Historiographische Ausgangslage
Die Emphase, die man auf die Bedeutung bayerischer Präsenz während der Regierungszeit König Ottos (1833-62) vor allem in den Jahren bis zum Verfassungswechsel von 1843/44 und ebenso auf den damit zusammenhängenden staatlichen Etablierungsprozess samt Transfer kultureller Vorbilder gelegt hat, war durchaus plausibel. Wiewohl im 19. Jahrhundert für Griechenland von offenkundig erheblicher Bedeutung, blieb im Gegensatz dazu von der Forschung ein weiterer Prozess vergleichsweise wenig beachtet, der aus den Erfahrungen resultierte, die sich viele Griechen im deutschsprachigen Raum angeeignet hatten. Insbesondere die Studienzeit vieler junger Leute an deutschen Universitäten, deren Eltern zu den herausragenden Vertretern der politisch, sozial, wirtschaftlich und geistig profilierten Elite des neugegründeten Staates zählten, sollte als bestimmend substantieller Faktor bei der Heranbildung der Mentalität und kulturellen bzw. ideologischen Orientierung eines großen Teils der Führungsschicht der griechischen Gesellschaft wahrgenommen werden – und zwar in einem Zeithorizont, der bei weitem über die ottonische Epoche hinausgeht. Seit den Reformen, die Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts in Preußen eingeführt hatte, genoss die deutsche Universitätsausbildung in ganz Europa hohes Ansehen, und die Staaten des europäischen Festlands, Griechenland eingeschlossen, sahen im Humboldtschen Erziehungsideal und vor allem in der 1809 gegründeten Berliner Universität als Institut, das dieses Ideal verkörperte, ein Vorbild für die Organisation ihrer eigenen Universitäten.
In einem 1979 veröffentlichten Artikel, der erstmalig das Studium von Griechen an europäischen Universitäten des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand historiographischer Bearbeitung machte, hob Zacharias Tsirpanlis die Notwendigkeit systematischer Forschung in den Archiven von Bildungsinstitutionen außerhalb Griechenlands hervor, um auf diese Weise Anzahl, Identität und Studienfachwahl der griechischen Studenten zu ermitteln.1Tsirpanlis, 1979. In den seitdem verstrichenen vier Jahrzehnten hat es durchaus eine Reihe von Schritten in diese Richtung gegeben. Um nur die wichtigsten Untersuchungen zur Präsenz griechischer und griechischsprachiger Studenten an deutschsprachigen Universitäten während des 19. Jahrhunderts zu nennen, seien hier die Forschungen von Konstantinos Kotsowilis, Elena Siupur und Ilja Chatsipanajioti-Sangmeister hervorgehoben.2Kotsowilis, 1995, Siupur, 1995a, 1995b, 2001, 2004 u. 2005. S. auch Chatsipanajiotis-Sangmeister 2016. Diese Untersuchungen beschränken sich mehr oder weniger auf eine Zusammenstellung von Listen der Studenten, wahrscheinlich griechischer Abkunft, die bei den Nachforschungen in den Universitätsarchiven ausfindig gemacht und denen fallweise knappere bzw. ausführlichere biographische Angaben beigefügt wurden. Diese Kataloge belegen ebenso wie die quantitativen Erhebungen aus der großangelegten Auswertung der Semestermatrikel von 19 deutschen Universitäten durch Konstantina Sorbala Umfang und Bedeutung des Phänomens. Dabei lassen sich bestimmte allgemeine Charakteristika über den Studienaufenthalt griechischer Studenten an deutschen Universitäten ableiten, die in anderweitig verfügbaren, anekdotisch geprägten Zeitzeugnissen ihre Bestätigung finden. Im Allgemeinen kennzeichnete die griechischen Studenten eine hohe Mobilität, denn viele von ihnen wechselten im Laufe ihrer Studienzeit zwei- bis dreimal die Universität. In den Jahren vor der Revolution waren für griechischsprachige Studenten Jena, Leipzig, Göttingen und Halle die Hauptanziehungspunkte; danach wandelt sich das Bild radikal: Von den 1330 Studenten, die Sorbala im Zeitraum 1820-1900 an 19 deutschen Universitäten verzeichnet, wandten sich über zwei Drittel den drei Universitäten München, Berlin und Leipzig zu. Die meisten von ihnen absolvierten keinen vollständigen Studienzyklus (im Durchschnitt handelte es sich lediglich um drei Semester), lediglich ein kleiner Prozentsatz erwarb einen Doktortitel.
