Philhellenismus als Ausdruck von Weltflucht, Ästhetik und Intellektualität am Beispiel der Kaiserin Elisabeth von Österreich (Version 1.0)

  • Veröffentlicht 06.11.24

Welchen Einfluss hatte der Philhellenismus auf die persönliche Entwicklung von Elisabeth, der Wittelsbacher Prinzessin und Kaiserin von Österreich? Auf welchen Ebenen manifestierte sich dieser? Wie spiegelten sich hellenische Ideen und Ideale in ihrem Charakter wider? Welchen Anteil hatten griechische Intellektuelle an Elisabeths regem Interesse an der Kultur und Geschichte des Landes? Und wie wurde die Kaiserin noch zu Lebzeiten von Griechinnen und Griechen wahrgenommen?

Inhalt

    Einleitung: Griechenland in der Elisabeth-Forschung

    Lange Zeit vernachlässigten Biografinnen und Biografen die Beziehung der Kaiserin von Österreich zu Griechenland. Welche besondere Zuneigung und Liebe Elisabeth für die griechische Mythologie, Kultur und Landschaft empfand, ließ sich erst mit der Veröffentlichung ihrer für den privaten Gebrauch bestimmten Gedichte durch die Historikerin Brigitte Hamann im Jahr 1984 erahnen. Noch zu Lebzeiten hatte die Kaiserin verfügt, dass ihre Verse, die auf ihre Reisen nach Griechenland und ihren Lieblingshelden Achilles Bezug nehmen, bis 1950 im Schweizer Bundesarchiv verwahrt werden sollten. Das poetische Tagebuch der Kaiserin Elisabeth ist heute von unschätzbarem Wert, denn es enthüllt das Seelenleben und die Gedankenwelt einer Frau, die sich von ihrer Umwelt missverstanden fühlte.

    Auch die Veröffentlichung der Tagebuchblätter (1898) von Elisabeths Vorleser und persönlichem Neugriechisch-Lehrer Konstantin Christomanos, die dieser kurz nach ihrer Ermordung publizierte und die vom Wiener Hof verboten wurden, änderte wenig am eher geringen Interesse am Philhellenismus der Monarchin. Nur der Wiener Byzantinist Dr. Polychronis Enepekidis stellte im Rahmen einer Sonderausstellung in der Hermesvilla (1986) Elisabeths zehn griechische Vorleser vor, die wichtige Vertrauenspersonen in ihrem Leben waren. Einige dieser Intellektuellen schrieben Tagebücher und Briefe, die der Autor des vorliegenden Essays erstmals in seinem Buch Im Schatten Homers: Kaiserin Elisabeth in Griechenland (2021), auf Englisch erschienen unter dem Titel Under the Spell of a Myth: Empress Sisi in Greece (2022), berücksichtigt hat. Die folgende Studie basiert auf den wesentlichen Erkenntnissen dieses Buches und rückt Elisabeths Verhältnis zu Griechenland und zum Hellenentum in ein neues Licht.

    Familiäre Bezüge

    Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhr der Philhellenismus infolge der Griechischen Revolution (1821-1829) in Politik, Kunst und Kultur einen Aufschwung in ganz Europa. Die Großmächte Großbritannien, Frankreich und Russland unterstützten den Unabhängigkeitskampf gegen das Osmanische Reich. Nicht wenige Intellektuelle (wie der englische Dichter George Gordon Byron) schlossen sich den Kämpfen in Hellas selbst an. Der Krieg war längst zu einer moralischen Frage geworden: War man für die Aufständischen, die sich gegen die 400 Jahre andauernde „Türkenherrschaft“ (Tourkokratia) auflehnten wie einst der mykenische König Agamemnon und die homerischen Helden Odysseus und Achilles, als sie gegen Troja in den Krieg zogen? Oder verurteilte man (wie der österreichische Staatskanzler Klemens von Metternich) die Revolutionäre, da man eine republikanische Bewegung fürchtete, die alte etablierte Herrschaftssysteme ins Wanken bringen könnte?

