Demobilisierung der Reservisten konfrontiert sah.29Christidis, 1952, 229.

    Alles in allem zeigen die verfügbaren Quellen, dass bereits Anfang 1915 die Neutralität in der griechischen Öffentlichkeit an Boden gewann. Diese Tendenz war nicht nur auf die Einstellung der Krone und der sich an Deutschland orientierenden militärischen, diplomatischen und politischen Kreise zurückzuführen, sondern auch auf eine allmähliche Verschiebung der Wahrnehmung von Militär und öffentlicher Meinung. Anfang 1915 erhielt die Neutralität mehr Zustimmung, verließ den engen Kreis einer gesellschaftlichen Elite und stand auf einer breiteren Basis. Die Neutralitätsanhänger waren hinsichtlich der militärischen Beteiligung in hohem Maße zurückhaltend, schätzten tendenziell die deutsche Militärmacht und nahmen Deutschland allgemein als Vertreter von Disziplin, Effizienz und Kultur wahr.

    Zusammenfassung

    Die Politik der Neutralität im Ersten Weltkrieg wird in der griechischen Geschichtsschreibung tendenziell als strategische Entscheidung von oben dargestellt, was ausschließlich der Einstellung und Präferenz König Konstantins und eines ihm nahestehenden Kreises entsprach. Mittlerweile offenbart jedoch die Auswertung der Archive und anderer Primärquellen wie der Presse eine Dimension der Unterstützung der Neutralität von unten – und unterstreicht eine breitere soziale Wahrnehmung als legitime Wahl. Dies scheint ab dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Anfang des Jahres 1915 so gewesen zu sein, als die Entente angesichts des Dardanellenfeldzugs Griechenland den Eintritt in den Krieg nahelegte.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Athanassios Tsingas

    Einzelnachweise

    • 1
      Hasiotis, 2014, 5–6.
    • 2
      Anastasopoulos, 04.08.1914.
    • 3
      Lemonidou II, 2017.
    • 4
      Christidis, 1952, 355–356.
    • 5
      ebenda, 361.
    • 6
      ebenda, 361.
    • 7
      ebenda, 366-367.
    • 8
      Skrip, 02.09.1914.
    • 9
      Kyrtsis, 2020.
    • 10
      Empros, 02.09.1914.
    • 11
      Lemonidou III, 2017.
    • 12
      Christidis, 1952, 318.
    • 13
      Christidis, 1952, 362.
    • 14
      Kennedy, 1989, 249–354.
    • 15
      Christidis, 1952, 336-338.
    • 16
      „Die britische Admiralität zum gegenwärtigen Krieg“, Empros, 01.09.1914.
    • 17
      Lemonidou, 2020, 35.
    • 18
      Εmpros, 13.12.1914.
    • 19
      Kostis, 2003, 93–95.
    • 20
      Skrip, 20.12.1914.
    • 21
      Skrip, 01.12.1914.
    • 22
      Diamantopoulos, 2017; Mavrogordatos, 2015; Rizas, 2019.
    • 23
      Skrip, 06.12.1914.
    • 24
      Skrip, 12.01.1915.
    • 25
      Foreign Office (FO) 371/11334, C 3257.
    • 26
      Empros, 13.01.1915.
    • 27
      Skrip, 31.01.1915.
    • 28
      Μinistere des Αffaires Εtrangeres (MAE), 244.
    • 29
      Christidis, 1952, 229.

    Verwendete Literatur

    Zitierweise

    Sotirios Rizas: «Griechische Neutralität und die Wahrnehmung Deutschlands in der griechischen öffentlichen Meinung zu Beginn des Ersten Weltkriegs», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 27.01.21, URI : https://comdeg.eu/essay/101544/.