Trotz ihres offensichtlichen Nutzens für Historiker lässt sich aus Kompilationen von Primärquellen wie den oben genannten kein Bild darüber gewinnen, was die Erfahrungen eines griechischen Studenten des 19. Jahrhunderts an einer deutschen Universität ausmachte, zumal dies auch gar nicht Ziel der Untersuchungen war. Anders die Recherchen von Alois Sideris zu griechischen Studenten an der Universität Pisa: Über die Studentenlisten hinaus werten sie eine Fülle an Archivmaterial wie Polizeiarchive, Korrespondenzen, autobiographische Texte usw. aus, um via Rückgriff aufs Mikrohistorische persönliche studentische Erfahrungen zu rekonstruieren, diese in Bezug zu dem grundsätzlich verfolgten Studiengang zu setzen und mit dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Toskana obwaltenden ideologischen und politischen Klima abzugleichen.3Sorbalas, 1998. Im Wesentlichen ist ein solches Vorhaben bisher noch nicht für eine der großen Universitäten im deutschsprachigen Raum in Angriff genommen worden, so bedeutend diese als Anlaufstellen für eine Vielzahl griechischer Studenten auch waren.4Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass wir über eine Reihe kleinerer, teils älterer, teils kürzlich erschienener Studien über Historiker der griechischen Aufklärung verfügen (Koujeas 1932, Kontiadis 1979, Mattheou 2017-2018), die sich mit den Aktivitäten des Kreises griechischer Studenten an den Universitäten Jena und Göttingen am Vorabend des griechischen Aufstandes (1817-1821) befassen; das Interesse an ihnen erklärt sich daraus, dass eine erhebliche Anzahl dieser Studenten später eine bedeutende Rolle während der Erhebung und im öffentlichen Leben des neuen Staates spielten.
Das Studium von Alexandros und Pantaleon
Die Entdeckung der Briefe im Allgemeinen Staatsarchiv Athen,5Archive K83a und K87b3. die die Brüder Alexandros und Pantaleon Kontostavlos während ihrer Studienzeit an den Universitäten Berlin und Heidelberg in den Jahren 1843-49 regelmäßig an ihre Familie geschickt hatten, vermag hier einen weiterführenden Beitrag leisten. Es handelt sich um ein Korpus von fast 100 Briefen, das von wenigen Ausnahmen abgesehen erhalten geblieben ist und den gesamten Zeitraum dieser sechs Jahre abdeckt. Die Briefe handeln überwiegend vom Fortgang der Jurastudien beider Brüder und enthalten interessante Kommentare über den Unterricht und die Professoren an beiden Ausbildungsstätten. Zugleich bilden sie eine Quelle wertvoller Informationen über die Studien- und Lebenshaltungskosten der griechischen Studenten, ihren Alltag, ihre sozialen Kontakte, die Folgen ihrer langjährigen Abwesenheit vom heimischen Herd für die innerfamiliären Beziehungen usw. Schließlich verleiht der Umstand, dass die beiden Brüder Augenzeugen und – zumindest anfänglich – begeisterte Unterstützer der 1848er Revolution in Berlin waren, der Korrespondenz der zwei Studenten eine bemerkenswerte zusätzliche Dimension.
Alexandros und Pantaleon Kontostavlos brachen am 10./22. Oktober 1843 von Piräus aus auf und trafen nach etwa dreiwöchiger Reise via Triest und Wien in Berlin ein. Mit ihren 17 bzw. 16 Jahren standen die beiden zur Zeit ihres Auslandsaufenthalts in noch außerordentlich jugendlichem Alter.6Erschließbar aus der drei Jahre später zur Immatrikulation an der Universität Heidelberg gemachten Altersangabe: s. Toepke, 1907, 18. Nach einigen wenigen Monaten intensiven Deutschunterrichts schrieben sie sich an der Universität der preußischen Hauptstadt ein und begannen im Sommersemester 1844 deren Unterrichtsveranstaltungen zu besuchen. Der Reihe nach absolvierten sie ihre Examina und wurden Ende 1849 zu Doktoren der Juristischen Fakultät der Universität Berlin promoviert, nachdem sie wunschgemäß zwei Semester an der Universität Heidelberg eingeschoben hatten, um Vorlesungen der beiden berühmten Juristen Adolph von Vangerow und Carl Joseph Anton Mittermaier zu verfolgen.