    Als besonderer Verehrer Griechenlands setzte sich der Wittelsbacher König Ludwig I. für den griechischen Unabhängigkeitskampf ein und verlieh seiner Residenzstadt München ein stark hellenisch-neoklassizistisches Antlitz.1Für einen umfassenden Überblick zur Verflechtung zwischen der Dynastie der Wittelsbacher und Griechenland siehe Koulouri, 2020. Durch einen Beschluss der Großmächte wurde sein Sohn Otto 1832 zum ersten König von Griechenland ernannt. Der Philhellenismus hatte dadurch auf die bayerische Dynastie einen weit stärkeren Einfluss als zum Beispiel auf andere deutsche Fürstenhäuser, die sich der Gotik und der mittelalterlichen Romantik zuwandten. 

    In dem seit 1830 unabhängigen Griechenland begegnete man dem 17-jährigen katholischen Otto vor allem auf politischer Ebene mit großem Misstrauen. Wenngleich er als König nach fast 30 unruhigen Jahren 1862 zur Abdankung gezwungen wurde und ins Exil nach Bayern zurückkehrte, hinterließ Otto I. ein politisches und kulturelles Erbe: In seiner Ära führte Griechenland etwa als erster Staat der Welt 1833 das allgemeine Wahlrecht für Männer ein. Die neohellenischen Bauten, zum Großteil vom deutschen Architekten Ernst Ziller entworfen, sollten dem ‚Provinznest‘ Athen einen mondänen Charakter geben und die Hauptstadt anderen europäischen Metropolen ebenbürtig machen. Gleichzeitig unterstützte Otto nationalistische Bestrebungen wie die Megali Idea (Große Idee), die die Rückeroberung ehemals griechischer Gebiete im Osmanischen Reich vorsah (Haderer, 2021, 16-17).

    Auch im nicht-regierenden Zweig der Wittelsbacher gab es mit Herzog Maximilian (1808-1888), dem Vater von Prinzessin Elisabeth (Sisi), ein Familienmitglied, das sich für die hellenische Kultur begeisterte. Eine seiner weiten Reisen führte ihn etwa auf die griechische Insel Syros, wo er den Seehelden Konstantinos Kanaris traf, den Otto später zu seinem Premierminister ernannte. Ironischerweise lernte Max auch den Anarchisten Theodoros Grivas kennen, einen der Mitverschwörer, die an Ottos Sturz beteiligt waren (Schweiggert, 2017, 162-164).

    Inwieweit diese familiären Bezüge Elisabeths Interesse an Griechenland weckten und welchen Einfluss ihr Vater dabei hatte, ist in den historischen Quellen nicht überliefert. Die Liebe zur griechischen Kultur und Landschaft entdeckte die Kaiserin von Österreich aber spätestens im Alter von 24 Jahren, als sie mehrere Monate auf der Insel Korfu verbrachte. Im Gegensatz zu ihren Verwandten nahm der Philhellenismus bei Elisabeth erst in späteren Jahren fast schon jenes extreme Ausmaß an, welches man in Wiener Hofkreisen ein wenig verächtlich als die „Griechenlandmanie“ der Kaiserin bezeichnete. Ziel dieses Beitrages ist es, Elisabeths Philhellenismus aus einer persönlichen, ästhetischen und intellektuellen Perspektive heraus zu beleuchten und dadurch Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit zu ziehen.

    Eine Flucht als prägendes Ereignis

    Am 24. April 1854 heiratete die erst 17-jährige Elisabeth den österreichischen Kaiser Franz Joseph I., der das mächtige Habsburgerreich regierte. 1857 erlebte das junge Kaiserpaar mit dem Tod ihrer zweijährigen Tochter Sophie einen ersten schweren Schicksalsschlag. Ein Jahr später kam der ersehnte Thronfolger Rudolf zur Welt. Um die Erziehung der beiden Kinder Gisela und Rudolf kümmerte sich Elisabeths Tante und Schwiegermutter, Erzherzogin Sophie, zu der Elisabeth ein gespanntes Verhältnis hatte. Franz Joseph wollte sich auch politisch profilieren und sah im Krieg gegen Sardinien-Piemont (1859) eine Chance dafür. Elisabeth blieb allein in Wien zurück und die Spannungen mit Erzherzogin Sophie und deren Vertrauten wurden für sie unerträglich. Die junge Kaiserin fühlte sich den Belastungen und Intrigen am Hof nicht mehr gewachsen und erkrankte schließlich seelisch und körperlich.

