Ι. Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zum Volksgesetzbuch
1. Das liberale deutsche Bürgerliche Gesetzbuch
Das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene deutsche Zivilgesetzbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), war ein echtes Kind des 19. Jahrhunderts, der Blütezeit der deutschen Rechtswissenschaft. Grundlage der Kodifizierung war die sogenannte Pandektenwissenschaft, also die Aufarbeitung ausgewählter Quellen des römischen Rechts, hauptsächlich aus der justinianischen Kodifikation des Corpus Iuris Civilis, die dann in ein System integriert wurden, welches sich an von der philosophischen Lehre Kants inspirierten Prinzipien orientierte. In Übereinstimmung mit seiner philosophischen Herkunft, aber auch mit der Richtung, der die meisten kontinentaleuropäischen Gesetzgebungen folgten, hatte das BGB einen liberalen Charakter. Seine wichtigsten Regelungen waren: Die ausnahmslose Anerkennung aller Menschen als Personen, d.h. als Träger privatrechtlicher subjektiver Rechte; die Erfassung des Vertragsrechts als Ausdruck des Prinzips der gleichen Privatautonomie der Vertragsparteien; die Deutung der Zivildelikte als Verletzungen der Rechtsstellung, also vor allem absoluter subjektiver Rechte anderer, auch hier unbeachtet des besonderen Status von Schädiger und Geschädigtem; die Anerkennung des Eigentumsrechts als Ausdruck der Autonomie der Person und dessen Erhebung zum Vorbild der Privatrechte überhaupt, die jedem so viel Handlungsfreiheit einräumen, wie sich mit der gleichen Freiheit anderer verträgt.
Hinzuzufügen ist noch eine Bemerkung zum Vertragsrecht. Wie gesagt, folgte das Vertragsrecht des BGB dem Prinzip der gleichen Autonomie der Vertragspartner. Das heißt aber nicht, dass es die Existenz tatsächlicher Ungleichheiten ignorierte, die der stärkeren Partei erlauben, ihre Lage auszunutzen, um der schwächeren die Vertragsbedingungen aufzudrängen. Als Gegenmittel verweigerte aber das BGB dem Richter die Befugnis, in den Vertragsinhalt einzugreifen, um die Vertragsbedingungen nach einem Modell des gerechten Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung umzugestalten, was eine antiliberale Regelung darstellen würde. Stattdessen legte das BGB Wert auf die Möglichkeit einer jeden Partei, ihre Autonomie tatsächlich auszuüben, indem es zwar keinen richterlichen Eingriff in den Vertragsinhalt zuließ, wohl aber den Richter autorisierte nachzuprüfen, ob die erforderlichen Bedingungen einer fairen Gestaltung des Vertragswillens beider Parteien eigehalten würden; widrigenfalls könne die schwächere Partei vom Richter fordern, die Nichtigkeit des Vertrags zu verkünden.
2. Ein nationalsozialistisches Programm
Die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP, ursprünglich: Deutsche Arbeiterpartei) wurde 1920 gegründet und hatte sich bereits in ihrer Gründungserklärung (Punkt 19) das Ziel gesetzt, das Privatrecht vom Geist des Römischen Rechts zu befreien.1Punkt 19 verlangte, das ganze Römische Recht, das angeblich dem Materialismus diene, durch ein „deutsches Gemeinrecht“ zu ersetzen. Die NSDAP kämpfte vehement gegen den liberalen Charakter der von der Pandektenwissenschaft beeinflussten Kodifikation und nahm die Überarbeitung all der oben erwähnten Grundprinzipien in ihr Parteiprogramm auf.2Zur Betrachtung des Liberalismus als des zu bekämpfenden Hauptgegners seitens der nationalsozialistischen Juristen siehe Kaufmann, 1983, 1 f. Gleich nach der Machtübernahme 1933 wurden entsprechende Bemühungen gestartet. Ein Schlüsselinstrument für diesen Zweck war die Gründung der Akademie für Deutsches Recht noch im selben Jahr und die Aufnahme ihrer Tätigkeit als juristische Person des öffentlichen Rechts im folgenden (1934).3Zur Akademie für Deutsches Recht siehe Hattenhauer, 1986, 680 ff.