Legt man die beträchtlichen für Lebenshaltung und Studium erforderlichen Geldbeträge zugrunde, von denen in der Korrespondenz die Rede ist, kam ein Studium an großen deutschen Universitäten wie Berlin nur für Griechen in Frage, die sich mit einem Stipendium absichern konnten oder Sprösslinge wohlsituierter Familien waren. Alexandros und Pantaleon gehörten als älteste Söhne von Alexandros Konstostavlos d. Ä. der letzteren Kategorie an; aus Chios stammend, ehemals in Wien und London als Großkaufmann tätig, hatte dieser sich in den letzten Jahren des Freiheitskampfes in Griechenland etabliert, wo er hochrangige Regierungsämter bekleidete und ein großes Grundbesitzvermögen erwarb. So dienten die beträchtlichen, in Erziehung und Ausbildung seiner Kinder investierten Geldmittel dem Ziel, die hohe gesellschaftliche Position aufrechtzuerhalten, die sich seine Familie im postrevolutionären griechischen Staat erworben hatte. Von seinen Söhnen hatte Alexandros, der Erstgeborene, im Laufe seiner Studienjahre wiederholt – teils ausdrücklich, teils in Andeutungen – von seinem Vorsatz gesprochen, nach seiner Rückkehr nach Griechenland in die Politik zu gehen,7Archiv K83a, Nr. 231, 233, 251 und 255/258. und es scheint, dass sowohl er, als auch seine Familie, seine Ausbildung in Europa als eine Art Vorbereitung auf die politische Karriere ansah, die er verfolgen würde.
In diesem Zusammenhang ist wichtig hervorzuheben, dass Alexandros‘ und Pantaleons sechsjähriger Studienaufenthalt in Berlin und Heidelberg bei ihrer Auslandsausbildung nur eine Phase unter vielen war. Nach dem Erwerb des Doktortitels an der Universität Berlin im Dezember 1849 begaben sich die beiden Brüder nach Paris, wo sie entsprechend den Planungen der Familie ein Jahr verbringen sollten, um sich im Französischen zu üben und ihre Studien mit dem Besuch universitärer Lehrveranstaltungen zu ergänzen, die an den deutschen juristischen Fakultäten nicht angeboten wurden. Anschließend verbrachten sie einen nicht näher bestimmten Zeitraum in London, um ihre Kenntnisse zu erweitern und Englisch zu lernen. Zweck und Ziel dieser „Grand Tour“ durch die drei großen europäischen Nationen der Epoche bestand nicht einfach im Erwerb akademischer Kenntnisse im Dienste wissenschaftlicher Qualifikation, sondern auch darin, sich mit unterschiedlichen Gesellschaften Europas vertraut zu machen und entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Charakteristisch, was Pantaleon dazu einmal in Zusammenhang mit ihrer beider Frankreich- und Englandaufenthalte schrieb:
„Dieser Wunsch von uns bezieht sich nicht nur auf die Jurisprudenz, sondern auch auf ein Studium in der großen Schule des praktischen Lebens“.8Archiv K83a, Nr. 243.
Zu gleichem Zweck begaben sich die zwei Brüder während ihrer Zeit in Berlin und Heidelberg auf Kurzreisen in verschiedene Gegenden Deutschlands bzw. bemühten sich um Kontakt zu Angehörigen der Berliner Oberschicht und deren gesellschaftlichem Umgang. Dank den Beziehungen ihres Vaters konnten sie es dabei 1847-48 zu Einladungen in den Salon des britischen Botschafters in Preußen John Fane, elften Earls von Westmorland, bringen. Allerdings, so scheint es, nutzten sie diese Gelegenheiten nicht in dem ihnen offenstehenden Umfang aus, sodass Alexandros 1849 in einer Art Resümee ihres langjährigen Deutschlandaufenthaltes eingestehen wird, dass die allzu einseitige Hingabe an das Studium, also „die Natur unseres Engagements uns bisher keine hinreichende Lektüre im großen Buch der Welt gestattet hatte“.9Archiv K83a, Nr. 243. Auch Pantaleon beklagte sich in einem anderem Zusammenhang darüber, dass die Erwartungen ihres Vaters an sie, während ihrer Studienzeit „die Welt und die Menschen“ kennenzulernen, insofern unrealistisch waren, als sie übersahen, wie sehr ein Jurastudium den Einsatz aller Kräfte verlangte.10Archiv K83a, Nr. 225.