    Eine Reise nach Madeira im Winter 1860 sollte offiziell der Heilung von Elisabeths Lungenbeschwerden dienen. Die Kaiserin war dadurch für kurze Zeit den Strapazen am Wiener Hof entkommen und konnte auf der fernen Atlantikinsel ein unbeschwertes Leben führen. Auf der Rückreise im Mai 1861 ging das Schiff in Korfu vor Anker. Elisabeth war von der üppigen Blütenpracht der Ionischen Insel, die noch unter britischer Oberhoheit stand, überwältigt. Kaum in Wien angekommen, erlitt sie jedoch einen starken Rückfall, sodass man sie diesmal nach Korfu brachte (Haderer, 2021, 22).

    Es ist bezeichnend, dass sich die 24-jährige Mutter zweier Kinder in der idyllischen Abgeschiedenheit der Insel erstaunlich schnell erholte. In lokalen Zeitungsberichten war von Aktivitäten die Rede, die zum Teil einen offiziellen Charakter hatten: Ausflugsfahrten mit dem Schiff, der Empfang von Honoratioren in der Villa Mon Repos, wo sich Elisabeth einquartiert hatte, sowie Besuche von Fregattenrennen und Vorstellungen im städtischen San Giacomo Theater. Die griechische Bevölkerung war vom hohen Besuch und der Schönheit der jungen Kaiserin so angetan, dass man politische Ressentiments gegen die Habsburger beiseiteschob und griechische Dichter in Zeitungen sogar Verse für die rasche Genesung der Monarchin veröffentlichten.2Etwa in der griechischen Zeitung Ο Παρατηρητής, 17. Juli 1861.

    Nach wenigen Monaten kehrte Elisabeth als gesunde und seelisch gereifte Frau nach Wien zurück. Dass diese Flucht vom Hof ein Schlüsselerlebnis für ihre weitere Entwicklung gewesen war, beweisen ihre nostalgischen Verse, die sie 25 Jahre später in ihrem Gedicht Sehnsucht nach Corfu niederschrieb.3Sämtliche Gedichte aus dem literarischen Nachlass von Kaiserin Elisabeth, die im Schweizer Bundesarchiv in einer Metallkassette bis 1950 unter Verschluss gehalten wurden, publizierte die Historikerin Brigitte Hamann erstmals 1984.

    Achilles: Mythos und Ideal im Leben der Kaiserin

    Elisabeths Faszination für Griechenland war gewiss auf jenen längeren Aufenthalt in Korfu zurückzuführen. Darüber hinaus spielte ihr Interesse an der Dichtkunst, die neben dem Reitsport und dem Reisen ihre größte Leidenschaft war, eine tragende Rolle. Auch König Ludwig I., Elisabeths Vetter Ludwig II. und ihr Vater Herzog Max liebten es, Gedichte zu schreiben. Die Kaiserin fühlte sich als Seelenverwandte des Poeten Heinrich Heine. Sie nannte ihn ihren ‚Meister‘, der ihr die Verse aus dem Jenseits diktierte. Zwischen 1885 und 1888 verfasste Elisabeth in Anlehnung an Heine drei lyrische Zyklen: Nordseelieder, Winterlieder und Drittes Buch. In jedem Zyklus taucht immer wieder in griechischen Buchstaben der Name Achilles auf, den Elisabeth oft als den Bräutigam ihrer Seele, als ihren „Geliebten“ oder als den „Herrlichsten“ beschrieb und dem sie gleich mehrere Gedichte widmete (Hamann, 2017, 41).

    Im Charakter dieses homerischen Helden wollte die Kaiserin Parallelen zu ihrem eigenen Leben und zu sich selbst erkennen. Da der Halbgott Achilles an der Ferse verwundbar war, versteckte ihn seine Mutter Thetis, damit dieser nicht für König Agamemnon in den Krieg ziehen musste. Als ihn der listige Odysseus aber fand, musste er gegen seinen Willen am Feldzug teilnehmen. Im Kampf um Troja verlor Achilles seinen treuen Freund und Gefährten Patroklos. Er rächte sich an Hektor, indem er ihn tötete und im Wagen triumphierend um die Stadtmauern Trojas schleifte. Schließlich wurde aber Achilles selbst durch den Pfeil des Paris an seiner Ferse tödlich verwundet.

