Die Dynastie der Wittelsbacher und die griechische Geschichte: Erinnerungspolitik und Legitimationsstrategien

  • Veröffentlicht 07.09.20

Die Ernennung Ottos zum ersten König des neugegründeten griechischen Staates 1832 bedeutete für seinen Vater Ludwig I. von Bayern die Gelegenheit zur Stärkung seines Hauses in Europa, da es so die Kontrolle über ein zweites Königreich gewann. Die Auffassung, dass nunmehr zwei Staaten unter dem Zepter der Wittelsbacher standen, hatte zum einen für die öffentliche Selbstdarstellung der bayerischen Dynastie in München die Aneignung der griechischen Geschichte als unverzichtbares Element der Identität der Dynastie zur Folge. Zum anderen wiederum wurden die Symbole der Monarchie in Athen hellenisiert, so dass die Geschichte Ottos zu einem Teil der griechischen Nationalgeschichte wurde. Mit welchen Mitteln unternahm es Ludwig I., die griechische Vergangenheit dem modernen bayerischen Königreich einzuverleiben? Wie sah die vom Regentschaftsrat und später von Otto selbst betriebene Erinnerungspolitik aus, die seine politische Legitimation sicherstellen sollte? Wie wurde die moderne Monarchie mit der antiken wie auch der byzantinischen Vergangenheit in Verbindung gebracht? Auf welche Weise erfolgte die Aneignung der historischen Erinnerung an die Griechische Revolution, und wie hingen die Legitimationsstrategien mit den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und mit der anti-ottonischen Opposition zusammen? Zu welchen Ergebnissen führte der Kulturtransfer zwischen dem katholischen, deutschsprachigen Königreich und dem orthodoxen Nationalstaat, der sich gerade erst vom Osmanischen Reich losgesagt hatte, auf dem Gebiet der nationalen Gedenkzeremonien? Und schließlich: Welchen Erinnerungsstrategien war Erfolg beschieden, und was blieb von Otto als ersten Herrscher des unabhängigen griechischen Staates nach seiner Vertreibung im Gedächtnis der griechischen Gesellschaft erhalten, wie erinnerte sie ihn?

Inhalt

    Bayerisch-dynastische Erinnerung und griechische Geschichte

    Als Kunstliebhaber und Bewunderer des antiken Griechenlands unterstützte Ludwig I. (Herrschaftszeit 1825–1848) den griechischen Unabhängigkeitskampf und träumte davon, München zu einem «Isar-Athen» zu machen (Kasimati, 2000, 346). Sein enger Mitarbeiter und Berater, der Architekt Leo von Klenze, entwarf 1816 das erste rein archäologische Museum in München, die berühmte Glyptothek, um dort die antiken Skulpturen aus dem Aphaia-Tempel von Ägina unterzubringen. Die Einweihung erfolgte 1830 (Tolias, 2012, 84; Wünsche, 2000, 156). Von Klenze stammten auch die Propyläen am Königsplatz, die ein herausragendes Beispiel des bayerischen Neoklassizismus und ein Zeugnis der ästhetischen und ideologischen Anschauungen des bayerischen Königs darstellen. Die Übernahme des griechischen Thrones durch Ludwigs zweitgeborenen Sohn bedeutete, dass die Geschichte des griechischen Königreiches dem Gedächtnis der bayerischen Dynastie integriert und zur Ausschmückung königlicher und öffentlicher Gebäude herangezogen wurde. Dies spiegelt sich auch im ikonographischen Programm wider, das Ludwig für seinen Palast sowie für die imposanten Propyläen am Münchener Königsplatz wählte. Auch diese Bauwerke wurden zu Erinnerungsorten der Griechischen Revolution. Die 1854 bis 1862 – also nach der Abdankung Ludwig I. – errichteten Propyläen tragen in griechischen Buchstaben die Namen der Protagonisten von 1821, während auf dem Giebel Szenen aus dem griechischen Unabhängigkeitskampf dargestellt sind.

    Die Wandbilder in den westlichen Arkadengängen des Münchener Hofgartens zeigen (bereits seit 1829) Szenen aus der Geschichte des Hauses Wittelsbach. Ludwig I. war der Ansicht, dass diese historischen Darstellungen in den Säulengängen des Hofgartens allen Bürgern frei zugänglich sein sollten. Sie erfüllten eine didaktische Funktion, insofern sie die «offizielle» Version der Geschichte propagandierten, in deren Zentrum die Person des Monarchen stand. Aus diesem Grund wurden diese ersten Wandmalereien lithographisch reproduziert und als Drucke in eigenständigen Ausgaben verbreitet. Genau gegenüber, in den nördlichen Arkadengängen des Hofgartens, wurden auf Anordnung Ludwigs in den Jahren 1841–1844 auf Entwürfen des bayerischen Schlachtenmalers Peter von Hess basierende Wandmalereien ausgeführt, die Ereignisse aus dem griechischen Unabhängigkeitskampf darstellten. So wurde mit dem Hofgarten ein ikonographisches Ganzes geschaffen, in dem sich die bayerische Vergangenheit mit der griechischen unter der Herrschaftsgewalt des gemeinsamen Königshauses assoziativ verband. Die Wandbilder zur griechischen Geschichte erfüllten zudem den Zweck, die bayerische Öffentlichkeit mit dem fernen (und für viele exotischen) griechischen Königreich vertraut zu machen, sie für den Kampf zu begeistern, der ihm vorausgegangen und der von Ludwig aktiv unterstützt worden war, und schließlich gegenüber Ludwigs Untertanen die Politik des bayerischen Königs zu legitimieren, der die Griechen auch materiell unterstützt hatte (Kasimati, 2000, 431, 462).

    Das erste Anzeichen, dass das Haus Wittelsbach sich auch die Geschichte des jungen Landes, das es fortan regieren würde, aneignen wollte, war der an Peter von Hess erteilte Auftrag, Otto nach Griechenland zu folgen (1832–1833), um zum einen sämtliche Ereignisse seiner Ankunft im neugegründeten Königreich zu verewigen und zum anderen einen Zyklus von Zeichnungen zur neueren griechischen Geschichte zur Ausschmückung der Münchener Residenz vorzubereiten. Während seines Aufenthaltes in Griechenland fertigte von Hess 39 Bleistiftzeichnungen sowie 40 Skizzen für Ölgemälde an, auf denen dann die von dem Maler Friedrich Christoph Nilson 1841–1844 ausgeführten Wandmalereien im nördlichen Gang der Hofgarten-Arkaden basierten. Diese Wandmalereien wurden im 2. Weltkrieg vollständig zerstört (Papanikolaou, 2007, 36-38).

