Philhellenismen der Wiener Moderne

  • Veröffentlicht 28.06.23

Wie kommt es, dass in ein und derselben Stadt, die zu Recht als eines der wichtigsten Zentren der europäischen Moderne gilt, fast gleichzeitig der Ödipus-Komplex ‚entdeckt‘ wurde und ein Drama wie Ödipus und die Sphinx entstand? Dass man Katharsis und Hysterie zusammendachte, und zwar auch retrospektiv? Dass sich jüdische Philosophie- und Kulturhistoriker mit der sokratischen Aufklärung identifizieren? Dass eine Kaiserin für die griechische Sprache und Kultur schwärmte und in einem griechischen Neoromantiker den idealen Gesprächspartner fand? Welche Rolle spielten die neuen Reiseverbindungen und der von ihnen ermöglichte, im Wiener Feuilleton ausgiebig diskutierte Abgleich des vom Gymnasium übernommenen Antikebilds mit dem Trümmerfeld der Akropolis oder dem aktuellen Erscheinungsbild der griechischen Hauptstadt? Gibt es schließlich eine Fortsetzung des Griechenland-Interesses der Wiener Moderne in den nachfolgenden Kunst- und Literaturströmungen, vom Expressionismus bis zur politischen Kultur der Zwanziger Jahre?

Inhalt

    Voraussetzungen

    Wien lag, schon ganz wörtlich genommen, näher an Griechenland als jede andere deutsche Hauptstadt. Es bildete um 1900 das Zentrum eines Großreichs, das weite Teile des Balkans einschloss und im Süden an das Osmanische Reich stieß; von dort waren es nur wenige Hundert Kilometer zum Territorium des Königreichs Griechenland, das sich mit den Gebietserweiterungen nach dem Zweiten Balkankrieg 1913 noch näher an die Donaumetropole heranschob. Österreich-Ungarn besaß in Triest überdies einen mit der Wiener Südbahn bequem erreichbaren Adriahafen, von dem aus die Schiffe des Österreichischen Lloyds einen direkten Zugang zu Korfu, Patras oder Athen ermöglichten. Athen und die von ihm repräsentierte Traditionslinie der antiken Polis-Kultur waren in Wien aber auch in anderer Weise symbolisch präsent. Das ab 1869 an der neuen Ringstraße errichtete Parlamentsgebäude orientierte sich am Vorbild griechischer Tempel; sein Architekt, der Däne Theophil Hansen, hatte sich viele Jahre in Athen aufgehalten und an Ausgrabungen bzw. Rekonstruktionen der Akropolis mitgewirkt. Das ungeachtet der militärisch-außenpolitischen Schwächung des Kaiserreichs (Niederlagen gegen Piemont-Sardinien 1859, gegen Preußen 1866) erstarkende liberale Bürgertum, gerade auch in seinen jüdischen Teilen, erhoffte sich von der Berufung auf die attische Demokratie eine erweiterte Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und am kulturellen Leben (Rossbacher, 1992). Auch der Neubau des Burgtheaters bezog sich direkt auf die griechische Antike – nicht zuletzt mit den Fresken des jungen Gustav Klimt (1862–1918), die das gräkorömische Theater von Taormina mit der zentralen Gestalt einer nackten Tänzerin und einen Dionysosaltar mit malerisch gelagerten Mänaden zeigten – ein Bekenntnis zur Sinnlichkeit und einer sinnlichen Auffassung der Antike zweifellos, aber doch sehr gemäßigt, gleichsam in Johann Joachim Winckelmanns und Hans Makarts Spuren. Ein ähnlicher Kompromiss zwischen Gestern und Heute prägte auf weite Strecken auch den Spielplan des Burgtheaters; dieser gab der Weimarer Klassik ebenso Raum wie ihren österreichischen Adepten, allen voran Franz Grillparzer, der sich mit der Trilogie Das goldene Vließ (1821) und den Trauerspielen Sappho (1818) und Des Meeres und der Liebe Wellen (1831) erhebliche Verdienste um die Konturierung einer suggestiven Theater-Griechenwelt erworben hatte (Darras, 2017/18). Die Burgtheater-Erfolge von Friedrich Halm (Der Sohn der Wildnis, 1842), Adolf von Wilbrandt (Der Meister von Palmyra, 1889) und Leo Ebermann (Die Athenerin, 1896) konnten daran anknüpfen. Diese Athenerin war übrigens keine andere als Phryne und insofern mit Klimts nackter Tänzerin vergleichbar – von Jugendstil gab es bei Ebermann aber keine Spur. Das Schulsystem der K.u.k-Ära tat ein Übriges, um die griechische Antike in Reichweite zu halten: durch die Dominanz des altsprachlichen Gymnasiums, das fast alle Protagonisten der kulturellen Szene um 1900 durchlaufen haben. Sigmund Freud ist nur ein beliebiges Beispiel, der in der Maturaklausur 43 Verse des sophokleischen König Ödipus übersetzen musste und so gewissermaßen schon für die Konstruktion des Ödipus-Komplexes in der Traumdeutung (1900) trainieren konnte (Schmidt-Dengler, 1981, 65f.). Eine Art Gegenprobe ermöglicht uns der Abdruck einer „historischen Schilderung“ in der Wiener Arbeiter-Zeitung. Otto Königs (1882–1932) Erzählung Ein Tag im alten Athen übertrug gleichsam die Vorbildrolle, die die attische Demokratie für das liberale Bürgertum besaß, auf die Arbeiterklasse. Ob er das intendierte Publikum wirklich erreicht hat, kann man bezweifeln, denn fast jede geschichtliche Bezeichnung aus der antiken Welt ist im Pressedruck mit einer Erläuterung in Klammern oder einer Fußnote versehen (Koenig, 1911) – weil die Arbeiter-Zeitung bei ihren Lesern eben nicht jenen Bildungsfundus voraussetzen konnte, der für die typischen Vertreter der Wiener Moderne selbstverständlich war.

    Deren gleichsam müheloser Rückgriff auf die griechische Tradition konturiert das Junge Wien und dessen Umfeld nicht nur in soziologischer Hinsicht – nämlich als bildungsbürgerliches Phänomen –, sondern auch als regionales bzw. nationales Differenzkriterium. Denn die Parallelbewegung der Berliner Moderne ging aus einem Gründungsakt hervor, der fast auf eine Absage an die griechisch-römische Überlieferung hinauslief: „Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne“ (Wunberg, 1998, 25). Freilich war diese Erklärung von Anfang wohl die umstrittenste unter den zehn 1886 vom literarischen Verein „Durch!“ verabschiedeten Thesen zur Dichtung der Zukunft; auch wurde sie in der Folge durch die Haltung bedeutender Protagonisten der Berliner Moderne früh genug objektiv widerlegt. Gerhart Hauptmann etwa strahlte mit seinem Reisebericht Griechischer Frühling (1908) geradezu auf die Wiener Moderne zurück (Meid, 2012, 81–84). Und schon Hermann Bahr (1863–1934), in den Neunziger Jahren die maßgebliche Gründungsfigur1Vgl. Wunberg, 1979 und 1981. (und später fast ein Antipode2Vgl. Beßlich, 2021, 167–197.) des „Jungen Wien“, suchte im Zeichen der heraufziehenden Neuklassik geradezu den Schulterschluss mit den Berliner Kollegen3Zu den intensiven Verflechtungen zwischen den hauptstädtischen Moderne-Zentren vgl. Sprengel/Streim, 1998. in Form gemeinsamer Hinwendung zum gelobten attischen Lande. So schreibt er im Herbst 1904 er an Hauptmann:

    An solchen wüsten Regentagen habe ich nur einen Wunsch: Athen. Und ich weiß nicht, warum sich mir dieser Name immer mit Ihrer Gestalt verbindet. Wir werden ganz gewiß noch einmal auf der Akropolis zusammen nach Salamis, über dem die Sonne sinkt, hinübersehen (Sprengel, 2001, 225).

    Akropolis-Feuilletons

    Einen sicheren Gradmesser für den Stellenwert der griechischen Kulturtradition im öffentlichen Bewusstsein der österreichischen Hauptstadt um 1900 bildet ein Medium, dessen deutschsprachige Entwicklung überhaupt eng mit der Kultur der Donaumetropole verbunden ist (Kernmayer, 1998): nämlich das Feuilleton. In der Wiener Presse zwischen 1890 und 1914 finden sich mehr als ein Dutzend oft als Reiseskizzen angelegter Essays über Athen und die Akropolis, die sich in der Wertschätzung des klassischen Erbes völlig einig sind, im Einzelnen aber unterschiedliche Beobachtungen akzentuieren oder zu verschiedenen Schlussfolgerungen gelangen.4Vgl. außer den im Folgenden genannten Texten die Artikel von Anonym (1898, 1906), Delius (1913), Löwy (1902), Misch (1906), R., Schmal (1891, 1893, 1897), Theimer (1902) und Ubell (1903). Zwei Grundthemen lassen sich herausschälen: einerseits die Klage über den Verlust der perikleischen Prunkbauten, von denen sich damals tatsächlich nur dürftige Ruinen besichtigen ließen, andererseits die Irritation der Besucher über das moderne Athen bzw. seine Bewohner und deren prosaisches Treiben. In einigen Artikeln werden auch Jakob Philipp Fallmerayers mittlerweile schon etwas angestaubte Spekulationen über die slawische Abkunft der Neugriechen (Fallmerayer, 1830–1836; 1845) aufgegriffen; sie scheinen manchem damaligen Betrachter die einzige Möglichkeit geboten zu haben, die Kluft zwischen dem modernen Griechenland und dem Idealbild der antiken Klassik zu verarbeiten. In Robert Hirschfelds (1857–1914) „Reisebildern“ Das neue Athen und Zur Akropolis (Die Presse, 1891) ist das Pathos, mit dem die Vorbildhaftigkeit der griechischen Klassik betont wird, geradezu mit der Herabsetzung der heutigen Bewohner des Landes erkauft. Der angesehene Musikkritiker, als Wagner-Anhänger nicht gerade eines steifen Konservatismus verdächtig, schlägt mit halbem Ernst eine Indienstnahme des Österreichischen Lloyds zum Zwecke der Kunstförderung vor: Wenn nämlich ganze Schiffsladungen von Kunststudenten von Wien nach Attika befördert würden, hätten die Denkmäler der österreichischen Hauptstadt künftig nicht mehr so eigenartig verzerrte „moderne“ Formen. Dabei geht es Hirschfeld erklärtermaßen nicht um die kalte Objektivität der Klassik, die er vielmehr für ein Missverständnis erklärt, sondern um das „wildbewegte“ Leben etwa der Reliefs des Parthenonfrieses (Hirschfeld, 20.06.1891). Für die modernen Griechen hat er dagegen bestenfalls Desinteresse übrig:

    Die Griechen fühlen es gar wohl, daß der Besuch des Athen-Pilgers nicht ihnen, den Lebenden, und ihren Afterwerken, sondern den stillen Trümmern gilt, um welche geschäftiges Leben wirbelt. Ein innigeres Verhältniß mit den Bewohnern Athens bahnt sich darum nur schwer an; man sucht auch keines, da die Athener keinen ausgesprochenen, tieferen Eingehens würdigen Charakter haben (Hirschfeld, 16.06.1891).

    Von einer echten Einbeziehung des heutigen Volkslebens in die atmosphärische Vergegenwärtigung der attischen Landschaft und des griechischen Frühlings kann man damals nur in den Feuilletons eines gebürtigen Griechen sprechen (Christomanos, 1895 u. 1896). Constantin Christomanos (1867-1911) nahm als Griechischlehrer und Vorleser der Kaiserin Elisabeth zweifellos eine Sonderstellung im kulturellen Leben der österreichischen Hauptstadt ein; in seinen deutschsprachigen Texten mischen sich modern-impressonistische Züge (tatsächlich hat er sich auch als Theaterleiter in Athen für die internationale Moderne eingesetzt) mit einem romantischen Schönheits- und Seelenkult, den seine kurz nach Elisabeths Ermordung herausgegebenen Tagebücher der Kaiserin selbst zuschreiben:

    Griechisch ist diejenige Sprache, sagte sie mir, in der meine Gedanken und Worte wie schöne Wesen mir entgegenkommen, um mir eine ungeahnte innere Welt zu eröffnen. Der Anblick derselben macht mich das Außenliegende vergessen (Christomanos, 1899, 73).5Vgl. auch Vogel, 1992.

    Im gleichen Sinn schildert er ein Gespräch, das er angeblich auf der kaiserlichen Yacht beim Anlaufen von Korfu mit der Kaiserin geführt hat, die dort ja über ein eigenes Schloss (das sog. Achilleion) verfügte:

    […] ich komme jetzt in ein ganz anderes Land, das ich nie gekannt habe und nach dem ich mich immer gesehnt, ohne es zu wissen.
    – Wie meinen Sie das?
    – Ich meine, es ist nicht bloß das Land, wo ich geboren, sondern das, wo ich geworden bin. Es ist das Heimatland meiner Seele, das mich jetzt aufnimmt, weil ich vielleicht erst jetzt dessen würdig geworden bin.
    – Dann sind wir Landsleute, sagte die Kaiserin, und über ihre Augen huschte ein unbeschreibliches Leuchten […] (Christomanos, 1899, 144).

    Diesem eines Sissi-Films würdigen Dialog liegen, wie leicht erkennbar, zwei klassisch-romantische Kernsätze als Prätext zugrunde: der Ausspruch von Johann Wolfgang Goethes Iphigenie, dass sie „das Land der Griechen mit der Seele“ suche (Goethe, 1790, 4), und die Auskunft, die bei Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg) dem Romanhelden Heinrich von Ofterdingen zuteil wird: „Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause“ (Novalis, 1978, 373).

    Philosophie- und Kulturgeschichte

    Sieht man genauer hin, so lassen sich allerdings auch in den altertumskundlichen Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Wiener Moderne ähnliche Strukturen, nämlich eine latente Identifikation der jeweiligen Verfasser mit den beschriebenen Phänomenen oder eine Parallelisierung attischer und Wiener Kulturereignisse beobachten. Ein Beispiel bietet der stark vom Geist des Empirismus geprägte Wiener Altphilologe Theodor Gomperz (1832–1912), mit dessen Sohn (dem Philosophen Heinrich) Hugo von Hofmannsthal befreundet war (Le Rider, 2001). Sein dreibändiges Hauptwerk Griechische Denker (1896–1909) arbeitet massiv mit aktualisierenden Vorausdeutungen. So erscheint Empedokles aufgrund seiner Spekulationen zur Zoogonie hier als „Vorläufer Darwins und Goethes“ (Gomperz, 1896–1909, I, 201). Der von Nietzsche so heftig geschmähte Sokrates dagegen gilt Theodor Gomperz nicht nur als „größter Vorkämpfer der Aufklärung“, sondern auch – und hier tritt die Analogie zur Moderne um 1900 und der Stellung des glaubenslosen Juden in ihr am klarsten hervor – als „derjenige, der die unvermeidlichen Gebrechen eines kritischen oder Aufklärungs-Zeitalters am schärfsten erkannt, am nachhaltigsten empfunden hat. Der alte Glaube war unterwühlt; die überkommenen Maßstäbe des Verhaltens standen äußerlich aufrecht, aber die innere Kraft war aus ihnen entflohen; in den Seelen waltete Unfrieden, verwüstende Zwietracht“ (Gomperz, 1896–1909, II, 56).

    Auch die Kulturgeschichte Griechenlands, die Egon Friedell (1878–1938) bei seinem Selbstmord aus Furcht vor der Gestapo kurz nach dem sogenannten ‚Anschluss‘ unvollendet hinterlässt, arbeitet mit aktuellen Bezügen und unterstreicht dabei in einer nachgerade seltenen Weise die Kontinuitäten des griechischen Lebens seit der Antike. Man höre seine Schilderung einer sich im wahrsten Sinne des Wortes nach außen öffnenden Philosophie und sozialdienlichen Rationalität, die nicht zufällig wiederum mit dem Namen Sokrates verbunden ist:

    Philosophie war keine Sache der Stube, denn alle großen Schulhäupter lehrten in offenen Anlagen und ihre Schulen hießen nach diesen: […]; und vollends Figuren wie Sokrates, die Sophisten oder Diogenes sind überhaupt nur auf der Straße zu denken. Noch im heutigen Griechenland hält der Arzt seine Sprechstunde mit Vorliebe vor der Apotheke, der Rechtsanwalt und sogar der Beamte auf der Caféterrasse, Angehörige aller Berufe trifft man in jedem unbeschäftigten Augenblick auf dem Korso, das Volk schläft von Mai bis September im Freien […] (Friedell, 1984, 27).

    Dass auch diese Ausführungen von einer selbstverständlichen Parallelisierung Athens mit Friedells Heimatstadt Wien getragen sind, ergibt sich schon aus der vorangehenden Erklärung der sogenannten „Leschen“ als „öffentlichen Gebäuden, die geradezu unseren Kaffeehäusern entsprachen, denn man kam dort ausschließlich zum Schwatzen zusammen“ (ebd.). Und dass die Wiener Moderne ihre Geburt dem Kaffeehaus verdankte – und zwar insbesondere dem 1897 geschlossenen Café Griensteidl –, war jedenfalls bei ihren Kritikern, angefangen mit Karl Kraus (Kraus, 1897), unbestrittener Konsens. Die verblüffendste Parallele allerdings, die sich in den altertumswissenschaftlichen Diskursen der Zeit zwischen Wien und Athen herausbildete, betrifft den Zusammenhang von Katharsis und Hysterie. Theodor Gomperz legte 1897 eine Übersetzung der Poetik des Aristoteles vor, die durch einen Essay des Wiener Privatdozenten (und nachmaligen Burgtheaterdirektors) Alfred von Berger (1853–1912) angereichert war. Darin setzt sich dieser mit der naturwissenschaftlichen Deutung auseinander, die schon 1857 Jacob Bernays in Bonn (ein Onkel übrigens von Freuds Ehefrau Martha) dem Begriff der „Katharsis“ gegeben hatte (Alt, 2010, 182–184), und stellt eine hochaktuelle Verbindung zu einem Grundlagenwerk der Psychoanalyse her: „Die kathartische Behandlung der Hysterie, welche die Ärzte Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund Freud beschrieben haben, ist sehr geeignet, die kathartische Wirkung der Tragödie verständlich zu machen“ (Berger, 1897, 81). Wie der Zuschauer der Tragödie durch seine Anteilnahme an der dramatischen Handlung von Affekten im medizinischen Sinne gereinigt werden kann, so hatten Freud und Breuer die Hysterie ihrer Wiener Patientinnen durch Hypnose (Berger, Freud, 1896), später auch durch Suggestion und Ideenassoziaton – jedenfalls auf dem Weg einer symbolischen Wiederholung des traumatischen Ereignisses – zu heilen versucht. Wenige Jahre später widmet Hermann Bahr Berger eine kleine Schrift – als Dank für die Anregungen, die er wie viele seiner Wiener Generationsgenossen den Vorlesungen Bergers entnommen hat. In diesem Dialog vom Tragischen stellt Bahr nun die These auf, die Griechen hätten die Tragödie als Mittel zur Erinnerung an „schlechte Affekte“ und als „Kur, zur Genesung der Nation“ erfunden. Eine Kur, die offenbar dringend nötig war, denn Bahr sieht „die ganze Kultur der Griechen […] rings von Hysterie beschlichen und umstellt“ (Bahr, 1904, 14 und 23).

    Nach den Vorbildern dieser durchaus aufs Gegenwärtige zielenden Kulturkritik muß man nicht lange suchen. Es ist Friedrich Nietzsches Décadence-Schelte, die sich hier ins Gewand des aktuellen Hysterie-Diskurses kleidet. Auch das moderne Drama, das Bahr zu dieser nachdrücklichen Betonung der Hysterie veranlasst, lässt sich mühelos benennen: Es war Hofmannsthals Umdichtung der sophokleischen Elektra, die 1903 von Max Reinhardt in Berlin herausgebracht wurde und sichtbarer als alle anderen Theateraufführungen der Zeit mit dem vertrauten Bild des Bühnenklassizismus brach. Stattdessen wurde das Publikum hier mit einer archaischen Blut- und Racheorgie konfrontiert, die sich allerdings mehr in der Phantasie als dem realen Handeln der Hauptperson abspielte; Gertrud Eysoldt als Elektra legte die ganze Energie dieser Hysterikerin in den finalen Todestanz.6Vgl. u.a. Jaron, Möhrmann, Müller, 1986, 531–542; Meister, 2000.

    Hofmannsthal und Beer-Hofmann

    Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) ist sicher der Dichter der Wiener Moderne, der sich am längsten und intensivsten mit der griechischen Antike befasst hat. Die erste besonders fruchtbare Phase dieser Auseinandersetzung reicht in die frühen Neunziger Jahre zurück: Hofmannsthal arbeitet an Neubearbeitungen oder Übersetzungen der Alkestis (Brittnacher, 2001, 51–82) und der Bakchen des Euripides und eignet sich aus Nietzsches Tragödienschrift vor allem die Vorstellung einer dionysischen Entgrenzung als Kern jeder ästhetischen Lebenserhöhung, ja Daseinserfüllung an (Streim, 1996). Denn vollständig, so lautet die dabei mitgedachte unaufhebbare Paradoxie, realisiert sich diese Lebenserfüllung wohl nur im Tode: Das ist der Sinn der letzten Handlungssequenz in Hofmannsthals motivlich eng an Arnold Böcklins Bilderfindungen angelehntem Einakter Idylle wie auch der Gestaltung des Tods als geigespielender Tänzer in Der Tor und der Tod (Hofmannsthal, 1975ff., III, 53–80). Das Dionysische erscheint hier primär als Erlösung, als Schopenhauer nachempfundene Überwindung des principium individuationis. Der griechische Mythos erlaubt den Hauptgestalten dieser Dramen wie auch dem Dichter eine Haltung des „θαυμάζειν“ (Staunen), den Anblick des „Leben[s] als tragisches, rätselhaftes Geschick“ (ebd., XVIII, 48).7Vgl. Hofmannsthal, 1975ff., VII 232 und zum weiteren Zusammenhang Sprengel, 2001, 222.

    In Parenthese sei hier nur in aller Kürze auf den Traum des Ich-Erzählers in Richard Beer-Hofmanns (1866–1945) hochkomplexer Novelle Der Tod Georgs (1900) hingewiesen. Darin spielt ein orgiastisches Tempelritual eine Rolle, dessen Schilderung einem Buch Jacob Burckhardts entnommen ist, letzten Endes aber auf Lukians Schrift Περὶ τῆς Συρίης Θεοῦ zurückgeht (Scherer, 1993, 248f.). In fast schon obszöner erotischer Zuspitzung signalisiert uns die Traumsequenz eine Sehnsucht nach entgrenzender, sozusagen dionysischer Gemeinschaft, die sich am Schluss der Erzählung in durchaus abweichender Form erfüllt: nämlich in einem Bekenntnis zur ethnischen Bluts-Gemeinschaft, das offenbar als Votum für den Zionismus zu lesen ist (ebd., 303–308). Unter dem Eindruck der Studien Erwin Rohdes dunkelt sich Hofmannsthals Bild der griechischen Antike fortan deutlich ein. Das Ritual des Opfers, hinter dem letztlich ein Menschenopfer steht, schiebt sich in den Vordergrund. In Hofmannsthals Gespräch über Gedichte (1904), einer der wichtigsten programmatischen Selbstaussagen des Autors und zugleich einem markanten Manifest des Symbolismus, wird an der Verschiebung vom Menschen- zum Tieropfer der Vorgang einer symbolischen Substituierung als Grundprinzip der Kunst, aber auch der Religion erläutert:

    Weißt du was ein Symbol ist? … Willst du versuchen dir vorzustellen, wie das Opfer entstanden ist? […] Ich meine das Schlachtopfer, das hingeopferte Blut und Leben eines Rindes, eines Widders, einer Taube. Wie konnte man denken, dadurch die erzürnten Götter zu begütigen? Es bedarf einer wunderbaren Sinnlichkeit um dies zu denken, einer bewölkten lebenstrunkenen orphischen Sinnlichkeit. Mich dünkt, ich sehe den ersten, der opferte. Er fühlte, daß die Götter ihn haßten […], daß die gierige Seele eines Toten nachts mit dem Wind hereinkam und sich auf seine Brust setzte, dürstend nach Blut. Da griff er, im doppelten Dunkel seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seiner Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur Lust. Und da, trunken vor Angst und Wildheit und Nähe des Todes, wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal im wolligen warmen Vließ des Widders. […] er muß, einen Augenblick lang in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn sterben. Daß das Tier für ihn sterben konnte, wurde ein großes Mysterium, eine große geheimnisvolle Wahrheit. Das Tier starb hinfort den symbolischen Opfertod (Hofmannstal, 1975ff., XXXI, 80f.).