    Im Mythos des Achill spiegeln sich Themen wider, mit denen Elisabeth ein Leben lang konfrontiert wurde: Pflichterfüllung, Willenskraft, Trennungsschmerz und Tod sowie „die Allmacht des Schicksals, das irgendwann völlig unerwartet zuschlägt […] In der mythischen Figur des Achilles verschmelzen für Elisabeth Eros und Thanatos, Leidenschaft und Tod.“ (Haderer, 2021, 89)

    Als alternde Frau entwickelte die Kaiserin eine imaginäre erotische Beziehung zu jenem homerischen Helden, den sie nicht nur in ihren Gedichten verehrte. Auf ihre silberne Taschenuhr ließ sie seinen Namen auf Griechisch eingravieren. Um sein Grab bei Troja zu sehen, nahm sie im Herbst 1885 eine lange, strapaziöse Schiffsreise auf sich, die sie in einem ihrer längsten und romantischsten Gedichte als „Seelenbrautfahrt“bezeichnete (Hamann, 2017, 84). Vom deutschen Bildhauer Ernst Herter ließ Elisabeth eine Skulptur des „Sterbenden Achill“ anfertigen, die in der Wiener Hermesvilla und später im Park von Schloss Miramare bei Triest aufgestellt wurde (Hamann, 2017, 45).

    Ihrem griechischen Vorleser Konstantin Christomanos erklärte die Kaiserin ihre Verehrung für den Heros mit folgenden Worten:

    Ich liebe ihn auch, weil er so schnellfüßig war. Er war stark und trotzig und hat alle Könige und Traditionen verachtet und die Menschenmassen für nichtig gehalten, gut genug, um wie Halme vom Tode abgemäht zu werden. Er hat nur seinen eigenen Willen heilig gehalten und nur seinen Träumen gelebt, und seine Trauer war ihm wertvoller als das ganze Leben. (Christomanos, 1993, 108)

    Höhepunkt dieses fast schon religiösen Kults war schließlich der Bau und die Benennung des griechischen Schlosses Achilleion auf Korfu, das Elisabeth nach dem Selbstmord ihres Sohnes Rudolf 1889 in Auftrag gab, und das 1891 fertiggestellt wurde.

    Der Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit

    Lange hielt sich am Hof und in der Gesellschaft das Gerücht, die Kaiserin von Österreich sei politisch nicht interessiert. Ihre Gedichte und scharfsinnigen Beobachtungen beweisen jedoch das Gegenteil. Darin brachte Elisabeth ihre Verachtung des Absolutismus und der Monarchie deutlich zum Ausdruck. Sie verehrte auch Napoleon Bonaparte, dessen Büste auf ihrem Schreibtisch im Achilleion stand und dessen Geburtshaus sie auf Korsika besuchte (Haderer, 2021, 18). Napoleon dürfte die Kaiserin einerseits fasziniert haben, weil ihr Lieblingsdichter Heinrich Heine diesen besonders geschätzt hatte. Andererseits galt der Franzose als Zertrümmerer überkommener alter Herrschaftsformen und als Erneuerer in Europa.4Unter der Oberhoheit von Napoleon Bonaparte entstanden auf politischer Ebene neue Länder wie zum Beispiel die Cisalpine Republik in Oberitalien, die Illyrischen Provinzen in Dalmatien und das Herzogtum Warschau.

    Der griechische Unabhängigkeitskampf beschäftigte die Kaiserin auf unterschiedliche Art und Weise. Neben Heinrich Heine, William Shakespeare und Homer zählten die beiden Romantiker Percy Shelley und George Gordon Byron zu ihren Lieblingsdichtern. Elisabeth studierte deren Lebensläufe und übersetzte viele ihrer englischen Gedichte. Beide waren überzeugte Philhellenen. Shelley verfasste sein berühmtes Gedicht Hellas anlässlich der griechischen Revolution 1821. In seinem Vorwort machte er sich für die Freiheit und Gleichheit der Menschen stark, was Elisabeth begeistert haben dürfte.