Revolution
Obgleich es bei ihrem Auslandsaufenthalt ohnehin in erster Linie darum ging, sich mit der Welt, der Gesellschaft und den Menschen vertraut zu machen, sollte man auf das prägendste Erlebnis der beiden Brüder während ihrer Studienzeit in Deutschland gesondert eingehen: die Revolution von 1848 in Berlin. Der Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt erlaubte ihnen, sich ein unmittelbares Bild von den Ereignissen der Jahre 1848-49 zu machen – eine Erfahrung, die den meisten Griechen jener Epoche vorenthalten blieb. Denn, und darauf ist zu Recht hingewiesen worden, es gab nichts, was in Griechenland den 1848er Revolutionen entsprochen hätte, die den größten Teil des europäischen Kontinents erschütterten.11Vgl. die Kritik an gegenteiligen Einschätzungen in der älteren Literatur bei Skopeteas, 1987.
Mit Ausnahme ganz weniger kurzgefasster, meist von Pantaleon stammender Kommentare, spielte die politische Situation in Preußen in der Korrespondenz vor 1848 so gut wie keine Rolle. Offenbar waren Alexandros wie auch Pantaleon nicht imstande, die sozialen und politischen Spannungen im Inneren der deutschen Staaten in den Jahren vor der Revolution wahrzunehmen. Sehr charakteristisch ist, was ersterer unter dem 11. November 1845 berichtete:
„In Ihrem letzten Brief, Herr Vater, wiederholen Sie, was Sie auch zuvor schon geschrieben hatten, wenn Sie uns untersagen, an den inneren Angelegenheiten eines fremden Staates teilzunehmen. An jedem anderen Ort der Welt wäre das ein rettender Rat, nur in Deutschland nicht, wo in dieser Hinsicht völlige Ruhe herrscht. Denn eingeschlossen in ihre Zimmer kümmern sich die Gebildeten um das Ihre, ebenso die Kaufleute in ihren Kontoren und entsprechend alle anderen, während der König mit seinen Ministern alles verwaltet – alle verbringen ihre Zeit so still wie Lämmchen, ohne zur Last zu fallen oder selbst belästigt zu werden.“12Archiv K38a, Nr. 185.
Abgesehen von dem völligen Mangel an Gespür fürs Politische – einigermaßen bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass es hier um einen Studenten geht, der die Absicht bekundet hat, politische Wissenschaften zu studieren und sich anschließend mit Politik zu befassen – ist dieser Briefabschnitt insofern von Interesse, als aus ihm sichtlich hervorgeht, dass die Söhne ausdrückliche Anweisung von ihrem Vater hatten, sich von Politischem fernzuhalten. In dieser Hinsicht lässt sich nicht ausschließen, dass das Fehlen politischer Kommentare dem Zweck diente, Respekt vor der Anweisung des Familienoberhauptes zu demonstrieren.
Nach dem zuerst in Frankreich, dann in Deutschland erfolgten Ausbruch der Revolution wandelt sich der Inhalt der Korrespondenz beider Brüder allerdings grundlegend und wird ausgesprochen politisch. Die detaillierten Schilderungen der Ereignisse werden von enthusiastischen Zwischenbemerkungen unterbrochen, die erkennen lassen, wie umfassend Alexandros und Pantaleon die Überzeugungen der Liberalen – oder zumindest die Parolen der Revolutionäre – verinnerlicht hatten. Beispielsweise engagierte sich Alexandros in Bezug auf den 8. März 1848 für den Standpunkt, die Revolution sei ein Ringen zwischen zeitgemäßen Ideen und der Ideenwelt des Mittelalters, zwischen der Forderung nach Volkssouveränität und dem zusammenbrechenden Absolutismus, zwischen Freiheit und Standesunterschieden:
„Die Ära der Ideen des Mittelalters ist abgelaufen! Die Regierungen müssen auf die prinzipiellen Bedürfnisse ihrer Völker eingehen und ihnen umfangreiche politische Rechte einräumen, und die Verhältnisse sind an einen Punkt gelangt, der keinen weiteren Aufschub duldet, die Ideen unserer Epoche müssen unwiderruflich in Kraft treten! Alle in den letzten Jahren am politischen Horizont aufgekommenen Phänomene sind nichts weiter als Signale des Selbstbewusstseins der Völker, die die Aufhebung der überflüssig und damit unsinnig gewordenen Bevollmächtigung der Tyrannen samt ihrer Erhebung an die Macht fordern. Dies ist die positive Grundlage der dem Anschein nach negativen Tendenz, die unsere Zeiten durch den ersten großen politischen Umschwung bei den Franzosen beherrscht! Der Absolutismus ist seitdem in seinen Grundfesten heftig erschüttert, und die Zeitläufte bringen sein abstoßendes Gefüge zum Einsturz! Damit wird die widerwärtige Trennung zwischen adlig und nichtadlig, zwischen Despot und Sklaven aufgehoben; die Freiheit spricht jedem einzelnen seine Menschenwürde zu und lädt ihn ein, von seinen unaufhebbaren Rechten Gebrauch zu machen!“13Archiv K83a. Nr. 237.