Es sei darauf hingewiesen, dass das Adjektiv „deutsch“ im Titel der Akademie nicht zufällig war. Schon vor 1933 hatten viele Juristen, erfüllt von zutiefst konservativen und vor allem nationalistischen Vorstellungen, am BGB bemängelt, Träger eines undeutschen Geistes zu sein. Sie argumentierten, das römische Recht wäre ein eingeführtes Recht, das nichts mit der deutschen Tradition zu tun habe; diese würde nicht auf der (angeblich „formalistischen“) Idee der gleichen Autonomie aller beruhen, sondern auf den Prinzipien von Gemeinschaft und Ehre.4Diese Prinzipien des Kodex waren nicht nur antiliberal, sondern auch anti-innovativ. Das Prinzip der Einheit der Gemeinschaft bedeutete die massive Überlegenheit der Gesellschaft gegenüber dem Individuum, während sich das Prinzip der Gleichheit dem Prinzip der Ehre wich: Anstatt des Kantschen Prinzips der gleichen Würde aller – verbunden mit dem Anspruch aller, als autonome Subjekte anerkannt zu werden und Inhaber von Rechten zu sein –, war die Ehre nicht für alle gleich, sondern wurde einem rechtlich zuerkannt nur entsprechend seinem Beitrag zum Gemeinwohl. Die Vorbereitung einer entsprechenden Gesetzesreform wurde vom Justizminister des Hitler-Kabinetts, dem berüchtigten Dr. Hans Frank, übernommen.5Hans Frank trat sehr früh der NSDAP bei und nahm 1923 am Bürgerbräu-Putsch teil. Er blieb bis 1942 Präsident der Akademie für Deutsches Recht und wurde 1939 zum Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete ernannt. Von dieser Stelle aus organisierte er die Vernichtung tausender Mitglieder der polnischen Elite und danach die der polnischen Juden, weswegen er „Schlächter von Polen“ genannt wurde. Wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit wurde Frank vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Frank wurde Präsident der Akademie für Deutsches Recht. Bei seiner Eröffnungsrede hob er insbesondere die rassistische Dimension der bevorstehenden Arbeit hervor. Frank war zugleich Vorsitzender des wichtigsten Ausschusses der Akademie, nämlich des Ausschusses für Rechtsphilosophie, der die Grundsätze des gesamten Projekts erarbeiten sollte und im Nietzsche-Archiv in Weimar tagte. Erwähnenswert sind einige der Mitglieder dieses Ausschusses. Vizepräsident war Carl August Emge, Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Jena und danach Berlin, seit 1931 Mitglied der NSDAP und Vorsteher des Nietzsche-Archivs.6Emge versuchte in einer Nachkriegsveröffentlichung (Emge, 1960) die Bedeutung seiner (führenden!) Rolle an diesem Hauptausschuss der Akademie herunterzuspielen. Er behauptete, dieser Ausschuss wäre im Grunde genommen nur wenige Monate tätig gewesen; Hauptgrund der Einstellung der Tätigkeit des Ausschusses wäre die Teilnahme von Alfred Rosenberg (zu Rosenberg vgl. übernächste Anmerkung). Das ist jedoch eindeutig eine Lüge; archivarische Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass die Kommission, offenbar unter dem häufigen Vorsitz von Emge, ihre Arbeit bis mindestens Ende 1943 fortgesetzt hatte. Emge selbst wurde sogar 1937 zum Vizepräsidenten der Akademie befördert und hatte dieses Amt bis 1942 inne. Nach dem Krieg war er Professor an der Universität Würzburg. Die meisten dieser Informationen sind aus der Wildenauer-Website (Wildenauer, 2019a) entnommen; vgl. dort die ausführliche Dokumentation (Wildenauer 2019b). Andere Mitglieder waren die Juristen bzw. Philosophen Carl Schmitt, Julius Binder, Rudolph Stammler, Martin Heidegger7Es sei bemerkt, dass das Archiv des Ausschusses 1938 vernichtet wurde. Der ganze Verdunkelungsversuch [vor allem in der Nachkriegszeit] diente offenbar dazu, die Teilnahme vieler Ausschussmitglieder, allen voran Martin Heideggers, herunterzuspielen bzw. zu verschweigen. Jedoch wurden, wenn auch erst viel später, eindeutige Beweise gefunden, so vor allem ein offizielles Dokument über die Zusammensetzung des Ausschusses, das allerdings erst 2018 veröffentlicht wurde (Nassirin, 2018). und Erich Rothacker, sowie Hitlers ideologischer Berater Alfred Rosenberg.8Rosenberg befasste sich insbesondere mit der Außenpolitik des Dritten Reichs und war Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit wurde auch Rosenberg vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg für schuldig befunden, zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Ab 1939 arbeitete die Akademie an der Ausarbeitung eines neuen umfangreichen Kodex, der die Gesetzgebung mit der nationalsozialistischen Ideologie in Einklang bringen und insbesondere das BGB ersetzen sollte. Der geplante Kodex wurde Volksgesetzbuch genannt; im Sonderausschuss saßen neben hochrangigen Nazi-Funktionären (Goebbels, Göhring, Himmler) und bekannten Juristen (darunter Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lehmann, Wolfgang Siebert, Franz Wieacker und Eberhard Schmidt) auch Carl Schmitt und Martin Heidegger.
3. Das antiliberale Volksgesetzbuch
Die Vorschläge zur Änderung des Bürgerlichen Rechts sind uns vor allem aus den Veröffentlichungen der Akademie zum Fortschritt des Volksgesetzbuches bekannt.9Vgl. Schubert, 1988. Sie fassen die Ansichten der dem Nationalsozialismus nahestehenden Juristen,10Den Geist des Projektes hat Hedemann 1941 vorgestellt. auch derjenigen, die keine Mitglieder der Akademie waren, zusammen. Alle vereinigte ihre Aversion gegen den liberalen Geist des BGB und den Einfluss des römischen Rechts. Einige gingen sogar so weit, das römische Recht geistig mit dem Judentum zu verbinden.11Vgl. Schmitt, unterster Punkt 25. Die einzige Zurückhaltung betraf Kant; wegen seines großen Ansehens wurden direkte Angriffe gegen ihn meist vermieden, wenn auch die Überlegenheit der Hegel’schen Lehre nachdrücklich betont wurde. Kurzfassend kann man auf folgende Vorschläge hinweisen: Das wichtigste Angriffsziel war der Begriff der Person. Der Grundsatz, dass alle Menschen die gleiche Fähigkeit haben, Träger von subjektiven Rechten zu sein, wurde als unannehmbar betrachtet; stattdessen wurde verlangt, als volle Rechtssubjekte nur diejenigen anzuerkennen, die dem deutschen Volk angehören, was Blutsbande voraussetzen würde. So wurde der Begriff Person durch den Begriff Volksgenosse ersetzt, den man nach nationalsozialistischer Art als „Angehörigen der (deutschen) Blutsgemeinschaft“ verstand. Dies bedeutete unter anderem den Ausschluss aller, die jüdischer Herkunft waren.