    Lord Byron wiederum schloss sich 1823 den griechischen Unabhängigkeitskämpfern an, starb jedoch ein Jahr später in Mesolongi. Im September 1888 unternahm die Kaiserin eine weitere beschwerliche Reise mit dem Schiff und auf dem Landweg nach Ätolien-Arkananien, um Byrons Spuren zu folgen. Auf dem Programm stand nicht zuletzt die Besichtigung des Sterbehauses von Lord Byron und seines Denkmals. (Margari, 2016; Haderer, 2021, 149) Im Park des Achilleions ließ Elisabeth schließlich eine Skulptur des Dichters in nachdenklicher Pose im Schatten der Bäume errichten, das noch heute an diesem Platz steht.

    Auch den korfiotischen Grafen Ioannis Kapodistrias, den ersten Regenten des modernen Griechenland, bewunderte die Kaiserin. In Korfu suchte sie sein Grab im Kloster Platytera und seine Villa am Meer auf. „Ich habe seit jeher eine große Sympathie für diesen Menschen gehabt, weil ihm das Leben so wehe getan hat“, gestand sie ihrem Vorleser Christomanos, als er ihr vom tragischen Schicksal dieses berühmten Politikers erzählte. Kapodistrias fiel 1831 in Nafplio einem Attentat zum Opfer (Christomanos, 1993, 162).

    In Konstantin Manos, einem griechischen Dichter, Rechtswissenschaftler und späteren Freischärler, fand Kaiserin Elisabeth für einige Monate (von April bis Oktober 1893) einen weiteren Vorleser und Reisebegleiter an ihrer Seite. Die Angehörigen der Familie Manos waren Phanarioten aus Konstantinopel. Konstantins Vater Thrasyvoulos war als Artillerie-Oberst am Sturz von König Otto I. beteiligt und kämpfte 1866 als Revolutionär auf Kreta. Nach seinem kurzen Dienst bei der Kaiserin setzte sich der junge Dichter, wie schon sein Vater, für die Rückeroberung griechischer Gebiete ein – sehr zum Entsetzen von Kaiser Franz Joseph, der im Gegensatz zu seiner Frau den Idealen der Aufständischen wenig abgewinnen konnte und die griechischen Unabhängigkeitsbestrebungen in seinen Briefen scharf verurteilte (Nostitz-Rieneck, 1966/II, 230).5In einigen Briefen an seine Gemahlin verurteilte Kaiser Franz Joseph die griechischen Aufstände während des Türkisch-Griechischen Krieges 1897. Elisabeths Reaktion darauf ist nicht bekannt, da fast alle ihre Briefe nach ihrem Tod vernichtet wurden. Nach seiner Teilnahme am kretischen Therisso-Aufstand (1905) verunglückte Konstantin Manos im Jahr 1913 tödlich als Flugzeugpilot während des Zweiten Balkankriegs. Seine wenigen noch erhaltenen Tagebuchnotizen geben Aufschluss über die Zeit, in der er die Kaiserin als Vorleser begleiten durfte (Haderer, 2021, 210-212).6Die Tagebuchnotizen von Konstantin Manos wurden 1972 vom griechischen Schriftsteller Kyriakos Mitsotakis unter dem Titel Η αυτοκρατόρισσα κι ο ποιητής [Die Kaiserin und der Dichter] vom Verlag Alkaios publiziert.

    Ästhetische Aspekte: Schönheitskult und Sammellust

    Der exzessive Schönheits- und Körperkult, den Kaiserin Elisabeth betrieb, harmonierte mit ihrer Liebe zu Griechenland. Körperliche Leidenschaft und Sexualität spielten in ihrem Leben eine geringe Rolle. Stattdessen umgab sie sich mit Kunstwerken, die ihren ästhetischen Vorstellungen entsprachen. Vor der Hermesvilla, die Franz Joseph für seine Gemahlin 1882 erbauen ließ (1886 fertiggestellt), steht die vom deutschen Bildhauer Ernst Herter geschaffene Skulptur des nackten Götterboten Hermes. Seine Anmut und Jugend entsprachen Elisabeths Schönheitsidealen. Diese fanden sich auch in allen Kunstwerken und Ausstattungsobjekten wieder, welche die Monarchin für den Park des Achilleions auf Korfu erwarb und mit denen sie sich umgab. Den Gymnastikraum der Hermesvilla, in dem sie täglich turnte, zieren Malereien von griechischen Sportlern und Athleten.