Offenbar waren die beiden Brüder auf irgendeine Weise auch persönlich in die Ereignisse im März 1848 verwickelt, denn aus einem Einwurf eines Briefes vom 22. März geht hervor, dass sie an der großen Demonstration vor dem königlichen Schloss teilgenommen hatten, die sich infolge des Eingreifens des Militärs zu offener Auflehnung gegen die Monarchie entwickelte, während die lebendige Beschreibung der Berliner Straßenbarrikadenschlachten kurz danach keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie von Augenzeugen stammt.14Archiv K83a, Nr. 222/268.
Aus Einschüben wie dem obigen geht klar hervor, dass es besonders die liberalen, nicht aber die nationalistischen Forderungen der 1848er Revolution waren, die Alexander und Pantaleon bewegten, wobei der Begriff Liberalismus hier grundsätzlich mit der Zulassung einer Verfassung und der Anerkennung der Volkssouveränität gleichbedeutend war. Während sie der Kampf der Deutschen für die Auflösung des absolutistischen Systems sichtlich mitreißt, beschränken sich ihre knappen brieflichen Erwähnungen zur Frage der deutschen Einheit darauf, die massenhafte Akzeptanz dieser Forderung in Preußen festzustellen, vielleicht deshalb, weil König Friedrich Wilhelm der IV. selbst sich die Parole von Anfang an zu eigen gemacht hatte. Die Einstellung der Revolution zu dieser Frage ist bemerkenswert, wenn man sie mit dem Widerhall auf die Ereignisse im Frühling 1848 bei den Altersgenossen der zwei Brüder in Griechenland vergleicht: wie bezüglich der Studenten der König-Otto-Universität Athen treffend ermittelt worden ist, ging es bei dem, „was die studentische Jugend bewegte, weniger um die sozialen als um die nationalen Forderungen der Bewegungen von 1848“, und ebenso werden die Volkserhebungen auf dem europäischen Kontinent als Vorbote der territorialen Rekonstitution der griechischen Nation aufgefasst.15Lappas, 2004, 489-491.
Demgegenüber verinnerlichten Alexandros und Pantaleon die von ihnen direkt miterlebte Revolution nicht in dem spezifischen Sinn, wie er für ihr Vaterland relevant (genauer gesagt: potentiell relevant) war, sondern interpretierten sie im Rahmen dessen, was sich tatsächlich vollzog, nämlich als Signal eines Umbruchs in der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Europas. Bezeichnend ist, dass die beiden Studenten am 19. April auf die im Frühjahr 1848 in Berlin über den Aufbau bewaffneter Bewegungen in Epirus und Thessalien beharrlich kursierenden Gerüchte schlichtweg mit dem Kommentar reagierten, die Parallelität der Zeitumstände sei günstig für dergleichen Erhebungen.16Archiv K83a, Nr. 234.
Je mehr sich allerdings bemerkbar machte, dass die Revolutionäre keine in sich geschlossene Menge mit gemeinsamen, gegen das alte Establishment gerichteten Zielen bildete, sondern ein nicht überlebensfähiges Bündnis politischer Gruppierungen und sozialer Klassen mit höchst unterschiedlichen Auffassungen, Interessen und Zielen war, traten für beide Brüder Problembewusstsein und Verunsicherung an die Stelle ihres, wie wir sahen, ursprünglichen Enthusiasmus und ihrer anfänglichen Zuversicht. Wie in anderen Städten auch, hatte in Berlin die mittellose Arbeiterschaft die Hauptlast der Revolution geschultert; aus ihren Reihen kamen auch die bei weitem meisten der 303 Opfer der März-Straßenkämpfe, während die politischen Anführer der Revolution den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten bzw. dem Kreis von Intellektuellen entstammten, die Anhänger eines gemäßigten Liberalismus auf parlamentarischer Grundlage waren.17Siemann, 1998, insbesondere 64-65 u. 72ff.; Hobsbawn, 2003, 34ff. Die Studenten an der Berliner Universität, aufgespalten in Gemäßigte und Radikale, vertraten bezüglich der Revolution eine ebensowenig einheitliche Position und spielten auch keine führende Rolle in ihr.18Vom Bruch, 1998, 146-148.