Neben dem Begriff der Person war auch der Begriff des subjektiven Rechts zentrales Angriffsziel – übrigens auch außerhalb des Privatrechts.12Vgl. bezeichnenderweise Schönfeld, 1937, 107 ff. Das subjektive Recht wurde für ein Zeugnis des angeblich römischen und jüdischen Individualismus gehalten. Die Autonomie des Individuums, Grundlage der subjektiven Rechte in der liberalen Lehre, wurde drastisch herab- und durch das Prinzip der gesellschaftlichen Verantwortung ersetzt, das auch im Privatrecht den Vorrang haben sollte. Die Abschaffung der Privatrechte wurde zwar nicht gefordert, dies aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern aus Gründen der Effizienz, weil, wie betont wurde, der (nationalsozialistische) Staat sich nicht um alle Einzelheiten der gesellschaftlichen Interaktion zu kümmern vermöge, weshalb den Einzelnen die Freiheit gewährt werden sollte, die Gestaltung bestimmter Verhältnisse selbst vorzunehmen. Dieses Zugeständnis erfolgte jedoch nicht zugunsten von autonomen Subjekten, sondern um der „Volksgemeinschaft“ willen. Voraussetzung sei daher die Ausübung der gewährten Freiheit im Interesse der Allgemeinheit, d.h. im Lichte der kollektiven Solidarität im Blick auf das Gemeinwohl,13Das Voranstellen des Gemeinwohls war eine nationalsozialistische Doktrin, die sich wie ein roter Faden durch alle Gesetze zog, nicht nur das Privatrecht. Im öffentlichen Recht bedeutete dieses Voranstellen nichts weniger als die Abschaffung der Grundrechte. Siehe dazu das Standardwerk von Stolleis, 1974. d.h. auf das Wohl des deutschen Volkes. Alle Rechtsausübung, die sich diesem sozialen Zweck nicht unterordne, sollte von Rechts wegen nicht zugelassen werden. Charakteristisch sind die Überlegungen, die der Ausgestaltung des Eigentumsrechts zugrunde lagen. Die Vorschrift des § 903 BGB, wonach der Eigentümer mit der Sache nach Belieben verfahren könne, wurde als skandalös betrachtet, da die bis dahin allgemein anerkannte Auffassung auch die Befugnis einschloss, die Sache zu zerstören. Die neue Vorstellung, wonach das Eigentumsrecht, wie jedes andere private Recht, in einer dem Wohl des deutschen Volkes dienenden Weise ausgeübt zu werden habe, bzw. sich ihm zumindest nicht widersetzen sollte, wurde sogar bis zum Äußersten getrieben: Es wurde betont, der Eigentümer dürfe nicht nach Gutdünken mit der Sache umgehen, sondern ausschließlich als Verwalter der Sache im Namen der Volksgemeinschaft handeln, der allein ein absolutes Recht auf alle Sachen, allen voran auf Grund und Boden, zustehe.14Die Reform des Eigentumsrechts im Volksgesetzbuch wurde hauptsächlich von Franz Wieacker übernommen. Zuvor hatte er ein entsprechendes Werk veröffentlicht, Wieacker, 1935.
Entsprechendes wurde auch in Bezug auf den Vertrag angenommen.15Vgl. diesbezüglich die äußerst informative Buchbesprechung von Brüggemaier, 1990, 24 ff. Die Bestimmung des Vertragsinhalts sollte nach nationalsozialistischer Auffassung nicht dem Belieben der Vertragsparteien überlassen werden, sondern zu Ergebnissen führen, die im Einklang mit dem Gemeinwohl stünden. Daher sollten die Vorschriften des BGB mit Generalklauseln bereichert und dementsprechend ausgelegt werden, weswegen dem Richter die Befugnis erteilt werden sollte, den Vertragsinhalt korrigierend umzugestalten, falls dieser von einem individualistischen Geist geprägt sei, der dem Gemeininteresse zuwiderlaufe. Schließlich wurde für das neue Zivilrechtsgesetz vorgeschlagen, vom Begriff der unerlaubten Handlung im Sinne der Verletzung eines absoluten subjektiven Rechts (§ 823 I BGB) Abstand zu nehmen und den Verstoß gegen die guten Sitten als Grundnorm des Deliktsrechts festzulegen. Das Abstellen auf die guten Sitten würde übrigens die Einführung einer weiteren [deliktsrechtlichen] Generalklausel darstellen,16Nach herrschender Interpretation war auch im Rahmen des BGB die sittenwidrige Schadensverursachung als eine Form von Delikt anzuerkennen, der dann erfüllt wird, wenn die Schädigung vorsätzlich ist. Der nationalsozialistische Vorschlag ging aber dahin, die Sittenwidrigkeit unter Umständen auch bei fahrlässigen Schädigungen als Delikt einzuführen. Wäre dies Gesetz geworden, würde bei einer nationalsozialistischen Interpretation der guten Sitten das ganze Deliktsrecht aus den Angeln gehoben. die dem Richter einen sehr breiten Ermessensspielraum für die Anpassung des gesamten Privatrechts an die nationalsozialistische Ideologie einräumen würde.17Die Debatte in der Akademie konzentrierte sich hauptsächlich darauf, ob das Deliktsrecht in der Form einer Generalklausel oder enumerativ gestaltet werden sollte. Vgl. diesbezüglich Nipperdey, 1940, 36 ff. Zusätzlich wurde vorgeschlagen, die Verletzung der Ehre als besonderen Deliktstatbestand einzuführen.
II. Die griechische Privatrechtswissenschaft und der Astikos Kodix
1. Die Geltung des Astikos Kodix
Das griechische Zivilgesetzbuch Astikos Kodix (im Folgenden: AK) erblickte nach einer langen und abenteuerlichen Schwangerschaft (die in gewisser Weise auch nach seiner Geburt anhielt) bei einem Festakt am 15. März 1940 das Licht der Öffentlichkeit.18Vgl. kurzgefasst Gazis, 1998, 1023 ff. Der AK beruhte stark auf dem BGB, wies aber auch einige Änderungen auf, die den Geist der 30er Jahre widerspiegelten. Diese betrafen in erster Linie, wie wir sehen werden, den Begriff des subjektiven Rechts. Die Nachricht von der Einführung des AK wurde gleich in den deutschen Fachkreisen zur Kenntnis genommen. Die Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht,19Vgl. Band 7, 1940, 248. die das offizielle Organ der gleichnamigen Akademie war, unterstrich, dass im AK dem Individuum zwar subjektive Rechte gewährt würden, diese aber nur als Mittel zur Förderung des Gemeinwohls konzipiert wären. Dem gleichen Bericht zufolge hätte die Vorarbeit, die in der Akademie für Deutsches Recht in ihrem Bemühen, das BGB zu reformieren, geleistet wurde, die volle Anerkennung der griechischen Juristen erfahren, da die deutschen Vorstellungen nicht nur in den Grundsätzen, sondern auch im Wortlaut vieler Vorschriften wesentlichen Einfluss gehabt hätten. Die Zeitschrift kündigte eine detailliertere Darstellung der Kodifikation des „befreundeten Volkes“ an.
In Griechenland wurde jedoch das Inkrafttreten des Zivilgesetzbuchs des „befreundeten Volkes“ durch die Rechtsverordnung vom 15. Mai 1941, erlassen durch die von der deutschen Besatzungsmacht eingesetzte griechische Regierung, verschoben (sonst wäre er, vorbehaltlich anderer Hindernisse, am 1. Juli 1941 in Kraft getreten). In zwei diesbezüglichen undatierten Briefentwürfen an den damals eingesetzten Premierminister zu den „zwingenden“ Gründen, den AK sofort in Kraft zu setzen, schrieb Ajis Tampakopoulos (Justizminister des vor dem Krieg herrschenden Metaxas-Regimes) in der Zeit der Fertigstellung des AK-Entwurfs unter Jeorjios Balis (Tampakopoulos und Balis hatten beim Entwurf eng zusammengearbeitet),20Vgl. Tampakopoulos, 1943, 30 ff. unter anderem Folgendes:21Vgl. im Tampakopoulos-Archiv, das im Griechischen Literarischen und Historischen Archiv (ΕΛΙΑ) aufbewahrt wird, die Akte Nr. 2.3, betitelt „Inkrafttreten des AK (1941-1947)“. Die Betonung stammt vom Verfasser des Entwurfs.
Der Kodix ist progressiv und zeitgemäß (vgl. unter anderen die Generalklausel im Artikel 281: „Die Ausübung eines subjektiven Rechts ist verboten, wenn sie offensichtlich die Grenzen überschreitet, die durch Treu und Glauben oder die guten Sitten oder durch den sozialen bzw. wirtschaftlichen Zweck dieses Rechts bestimmt werden, überschreitet.“) [Der] Kodix hat […] das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch und die Arbeit der Akademie für Deutsches Recht in Deutschland weitgehend berücksichtigt. [B]erücksichtigt wurde auch das italienische Zivilgesetzbuch sowie die neuere gesetzesvorbereitende Bewegung in Italien.22Nach Nipperdey (1938, 437) betrachteten bereits beide Nationen die Grundsätze des Privatrechts als Ausdruck des Verfassungsrechts im Kontext des Privatrechts, im Sinne der Gründung des Privatlebens auf den Interessen der Kollektivität, also dem Wohle der Nation. [Der] Astikos Kodix hat in Deutschland und in Italien die gebührende Anerkennung erfahren.23Im selben Tampakopoulos-Archiv lesen wir in griechischer Übersetzung aus einem einschlägigen Bericht in italienischer Sprache: „Zu den wesentlichen Merkmalen [des AK] sollte auf die Tendenz hingewiesen werden, die Kollektivität zu fördern mittels einer stärkeren Unterstützung der kollektiven und nationalen Ansprüche im Rahmen der positiven Regelung derjenigen Beziehungen, bei denen solche Ansprüche mit individuellen Interessen kollidieren.“
Es besteht kein Zweifel, dass diejenige Regelung des AK, die – laut der Regierung des Metaxas-Regimes und dem Endverfasser Balis, sowie gemäß den Vorstellungen eines Großteils der damaligen griechischen Fachkreise – seinen reformistischen Geist zum Ausdruck bringt, die zitierte Vorschrift des Artikels 281 ist. Das betrifft insbesondere die darin enthaltene Klausel vom sozialen bzw. wirtschaftlichen Zweck der subjektiven Rechte. Metaxas selbst, als er am 17. Dezember 1938 J. Balis öffentlich mit der Ausarbeitung des endgültigen Wortlauts beauftragte, ermahnte diesen:24Tampakopoulos, 1943, 31.
Der Kodix soll nicht von dem individualistischen Geist geprägt sein, der bisher das bei uns geltende römische Recht weitgehend getragen hat, sondern modernen Konzeptionen folgen, nach denen das Eigentum eine soziale Funktion erfüllt, während die Ausübung subjektiver Rechte mit dem Interesse der Gesellschaft nicht in Konflikt geraten darf.
2. Das zentrale Thema des Rechtsmissbrauchs
Nach dem ursprünglichen Wortlaut des AK-Entwurfs – in der Fassung, die Balis zur Bearbeitung übergeben wurde, um ihn an „die religiösen Überzeugungen, die moralischen Werte und die zeitgenössischen sozioökonomischen Vorstellungen der Nation“ anzupassen (so der einschlägige Ministerialbeschluss von Tampakopoulos vom 23. Dezember 1938) –, verdient die Ausübung des subjektiven Rechts, falls sie die Grenzen des „Zweckes, für den es gewährt wurde, [„offensichtlich“] überschreitet, nicht den Schutz des Gesetzes“ (Hervorhebung im Original). Der damalige Wortlaut stammte von Jeorjios Maridakis, der, wie er ausdrücklich zugab, auch Artikel 1 des sowjetischen Zivilgesetzbuchs berücksichtigt hatte, der „wie von [François] Gény vorgeschlagen“ formuliert worden war.25Maridakis, 1936, 124. Bei dieser Formulierung des Entwurfs befinden wir uns jedoch, zumindest mit einem Fuß, im frühen konsequentialistischen (wenn nicht utilitaristischen) Antiliberalismus der deutschen Rechtsperiode des späten 19. Jahrhunderts (verkörpert im Werk des berühmten Rudolph von Jhering), und nicht schon im existenziell kämpferischen Gegensatz zum individualistischen, liberalen, grundlegend kantisch und letztlich skandalös jüdischen, so Schmitt (1934, 225 ff.), römischen Recht. Letzteres wurde jedoch im damaligen Griechenland von Seiten der nationalistischen Rechtsauffassung, wenn auch als dem griechischen [altgriechischen] Geist nicht fremd, so doch als armseliges Imitat betrachtet. Gazis (1998, 1026, Anmerkung 11) weist darauf hin, dass „der große Jurist Ernst Rabel [vgl. Rabel 1934, 839 ff.], der in Deutschland als Jude verfolgt wurde, nach 1936 darum gebeten hatte, nach Griechenland kommen zu dürfen, um bei der Redaktion des AK mitzuwirken. Sein Vorschlag wurde jedoch nicht angenommen“.
Wie kam es zum endgültigen Wortlaut des Artikels 281 des AK? Kam er aus der Feder von Balis? Aus dem Tampakopoulos-Archiv26Vgl. das Taschenbuch mit dem ursprünglichn Titel „Telikon Schedion G. Balis“ (Τελικόν Σχέδιον Γ. Μπαλή/ Finalentwurf von G. Balis; der Titel wurde gestrichen und stattdessen eingetragen: „Astikos Kodix“), 46; vgl. auch ein weiteres Taschenbuch mit der Notiz „Privatexemplar des Justizministers“, 62. geht hervor, dass der Wortlaut bereits im endgültigen Entwurf von Balis enthalten war, mit der Ausnahme, dass dort nicht die positive Formulierung verwendet wurde: die missbräuchliche Ausübung eines Rechts ist „verboten“, sondern die negative: „ist nicht erlaubt“. Es ist daher sehr interessant, dass Tampakopoulos selbst in einer Rede über die soziale Bedeutung des AK diese Bestimmung als „Krönung und Aushängeschild des sozialen Charakters“ des AK bezeichnete.27Tampakopoulos, 1940, 233 ff. Seinen Worten nach besagt der AK in Artikel 281 zum Rechtsmissbrauch:
[E]r [der Kodix] hat nicht gezögert, eine klare Position einzunehmen […], die die gesamte soziale Weltanschauung widerspiegelt […]. [E]s wird daher dem Richter auferlegt […], jegliche Art von moralischen oder materiellen Interessen abzuwägen und zu bewerten, die allgemein mit der Ausübung des […] subjektiven Rechts verbunden sind, das nunmehr […] als Hilfsmittel verstanden wird […].
Oder, zu einem späteren Zeitpunkt, in den Worten eines anderen geistigen Wegbegleiters:
[D]as subjektive Recht im Sinne des griechischen AK verkündet nicht mehr die uneingeschränkte Souveränität des Willens des Berechtigten, sondern befürwortet eine „von der Pflicht umgrenzte Macht“, die auch die Interessen des Schuldners zu berücksichtigt.28Gogos, 1944, 85.
Hier sei bemerkt, dass der Wortlaut dieses Artikels 281 AK sowohl den kontinaleuropäischen Rechtsordnungen als auch dem angelsächsischen common law fremd ist. Er entspricht aber den „neuen“ deutschen Vorstellungen. Zudem ist er, wie bereits erwähnt, auch vom Artikel 1 des sowjetischen Zivilgesetzbuches von 1922 beeinflusst, der lautete: „Das Gesetz schützt die privaten subjektiven Rechte, es sei denn, ihre Ausübung widerspricht ihrem sozialen und wirtschaftlichen Zweck.“
3. Die antiliberale Interpretation
Nach der Befreiung [von der deutschen Besatzung] wurde die von Balis ausgearbeitete Endform des AK heftig kritisiert. Konstantinos Triantafyllopoulos und Jeorjios Maridakis – zusammen mit Balis Hauptautoren früherer Entwürfe des AK –, die von Balis überflügelt worden waren, entwarfen ein anderes Zivilgesetzbuch, das sie Ellinikos Astikos Kodix (Ελληνικός Αστικός Κώδιξ/Griechisches Zivilgesetzbuch; EllAK/ΕλλΑΚ) nannten. Die griechischen Fachkreise waren darüber gespalten und es folgte von beiden Seiten eine Reihe von Veröffentlichungen. Bezüglich des subjektiven Rechts kritisierten die Urheber des EllAK den AK, allerdings nicht wegen des antiliberalen Geistes des Artikels 281. Ihre Kritik (von links?) war, dass sich die Endfassung des AK von Balis mit dem eher negativen Wortlaut von Artikel 281 des AK zufriedengebe, und nicht den „zeitgemäßen“ Einstellungen29Vgl. z.B. Maridakis, 1946, 144, Kousoulakos, 1946, 191. folge, insbesondere in Bezug darauf, dass die „Ausübung des Eigentumsrechts im Sinne der sozialen Funktion eine Verpflichtung des Eigentümers ist“ (wie es in Artikel 1041 des EllAK heisst – dieses Gesetzbuch war nur für kurze Zeit in Kraft, konnte sich aber am Ende nicht durchsetzen). J. Balis hatte im Artikel 1000 des AK den Begriff des Eigentums definiert (die vielsagende Nummer 1000 hatte er absichtlich dieser Definition vorbehalten), eine Definition, die er wortgetreu vom BGB übernahm. Triantafyllopoulos und Maridakis hatten demgegenüber in Artikel 1040 ihres EllAK in der Definition des Eigentums sogar die im ursprünglichen Entwurf enthaltene (und von Kant inspirierte) Klausel gestrichen, wonach der Geltungsbereich des Eigentumsrechts dort endet, wo die Rechte anderer beginnen. Die einzige verbleibende Grenze war nunmehr die des Gesetzes (also nur die des objektiven Rechts).
Balis, der in einer entsprechenden Notiz30Vgl. Blatt Nr. 91/15.3.1940 (Heft 1) Amtsblatt der Regierung, 594. die „sozial ausgerichtete Anpassung der Rechtsregeln im Kodix“ ankündigte, hatte jedoch bereits darauf hingewiesen, dass „in jüngster Zeit“ verfassungsrechtlich „Eigentum nicht nur ein individuelles Recht ist, sondern auch eine soziale Funktion erfüllt“, was, richtig verstanden, eher treffend zu verstehen gibt, dass die gesetzlichen Einschränkungen des Eigentums, die nicht dem Nachbarrecht zugeordnet werden, zum öffentlichen und nicht zum Privatrecht gehören. Und er setzte fort:
Das gleiche kann jetzt und in Zukunft für jedes subjektive Recht und insbesondere für das des Schuldners wiederholt werden. Der Gesetzeskanon des Schuldrechts hat zwar den direkten Zweck, das individuelle Interesse zu schützen, indirekt aber die Förderung des gesellschaftlichen Gemeininteresses, was auch den Letztgrund jeder gesetzlichen Regelung darstellt.
Daher hatte es kaum Sinn, in Artikel 281 des AK als Zweck des subjektiven Rechts („für den es gewährt wurde“) als selbstverständlich auch das individuelle Interesse anzuführen. Außerdem hätte bei den damals vorherrschenden antiliberalen Einstellungen der „individuelle“ Zweck, wenn man ihn gegen den allgegenwärtigen „gemeinschaftlichen“ abgewogen hätte, sich niemals durchsetzen können. Metaxas selbst gab zu, dass der AK zwar nicht so radikal ausgefallen sei, wie er hätte sein sollen, er trüge aber die neue Mentalität in sich:31Darauf beruft sich Mantzoufas, 1940, 427 ff.
[D]ie Rechte des Individuums können nur als Mittel aufgefasst werden, durch welche das Individuum dem Ganzen dient, da eines der Hauptziele des Nationalen Staates ist, in stufenweiser Entwicklung eine möglichst umfassende soziale Gerechtigkeit und Solidarität zu erreichen.
Die „neue Mentalität“ war bereits 1934 in einem von Panajotis Zepos signierten, dicht verfassten zweiseitigen Aufsatz dargelegt worden, aus dem hier einige Stellen zitiert seien:
Die Autonomie der Vertragsparteien […] muss verschwinden. Ein Vertrag ist nach nationalsozialistischer Auffassung ein neuer, von individuellen Zwecksetzungen befreiter gemeinsamer Wille der Vertragsparteien […], der im Dienste des materiellen Wohlergehens der Volksgemeinschaft steht […]: Der Schutz des finanziell Schwächeren wird nur durch das Prinzip des Gemeinnutzes garantiert […]. Das zeitgemäße […] Rechtsbewusstsein toleriert keine […] abstrakten Verpflichtungen […]. Seit sich der deutsche Grundsatz des Schutzes von Treu und Glauben durchgesetzt hat, wurden abstrakte Schuldverhältnisse überflüssig, […] als Überbleibsel individualistischer Prinzipien […]. [D]ie einstweilige Regelung des Besitzes […] wird als Manifestation individualistischer Gesinnung angesehen. Es ist moralisch und rechtlich unverständlich, wieso der arglistige Besitzer vor Dritten geschützt werden soll […]. Die Idee des Privateigentums […] wird gemäß der neuen Ideologie […] nur im Sinne der Weimarer Verfassung akzeptiert. Der Nationalsozialismus hatte hier nichts Neues zu bieten. Nur wegen der besonderen Stellung von Grund und Boden wird dieser im nationalsozialistischen Staat […] als Volkseigentum betrachtet. Der Immobilieneigentümer wird moralisch nur als Stellvertreter des ganzen Volkes angesehen […]. [Um]so mehr muss die soziale Anschauung […] beim […] Urheberrecht vorherrschen […]. Zu verwerfen ist […] die unter dem Einfluss von Prinzipien der Aufklärungszeit individualistische Auffassung der Ehe als Dauervertrag der Ehepartner […]. Das Eherecht unterliegt […] zwei Prinzipien: der Konzeption der Ehe als Grundlage des Volksbegriffs und dem Prinzip der führenden Stelle des Ehemannes, was echt faschistisch ist. Somit sind [auch], was die Ehescheidung betrifft, die nationalsozialistischen Einsichten klar bestimmt. […] Aus dem Grundsatz des Vorrangs der Volksgemeinschaft ergibt sich […] eine grundsätzliche Umkehrung der Rangfolge zwischen der testamentarischen und der gesetzlichen Erbfolge […]. Diese wird von der sozialen Anschauung verlangt. Sie muss daher den Vortritt vor jener […] erlangen. Mit diesen angestrebten Reformen wird der zeitgemäßen, sozialistisch gefärbten Ausgestaltung des Zivilrechts ein neuer, nationaler Ton verliehen.
4. Die nationalsozialistische Mentalität
War der AK nun ein Produkt des „Regimes des 4. August“? Und war der endgültige Wortlaut seines Artikels 281 oder irgendeiner anderer seiner Vorschriften inhärent nationalsozialistisch? Die Antwort auf diese Frage kann nur negativ sein.32Georgiadis, 2013, 169 ff., insbesondere 178 ff. Die regulatorische Priorität des Rechtsmissbrauchs war jedoch weit davon entfernt, eine derartige Deutung verhindern zu können. Es war, klarer gesagt, eine Frage der (Um)Interpretation, wie Carl Schmitt zynisch zugegeben hatte:33Schmitt, 1934, 59.
Sobald Begriffe wie „Treu und Glauben“, „gute Sitten“ usw. nicht auf die individualistische bürgerliche Verkehrsgesellschaft, sondern auf das Interesse des Volksganzen bezogen werden, ändert sich in der Tat das gesamte Recht, ohne dass ein einziges „positives Gesetz“ geändert zu werden brauchte. Ich bin deshalb der Überzeugung, dass sich in diesen Generalklauseln eine neue juristische Denkweise durchsetzen kann.
In diesem Zusammenhang stellte Jeorjios Mantzoufas, Schrittmacher des Metaxas-Regimes im Zivilrecht, das „Interesse der Nation als Leitfaden für die Auslegung und Anwendung des Gesetzes“ vor.34Mantzoufas, 1939, 1449 ff. Wenn auch mit einiger Zurückhaltung, so muss sich ihm zufolge die Rechtsprechung nunmehr doch dem [politischen] „Wechsel“ anpassen. Dies bedeutet unter anderem, dass der Rechtsmissbrauch wieder regulatorische Priorität bekommt. Laut Mantzoufas, indem das römische Recht „den Stempel und den Charakter eindeutiger individualistischer Prinzipien trägt, ist es schwer mit den Prinzipien des [politischen] Wechsels zu vereinbaren, die sozialer sind und auf Nation und nationaler Solidarität fußen.“35Mantzoufas, 1938b, 1233. Ihm zufolge bedeutet dies beispielsweise, dass, was den Umfang des Schadensersatzes gemäß der Lex Aquilia betrifft, neben dem Schaden des Beschädigten nun auch der Nutzen des Sozialganzen zu berücksichtigen ist. Es wäre daher von Interesse, nach Vorschlägen zur Änderung des griechischen Zivilrechts seitens proklamierter griechischer Nationalsozialisten zu suchen, wie diese in der Zeitschrift Neon Kratos (Neuer Staat) des Regimes des 4. August zum Ausdruck gekommen sind. In einem entsprechenden Aufruf hatte Mantzoufas die griechischen Juristen aufgefordert, aufgrund der neuen Prinzipien „auch zum Wechsel“ im geltenden Recht beizutragen.36Mantzoufas 1938a, 1135 ff. In der genannten Zeitschrift scheint jedoch nur eine einzige diesbezügliche, rein nationalsozialistische Ansicht zum Ausdruck gebracht worden zu sein: „Möge der zukünftige Kodix die Verehelichung eines Griechen mit einem Nicht-Arier verbieten.“37Frangos, 1938, 310. Die griechischen Zivilrechtler, umsichtig und konservativ genug, scheinen sehr zurückhaltend gewesen zu sein gegenüber nationalsozialistischen Vorstellungen, wenn auch unter dem Deckmantel eines (eigentlich unangebrachten) Billigkeitsprinzips.38Vgl. zum Beispiel Litzeropoulos, 1940, insbesondere 175, 160, Anmerkungen 46, 192, 200.