    Als Elisabeth in Begleitung ihres treuen Reisebegleiters und Griechenlandkenners Alexander von Warsberg auf einer Anhöhe bei Gastouri in Korfu das verfallene Anwesen des Philosophen Petros Vrailas Armenis erblickte, war sie wie verzaubert. Sie beschloss, die Villa Vraila, den verwilderten Park und die angrenzenden Ländereien zu erwerben und daraus ihren eigenen Rückzugsort zu machen, eine Art Olymp, der nur ihren engsten Vertrauten und ihr selbst vorbehalten sein sollte.

    Das Achilleion kostete über zwei Millionen Gulden (ca. 40 Mio. Euro) und wurde im September 1891 offiziell eingeweiht (Haderer, 2021, 90-91). Die letzte Hofdame der Kaiserin, Gräfin Irma Sztáray, die mit Elisabeth zwei Mal nach Korfu reiste, nannte den Palast „eine Zufluchtsstätte, das herrliche Asyl einer großen, verwundeten Seele.“ (Sztáray, 1909, 90) Inzwischen betrachtete sich die Kaiserin selbst als Griechin und gab sich im Ausland häufig als solche aus. Ihren Ehemann Franz Joseph redete sie in ihren Briefen häufig mit Megaleiotis (Majestät) an (Bourgoing, 1964, 107).

    Bis auf jede Einzelheit plante Elisabeth die Ausstattung ihres neuen Schlosses im pompeianischen Stil. Inspiration schöpfte sie auf ihren vielen Reisen, auf denen sie archäologische Stätten, Museen und Privatsammlungen besuchte und Kunstwerke ankaufte. So besichtigte sie die Ausgrabungen des deutschen Archäologen Heinrich Schliemann in Mykene und Tiryns, das Haus Schliemanns (Ιλίου Μέλαθρον), die Akropolis und weitere Museen in Athen sowie die archäologischen Städte Pompeji und Herculaneum in Italien (Haderer, 2021, 117). Wilhelm Dörpfeld, ein Kollege Schliemanns, musste Elisabeth nach einem Besuch in Olympia Fotografien einer Hermesskulptur zusenden, damit sie eine möglichst authentische Kopie anfertigen lassen konnte.7Siehe dazu eine diplomatische Note an das Außenministerium vom 23. Januar 1889 im Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Sammelakt „Varia: diverse Reisen der Kaiserin Elisabeth, 1880-1896“).

    Auch wenn es sich bei den meisten Exponaten nicht um wertvolle Originale handelte, beweisen Herters Monumentalstatue des „Sterbenden Achill“, die neun Musen im Peristyl, die vier Skulpturen von Artemis, Ares, Aphrodite und Adonis am Aufgang der „Götterstiege“ oder die Vestalinnen und Kentauren auf den Dachterrassen des Achilleions Elisabeths außerordentlich feinen Kunstsinn und ihre Liebe zum Detail.

    Nach nur wenigen Jahren verlor die Kaiserin allerdings wieder das Interesse an ihrem griechischen Palast. „Unsere Träume sind immer schöner, wenn wir sie nicht verwirklichen“, gestand sie einmal ihrem Vorleser Christomanos (Christomanos, 1993, 165). Bereits ein Jahr vor ihrem Tod ließ Elisabeth das Anwesen ausräumen und viele Kunstwerke zurück in die Hermesvilla bringen. Die instabile politische Situation in Griechenland war wohl einer der Gründe dafür, dass sie plötzlich nicht mehr regelmäßig nach Korfu reisen wollte.

    Elisabeth und ihre griechischen Vertrauten

    Auf intellektueller Ebene setzte sich die Kaiserin – darin sind sich viele Biografen einig – weit intensiver mit der griechischen Sprache und Kultur auseinander als zum Beispiel die deutschen Königinnen auf dem griechischen Thron oder Kaiser Wilhelm II., der das Achilleion später kaufte. Auf Empfehlung ihres Reisegefährten Alexander von Warsberg nahm Elisabeth ab Herbst 1888 Unterricht in Alt- und Neugriechisch beim Gymnasialprofessor Ioannis Romanos auf Korfu (Haderer, 2021, 69). Die Idee, sich täglich beim Marschieren und Frisieren Unterricht in Griechisch erteilen zu lassen, fasste Elisabeth erst, als sie zufällig einem jungen Studenten namens Nikos Thermojannis während eines Aufenthalts in Nafplio begegnete und dieser ihr seine Dienste anbot.8Jene Begegnung wird auch näher im Beitrag Sisis jugendliche Schwärmer: Kaiserin Elisabeth und ihre griechischen Vorleser (Haderer, 2022) beschrieben.

    In den letzten zehn Jahren ihres Lebens begleiteten insgesamt zehn junge Griechen die rastlose Kaiserin auf ihren Reisen. Darunter waren namhafte Intellektuelle, die zum Teil im Ausland studiert hatten oder später dorthin zogen: Nikolaos Thermojannis, Roussos Roussopoulos, die Brüder Antonis und Konstantin Christomanos, Ioannis Kephalas, Konstantin Manos, Marinos Marinakis, Alexandros Merkatis, Alexios Pallis und Frederic George Barker. Am Wiener Hof betrachtete man diese Griechen aus sehr angesehenen Familien jedoch mit großem Misstrauen und Argwohn (Haderer, 2021, 116).

    Dass sich die Kaiserin hauptsächlich nur von jungen Männern (die meisten waren erst Mitte 20) vorlesen ließ, ist insbesondere aus psychologischer Sicht bemerkenswert: Nach dem Selbstmord ihres einzigen Sohnes suchte Elisabeth genau jenen philosophischen Austausch und jene vertrauten Gespräche, die sie mit Rudolf nie geführt hatte.

    Eine weitere Besonderheit ist ihr Interesse an der griechischen Volkssprache (Dimotiki), die sie der Gelehrtensprache (Katharevousa) eindeutig vorzog. Einem ihrer Vorleser erklärte die Kaiserin den Grund für diese Entscheidung: „Wenn ich etwas verabscheue, so ist es Verstellung in Gedanken, Schriften oder anderem.“ (Marinaky, 1978, 47) Allein dieser Wunsch, sich die Sprache des gemeinen Volkes – der Bauern, Fischer und Hirten – anzueignen, spricht von einer unglaublichen Offenheit und Volksnähe, die genauso charakteristisch für ihren Vater Herzog Max und ihren Sohn Rudolf waren.

    Mit ihren Vorlesern übersetzte die Kaiserin aber auch hochliterarische und philosophische Werke von William Shakespeare, Heinrich Heine, Henrik Ibsen, Leo Tolstoi und Arthur Schopenhauer sowie neugriechische Lyrik von Athanasios Christopoulos und Aristotelis Valaoritis. (Haderer, 2021, 124)

    Elisabeths wohl berühmtester Vorleser, der spätere Dramenautor und Begründer der „Neuen Bühne“ (Νέα Σκηνή) Konstantin Christomanos, ließ heimlich eine griechische Übersetzung der Kaiserin von Paul Heyses Werk Die Einsamen (Οι Μονήρες) unter dem Pseudonym Gloriette drucken. Noch heute wird das Schriftstück mit einigen Sprachübungen im Benaki-Museum in Athen aufbewahrt.

    Rezeption einer Legende in Griechenland

    Insgesamt 15 Reisen unternahm Kaiserin Elisabeth hauptsächlich als Privatperson nach Griechenland. Zweimal besuchte sie inkognito Athen und stieß im Hafen von Piräus, wo ihr Schiff vor Anker lag, auf eine Menge Schaulustiger, da die Meldung über die Ankunft des hohen Besuchs auch in den griechischen Zeitungen erschienen war. Auf der Insel Korfu jedoch gewöhnten sich die Einheimischen sehr rasch an die Anwesenheit der Vassilissa (Königin) und behelligten sie nicht weiter.

    Auf ihren einsamen Streifzügen durch die odysseeischen Landschaften bekam Elisabeth einen Zugang zur Welt der einfachen Menschen, der ihr am Wiener Hof stets verwehrt blieb. Neben zahlreichen Anekdoten sind vor allem die vertraulichen Tagebuchblätter des Vorlesers Konstantin Christomanos eine unschätzbare historische Quelle. Die zum Teil romantischen Beschreibungen geben uns Aufschluss über die Begegnungen und Gespräche der griechischen Dorfbevölkerung mit der Kaiserin. Mehrere zehntausend Exemplare davon verkauften sich über die Grenzen des Habsburgerreiches hinaus in Deutschland, Frankreich und Griechenland. Dank dieser Memoiren galt Christomanos lange Zeit als der im Ausland am meisten gelesene neugriechische Autor.