    Nachdem sie lithographiert und unter dem Titel «Griechenlands Befreiung» (München 1842) herausgegeben worden waren, erlangten von Hess‘ Bilder in ganz Europa große Bekanntheit. Sie wurden von anderen Malern kopiert und fanden, als Einzeldrucke oder in Zeitschriften und Schulbüchern abgedruckt, auch in Griechenland Verbreitung. Der bayerische Maler hatte eine idealisierende Bildsprache gewählt, die Personen ins Zentrum stellte, um so herausragende Ereignisse und Persönlichkeiten darzustellen und den Krieg als epische Heldengeschichte zu erzählen. Deren Episoden wurden chronologisch angeordnet, so dass eine historische Erzählung der Griechischen Revolution entstand, in der die Rolle der Großmächte und der Philhellenen verschwiegen, die der Kirche aber besonders hervorgehoben wurde. Von bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen sah man ebenso wenig wie von politischen Ereignissen wie den Nationalversammlungen oder den Beschlüssen der Verfassungen des Kampfes. Die Periode der Regierung des Landes durch Kapodistrias und das erste Staatsoberhaupt des Landes selbst fehlten ganz. Die lithographierte Ausgabe des Zyklus wurde von drei Otto gewidmeten Szenen abgeschlossen: Kolettis‘ Bekanntgabe der Ernennung Ottos zum König der Griechen; die Mitglieder der griechischen Delegation (D. Plapoutas, Α. Miaoulis, Κ. Botsaris) in München, wie sie sich «vor ihrem König» verbeugen; die Ankunft Ottos in Nafplio. Die Ernennung Ottos wird als Entscheidung der Griechen selbst präsentiert, als gesetzmäßige Vollendung der Revolution (Koulouri, 2020, 70-72).

    Zugleich wurden auf persönliche Initiative Ludwigs Ottos Erlebnisse auf dem Weg zum griechischen Thron verewigt und so – in einer Zeit, in der Nachrichten sich nur langsam verbreiteten und die Zeitungen noch ohne Illustrationen erschienen – auch die Neugierde der bayerischen Öffentlichkeit befriedigt. Eine ganze Reihe von bildlichen Darstellungen und Denkmälern hielt seinen Weg von München nach Nafplio fest, der ersten Hauptstadt des griechischen Staates. Ottos Abschied von seiner Familie in München (24. November/6. Dezember 1832) wurde auf einem Gemälde von Philipp Foltz dargestellt und von G. Bodmer lithographiert. Peter von Hess malte die Ankunft Ottos in Nafplio (25. Januar/6. Februar 1833) sowie seinen Empfang in Athen (23. Mai 1833). Und schließlich wurde am 13. Februar 1834 im Perlacher Forst bei München eine die Büste Ottos tragende Säule aufgestellt, ein Werk Anton Ripfels zur Erinnerung an Ottos Abschied von seinem Vater am 6. Dezember 1832.

    Erinnerungspolitik der Wittelsbacher Dynastie im griechischen Königreich

    Entsprechend der von Ludwig I. in Bayern betriebenen Erinnerungspolitik wurde ein Programm zur Legitimation der Dynastie in Griechenland durch Erinnerungspraktiken und den Gebrauch von Symbolen ausgearbeitet. Der Regentschaftsrat leistete seinen Beitrag dazu, dass die Monarchie «hellenisiert» wurde. Feierlichkeiten und Zeremonien zu Ehren der Person des Herrschers und der Dynastie im Allgemeinen wurden angesetzt und eine neue gesellschaftliche Erinnerung, in welcher der König die zentrale Stellung einnahm, konstruiert. Die erste offizielle Zeremonie, die in Griechenland für Otto organisiert wurde, war sein Empfang in Nafplio am 25. Januar/6. Februar 1833. Sie wurde auf Grundlage des europäischen höfischen Zeremoniells bis ins kleinste Detail geplant: militärische Ehrenformation, Triumphzug zur Kirche, Dankgottesdienst, Kanonenschüsse, Musik einer Militärkapelle. Es handelt sich um die sogenannten «Apovatiria», die vom folgenden Jahr an bis zur Vertreibung Ottos 1862 als offizieller Staatsfeiertag gefeiert werden. Durch diese dynastische Feier wurde die Ankunft des jungen Königs als nationales Ereignis im Gedächtnis festgeschrieben, als eine Sternstunde der griechischen Nationalgeschichte, ebenbürtig dem 25. März, also jenem dann 1838 zum Nationalfeiertag erklärten Tag, der an den Beginn der Griechischen Revolution erinnert. Als 1858 das Jubiläum der Apovatiria gefeiert wurde, rief man die Erinnerung an die Inauguration der Dynastie in Griechenland durch symbolische Gesten wach: So wurden die noch lebenden Mitglieder des Ministerrates von 1833 sowie der griechischen Delegation, die einst nach München gekommen war, um den jungen König nach Griechenland zu begleiten, zu den höfischen Feierlichkeiten eingeladen. Laut dem für seine royalistischen Anschauungen bekannten Historiographen der griechischen Nation Konstantinos Paparrigopoulos dienten die Apovatiria dem Andenken an ein historisches Ereignis von großer Bedeutung, insofern mit der Ankunft Ottos in Griechenland das Werk der Griechischen Revolution besiegelt und die «für 380 Jahre unterbrochene Kette der griechischen Monarchie» (Koulouri, 2012, 193) wiederhergestellt wurde. Ohne Zweifel hing die politische Erinnerung an die Dynastie auch mit innergriechischen politischen Konflikten zusammen, mit der Opposition gegen Otto, dem royalistischen Empfinden von Teilen der Bevölkerung und mit kurzfristigen Allianzen der Krone mit den politischen Parteien.

    Der Aufstand vom 3. September 1843 markiert eine Zäsur hinsichtlich der Legitimationsstrategien der Krone. Die gewaltsame Infragestellung des Monarchen führte dazu, dass Otto sich immer mehr der «Jagd nach Popularität» (Amalie, 2011, 441, RÜ) widmete, um seine Herrschaft zu legitimieren. Wenige Monate vor dem Aktivwerden der Bewegung hatte er sich in seinem neuerrichteten Palast im Zentrum der griechischen Hauptstadt niedergelassen. Die Grundsteinlegung des Gebäudes war am 25. Januar 1836 erfolgt, der Grundstein stammte aus dem Parthenon-Tempel – eine Idee des Architekten Friedrich von Gärtner (1792–1847), deren Konnotationen offensichtlich sind (Malama, 2005, 18). Der Palast wirkte schlicht und streng, ein Symbol der königlichen Macht. Er stellte das zentrale Wahrzeichen der Hauptstadt dar und bestimmte ihre soziale Geographie. Das imposante Erscheinungsbild des Gebäudes wirkte in einer Stadt, in der sonst keine Monumentalbauten oder Kathedralen existierten, nur umso eindringlicher. In dem für ihn typischen Stil schrieb Makryjannis: «Auch einen Palast hat seine Majestät errichtet, nur eine Kirche Gottes zu bauen oder auch nur mit eigenen Augen zu sehen, verspürt er keinen Drang, und bei offiziellen Anlässen begibt er sich mit den Botschaftern und anderen Fremden in eine Hütte» (Makryjiannis, 2011, 207). In den Augen der Griechen hatte ein Palast keinen Vorrang gegenüber der Kirche zu beanspruchen.

    Nach dem Vorbild der Münchener Residenz wurde Ottos Palast mit großflächigen Wandmalereien ausgeschmückt, die Ereignisse der Griechischen Revolution sowie Porträts ihrer Protagonisten zeigten. Die große, den Fries des Trophäensaals schmückende Wandmalerei wurde von dem bekannten Bildhauer Ludwig Schwanthaler (1802–1848) entworfen. Thematisch deckt sie sich zum Teil mit dem Zyklus von Peter von Hess. Jedoch war Schwanthaler selbst niemals nach Griechenland gereist, um sich vor Ort ein Bild von den Menschen und örtlichen Gegebenheiten zu machen oder die Ausführung seines Werkes zu beaufsichtigen. Deutsche Künstler, die dazu nach Athen kamen, übertrugen seine Entwürfe an die Wände des Saales. Der grundlegende Unterschied zwischen dem ikonographischen Programm des Hess-Zyklus und dem von Schwanthaler besteht darin, dass im Athener Palast auch politische Ereignisse wie die Nationalversammlung von Epidavros und die Panellinion-Gründung durch Kapodistrias wie auch die Seeschlacht von Navarino dargestellt sind, die in diesem fehlen. Unter Schwanthalers ersten Entwürfen findet sich auch eine Szene, die Otto zeigt, wie er das offizielle Dokument unterzeichnet, das ihn zum König Griechenlands macht – eine historische Imagination, die nach ihrer Verwandlung in eine Wandmalerei zur Darstellung eines realen Ereignisses der Kapodistrias-Regierung wurde (Papanikolaou, 2007, 76-89). Des Weiteren wurden für das Adjutantenzimmer des Palastes 14 Porträts von Kämpfern der Revolution (13 Griechen sowie der Philhellene Frank Abney Hastings) von griechischen Künstlern als Wandmalereien ausgeführt (Papanikolaou, 2007, 91). Das ikonographische Programm des Palastes entsprach einer Erinnerungspolitik, die die Geschichte des Kampfes um die Unabhängigkeit zur Grundlage der Legitimation von Ottos Herrschaft machte.

    Otto als rechtmäßiger Erbe der Griechischen Revolution

    Das stärkste Mittel der Identifikation des Herrschers mit dem Volk, das er regierte, war sein eigenes Bild. Wie es auch bei den anderen westeuropäischen Gekrönten üblich war, wurden lithographierte Porträts von Otto und Amalie in Umlauf gebracht und von einer breiten Öffentlichkeit erworben. Mangels eines offiziellen Porträts handelte es sich überwiegend um Kopien jenes Porträts, das der bayerische Maler Joseph Stieler (1781–1858) 1832 angefertigt hatte, als die Ernennung Ottos zum König von Griechenland bekanntgegeben wurde. Dieses Porträt zeigt den jungen Otto in der Uniform des Königlich Bayerischen Infanterie-Leib-Regiments. Gemäß der europäischen Mode der Zeit wurde Ottos Gestalt auch in Form von Porzellanminiaturen und sogar Stickereien reproduziert.

    Der italienische Bildhauer Enrico Franzoni fertigte 1835 eine Büste Ottos an, die ihn in ein antikes griechisches Gewand gehüllt und mit entblößter linker Schulter darstellte, so wie es der künstlerische Trend bei Herrscherdarstellungen damals gebot (Kasimati, 2000, 516, 521). Die Tatsache, dass auch Makryjiannis (laut dem Zeugnis des Griechenlandreisenden Raoul de Malherbe) eine solche Otto-Büste bei sich zu Hause hatte, untermauert die Hypothese, dass die Porträts des Monarchen, sei es in Form von volkstümlichen Bildern oder von Skulpturen, damals so manches Privathaus zierten (Theotokas, 2012, 374). In einer an Bildern armen Gesellschaft behaupteten die Darstellungen des Königspaares systematisch ihre Präsenz. Viele andere Ereignisse aus Ottos Leben, wie zum Beispiel die Rundreise durch Griechenland zusammen mit seinem Bruder Maximilian oder auch sein gemeinsames Leben mit Amalie nach ihrer Hochzeit 1836, wurden ebenfalls lithographisch reproduziert und fanden so weite Verbreitung.

    Dennoch ist das offizielle Bild Ottos, so wie er selbst es, durch seinen Vater ermutigt, inszenierte, eines, das ihn als Träger der Fustanella präsentiert. Nach der Thronbesteigung entschied der junge König, sich in jener Tracht zu präsentieren, die im philhellenischen Westen zum Inbegriff des Kampfes um Unabhängigkeit avanciert war. Folglich ließ er sich als Erbe und Wahrer dieses Kampfes darstellen. Bewusst identifizierte er sein öffentliches Bild mit der Fustanella und ließ sich ab 1835 auf nahezu sämtlichen bekannten Porträts in dieser Weise abbilden. Auf dem Gemälde Dietrich Montens (1835), einem der ersten Porträts nach seiner Thronbesteigung, ist Otto mit Fustanella und Yatagan vor einem antiken griechischen Tempel dargestellt – ein weiteres gängiges ikonographisches Klischee. Auch auf dem nächsten, bekannteren Porträt, welches der deutsche Maler Ernst Wilhelm Rietschel (1824– 1860) während seines Aufenthaltes in Athen 1853/54 anfertigte, präsentiert sich Otto wieder in der Fustanella und mit antiken Ruinen im Hintergrund. Otto trug die Fustanella jedoch nicht nur für seine Porträts, sondern auch bei allen offiziellen Veranstaltungen und öffentlichen Auftritten.

    Die Fustanella wurde vom ersten König Griechenlands aus mehreren Gründen als offizielle Amtstracht übernommen. Zunächst, weil er wünschte, sich den Kleidungsbräuchen – so wie sie durch den westlichen Blick wahrgenommen wurden – des Volkes, das er regieren sollte, anzupassen und seine Untertanen mittels der Sprache der Symbole mit seinem Bild vertraut zu machen. Dementsprechend entwarf auch Königin Amalie eine dann unter dem Namen «Amalia» bekannt werdende Nationaltracht für Frauen, die Elemente der westlichen Mode mit lokalen Stilelementen verband. Bei dieser Amalien-Tracht handelte es sich um ein Hofkleid, das offizielle Gewand der Hofdamen, welches bei nationalen Feierlichkeiten auch von der Königin selbst getragen wurde (Aliberty, 1896, 32). Für kurze Zeit kam die Amalia sogar bei den Griechinnen in Mode: Sie zögerten nicht, sie als Brautkleid und auch sonst bei besonderen Anlässen als Tracht zu tragen (Macha-Bizoumi, 2012, 75-76). Bis Ende der 1830er-Jahre trugen Otto und Amalie diese «Nationaltrachten» also bei ihren öffentlichen Auftritten, um so ihre Verbundenheit mit dem griechischen Volk zu demonstrieren. Ihre Entscheidung korrespondierte entsprechenden Praktiken der absoluten Monarchie in Europa, wo man bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Tendenz beobachten kann, dass einheitliche Trachten bzw. Uniformen von den gekrönten Herrschern sowohl am Hofe wie auch bei den Untertanen durchgesetzt wurden. Darüber hinaus hatte die Dynastie der Wittelsbacher in Bayern seit Anfang des 19. Jahrhunderts systematisch «traditionelle» oder «historische» Kostüme als patriotische Botschaft gebraucht. Beispiel par excellence ist auch hier wieder Ludwig I., der, als er noch Kronprinz war (1814–1820), die sogenannte Altdeutsche Tracht trug, um so seine Hingabe an die Idee der nationalen Einheit anzudeuten (Pietsch, 2015, 148-152).

    Otto nutzte auch andere Gelegenheiten, um seine Verbundenheit mit dem Erbe der Griechischen Revolution symbolisch auszudrücken. Einen Monat bevor er volljährig wurde und den Thron bestieg, nahm er am ersten politischen Festakt des griechischen Staates teil, der Überführung der Überreste von Jeorjios Karaiskakis und der bei der Belagerung der Akropolis gefallenen Kämpfer und ihrer Beisetzung am Denkmal in Faliro (22. April 1835). Das Karaiskakis-Denkmal in Faliro ist das erste von der Zentralmacht errichtete Denkmal und schuf einen bedeutenden Erinnerungsort an genau der Stelle, wo er getötet worden war. Es handelt sich um eine einfache Marmorsäule mit einer geräumigen Basis, in welcher der Sarkophag mit den Gebeinen beigesetzt wurde. In einer Inschrift wurden die Namen Ottos und der Regenten genannt und somit die symbolische Verbundenheit der Dynastie mit dem Revolutionshelden bestätigt. Die Enthüllung des Denkmals war eine feierliche und glanzvolle Veranstaltung vor großem Publikum: Otto sprach auf Griechisch zur Menge und zu den Angehörigen Karaiskakis‘, um den gefallenen Kämpfern die Ehre zu erweisen und den noch lebenden ihren Lohn zu versprechen. Als symbolische Geste legte er seinen Orden ab und platzierte ihn über Karaiskakis‘ Gebeinen, um ihn dann dessen Nachkommen zu überreichen (Koulouri, 2020, 111-112).

    Der Regentschaftsrat und anschließend auch Otto griffen die Idee der Errichtung von Denkmälern zu Ehren der Griechen und Philhellenen, die für die griechische Unabhängigkeit gekämpft hatten, auf. Schon die 4. Nationalversammlung von Argos (1829) hatte den Bau einer Erlöser-Kirche als Dank für und zum Ruhm der Errettung Griechenlands beschlossen, eine Idee, die Kapodistrias zugeschrieben wird. Mit zwei Verordnungen, eine von 1834 und eine von 1838, kündeten der Regentschaftsrat und Otto eine Spendensammlung an, um diesen Beschluss in die Wirklichkeit umsetzen zu können, und erklärten, diese Kirche solle «als Ausdruck der höchsten Dankbarkeit der Nation ein wahrhaft nationales Denkmal» (ΦΕΚ 12, 11.4.1838) sein.

    Dennoch kam das Werk nicht voran, vermutlich aus finanziellen Gründen. Die bereits gesammelten Gelder wurden schließlich für den Bau der Athener Kathedrale verwandt (1842), die Mariä Verkündung geweiht wurde (Markatou, 1995, 45-46). Die Erklärung des religiösen Feiertages Mariä Verkündung (25. Μärz) zum Nationalfeiertag (1838) war ebenfalls ein Entschluss Ottos aus der Zeit, als er mit der Russischen Partei zusammenarbeitete. In einem Land, in dem die nationale Identität in erster Linie durch das orthodoxe Dogma definiert wurde, sah sich der katholische Herrscher mit mancherlei Widerständen konfrontiert und versuchte seine Popularität zu erhöhen, indem er mit der die Orthodoxie unterstützenden Russischen Partei kooperierte (Koulouri, 2012, 198-199).

    Kulturtransfer und griechischer Nationalfeiertag

    Der Nationalfeiertag erinnerte an den Beginn der Revolution und war somit von entscheidender Bedeutung für die Legitimation der Dynastie, wobei hier sogar ein latentes Konkurrenzverhältnis zu den dynastischen Staatsfeierlichkeiten der Apovatiria bestand. Aus diesem Grunde wurde der Feiertag des 25. März während Ottos Regierung oftmals auch als Gelegenheit für gegen die Dynastie gerichtete Veranstaltungen genutzt. Die oppositionellen Kräfte übernahmen sogar rituelle Symbole, die durch die Traditionen der Französischen Revolution inspiriert waren und nicht durch das höfische Zeremoniell, das die bayerische Regentschaft in die griechische Öffentlichkeit eingeführt hatte. Die Bayern wirkten hier als Vermittler, die die politischen Zeremonien und Feierlichkeiten des Westens im Sinne einer «kulturellen Übersetzung» auf griechischem Boden kultivierten, wo bis dahin nur eine Tradition religiöser Feste und Feierlichkeiten existiert hatte.

    Allgemeiner gesagt: Die Periode der «Bayernherrschaft» in Griechenland, vor allem die Periode des Regentschaftsrates, kann betrachtet werden als Periode des Kulturtransfers, in welcher Ottos Hof und seine Armee als Vermittler zwischen zwei verschiedenen Kulturen fungierten: auf der einen Seite die westliche, katholische und deutsche; auf der anderen die griechische und orthodoxe. Der «Modernisierungs-», das heißt: Verwestlichungsplan, den die Bayern über die Organisation des Staates umsetzen wollten, stieß bei ziemlich vielen Griechen (vor allem bei jenen, die im Ausland lebten), die westeuropäische Vorstellungen und Praktiken kennengelernt und übernommen hatten, auf Zustimmung.