So übte Pantaleon am 11. Juli Kritik am Hin und Her der Parteizusammenschlüsse in der preußischen Nationalversammlung und an der daraus resultierenden Regierungsinstabilität, in der er die Folgen der politischen Unreife der Deutschen erblickte.19Archiv K83a, Nr. 231. Diese deutlich vereinfachende und etwas herablassende Feststellung wirkt auf jeden eher ironisch, der mit der entsprechenden Dauerkritik ausländischer Beobachter an der politischen Szene im Griechenland des 19. Jahrhunderts vertraut ist; möglicherweise wurzelte sie auch in einem unausgesprochenen Vergleich zwischen der Situation in Berlin und der Leichtigkeit, mit der sich die Revolution von 1843 in Athen durchsetzte, und ebenso im Status eines griechischen Studenten als Bürger eines kurz zuvor entstandenen Verfassungsstaates, einer Errungenschaft also, die im damaligen Preußen noch bloßes Desiderat war. Obgleich beide Brüder bis zuletzt Unterstützer der Revolution blieben, löste das monatelange politische Verhandeln bei ihnen schließlich Ermüdung aus und bestärkte sie in dem Gefühl, sich lieber auf die Aufgaben ihres Studiums zu konzentrieren:
„Wie anregend, da nützlich, es auch ist, die derart rasche Entwicklung einer Nation direkt mitzuerleben und Augenzeuge so bestürzender Ereignisse und seiner unmittelbaren Folgen zu sein, wird es in unserer Situation doch unerfreulich, weil es uns an der Fortsetzung unseres Studiums hindert. Seit der Märzrevolution ist die Stadt Schauplatz turbulenter Szenen gewesen; das Tauziehen der neuentstandenen Parteien, die blutigen Zusammenstöße der Staatspolizei mit der Arbeiterklasse und so vieles andere mehr ist zu etwas so Gewohntem geworden, dass es schon gar keinen großen Eindruck mehr hinterlässt“.20Archiv K83a, Nr. 224.
Diese Einstellung kommt indirekt auch dadurch zum Ausdruck, dass in den Briefen seit Sommer 1848 die Nachrichten zur politischen Aktualität immer spärlicher werden.
Je weiter die Revolution in Deutschland ihrer endgültigen Niederlage entgegengeht, desto deutlicher wird in Alexandros‘ Briefen die Schärfung seiner politischen Wahrnehmung sichtbar. So sein Hinweis am 21. Juni 1849:
„Die Erregung der Gemüter ist heftig und der Unwille in allen Gesellschaftsschichten allgemein, wenn auch aus verschiedenen und meistens einander entgegenstehenden Gründen. Was die gegenwärtige Regierung hier und in Frankreich an der Macht hält, ist die Angst, welche die Vergesellschaftung von Eigentum allen ruheliebenden Bürgern einflößt: sie durchschauen zwar die hintergründigen Absichten der Regierungen sehr wohl, sehen aber zugleich in ihnen den einzigen Rettungsanker gegen das Unheil, das die fanatisierten Enteignungsanhänger herbeizuführen bestrebt sind, und arbeiten deshalb mit allen Kräften an der Unterstützung der Regierungen.“21Archiv K83a, Nr. 252.
Wie bekannt, zogen sich die gemäßigten Liberalen, die 1848 an der Macht waren, erschreckt vom Gespenst einer sozialen Erhebung der unteren Schichten, schrittweise von den Anliegen der Revolution zurück und schlossen sich am Ende den Unterstützern der alten Ordnung an.22Hobsbawn, 2003, 34ff. Alexandros‘ Scharfblick für die verschiedenen Quellen des gesellschaftlichen Unmuts samt dem, was die bürgerlichen Schichten aufgrund ihrer Furcht vor den Forderungen der Arbeiterklasse und der Revolutionsrhetorik der kommunistischen Linken in die Arme der Konservativen trieb, und nicht zuletzt auch für das, was dieser Wandel für den abschließenden Sieg der reaktionären Kräfte bedeutete, ist überaus bezeichnend für die Entwicklung seines politischen Denkens während seiner Studienzeit in Deutschland.