5. Das Erbe der Zwischenkriegszeit
Was ist von all dieser „sozialen“ Ideologie überhaupt, aber auch speziell in Bezug auf das Recht übriggeblieben? Die laut Nationalsozialisten, griechischen Nationalisten, Sozialisten und Staatsideologen „zeitgemäße“ Lehre vom Rechtsmissbrauch (konsequentialistisch und antiliberal) hatte den ideologischen Kampf gewonnen, noch bevor der AK in Kraft getreten war.39Vgl. Litzeropoulos, 1938, 100 f. Rechtsmissbrauch bedeutet, wenn wir uns der (angeblich überholten) Sprache des römischen Rechts bedienen,40vgl. Triantafyllopoulos, 1943, 49 ff. insbesondere (so die sogenannte klassische Lehre) Böswilligkeit, Einrede des dolus generalis, widersprüchliches Verhalten, aber auch, als jüngere Erweiterungen des Begriffs, Vertrauensmissbrauch, Rechtsverwirkung, sogar – ausnahmsweise wegen besonderer Gerechtigkeitsumstände – Fehlen eines legitimen Interesses. Der Geist der 1930er Jahre und der Wortlaut des Artikels 281, kombiniert mit der methodologischen Lehre der Interessenabwägung als der grundlegendsten juristischen Denkweise, scheinen dennoch die Mehrheit der Juristen beeinflusst und sie dazu verführt zu haben, der „römischen“ Tradition zu misstrauen.
So herrschte nach Inkrafttreten des AK die gleiche Mentalität (besser: Verwirrung). Einige Ansichten konnten im Zweiten Weltkrieg nicht besiegt werden.41Dazu trug die Tatsache bei, dass die meisten dem Nationalsozialismus gefolgten deutschen Zivilrechtler nach dem Krieg restituiert wurden; ihre damaligen Lehren gerieten in Vergessenheit, aber viele von ihnen haben in ihren einflussreichen Arbeiten nicht alle Spuren ihrer alten Ideologie verschwinden lassen. Eine der Ausnahmen war Karl Larenz, der als prominenter Zivilrechtler in seiner Lehre den Einfluss Hegels aufgab und zu kantischen Grundprinzipien zurückkehrte. Charakteristisch ist vor allem das erste Kapitel der ersten Ausgabe seines Allgemeinen Teils (Larenz 1968).
So ist es typisch, wenn viele Jahre später der angesehene Zivilrechtler Alexandros Litzeropoulos immer noch der Ansicht war, der Missbrauch der allgemeinen Handlungsfreiheit könne als Deliktstatbestand angesehen werden, wogegen die nationalsozialistischen Juristen sicher keinen Einwand erheben würden. Er führte als Beispiel folgenden Fall an:42Litzeropoulos, 1980, 441.
Der Händler E installiert eine große Uhr auf dem hochliegenden Balkon seiner auf der Hauptstraße liegenden Geschäftsstelle, versehen mit einem Werbeschild für sein Unternehmen; später unterlässt er es aber, die Genauigkeit der Uhrangabe zu kontrollieren, so dass die Uhr bald nachgeht. Infolge seiner Nachlässigkeit verlieren die benachbarten Geschäfte ständig Kundschaft, weil diese, durch die Uhr in die Irre geleitet, erst kurz nach Ladenschluss erscheint.
Die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs an die benachbarten Ladenbesitzer (und warum nicht auch an die Passanten, die ihren Zug verpasst haben?) in diesem Beispiel ist ein krasser Verstoß gegen die liberalen Grundprinzipien des Zivilrechts. Erstens bedeutet die Anerkennung der rechtlichen Möglichkeit eines Missbrauchs der allgemeinen Handlungsfreiheit die globale „Sozialisierung“ privater Selbstgestaltungsfreiheit. Und zweitens setzt die Zulassung eines entsprechenden Entschädigungsanspruchs voraus, dass Dritte gegen einen jeden von uns einen Rechtsanspruch darauf haben, dass wir uns bei unserem Verhalten an diese „sozialisierte“ Freiheit halten. Zudem ist die Art bemerkenswert, wie die Rechtsprechung die im Vertragsrecht geltenden Generalklauseln der Artikel 288 und 281 des Astikos Kodix interpretiert, die auf Treu und Glauben und die guten Sitten als Leitfäden der Verpflichtungen der Vertragspartner und als Axiome der Vetragsauslegung verweisen. Nach ständiger Rechtsprechung des Areopag, des obersten griechischen Gerichtshofs, autorisieren diese Vorschriften den Richter, den Vertragsinhalt (meistens unter dem Deckmantel einer teleologischen bzw. auch einer gesetzeskorrigierenden Auslegung) an das richtige Maß anzupassen, das sich seiner Ansicht nach aus diesen Grundsätzen für den konkreten Fall ergibt – dabei sogar unter Absehen von den strengen Bedingungen des Artikels 388, welcher einen „unvorhersehbaren Wandel der Umstände“, die die Geschäftsgrundlage bildeten, verlangt.