    Bei Staatsfeierlichkeiten folgte der Regentschaftsrat den Erfahrungen des bayerischen Königreichs, die in der Epoche der Restauration für ganz Europa galten: Man setzte auf eine Kombination aus royalistischen, kirchlichen sowie innovativen nationalen Zeremonien und Ritualen. Die Gestalt des Monarchen stand als Symbol der Staatsmacht und der nationalen Einheit im Zentrum der Feierlichkeiten, die das historische Gedächtnis kultivierten und dabei zugleich die Bürger zur Staats- und Gesetzestreue anhielten. Die königliche Prozession vom Palast zur Kathedrale, in Begleitung des Heeres und unter den Blicken des Volkes, war der Hauptakt der Zeremonie, welche durch einen Dankgottesdienst, das Hissen der Fahne und Kanonenschüsse, eine besondere Beleuchtung sowie Militärmusik und schließlich durch den Empfang im Palast vervollständigt wurde. Der König inspizierte die Truppen der Hauptstadt, doch fand damals noch keine Militärparade statt. Der Regentschaftsrat wie die bürgerliche griechische Elite suchten in der imaginierten oder realen nationalen Vergangenheit rituelle Modelle, um ein «nationales» griechisches Zeremoniell für den Nationalfeiertag zu kreieren. Im Laufe der 1830er-Jahre zum Beispiel wurde der Vorschlag gemacht, die Tradition der antiken Sportwettkämpfe wiederzubeleben, um die Griechische Revolution (nach dem Vorbild der französischen Revolutionsfeiern) mit durch die Antike inspirierten öffentlichen Zeremonien zu feiern (Koulouri, 2012, 194-195). Dennoch herrschte weiterhin das Modell der öffentlichen Festakte vor, wie man sie von westlichen Monarchien kannte, ja es wurde durch seine beständige periodische Wiederholung sogar konserviert. Der Kulturtransfer war dort erfolgreich, wo er das christlich-orthodoxe Ritual integrierte und die Kirche einen zweiten symbolischen Pol gegenüber dem Palast darstellen konnte. Otto und Amalie bestätigten durch ihren keine Rücksicht auf die eigene Religionszugehörigkeit nehmenden Besuch des im Rahmen der Feierlichkeiten ausgerichteten orthodoxen Dankgottesdienstes die symbolische Rolle der Kirche als Institution und als Wahrzeichen des Landes.

    Otto als Fortsetzer und Beschützer des antiken griechischen Erbes

    Während die Dynastie der Wittelsbacher versuchte, sich auch die jüngste Vergangenheit Griechenlands und vor allem dessen Kampf um die Unabhängigkeit anzueignen, war ihre Verbundenheit mit der Vergangenheit des klassischen Griechenland für Ludwig I. wie für Otto eine Selbstverständlichkeit, und das nicht nur, weil Bayern inzwischen bereits eine Art «neoklassizistisches» Königreich geworden war, sondern auch, weil der bayerische König wie auch die Mitglieder von Ottos Regentschaftsrat überzeugt waren, dass die antike griechische Vergangenheit innerhalb des europäischen Staatensystems als Element der Legitimation des neugegründeten griechischen Königreiches genutzt werden konnte. Georg Ludwig Maurer, der 1834 auch den ersten archäologischen Gesetzestext verfasste, wies auf die «riesige politische Bedeutung» hin, die die klassischen Altertümer für das neuerrichtete griechische Königreich hatten (Maurer, 1976, 544, RÜ). Auf Grundlage dieser Wertschätzung, die auf der Rolle beruhte, die die Großmächte in der Geschichte des Kampfes um die griechische Unabhängigkeit gespielt hatten, arbeitete die Dynastie Wittelsbach einen politischen Plan aus, der die Institution der Monarchie mit der Geltungskraft des klassischen Griechenland in Verbindung brachte. Diesem Plan dienten bestimmte symbolische Handlungen wie die Grundsteinlegung für Ottos Palast, bei der ein Stein aus dem Parthenon-Tempel verwendet wurde, oder auch der Vorschlag des Architekten Karl Friedrich von Schinkel, den Königspalast auf dem Akropolis-Hügel zu errichten (1834). Sämtliche Porträts Ottos, die nach seiner Wahl zum Herrscher Griechenlands angefertigt wurden, stellen ihn umgeben von Altertümern dar, dem stärksten Symbol seiner Monarchie. Seine königlichen Embleme – sie waren deutlich schlichter als jene des bayerischen Thrones – nahmen dekorative antik-griechische Motive auf (Schelling, 2000, 179-187).

    Über die Sprache der Symbole inszenierte sich Otto als Erbe des antiken griechischen Ruhmes, des Kleos, und als Beschützer der materiellen Überreste der Antike. Diese doppelte Rolle sicherte ihm nach Auffassung der bayerischen Würdenträger sowohl internationale Anerkennung wie auch Legitimität vor Ort. Anlässlich des Beginns der dem Wiederaufbau der Baudenkmäler der Akropolis dienenden Arbeiten organisierte Leo von Klenze während seines kurzen Aufenthaltes in Athen am 28. August 1834 eine Zeremonie auf dem heiligen Berg, bei welcher der selbst noch minderjährige König zum «Vormund» und Verwalter der griechischen Kunstdenkmäler ernannt wurde (Miliarakis, 1884, 465). Den Höhepunkt des Festaktes stellte die Legung des Grundsteines der ersten neu aufzurichtenden Säule des Parthenon-Tempels durch Otto dar. Die Macht des jungen Herrschers gründete sich auf und begründete sich durch die Akropolis. Die symbolischen Gesten richteten sich sowohl an die fremden Mächte wie auch an die lokale Bevölkerung. Drei Tage zuvor war Otto feierlich in die Stadt Athen eingezogen, ganz nach dem Vorbild des westlichen höfischen Zeremoniells, wobei er das Hadrianstor durchquerte, wo man folgende Inschrift angebracht hatte: «Αι δ’ εισίν Αθήναι/ η τε Θησέως και Αδριανού/ Όθωνος νυν η Πόλις» («Athen, des Theseus Stadt wie auch des Hadrian, ist nunmehr Ottos Stadt») Die Stadtältesten überreichten Otto einen Olivenzweig sowie eine lebende Eule, die später ausgestopft und nach München gesandt wurde. Am Tag der Feier auf der Akropolis wurde der Aufzug, der dem zu Pferde Einzug haltenden König folgen sollte, bis in das kleinste Detail organisiert. An ihm beteiligten sich die Notabeln und Ältesten sowie weitere Vertreter der Stadt, die Zünfte und die Lehrer wie auch die ausländischen Konsuln. Am Eingang der Propyläen wurde Otto von jungen, mit Myrtenkränzen und weiß-blauen Bändern geschmückten Mädchen in glänzenden Gewändern empfangen. Ein Mädchen hielt eine Fahne mit der Athene, ein anderes einen Lorbeerkranz mit einer Aufschrift, die Otto als «Wiedererrichter des Parthenon» titulierte. Ein Thron aus Lorbeer, Olivenzweigen und Myrten war auf der Akropolis, gegenüber der Moschee, errichtet worden, um den Herrscher Griechenlands zu empfangen (Μiliarakis, 1884, 463-64).

    Klenzes Ansprache an Otto ließ keinen Zweifel am symbolischen Gehalt einer politischen Zeremonie, wie sie die Stadt Athen und ihre Bewohner nie zuvor gesehen hatten. Die klassischen Denkmäler, «die einzigen [dem griechischen Staate] bereits fertig zur Verfügung stehenden nationalen Symbole« (Skopetea, 1988, 197), wurden von der bayerischen Dynastie als Quelle ihrer politischen Legitimation genutzt (Chamilakis, 2012, 83-90).

    Antike griechische Allegorien begleiten auch die Darstellung Ottos auf dem Fries der Athener Universität, einer nationalen Institution par excellence, die für eine Renaissance der Bildung und der Künste im modernen Griechenland stand. Der Monarch versuchte, sich symbolisch in ein Verhältnis zu dieser Universität zu setzen, um sich auf diese Weise als Beschützer des klassischen Erbes zu inszenieren. Die Einweihung der Universität erfolgte am 3. Mai 1837, doch wurde die Feier zur Erinnerung an ihre Gründung bis 1862 auf den Tag von Ottos Thronbesteigung gelegt, den 20. Mai. Mit der Gestaltung des Frieses wurde – nach einer entsprechenden Zuwendung des Freiherrn Simon von Sina (1856) – der Wiener Maler Carl Rahl (1812–1865) beauftragt. Das Vorhaben wurde jedoch erst dreißig Jahre später – nach einer zweiten Spende Nikolaus Dumbas (eines Wiener Industriellen griechischer Abstammung) – durch den ebenfalls österreichischen Maler Eduard Lebiedzki (1862–1915) realisiert (1888). Ottos imposante Gestalt beherrscht das Zentrum der Darstellung und ist umgeben von allegorischen Frauenfiguren: Zu seiner Linken werden u. a. die Philosophie, die Archäologie, die Geschichte und die Politik verkörpert, zur Rechten u. a. die Gesetzgebung, die Medizin, die Theologie, die Physik.

    Ergänzt wurde die Wandmalerei durch Bilder antiker Philosophen, Redner, Dichter und Staatsmänner sowie durch mythologische Figuren, wobei am Ende der Apostel Paulus gezeigt wird, wie er zu den Athenern predigt. Während Otto auf Rahls Entwürfen in der Kleidung und mit den Emblemen der Macht eines amtierenden Königs erscheint, präsentiert ihn die finale Version mit dem Lorbeerkranz geschmückt und in ein archaisches Gewand gehüllt auf einem archaischen Thron sitzend. Auch wenn die Änderung selbstverständlich der Tatsache geschuldet ist, dass Otto bereits entthront worden war, als die Wandmalerei fertiggestellt wurde, und man folglich auf seine königlichen Embleme verzichten musste, bestätigt sein archaisches Gewand doch die symbolische Bedeutung des Bildnisses. Die Darstellung Ottos im Zentrum dieses aus dem Goldenen Jahrhundert der griechischen Kunst (Efimeris, 1889, 2) stammenden Frieses der Universitäts-Propyläen rief die Tatsache in Erinnerung, dass er es gewesen war, der die Gründung dieser seinen Namen tragenden Universität veranlasst hatte, und beglaubigte seine Rolle als Beschützer der Wissenschaften und Künste im griechischen Staat. Wie auf den Wandmalereien seines Palastes erschien er als rechtmäßiger Erbe der Revolution: Auf dem Fries der Universität wird er erneut als rechtmäßiger Fortsetzer und Bewahrer des klassischen Erbes dargestellt.

    Die byzantinische Vergangenheit als dynastische Vergangenheit

    Politisch betrachtet, konnte sich das griechische Königreich weder auf die antike griechische Vergangenheit, wie sie in der Athener Demokratie zum Ausdruck kam, noch auf die Griechische Revolution mit ihren französisch inspirierten demokratischen Verfassungen beziehen. Das byzantinische Kaiserreich mit all seinem mittelalterlichen Glanz der absoluten Monarchie blieb die einzige historisch-politische Vergangenheit, auf die Otto sich als natürlicher Erbe berufen konnte. Die Auffassung, dass der letzte griechische Staat vor der Griechischen Revolution das byzantinische Kaiserreich gewesen sei, war keineswegs eine Idee der 1833 nach Griechenland gekommenen Bayern. Die Erinnerung an das verlorene Reich war sowohl in den volkstümlichen wie in den gelehrten Vorstellungen der griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Osmanischen Reiches lebendig geblieben, und sie drückte sich etwa in Texten mit Orakelsprüchen und Allegorien aus, die weite Verbreitung fanden. Natürlich hatten sie keinen nationalen Inhalt, doch basierten sie auf dem Schema eines Konfliktes zwischen Christentum und Islam. Vor der Revolution beginnt die Reichsvision, die in der traditionellen volkstümlichen Vorstellungswelt mit dem Chiliasmus oder der eschatologischen Erwartung des aus Glaubensbrüdern bestehenden «blonden Geschlechts» (gemeint sind die Russen) identifiziert wurde, sich in einen neuartigen politischen Plan zur Wiederherstellung des griechischen Reiches zu verwandeln, ein Prozess, der dann nach der Staatsgründung vollendet werden sollte. Als zu Zeiten der Revolution die ersten staatlichen Institutionen aufgebaut werden, ist die einzige historische Erinnerung, auf die die Wegbereiter der revolutionären Verfassungen sich berufen können, die Erinnerung an den byzantinischen Staat. So ist es nahezu selbstverständlich für die griechischen Revolutionäre, sich auf der Grundlage der Erinnerung an das verlorene Reich auf die «Gesetze unserer unvergesslichen Christenkaiser» (Karafoulidou, 2018, 228) zu berufen. Ganz ähnliche Vorstellungen gab es anscheinend auch in Westeuropa. Der deutsche Gelehrte Friedrich von Thiersch (1784–1860), der sich 1831 in Griechenland niederließ, hatte bereits im August 1821 als «einziges Mittel zur Sicherstellung der Ordnung in Europa […] die Abschaffung der türkischen Herrschaft […] und die Wiederherstellung des byzantinischen Thrones » (Mitsou, 2012, 41) vorgeschlagen.