    Auch in den für Reinhardts Theater geschriebenen Griechendramen (Nehring, 1991) ist das Modell des Opfers konstitutiv. Elektra erträumt und feiert am Grab des Vaters die Opferung der Mutter und bringt sich eigentlich selbst zum Opfer (Brittnacher, 2001, 131–160), und auch Hofmannsthals Ödipus im dramatischen Vorspiel Ödipus und die Sphinx (1906) verortet sich von Anfang an im Zeichen des Opfers und einer verdächtig schillernden Blutmetaphorik:

    Der Strom des Bluts,
    das war die schwere, dunkle Flut, in der
    die Seele taucht und findet keinen Grund.
    Das war in mir. Nein, das war ich! Ich war
    ein wilder König, der erbarmungslos
    ein Weib umschlingt in einer Stadt, die brennt,
    und war auch der Verbrennende im Turm –
    ich war der Priester, der das Messer schwingt,
    und ich zugleich war auch das Opfertier.
    Und ich verging nicht! Ich brach nicht in Stücke!
    Der Blutstrom riß sich auf in seinem Bette
    mit mir auf seinem Haupt und hub mich auf
    zum Gott […] (Hofmannsthal, 1975ff., VIII, 24).

    Zu einer Aufhellung dieses chthonischen Antikebilds trägt die erste Griechenlandreise bei, die Hofmannsthal 1908 in Begleitung von Harry Graf Kessler und dem Bildhauer Aristide Maillol unternimmt. Trotz mancher Misshelligkeiten des realen Verlaufs findet ihre literarische Aufarbeitung einen versöhnlichen Abschluss, insofern die erst 1917 veröffentlichten Augenblicke in Griechenland mit einem Akropolis-Essay enden, der in mancher Hinsicht die Struktur der oben beschriebenen Wiener Feuilletons aufnimmt. Auch hier wird Frustration über die Trümmerlandschaft des Tempelbergs geäußert, die zunächst keinerlei Anknüpfungspunkt für das mitgebrachte Bildungswissen des Reisenden bietet: „Gewesen“, ruft dieser aus, und – nicht ohne eine gewisse Doppeldeutigkeit –: „Unmögliche Antike!“ (Hofmannsthal, 1917, 181) Dann kommt ein zweites Standardrequisit der damaligen Athen-Diskurse ins Spiel: die Abwertung des neugriechischen Personals. Im Falle des Schlussteils der Augenblicke – mit der Überschrift Die Statuen – handelt es sich um einen Museumswächter, der den Betrachter zur Besichtigung der Koren im Akropolismuseum einlädt, gleichzeitig aber mit seiner Geschwätzigkeit stört und schon in seiner abstoßenden äußeren Erscheinung einen irritierenden Kontrast zu jenem Wunder einer ästhetischen Ekstase bildet, das sich denn doch unversehens im Betrachter der vorklassischen Statuen ereignet und trotz seines Momentcharakters das (gleich mehrfach repetierte) Leitwort „Ewig!“ des letzten Absatzes begründet (ebd., 195).8Vgl. Müller, 1993; Schings, 2004.

    Übergänge

    Von der durch Bahr, Hofmannsthal und Beer-Hofmann vertretenen ersten Generation der Wiener Moderne führen sehr verschiedene Verbindungslinien zum Expressionismus. Eine davon markiert ein Gesamtkunstwerk-Experiment der Wiener Kunstschau 1909, das auf verschiedenen Ebenen (Text, Regie, Ausstattung, Plakatierung) mit dem Namen Oskar Kokoschkas (1886–1980) verbunden war; unter dem provozierenden Titel Mörder Hoffnung der Frauen ging es den Weg zu einer barbarischen Vorzeit weiter, den Hofmannsthals Elektra vorgezeichnet hatte (Navratil, 2011, 262–268). In Kokoschkas von Otto Weininger inspirierter, auf ein vampirisches Blutopfer hinauslaufender Dramatisierung des Geschlechterkampfs sind allerdings alle eindeutigen Referenzen auf Griechisches bis auf den Chor getilgt. Wir haben es mit der Performance eines Ur-Mythos zu tun, an der hauptsächlich kosmische Symbole (Sonne, Mond) und christliche Reminiszenzen (Hahnenschrei, Auferstehung, Teufel) beteiligt sind. Um so konkreter nehmen sich dagegen die allerdings ironisch gebrochenen Bezugnahmen auf die griechische Antike im Prosawerk Albert Ehrensteins (1886–1950) aus. Der Kraus-Schüler dekomponiert den Mythos, indem er ihn vorzugsweise zur Karikatur höchst banaler sexueller Verhältnisse gebraucht oder missbraucht (Wallas, 1994). Da lässt sich die Sphinx nicht ungern von Ödipus vergewaltigen und hat Orest, wie angeblich sein Name schon sagt („O Rest“), mit Potenzproblemen zu kämpfen (Sprengel, 2001, 227f.). Ironisch ist natürlich auch der Rückgriff auf den Streit der sieben Griechenstädte um den Ruhmestitel des Geburtsorts Homers; in seinem Beitrag zu Kurt Pinthus’ Kinobuch (1913) nähert Ehrenstein die antike Überlieferung dem realen „Martyrium eines Dichters“ an: „Keine Bürgerschaft will ihn ernähren, er wird immer wieder als lästiger Ausländer abgeschoben, die Stadtväter jeglicher Gemeinde verwahren sich energisch dagegen, daß dieser krüppelhafte Kerl ihrer Polis entsprossen sei“ (Ehrenstein, 1991, 193). Eindeutig ist dabei auch die Distanzierung vom herkömmlichen Gymnasium, vertreten durch „Regierungsrat Professor Methusalem Leichenstil, der, um schneller zu avancieren, sich allen bildlichen Schmuck des achilleischen Schilds auf den Bauch tätowieren ließ“ (ebd., 194) Einen authentischeren Zugang zum Griechentum und heidnischer Sinnlichkeit verspricht sich dieser Autor von der Erotik; in seiner Übersetzung oder eigentlich in seiner Bearbeitung von Christoph Martin Wielands Übersetzung der Hetärengespräche Lukians (1925) lässt Ehrenstein den Jargon der Nachkriegszeit und Wiener Mundart sprechen. Während sich Phryne, die „Athenerin“ in Ebermanns Burgtheatererfolg aus den Neunziger Jahren, noch in gestelzten Blankversen vernehmen ließ, „drahn“ Ehrensteins Hetären mit ihren „Gigerln“ durch die Nacht, „gefretten sich“ oder „soupieren“ nach ihrem „Gusto“ (Wallas, 1994, 416f.). Die Ausläufer der Wiener Moderne sind hier im attischen Nachtleben angekommen, vielleicht darf man von einem Philhellenismus der sexuellen Emanzipation sprechen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Annäherung ans Griechische, bei der die alten Hellenen nicht mehr auf einen Sockel gestellt werden, sondern als Spiegelbilder für den Alltag des Hic et Nunc dienen. Im gleichen Sinne verwendet auch Hofmannsthals unausgeführte Komödie Timon der Redner Motive aus Lukian als Material zur Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse der 1920er Jahre. „Das Lustspiel in griechischem Costüm, d. i. in der Gegenwart, aber leicht verschleiert“ – wie Hofmannsthal in einem Brief von 1925 sich ausdrückt (Beßlich, 2021, 250) –, spielt teilweise im Bordell. Dessen Vorsteherin erhält vom Titelhelden die Anweisung: „Nur hier kein revolutionäres Wort! Hier müssen sie [sc. die Aristokraten] sich geborgen fühlen. Lass solche Reden fallen wie: Hier ist Alt-Ephesos!“ (Hofmannsthal, 1975ff., XIV, 23). Hinter der Anspielung auf die Alt-Wien-Mode der Republikzeit (Beßlich, 2021, 250) steht beim Lustspieldichter wohl auch das Bewusstsein davon, dass sogar das Junge Wien in die Jahre gekommen, sich selbst historisch geworden ist.

    Einzelnachweise

    • 1
      Vgl. Wunberg, 1979 und 1981.
    • 2
      Vgl. Beßlich, 2021, 167–197.
    • 3
      Zu den intensiven Verflechtungen zwischen den hauptstädtischen Moderne-Zentren vgl. Sprengel/Streim, 1998.
    • 4
      Vgl. außer den im Folgenden genannten Texten die Artikel von Anonym (1898, 1906), Delius (1913), Löwy (1902), Misch (1906), R., Schmal (1891, 1893, 1897), Theimer (1902) und Ubell (1903).
    • 5
      Vgl. auch Vogel, 1992.
    • 6
      Vgl. u.a. Jaron, Möhrmann, Müller, 1986, 531–542; Meister, 2000.
    • 7
      Vgl. Hofmannsthal, 1975ff., VII 232 und zum weiteren Zusammenhang Sprengel, 2001, 222.
    • 8
      Vgl. Müller, 1993; Schings, 2004.

    Verwendete Literatur

    Zitierweise

    Peter Sprengel: «Philhellenismen der Wiener Moderne», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 28.06.23, URI : https://comdeg.eu/essay/113780/.