Auf dem Weg zu einer politischen Rechtsauffassung
Auch aus anderen Äußerungen lässt sich ein solcher Wandel des Denkens entnehmen. Bekanntlich sah die universitäre Rahmenordnung für die Verleihung eines Doktortitels vor der Examinierung der Aspiranten die Vorlage einer auf Latein verfassten Dissertation und deren Genehmigung durch die Fakultät vor. Pantaleon, der sich auf Bürgerliches Recht spezialisiert hatte, legte eine Doktorarbeit vor, die Erbfolgeregelungen des Römischen Rechts zum Gegenstand hatte.23P. Contostavlos, 1849. Die Dissertation von Alexander, der seit Studienbeginn besonderes Interesse für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an den Tag gelegt hatte, unterzog den Rechtsanspruch des Staates auf Ausweisung von Ausländern einer kritischen Überprüfung24A. Contostavlos, 1849. und positionierte sich im Sinne selbstaufgestellter Kategorien auf den Ebenen des „Völkerrechts“ (= Internationalen Öffentlichen Rechts) und binnenstaatlichen Öffentlichen Rechts.25Archiv K83a, Nr. 223. Das Interessante an dem Fall ist, dass Alexander diese Dissertation nach eigenem Bekunden als eine Art Aufhebung der zum selben Thema entwickelten Argumentation konzipiert hatte, die wenige Jahre zuvor von dem ehemaligen preußischen Justizminister Karl Albert von Kamptz (1832-1842), gestützt auf „die Prinzipien des Absolutismus und mittelalterlichen Feudalismus“, entwickelt worden war.26Archiv K83a, Nr. 250. Obgleich nicht ganz klar ist, auf welchen Text Alexandros dabei Bezug nimmt, kommt am ehesten eine kleine Studie in Frage, die von Kamptz 1845 anonym in der Absicht veröffentlicht hatte, auf der Grundlage internationalen Rechts die zweifelhafte Legalität der im selben Jahr aus politischen Gründen erfolgten Ausweisung der liberalen Mitglieder des Badener Parlaments Johann Adam von Itzstein und Friedrich Hecker aus preußischem Gebiet zu untermauern.27Anonymus, 1845. Offenkundig in Einklang mit den Grundsätzen, die zu dieser Zeit für die Abfassung von Dissertationen bestimmend waren, wird in der Doktorarbeit die Dimension des Politischen nicht betont herausgearbeitet: An keiner Stelle verweist Alexandros auf den von Kamptzschen Text und nimmt ebensowenig Bezug auf die spektakuläre Ausweisung von Itzstein und Hecker, die 1845 im gesamten deutschsprachigen Raum für großes Aufsehen gesorgt hatte. Sollte unsere These zutreffen, war es dann schon von erheblicher Bedeutung, die Dissertation als Vehikel für den programmatischen Vorsatz genutzt zu haben, in eine öffentliche Diskussion von ausgesprochen politischem Charakter einzugreifen, die wenige Jahre zuvor geführt worden war, und dabei die Positionen einer emblematischen Gestalt des damaligen preußischen Konservatismus wie von Kamptz aus liberaler Sicht in Frage zu stellen. Die Wahl des Themas war im Übrigen aufgrund des Umstands aktuell, dass Hecker 1848 als Anführer der Revolution in Baden hervorgetreten war.28Dazu einführend s. Siemann, 1998, 172.
Die in Alexandros‘ Dissertation als politische Zielsetzung durchscheinende Weigerung, Jurisprudenz und politische Ideologie voneinander getrennt zu halten, kommt ungefähr zur selben Zeit auch in einem anderen Zusammenhang zum Ausdruck, als Alexandros den geringeren Stellenwert des deutschen öffentlichen Rechts (wie gesagt sein Spezialgebiet) gegenüber dem britischen und französischen feststellt – eine Kritik, die die Bedeutung des Einflusses von politischen Systemen auf das Rechtswesen unterstrich und wesentlich auf die noch ausstehende Einführung verfassungsgemäß verankerter Normen in den deutschen Staaten abzielte.29Archiv K83a, Nr. 230. Sowohl die Emphase, die er auf diesen Einfluss eines politischen Systems auf das Recht legte, als auch das liberale Engagement seiner Dissertation spiegeln unstrittig Alexandros‘ gesteigerte Sensibilität für die politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1848-49 wider – ein Resultat aus den Erfahrungen der Revolution, als deren Folge, wie gesagt worden ist, „alles und jedes eine politische Dimension annahm.“30Siemann, 1998, 172. Zugleich kann man in diesen Erfahrungen aber auch das Resultat des politischen Handelns einer ganzen Reihe damaliger Professoren der Juristischen Fakultäten in Berlin wie Heidelberg erblicken, die in der Regel nicht gerade auf Seiten der Revolutionäre standen.