    Als Otto die Krone des griechischen Königreiches annahm, konnte er sich auf jene dynastische Vergangenheit berufen, die der Thron von Konstantinopel und ein mächtiges mittelalterliches Kaiserreich symbolisierten, um aus ihr seine Legitimation zu beziehen. Er konnte den Traum hegen, dass er irgendwann einmal selbst auf dem byzantinischen Thron sitzen würde, den sich die muslimischen Osmanen einst willkürlich angeeignet hatten. Es heißt sogar, dass Otto im Jahr 1839, als er über den Tod des Sultans Mahmud II. informiert wurde, sich darauf vorbereitet haben soll, nach Konstantinopel zu ziehen, um sich dort zum Kaiser krönen zu lassen (Skopetea, 1988, 274). Zum einen stützte die durch das Haus Wittelsbach betriebene Anrufung der historischen Erinnerung an das byzantinische Reich die Innenpolitik von Otto und seinem Regentschaftsrat, indem sie die Vorstellung förderte, dass für Griechenland nur die monarchische Regierungsform infrage komme. Zum anderen nährte sie den utopischen Irredentismus der Krone, der – in Übereinstimmung mit der die griechische Gesellschaft begeisternden Ideologie der Megali Idea – zu einem entscheidenden Motiv der königlichen Außenpolitik wurde.
    Otto und Amalie eigneten sich die byzantinische Vision jedenfalls nicht um eines romantischen Utopismus willen an, sondern aus politischem Realismus. Sie berücksichtigten die im von ihnen regierten Volk vorherrschenden Ansichten. Die im einfachen Volk überall zu hörenden Legenden und die Erzählungen vom letzten König von Byzanz waren das unentbehrliche Fundament der Legitimation der Dynastie und der Popularität des Königspaares. Im Brief an ihren Vater vom 7./10. Januar 1847 träumt Amalie vom Thron von Konstantinopel, den ihre Kinder besteigen würden, und phantasiert davon, wie sie die «über ihre Entehrung klagende» Hagia Sophia belausche (Amalie, 2011, Β΄185, RÜ). Die symbolischen Kongruenzen verdichteten sich in der Zeit des Krimkrieges (1853–56), als das Königspaar dank seiner irredentistischen Politik stark an Popularität gewann. Im Dezember 1853 wurde Amalies Geburtstag im Theater von Athen groß gefeiert: Das Theater schmückte eine Allegorie der Stadt Athen, die den doppelköpfigen Adler trug, während die Königin auf einem nachgemachten byzantinischen Thron saß (Turczynski, 2003, 337). Trotzdem: Obwohl Otto sich bemühte, die Erinnerung an den «altererbten Thron» in seinem Sinne zu nutzen und sein Königreich als Fortsetzung des byzantinischen Kaiserreiches zu präsentieren, führten seine katholische Religionszugehörigkeit, seine Unfähigkeit, einen Nachfolger zu zeugen (von dem dann erwartet wurde, dass er orthodox getauft werden würde) und vor allem seine absolutistische Regierungsweise nach einer Reihe von Aufständen und Verschwörungen schließlich 1862 zu seiner Entthronung und Vertreibung aus Griechenland.

    Schwankende Legitimation

    Abgesehen von kurzfristigen (mit der Innen- und Außenpolitik Ottos zusammenhängenden) Effekten blieben die Erinnerungsstrategien der Wittelsbacher ohne Erfolg. Es gelang dem ersten König Griechenlands nicht, Teil des nationalen Pantheons jenes Landes zu werden, das er regierte. Die heftige verfassungsrechtliche Opposition gegen ihn sowie das volkstümliche Missfallen, das durch seine Religionszugehörigkeit und Kinderlosigkeit erregt wurde, ließen nicht zu, dass Otto – trotz gewisser Perioden hoher Popularität – als «großer Mann» anerkannt wurde oder dem Volk im Gedächtnis blieb.

    Die Erinnerung an ihn in den auf seine Vertreibung folgenden Jahrzehnten hing keineswegs mit konkreten Erinnerungen an seine Herrschaftszeit oder seine Person zusammen, sondern war vielmehr abhängig von dem Anklang, den die Idee der Monarchie in der griechischen Gesellschaft fand, sowie der von der nachfolgenden Glücksburg-Dynastie betriebenen Politik. Zudem blieb die Erinnerung an die Monarchie in Griechenland aufgrund der Verstrickungen der Krone in Streitigkeiten der Parteien, der autoritären Politik, der Verfassungsbrüche, der Vetternwirtschaft und all der anderen Eigentümlichkeiten, die die Politik der ersten Herrscher des griechischen Königreiches prägten, kompliziert und konfliktträchtig.

    Das bezeichnendste Beispiel dafür, wie stark Ottos Legitimation schwankte, ist die Produktion der Erinnerung an die gegen ihn gerichtete Revolution vom 3. September 1843. Noch in der Nacht der Erhebung wurde Otto gezwungen, die Forderungen der Aufständischen zu akzeptieren und den 3. September zum zweiten Nationalfeiertag des griechischen Staates zu erklären. Es ist kein Zufall, dass sich der König nur drei «beleidigenden Forderungen» (Amalie, 2011, Α΄429; RÜ) heftig widersetzte: eine Dankesbotschaft zu unterschreiben; den Wegbereitern des Aufstandes Orden zu verleihen; und eben, jenen 3. September zu einem nationalen Feiertag zu erklären. 1843 stellte für die Dynastie eine große Niederlage auf dem Feld des kollektiven Gedächtnisses dar. Die jährliche Feier des 3. September, bei der der König gezwungen war, am Dankgottesdienst und an der Prozession sowie an sämtlichen weiteren Festakten teilzunehmen, bedeutete zwischen 1844 und 1862 eine ständige Erinnerung an die Schwäche des Monarchen und untergrub seine Macht durch die Sprache der Symbole erheblich. Durch die Heroisierung der Protagonisten der anti-ottonischen Opposition wurde Ottos Stellung infrage gestellt. Das betraf keineswegs nur Dimitrios Kallergis, den Anführer des Aufstandes vom 3. September. Der Oberleutnant Nikolaos Leotsakos, der Leutnant Periklis Moraitinis und der Student Agamemnon Skarvelis wurden von der regierungstreuen Armee als Anführer einer weiteren Erhebung der Opposition auf Syros am 1. März 1862 auf Kythnos getötet und so in ganz Griechenland zu Helden gemacht: Gedichte rühmten ihren Heroismus, Bilder von ihnen wurden gedruckt, und auf öffentlichen Gedenkfeiern gedachte man ihrer.

    Selbst das Symbol der Königsmacht schlechthin, der Palast, wurde zum Wahrzeichen des antiroyalistischen Aufstandes und ging als solches in das kollektive Gedächtnis ein. Otto und Amalie hatten ihren neuerrichteten Wohnort erst vor wenigen Monaten bezogen, als es zur Erhebung kam. Volk und Armee versammelten sich vor dem Palast und riefen Parolen für eine Verfassung, während einige Protestierer das Wort «Verfassung» in die Marmormauern des Gebäudes ritzten. Die Demonstration wurde auf Gemälden wie auch auf einfachen Bildern, die im Volk weite Verbreitung fanden, dargestellt. Das Symbol der Monarchie wurde so zur «Trophäe» des revolutionären Volkes gemacht. Der Platz vor dem Palast wurde Syntagma-Platz genannt: Platz der Verfassung – der Name, den der Platz heute noch trägt. Auch der zentrale Platz von Naflio, der ersten Hauptstadt des griechischen Staates, erhielt damals diesen Namen. Diese Namen sind für die historische Erinnerung von besonderer Bedeutung, insofern sich in dem Ausdruck «Syntagma» der Widerstand gegen die absolute Herrschaft verkörperte.

    Allen Planungen Ludwigs I., des Regentschaftsrates und Ottos auf dem Feld der Erinnerung seit den 1830er-Jahren zum Trotz gelang es nicht, der «von unten» ausgehenden Erinnerungsprozesse Herr zu werden. Kein einziges öffentliches Denkmal sollte für Otto errichtet werden, trotz aller entsprechenden Beschlüsse, wie beispielsweise 1834 anlässlich des ersten Jahrestages der Apovatiria. Das einzige Denkmal, das an die Zeit von Ottos Herrschaft über Griechenland erinnert, ist ein imposanter schlafender Löwe, das «Denkmal für die in Griechenland verstorbenen Bayern» im Stadtteil Pronia in Nafplio, welches an die bayerischen Soldaten erinnert, die während der Typhusepidemie von 1833/34 in der Stadt gestorben waren. Es handelt sich hier um ein von Ludwig I. in Auftrag gegebenes Denkmal, das 1841 durch den bayerischen Steinmetz Christian Siegel (1808–1883) ausgeführt wurde. Siegels unter dem Namen «Der Bayrische Löwe» bekanntes Werk ist ein Denkmal des stillen Andenkens und einer der wenigen Erinnerungsorte aus der Anfangszeit des unabhängigen griechischen Staates. Wahrgenommen wurde es jedoch als ein Denkmal der «Fremden», der «Bayernherrschaft», wie uns der Vorschlag des Dichters Alexandros Soutsos, die bayerische Inschrift durch eine griechische zu ersetzen, die an die Ereignisse nach dem 3. September 1843 erinnern sollte, anzunehmen erlaubt (Soutsos, 1844, 65). Anstelle von Gedenkorten zum Andenken an Ottos Königreich sollten Erinnerungsorte der anti-ottonischen Opposition geschaffen werden. Außer dem 3. September wurden die Tage des Aufstandes von Nafplio (1. Februar 1862) und der Vertreibung Ottos (5. Oktober 1862) als parlamentarisch zu beschließende Nationalfeiertage vorgeschlagen (Koulouri, 2020, 242).

    Die Erinnerung an Otto als Teil der griechischen Nationalgeschichte wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im Kontext des Nationalen Schismas («Ethnikos Dichasmos») neu belebt. Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Venizelos‘ und den Monarchisten spiegelten sich auch in der jeweiligen Erinnerungspolitik der beiden Lager wider. Damals wurden die Aufstellung einer Statue Ottos und seine Darstellung im Rahmen von Denkmälern zur modernen griechischen Geschichte vorgeschlagen. Die politische Symbolik dieser Darstellungen war auf den ersten Blick als monarchistisch zu erkennen.

    Am 6. April 1930 organisierte das Lykeion der Griechinnen seine Feierlichkeiten im Rahmen der Einhundertjahrfeiern der griechischen Unabhängigkeit im Panathinaiko-Stadion: Sie waren ausschließlich der Darstellung von Persönlichkeiten und Szenen der Griechischen Revolution gewidmet. Die Revue historischer Ereignisse wurde mit einer Darstellung abgeschlossen, die Otto und Amalie prunkvoll zu Pferde zeigte und der Feier so einen eindeutig royalistischen Charakter verlieh. In der Zeit der demokratischen Republik waren die entsprechenden Konnotationen für die breite Öffentlichkeit wie für die politische Führung eindeutig. Beim Anblick des ersten Königspaares hörte man von der Tribüne her die begeistert gerufene Parole «Es lebe der König!». Verstört zog sich Venizelos auf der Stelle zurück.

    Als Schlussfolgerung lässt sich sagen, dass die von der Dynastie der Wittelsbacher betriebene Erinnerungspolitik sowohl in München als auch in Athen ihre materiellen Spuren hinterlassen hat, es aber nicht schaffte, legitimatorisch zugunsten von Otto und seiner Regierung zu wirken. Die Zeit von Ottos Königsherrschaft blieb im nationalen Gedächtnis negativ konnotiert – mit einer einzigen Ausnahme freilich: dem politischen Lager, das den monarchistischen Teil der griechischen Gesellschaft repräsentierte. Aber auch in Bayern verblasste die historische Erinnerung an das zweite unter dem Zepter des bayerischen Hauses stehende Königreich – trotz aller Pracht der Propyläen am Königsplatz.

    Zusammenfassung

    Sowohl in Bayern als auch in Griechenland betrieben die Dynastie der Wittelsbacher und vor allem Ludwig I. eine der Legitimation der Monarchie dienende Erinnerungspolitik. In München wurde die Geschichte des modernen Griechenland in der Residenz und in den Propyläen als Teil der Geschichte der Dynastie dargestellt, während Otto als König in Athen daran ging, sich durch eine Reihe symbolischer Akte selbst zu einem Teil der griechischen Nationalgeschichte zu machen. So führte Otto die Fustanella als offizielles Gewand der Dynastie ein, nahm an Gedenkfeiern für die Helden der Revolution teil und ließ einen Palast erbauen, der mit Bildwerken ausgeschmückt wurde, welche Ereignisse aus der Geschichte des griechischen Unabhängigkeitskampfes zeigten, um sich so als rechtmäßiger Erbe von 1821 zu inszenieren. Seine Gestalt wurde mit der griechischen Antike und ihren materiellen Überresten, als deren Verwalter und Beschützer Otto auftrat, in Verbindung gebracht, aber auch mit der Erinnerung an den Thron von Konstantinopel, den er im Sinne der Megali Idea besteigen sollte. Dennoch führten die politischen Auseinandersetzungen, die Aufstände und die akute Opposition gegen Otto zu Schwankungen seiner politischen Legitimation und schließlich dazu, dass die historische Erinnerung an ihn durch markante Topoi und Ereignisse geprägt wurde, die letztlich nur deutlich machten, wie sehr er in Zweifel gestellt wurde.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Dennis Püllmann

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Christina Koulouri: «Die Dynastie der Wittelsbacher und die griechische Geschichte: Erinnerungspolitik und Legitimationsstrategien», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 07.09.20, URI : https://comdeg.eu/essay/98404/.