    In der Erinnerung der Korfioten nahm die Kaiserin einen besonders hohen Stellenwert ein: Sie genoss den Ruf einer überaus freundlichen und großzügigen Frau. Nachdem Elisabeth den Bau eines Brunnens im Dorf Gastouri finanziert und in einem Rechtsstreit für zwei beschuldigte Frauen Partei ergriffen hatte, wurde sie zur Ehrenbürgerin von Gastouri ernannt (Haderer, 2021, 153).

    Die tragische Ermordung der Kaiserin von Österreich am 10. September 1898 in Genf veranlasste schließlich viele ihrer Vorleser dazu, Nachrufe oder eigene Erinnerungen zu veröffentlichen. Sie alle äußerten sich über die Erscheinung und den Umgang Elisabeths mit ihnen weit positiver, als man dies aufgrund der spitzen Bemerkungen der Wiener Aristokratie und der kritischen Medienberichte vermuten würde. Somit trugen die griechischen Wegbegleiter nicht zuletzt dazu bei, einen neuen Blick auf die Persönlichkeit einer Frau zu werfen, die noch heute viele Menschen fasziniert.

    Zusammenfassung

    Vor allem im letzten Jahrzehnt ihres abwechslungsreichen Lebens hatte Griechenland einen besonderen Platz im Herzen von Kaiserin Elisabeth. Ziel dieses Beitrags war es, die geistige Strömung des Philhellenismus in einen Zusammenhang mit Elisabeths Person und ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu bringen. In ihren Gedichten, auf ihren Reisen, bei ihrem Sprachstudium und nicht zuletzt in ihrer Beziehung zu großen griechischen Intellektuellen am Ende des 19. Jahrhunderts erleben wir die Kaiserin aufgrund neu bearbeiteter Quellen erstmals als eine Privatperson und entdecken ihre tiefe Menschlichkeit, die lange Zeit in Büchern und Filmen ignoriert worden ist.

    Einzelnachweise

    • 1
      Für einen umfassenden Überblick zur Verflechtung zwischen der Dynastie der Wittelsbacher und Griechenland siehe Koulouri, 2020.
    • 2
      Etwa in der griechischen Zeitung Ο Παρατηρητής, 17. Juli 1861.
    • 3
      Sämtliche Gedichte aus dem literarischen Nachlass von Kaiserin Elisabeth, die im Schweizer Bundesarchiv in einer Metallkassette bis 1950 unter Verschluss gehalten wurden, publizierte die Historikerin Brigitte Hamann erstmals 1984.
    • 4
      Unter der Oberhoheit von Napoleon Bonaparte entstanden auf politischer Ebene neue Länder wie zum Beispiel die Cisalpine Republik in Oberitalien, die Illyrischen Provinzen in Dalmatien und das Herzogtum Warschau.
    • 5
      In einigen Briefen an seine Gemahlin verurteilte Kaiser Franz Joseph die griechischen Aufstände während des Türkisch-Griechischen Krieges 1897. Elisabeths Reaktion darauf ist nicht bekannt, da fast alle ihre Briefe nach ihrem Tod vernichtet wurden.
    • 6
      Die Tagebuchnotizen von Konstantin Manos wurden 1972 vom griechischen Schriftsteller Kyriakos Mitsotakis unter dem Titel Η αυτοκρατόρισσα κι ο ποιητής [Die Kaiserin und der Dichter] vom Verlag Alkaios publiziert.
    • 7
      Siehe dazu eine diplomatische Note an das Außenministerium vom 23. Januar 1889 im Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Sammelakt „Varia: diverse Reisen der Kaiserin Elisabeth, 1880-1896“).
    • 8
      Jene Begegnung wird auch näher im Beitrag Sisis jugendliche Schwärmer: Kaiserin Elisabeth und ihre griechischen Vorleser (Haderer, 2022) beschrieben.

    Verwendete Literatur

    Zitierweise

    Stefan Haderer: «Philhellenismus als Ausdruck von Weltflucht, Ästhetik und Intellektualität am Beispiel der Kaiserin Elisabeth von Österreich (Version 1.0)», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 06.11.24, URI : https://comdeg.eu/essay/130667/.