Politiker und Kaufmann
Zurück in Griechenland begann Alexandros A. Kontostavlos seine Laufbahn als Justizbeamter und stieg dann zum Beamten im höheren öffentlichen Dienst auf, wo er nacheinander als Staatsanwalt in Athen, Abteilungsleiter im Ministerium für Bildung und Kirchliche Angelegenheiten sowie als Generalsekretär des Justizministeriums fungierte. Nach der Revolution von 1862 ging er auf den Spuren seines Vaters in die Politik, in der er sich als eine der führenden Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwies: mehrmals zum Abgeordneten gewählt, wurde er 1870-71 und 1883-85 Justizminister, 1875-77, 1883-85 und 1893 Außenminister und bekleidete dazwischen den begehrten Posten des Botschafters in London. Wie bereits erwähnt, war seine Beschäftigung mit Politik sein schon in jungen Jahren persönlich bevorzugtes Feld und überdies seit seiner Studienzeit das Resultat sorgfältiger familiärer Planung. Die hochqualifizierte Ausbildung in Berlin, Heidelberg und Paris begünstigte seine ursprüngliche Präferenz und seine dann überaus schnelle Weiterentwicklung auf juristischem Gebiet etwa bei seiner Einstellung als Dozent an der Juristischen Fakultät der Universität Athen, wo er im akademischen Jahr 1855 Völkerrecht lehrte.31Kimourtsis, 2001, Anhang, 167. Kernfunktion seines Studiums blieb aber, ihm das Rüstzeug für die seit Jahren vorbereitete Karriere in der politischen Arena zu vermitteln. Deshalb war der wichtigste Punkt seines langjährigen Auslandsaufenthalts weder die akademische Ausbildung noch die symbolische Strahlkraft des erworbenen Abschlusses,32Ein Faktor, auf dem das griechische Schrifttum gewöhnlich insistiert; als kürzlich erschienenes Beispiel dazu s. Kyprianos, 2016. sondern der Erwerb nützlicher Erfahrungen wie die, mit den Gegebenheiten verschiedener europäischer Staaten vertraut zu werden bzw. Zugang zum gesellschaftlichen Verkehr in höheren Kreisen zu erlangen. Es ist bezeichnend, dass die Priorität, die er und sein Bruder dem Studium einräumten, demgegenüber als zwar nötige, aber letztlich mit nachteiligen Folgen behaftete Entscheidung bewertet wurde. Zur wichtigsten all dieser Erfahrungen wurde dann aber zweifellos, ganz unerwartet die 1848er Revolution in Berlin miterlebt zu haben, die wesentlich zur Reifung ihres politischen Denkens beigetragen hat.
Wiewohl die Studien in Deutschland in weitreichendere Pläne eingebettet waren, d. h. die beiden Brüder eine Position an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide des jungen griechischen Staates einnehmen zu lassen, bedeutet dies nicht, dass einen solchen Weg mit Gewissheit vorzuzeichnen oder in diesem einen Sinne zu beschreiten möglich war. Abzulesen ist das am Fall von Pantaleon Kontostavlos, der nach jahrelangem, exzellentem Jurastudium an drei der bedeutendsten Universitäten seiner Zeit und dem Erwerb eines Doktortitels sich schließlich in England als Kaufmann betätigte, wo er bereits seit den 1850er Jahren seinen festen Wohnsitz hatte. Uns sind die näheren Umstände unbekannt, unter denen sich die Wahl dieser Laufbahn verwirklichte, sie lässt aber sicherlich an eine umfassendere Abstimmung persönlicher mit familiärer Planung denken. Mag dieses Beispiel auch recht ungewöhnlich sein, es unterstreicht für uns doch die Notwendigkeit, anhand einer kritischen Sichtung persönlich ganz divergierender Lebensläufe den Sinn und die Bedeutung eines Auslandsstudiums für Griechen des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten.