Die Suche nach einem „Rechtsstaat als Kulturschöpfer“: deutsche Mandarine, griechische Intellektuelle und die Heilungsansätze gegen die moderne „Krankheit“ in der Zwischenkriegszeit

  • Veröffentlicht 07.03.23

Wie lernten führende griechische Intellektuelle, Politiker und Ingenieure die deutschen Mandarine kennen? Durch welche Elemente der Denkweise der Mandarine wurden sie angeregt? Wie waren diese Elemente – ob kreativ interpretiert oder überinterpretiert – mit dem griechischen Denken über den staatlichen/gesellschaftlichen Wiederaufbau und die neue kulturelle Orientierung Griechenlands nach der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe verbunden?

Inhalt

    Die deutschen Mandarine: vom geistigen Führungsanspruch zur Suche nach einer Konservativen Revolution

    Dieser Essay unternimmt den Versuch, sich diesen Fragen zu nähern und sie zu beantworten. Dabei stützt er sich hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, wie sich zeigen wird, auf die innovative Studie von Fritz Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890 – 1933.1Die Bezeichnung „Rechtsstaat als Kulturschöpfer“ aus dem Titel dieses Essays ist diesem Buch (Ringer, 1990, ix) entnommen. Auch in der deutschen Übersetzung des Essays beziehen sich sämtliche Verweise auf Ringers Werk und Zitate daraus auf die englische Originalausgabe und nicht auf dessen deutsche Übersetzung, die 1983 unter dem Titel Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, 1890-1933 erschien.

    Es handelt sich um eine im angelsächsischen und deutschen Sprachraum vieldiskutierte Studie, deren tiefgreifende Analysen und die darin aufgeworfenen Fragen jedoch bislang nicht genutzt wurden, um Aspekte des griechischen Gedankenguts der Zwischenkriegszeit zu interpretieren. In diesem Essay wird genau das unternommen. Im ersten Teil wird Ringers Argumentation – in Verbindung zu ausgewählter englisch- und deutschsprachiger Literatur über die deutschen Mandarine in der untersuchten Zeit 1890-1933 und mit Schwerpunkt auf der Zwischenkriegszeit – sowie sein gesamter Interpretationsrahmen vorgestellt. Der zweite Teil des Essays stützt sich auf griechische Primär- und Sekundärliteratur in Kombination mit der vorangegangenen Präsentation/Interpretation, so dass der Versuch unternommen wird, die griechische Geistesgeschichte der Zwischenkriegszeit entlang der oben genannten Leitlinien zu interpretieren.

    Fritz Ringers (1990, v-viii) ideologische Annäherung an die Mandarine und ihre Ideologie als Resultat ihrer Stellung in der deutschen Gesellschaft unterstreicht die Prinzipien dieser Schicht: die Beanstandung des „utilitaristischen“ Wissens; der Gegensatz zwischen innerer, spiritueller, tieferer Kultur und äußerer, ideomotorischer, unpersönlicher und anglo-französischer Zivilisation; die Überzeugung, dass die Wissenschaft eine bestimmte Weltanschauung schaffen müsse, eine emotional aktive Haltung gegenüber der Welt, eine persönliche Synthese von Beobachtungen und Werturteilen, in der die subjektiven Ziele mit dem Verständnis des Universums verbunden werden; das normative Konzept des Staates als Legitimations- und Kulturträger, das auf Bildung, d.h. der Kultivierung und allseitigen Formung der Persönlichkeit auf der Grundlage von Werten beruht, deren alleinige Träger sie selbst seien (Ringer, 1990, 102-113). Die Ideologie und das Forschungserbe der Mandarine wurde, wie Ringer betont, von der kantischen Kritik der reinen Vernunft, den idealistischen Theorien wie auch der deutschen historistischen Tradition mit ihren Merkmalen geprägt: der Suche nach der „wahren“ Vergangenheit, der Betonung der Empathie und der Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, der Betonung der Individualität und den Metaphern von Orchester und Symphonie: „große“ Persönlichkeiten, die wie andere Dirigenten vielköpfige Ensembles leiten, indem sie den Ton angeben, und denen es gelingt, harmonische Kompositionen aus Ungleichem zu schaffen. Mit anderen Worten erhielt die deutsche historistische Tradition, so betont er, eine metaphysische/mystische Bedeutung durch die Betonung „großer“ historischer Subjekte, und die Tendenz, Kulturen, Staaten und Epochen als personifizierte Ganzheiten nach ihrem eigenen, unverwechselbaren Geist zu behandeln (Ringer, 1990, 90-102). Die Krise dieser Tradition, die nach dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte – die Krise des Historismus (Bambach, 1995) – löste eine Infragestellung ihres Status, ihrer Mission und ihrer Ansprüche aus, und stürzte sie in einen Grenzzustand existenzieller Angst, der sich natürlich auf die gesamte deutsche Gesellschaft bezog (Abelshauser, Faust & Petzina, 1985; Griffin, 2007; Stern, 2005).

    Auf derselben Linie dieses ideologischen Ansatzes definiert Ringer die Mandarine außerdem als „a social and cultural elite which owes its status primarily to educational qualifications, rather than to hereditary rights or wealth“ (Ringer, 1990, viii). Eine gemeinsame Ideologie bedeute keine gemeinsame Identität: Ringer unterscheidet zwischen Orthodoxen und Modernisten, was nicht der Unterscheidung zwischen Konservativen und Liberalen entspricht, da die Modernisten als „aufgeklärte Konservative“ bezeichnet werden können. Die Meinungsverschiedenheit, so sagte er, betraf die richtige Haltung gegenüber dem gesamten Erbe der Mandarine im Zeitalter der Massen. Während die Orthodoxen auf der unkritischen Reproduktion einer humanistischen Tradition bestanden, waren die Modernisten der Ansicht, dass das deutsche Kulturerbe in eine zeitgemäße Sprache übersetzt werden müsse. Ab 1890 – und verstärkt in den Jahren 1919-1933 – nahmen die Mandarine den abrupten Wandel Deutschlands in eine hochindustrialisierte Nation als einen beunruhigenden Übergang zu der problematischen Technologiekultur wahr und versuchten, ihre Führungsposition zu behaupten. In den 1920er Jahren waren sie davon überzeugt, in einer tiefgreifenden Krise zu leben – einer Krise der Kultur, des Wissens, der Werte, des Geistes und des Historismus (Bambach, 1995, 2013; Krois, 2013; Stern, 2005). Ringer (1990, 1-9) zeigt an, dass sie darauf – nicht ohne innere Konflikte – mit der Mobilisierung verschiedener Aspekte ihrer Ideologie reagierten. Diese Aspekte sind knapp zusammengefasst: die „idealistische“ bzw. „unpolitische“ Annäherung an die Politik, bei der der Schwerpunkt auf der theoretischen Bestimmung des idealen Staates und auf den ultimativen Zielen der Herrschaft liegt (Ringer, 1990, 104-127); die Verlagerung auf die Vorstellung des Staates als Träger von Legitimität und Zivilisation gegen konkurrierende soziale Akteure (Ringer, 1990, 42-80); die hitzige Debatte darüber, ob das „neue Zeitalter“ insgesamt verdammt oder, wenn auch nur zurückhaltend, begrüßt werden sollte; die Möglichkeit der Entstehung „neuer politischer und intellektueller Aristokratien“ im Schoß der Mandarine (Ringer, 1990, 127-134); die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs als Krieg der Kulturen, als Ausdruck des Konflikts zwischen Kultur und Zivilisation (Gunneman, 2013; Ringer, 1990, 180-199), die unterschiedlichen Auffassungen während der Weimarer Republik, als sich die Modernisten an der Fusion von Demokratie und Tradition versuchten, und die Orthodoxen – z.B. Oswald Spengler (2017 [1918; 1922]) oder deren neue Generation (Freyer, 1932) oder auch die bekehrten Modernisten (Sombart, 1934) – auf einen gewaltsamen Bruch mit der Gegenwart, eine „geistige Revolution“ zur Rettung der Nation auf der Grundlage von Wille, Einsicht und Leugnung der Vernunft aus waren (Bambach, 2013; Beiser, 2013;Gunneman, 2013; Krois, 2013; Ringer, 1990, 202-226).

    In der Nachkriegszeit waren sich Orthodoxe und Modernisten einig, urteilt Ringer, dass ihre Bildung/Kultivierung ein Musterfür die Bildung der Nation sein sollte, gestaltet nach ihren eigenen Vorbildern. Das jedoch verschärfte den Konflikt zwischen den beiden Lagern (Ringer, 1990, 252-282). Da sie seit 1920 die Feinde des Idealismus – Positivismus, Materialismus und Psychologismus – als Schuldige für die Krise der Wissenschaft ausgemacht hatten, wandten sie sich der philosophischen Renaissance des späten 19. und den Antworten des Neukantianismus zu. Sie konzentrierten sich nicht auf die wissenschaftsorientierte Marburger Schule (Cohen, Cassirer) und ihre Betonung des kategorischen Imperativs Kants, des Vernichters aller Metaphysik, sondern auf die Südwestdeutsche Schule von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert (Bambach, 1995, 83-125; Bambach, 2009, 477-487; Kyrtsis, 1996, 58-66), indem sie sich auf die Ethik, Metaphysik und die absoluten Werte konzentrierten, ihrer Meinung nach die Gegenmittel gegen die Dekadenz. Diese neukantianische Strömung sowie die Arbeiten von Rickert (1924, 1962) betrachteten in den 1920er Jahren die Welt als eine Schöpfung des Bewusstseins und bewegten sich selbstbewusst auf einen postkantianischen Idealismus zu (Ringer, 1990, 310-311). Zeitlose, übergeschichtliche und unveränderliche Werte wurden als Grundlage der Zivilisation angesehen, und die Zivilisationsphilosophie schien die „Entdeckung“ ewiger moralischer Wahrheiten zu versprechen, die Übereinstimmung des Bedeutenden mit dem ewig Wertvollen. Die gesamte Reflexion war mit der Methodik der Geistes- und Naturwissenschaften und ihrer Verbindung zu Wert-Fragen verflochten (Ringer, 1990, 283-315). Als Neukantianer lehnte Rickert die Auffassung ab, dass Wissen die Wirklichkeit nur passiv widerspiegele, und vertrat die Ansicht, dass jede Beschreibung eine aktive Umgestaltung der Wirklichkeit mit sich bringe. Es sei die Qualität unseres Interesses, die uns veranlasse, zwischen natur- und kulturwissenschaftlicher Erforschung zu unterscheiden. Die von Windelband (1980; 1894) getroffene Unterscheidung zwischen nomothetischen (einen allgemeinen Rahmen untersuchenden) und idiographischen (das Individuum untersuchenden) Wissenschaften vorantreibend, differenziert Rickert zwischen generalistischen (nach Gesetzen suchenden, jedes Einzelereignis in größere Zusammenhänge einbindenden) und individualistischen (den humanistischen, insbesondere den historischen, die die Einzigartigkeit dessen, was sich historisch manifestiert, hervorheben) Wissenschaften (Rickert, 1924, 1962; Bambach, 2009, 480-482) und unternahm den Versuch, das Problem der idiographischen Auswahl zu lösen. In den Kulturwissenschaften betrachten wir das als wesentlich, was die bewussten Ziele und Bewertungen der Menschen verkörpert/verbindet, und sind an den Werten interessiert, die die Entscheidungen leiten. Folglich wurde das Übergeschichtliche im Geschichtlichen verortet und so die Schaffung einer kulturell und objektiv begründeten Weltanschauung ermöglicht. Die Suche nach einer idealistischen Weltanschauung zielte, so Ringer, auf die Wiederbelebung der Tradition und der Rolle der Mandarine ab: kulturelle Synthese versus Spezialisierung und das Streben nach intellektueller Vormachtstellung (Ringer, 1990, 326-352).

    Als 1917 der Modernist Max Weber (1992; 1917/1919) in München in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf die verallgemeinernde Kritik an der Überspezialisierung in Frage stellte, indem er Erkenntnis/Bildung/Ausbildung von der Gestaltung einer einheitlichen Weltanschauung trennte, kam es zu heftigen Reaktionen sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Gemeinschaft, z.B. aus dem George-Kreis (Ringer, 1990, 353-358). Die Sorge um die Renaissance des Wissens nach 1920, unterstreicht Ringer, ging in die Hände der Orthodoxen und der neuen Generation über, während Intuition, Wille und Ganzheit überbewertet wurden (Beiser, 2013). Auf der dringenden Suche nach dem deutschen Wesen oder dem deutschen Geist waren viele Mandarine auf der Suche nach zeitlosen kulturellen Verpflichtungen, die die ersehnte Renaissance, aber auch die Wiederherstellung ihrer Ideale herbeiführen sollten. 1927 hatte Hugo von Hofmannsthal, so Ringer, bei einer Rede an der Universität München die Notwendigkeit einer Konservativen Revolution angemahnt (Ringer, 1990, 352-404). Die Krise der frühen 1930er Jahre schien den Geistesträger durch die Trennung von Geist und Politik zu marginalisieren. Die meisten gingen von der Selbstviktimisierung zum Hass über und schlossen sich der Rhetorik der von den Nazis kontrollierten Studentenverbindungen an (Ringer, 1990, 241-252). Es lohnt sich, hier die Hauptthemen der sogenannten Konservativen Revolution nebeneinander zu stellen, des kleinsten gemeinsamen Nenners von Denkern wie Hans Freyer, Werner Sombart, Oswald Spengler, Moeller van den Bruck, Martin Heidegger, Carl Schmitt, Ernst Jünger und anderen. (Breuer, 1995 [Anatomie der…], 2010; Griffin, 2007; Sieferle, 1995). Diese Denker verherrlichten die einheimische geistige Kultur gegenüber der wurzellosen Zivilisation, waren von der modernistischen Sehnsucht nach einem Aufbruch erfüllt, traten für einen Dritten Weg jenseits der zerstörerischen Kräfte von Kapital und Arbeit ein, und wollten Wirtschaft und Technik auf der Grundlage einer technokratisch starken Nation organisiert sehen, wobei sie den geistigen Charakter von Wissenschaft und Technik besonders hervorhoben (Herf, 1996; Hård, 1998). Sie schöpften dabei aus dem Kulturpessimismus und der Verzweiflung, worauf Fritz Stern (2005) verwiesen hat, doch laut Enzo Traverso war ihr zentrales Ziel die Schaffung einer in die Zukunft projizierten Volksgemeinschaft  (Traverso, 2002, 176). Ihre Überlegungen drehten sich um die Achsen Krise, Führung, Nation und Ordnung (Sluga, 1995).

    Gleichzeitig kam eine der schärfsten Kritiken an der Weimarer Republik aus dem George-Kreis (Lane-Ruehl, 2011), der einen „ästhetischen Fundamentalismus“ (Breuer, 1995 [Ästhetischer Fundamentalismus…]) vertrat, und – wenn auch umstrittene – Beziehungen zum Nationalsozialismus unterhielt (Haffner, 1978). Obwohl bereits ein angesehener Lyriker, war es nach dem Krieg, so Martin Ruehl (2013), nicht der Dichter, sondern der Denker George, der Prophet eines „neuen Menschen“, der die Phantasie des jüngeren Bildungsbürgertums beflügelte: Er und seine Anhänger galten als die Avantgarde des Geheimen Deutschlands. Er hatte dieser neuen Generation die Unzulänglichkeit der modernistischen, wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung beigebracht und die Bedeutung des Heldentums, des „schönen Lebens“, der besonderen und epochalen Mission Deutschlands betont. Ruehl weist darauf hin, dass George in der Weimarer Republik zu einem Idol wurde, seine Anhänger in öffentlichen Debatten auftraten und die Ideale des George-Kreises das geistige Leben Deutschlands stark prägten. Seine pädagogischen Ideale, insbesondere seine Kritik am Positivismus und seine Forderung nach einer umfassenden Bildung, die sich am altgriechischen Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung zur Bildung einer neuen geistigen Elite orientierte, beeinflussten das Curriculum der geisteswissenschaftlichen Fächer an mehreren deutschen Universitäten. George, so fanden Sympathisanten, betrachtete es als seine Aufgabe, den seit der Reformation verloren gegangenen Begriff der Gemeinschaft in der deutschen Gesellschaft wiederherzustellen, indem er sie vor den zweifelhaften Strömungen des Materialismus, des amerikanischen Kapitalismus und des sowjetischen Kommunismus befreite. Die Erlösung würde die rettende/reinigende Kraft desTäters hervorbringen, eine Idee, die mit der Auffassung vom Dichter als Propheten, Lehrer und Führer und dem Ausbau des Geheimen Deutschland zum Reich kompatibel ist (Ruehl, 2013).

    Konstantinos Tsatsos und Kanellopoulos, Intellektuelle auf der Suche nach neuen Anfängen und der Überwindung der Zwischenkriegskrise: die Erhebung des Staates zum „Wert“ und das Lobpreis der Kultur

    Die griechische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit kann als eine unter Druck gesetzte, gestresste und missbehagliche Gesellschaft beschrieben werden. So bezeichnet Roger Griffin (2007) das Deutschland der Weimarer Republik sowie andere europäische Gesellschaften dieser Zeit. Eine Gesellschaft, die, um Karl Mannheim (1997) zu zitieren, mit einer tiefgreifenden „Lebensverlegenheit“ konfrontiert war: dem katastrophalen Ausgang des Griechisch-Türkischen Kriegs 1919-1922, dem Abgesang der Megáli Idéa, also der sogenannten Großen Idee, dem Horror Vacui, der durch die existenzielle Sinnkrise und die Ankunft von 1.500.000 christlichen Flüchtlingen aus dem Osmanischen Reich hervorgerufen wurde, der Verschärfung der sozialen Frage  und der Besorgnis über die Verbreitung kommunistischer Ideen, des bemerkenswerten Wirtschaftswachstums und der Suche nach autoritären/systematischen Lösungen der sozialen Frage  (Mavrogordatos, 1983; Psalidopoulos, 1989; Vergopoulos, 1993; Alivizatos, 1995; Kyrtsis, 1996; Dafnis, 199; Mazower, 2002; Hering, 2004; Antoniou, 2006; Papadimitriou, 2006).

    Ausgehend von Mannheims (146-149, 273-283) historisierendem Konservatismus griff Panajotis Kanellopoulos die liberale Moderne an und verlangte eine Romantik, die jedoch zukunftsorientiert sein sollte. Er griff die moderne Reflexivität an, im Glauben, dass die Erforschung des Charakters unserer Zeit an sich sie schon zum Symptom der Krise machte. Wenn unsere Epoche, anders als die Antike, das Mittelalter und die Renaissance, weder positiv noch anhand eines einzigen Merkmals – Poesie für die Antike, Religion für das Mittelalter und Staatswesen für die Renaissance – zu erfassen sei, so liege dies an der Überschätzung der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation und des Fortschrittsglaubens. Die Wissenschaft böte keine Orientierung für die metaphysische Sinngebung des Lebens, weil die wissenschaftliche Analyse, anstatt zu vereinen, spalte, anstatt zusammenzufügen, auseinandernehme, anstatt Wissen zu vermitteln, Verzweiflung bringe; sie zersplittere das Universum durch Spezialisierung und erschaffe ein „Kleinklein“ statt eines „Kosmos“. Der technische Fortschritt trockne die lyrische Substanz der Welt aus und führe zur Verdrängung der Poesie und zur Intoleranz gegenüber dem Dichter. Kanellopoulos kritisierte ferner die liberale Moderne, weil sie, im Vergleich zur Antike, zum Mittelalter und zur Renaissance, ein „metaphysisches Refugium“ vermissen lasse, die Idee des Staates in Frage stelle, durch den Nationalismus die Nation ihrer geistigen Bedeutung beraube und das großartige charismatische Individuum durch den – opportunistischen und kurzsichtigen – liberalen Individualismus einebne.Und weil er der „öffentlichen Meinung“ huldige, die seiner Ansicht nach untrennbar mit der Bourgeoisie verbunden sei, eine auf Massenproduktion und –konsum beruhende Massengesellschaft, die auf der Erweiterung der öffentlichen Bildung, Rationalität, Technologie und Wissenschaft sowie der Macht der Presse basiere, führe das zu einer raschen „Amerikanisierung“ Europas. Er kritisierte, dass der Parlamentarismus nur ausnahmsweise das Kriterium des Charismas bei der Auswahl der politischen Führer zulasse, was zur Mediokratie, der Herrschaft der Mittelmäßigkeit, führe. Daraus schloss er, dass die Herrschenden keine geistigen Führer seien; Geist und Politik schienen sich zu widersprechen. Die auch nur ausnahmsweise zugelassene Akzeptanz des Charismas reiche jedoch aus, um den Parlamentarismus dem Kommunismus vorzuziehen, dem er vorwarf, im Wesentlichen auf denselben Prämissen wie der Liberalismus zu beruhen: Seine hypothetische Vorherrschaft würde nicht den notwendigen Umsturz verkörpern, sondern nur „zum Fortbestand und nicht zur Heilung des Übels“ beitragen (Kanellopoulos, 1932, 13-21, 60-61, 125-133, 155-178).

    Kanellopoulos behauptete jedoch, die Geschichte der Menschheit sei nicht mit der materiellen Zivilisation erschöpft. Untrennbar damit verbunden sei die Kultur, die nicht mit dem Kriterium des Fortschritts gemessen werden könne. Dem revolutionären Willen des historischen Materialismus, der die wissenschaftliche Idee mit absolutem Respekt behandele – in der Weise, wie Kanellopoulos sie verstand – setzte er die Besonderheiten der historischen Sphäre entgegen, die die unüberwindbaren Grenzen jedes Versuchs einer wissenschaftlichen Konzeption der Erforschung darstelle. Er kritisierte den Positivismus und erklärte, dass es unmöglich sei, die soziale Realität durch Determinismen wissenschaftlich zu erklären, da es unterschiedliche Bedeutungen/Absichten gebe, die das Handeln der Individuen leiten: Für Größen wie den schöpferischen Geist gelte nicht das Kriterium des Fortschritts, der dem Automatismus, der die Naturwissenschaften bestimmt, angemessen sei. (Kanellopoulos, 1929 [Η κοινωνιολογία του Αυγούστου Comte…], 113-141; Kanellopoulos, 1932-1933 [Ιστορία και πρόοδος…], 151-197). Kanellopoulos bezieht sich ausdrücklich auf Alfred Weber, wenn er zwischen Kultur und Zivilisation unterscheidet. Er ist der Meinung, dass sich die Menschheitsgeschichte durch deren Zusammenspiel entwickelt habe, also des Fortschritts des Materiellen, worin sich der menschliche Geist in Technik und Logik manifestiert, und des Ausdrucks der Spiritualität, wobei der Geist versuche, sich durch das Durchbrechen der Grenzen der Logik zum Absoluten zu erheben. Die Zivilisation werde am Fortschritt gemessen, während jede Manifestation der Kultur Vollkommenheit verwirkliche und nicht mit demselben Maß gemessen werden könne. Zivilisation werde von der Zweckmäßigkeit beherrscht, Kultur ignoriere sie oder stehe ihr entgegen; sie drücke sich durch die Opferung des Menschen für etwas „Sinnloses“ aus, für eine Idee, ein Kunstwerk als Produkt geheimer Schöpfung; Träger der Kultur sind dabei Künstler und Propheten. Die Zivilisation sei jedoch nicht frei von geistigen Elementen, was es unmöglich mache, ihre Entwicklung vorherzusagen, ein Privileg, das Kanellopoulos zufolge nur großen prophetischen und poetischen Geistern zukomme. Die absolut individuellen Elemente, die sich mit der Zeit eingeschlichen hätten, reichten nicht aus, um ihre Entwicklung zu stoppen – z.B. die der Wirtschaft –, sie würden aber genügen, um ihren vermeintlichen Determinismus zu deregulieren, dessen sich der Marxismus sicher war. Der Marxismus, so betonte Kanellopoulos, sei jedoch nicht in der Lage, sich sowohl mit der Manifestation des individuellen/kreativen Elements in der Geschichte zu befassen als auch auf der Grundlage des moralischen Sollens soziale Fragen zu behandeln, was offensichtliche Folgen für den Menschen und die Kultur habe. Der Reichtum sozialer Phänomene und ihrer möglichen Folgen könnte vom Soziologen nur unter der Voraussetzung erfasst werden, dass er über poetische Weisheit und nicht über die Logik eines Philosophen verfüge. Bereits prominente Denker wie Ferdinand Tönnies und Max Weber hätten erkannt, dass die Logik in der Wissenschaft nicht ausreiche: Das Erreichen des höchsten Grades ihres Einflusses zeige, wie begrenzt das Maß ihrer Macht sei. In einem poetischen Ton verkündete er: „Diese philosophische Fundierung des Panlogismus, die Verabsolutierung der Logik, ist auf irrationale Ursachen zurückzuführen und negiert sich selbst“ (Kanellopoulos, 1932-1933 [Ιστορία και πρόοδος…], 186-197).

    Darüber hinaus spielten im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften außerwissenschaftliche und metawissenschaftliche Faktoren eine entscheidende Rolle (Kanellopoulos, 1929 [Ο γερμανικός ιδεαλισμός…], 183-201); im Fall der Soziologie sei es der politische Wille (Kanellopoulos, 1932-1933 [Η κοινωνιολογία και οι…], 371-386): „Nur wer den sozialen Willen hat, denkt soziologisch“, argumentiert er in Anlehnung an Hans Freyer. Der Wille als entscheidender Faktor der Erkenntnis und der Gestaltung der sozialen Wirklichkeit wird somit aufgewertet. Kanellopoulos geht sogar noch weiter als Freyer, da er sich mit dessen Thesen zu einem privilegierten Standpunkt, der eine objektive Perspektive gewährleistet, nicht zufrieden gibt (Pels, 2000, 81-109). Er stellt fest, dass der Wille ab dem Moment, an dem er unseren theoretischen Blick in Bewegung gesetzt habe, auch das aufzunehmen vermöge, was sich nicht mit ihm decke, d.h. das soziale Ganze zu erfassen und sich zu einer transzendentalen Sicht der Wirklichkeit zu erheben, die über die Standpunkte der sich widerstreitenden Perspektiven e Unter diesen Prämissen versteht er die historisch wichtige Aufgabe des Soziologen in einer durchaus kritischen Epoche, keine Zeit verlieren zu dürfen, da sie „die Zeit aller Zeiten“ sei. Hier stimmt er mit Freyer überein, der die politischen Ansprüche des Soziologen auf der Grundlage der „moralischen Verantwortung“ legitimierte, die vom Gebiet der Sozialwissenschaft ausging (Kanellopoulos, 1934 [Η κοινωνιολογία ως…], 292-334). Es ist klar, dass Kanellopoulos die Warnung Max Webers vor der evaluativen Neutralität des Universitätsprofessors überzeugt zurückweist sowie die Einschränkung seiner Eigenart, seine politischen Ansichten an seine Studenten weiterzugeben (Weber, 1992/ 1917-1919, 85-86). Außerdem nimmt er die relevanten Ansichten Max Webers nicht für bare Münze, sondern betrachtet sie als Bestandteil der tragischen Widersprüche, die der große Lehrer verkörperte (Kanellopoulos, 1932-1933 [Max Weber…], 365-370). In Bezug auf die Wirtschaft schlug er folgende Interpretation der Krise vor: Das Ungleichgewicht sei nicht auf den angeblich „anarchischen“ Charakter der kapitalistischen Wirtschaft zurückzuführen, sondern auf den Verstoß der ihr inhärenten Selbstbeschränkungen. Eine politische Macht, die nicht daran gebunden sei, könne jedoch aktiv/kreativ eingreifen, indem sie eine andere wirtschaftliche Regelung gestalte (Kanellopoulos, 1930-1931, 446-479).

    Die Beschränkung des Fortschritts, aber auch des damit verbundenen Klassenkampfes im Rahmen der Zivilisation, verbunden mit der Möglichkeit ihrer Durchdringung durch die Kultur, führe also zu der Schlussfolgerung, dass von dort aus auch die Überwindung der Krise erfolge. Die „korrekte“ Lösung für die Zwangslagen der Zwischenkriegszeit sei daher Kanellopoulos zufolge (1932-1933 [Το γλωσσικόν ζήτημα…], 265-276; 1935, 1-41) ein Organischer Staat – in Gestalt eines Dritten Weges zwischen und jenseits von Kapital und Arbeit, den in dieser Zeit viele anstrebten (Bastow & Martin & Pels, 2002; Clift & Tomlison, 2002; Hawkins, 2002; Gregor, 2005; Martin, 2002; Pels, 2002). Ein solcher Staat würde eine Sozialpolitik betreiben, die von einer geistig-politischen Führung geleitet würde – vom Typ des Stefan-George-Kreises, auf den er sich ausdrücklich bezieht – mit der „Mission“, geistige und politische „Inkohärenz“ zu beseitigen, basierend auf einer organischen Konzeption der „Nation“ als Einheit der geheimen Kräfte des Volksgeistes – worin er mit Alexandros Delmouzos vollkommen einer Meinung ist (Kokkinos & Bogiatzis, 2017). In diesem Zusammenhang stellt Kanellopoulos fest (1931-1932, 150-151; 1934 [Ο άνθρωπος και αι…], 51-76, 78-110; 1934 [Ο πνευματικός άνθρωπος…], 213-220), dass die faschistische Lösung nicht uninteressant wäre. Sein Bestreben, ein intellektueller aber auch politischer Führer zu werden, fand Ausdruck in seinem aktiven Engagement für die höchsten politischen Ämter; dem sollte in den folgenden Jahren auch Konstantinos Tsatsos, ebenfalls Mitglied des Heidelberger Kreises, folgen (Papari, 2017). In der historisch-materialistischen Theorie der Entstehung des Bewusstseins aus der sozialen Wirklichkeit postulierte Tsatsos (1934 [Η κοινωνιολογία ως…], 49-177) ein selbsttätiges Bewusstsein, das die Bedingungen besaß/voraussetzte, welche die Erkenntnis der Wirklichkeit sowie die Wissenschaft im Allgemeinen möglich und objektiv machten. Auf diese Weise versuchte er, die Argumentation des historischen Materialismus zu widerlegen, was sowohl die Faktoren der Bewusstseinsbildung als auch die Bedingungen der Wirklichkeitserkenntnis anbelangt. Das selbsttätige Bewusstsein, so betonte Tsatsos, erschöpfe sich nicht in seiner theoretisch-wissenschaftlichen Dimension, die die natürliche Welt beträfe. Es stellte Fragen – es sind die Vorstellungen des Geistes – über die Welt als Ganzes, um das herauszufinden, was das Bedürfnis der Welt nach Vervollkommnung befriedige, also etwas, was der Intellekt/die Wissenschaft nicht könne. Diese Vorstellungen des Geistes seien zwar nicht wissenschaftlich diagnostiziert, dienten der Wissenschaft jedoch als Leitfaden, der ihre Methoden untermauere und der im Wesentlichen die Welt bestimme. Wenn der Geist selbsttätig handle, erweise sich die Freiheit als sein Wesen. Sein freies Handeln beweise, so Tsatsos, dass er neben seiner theoretischen – sprich wissenschaftlichen – Dimension auch eine praktische habe, die nicht kausal von irgendeinem – wirtschaftlichen, sozialen oder politischen – Faktor der sinnlichen Realität bestimmt werde. Indem der Geist die Sphäre des Seienden, deren Vorstellung er durch die Formen seines Verständnisses garantiere, verlasse, könne er mit dem Sollen, d.h. mit dem moralischen Gesetz, „kommunizieren“.

    Es sei also das freie normative Bewusstsein, das es ermögliche, die dem Sollen entsprechenden Ziele zu definieren, auf deren Verwirklichung das Handeln hinwirken müsse, um die Wirklichkeit auf der Grundlage des Sittengesetzes zu gestalten. Tsatsos zufolge könne die Vereinigung der beiden Welten, derjenigen der Sinne und derjenigen des Verstandes, des Seienden und dem Sollen, der Natur und des Bewusstseins auf einer anderen Grundlage als der des historischen Materialismus vollzogen werden, nämlich auf der Möglichkeit einer teleologischen Beziehung zwischen der Sinnes- und der Verstandeswelt, der Natur- und der Sittenwelt. Dies, so schließt er, mache Geschichte zu einer Reihe von Handlungen, die Kultur schaffen, und somit die Idee des Sittengesetzes denkbar. So könne Geschichte als ein Element betrachtet werden, das an der Entstehung von Phänomenen und objektiven Bedeutungen im empirischen Bewusstsein des Menschen beteiligt sei. Statt die Geschichte als Konfliktfeld gegensätzlicher Kräfte darzustellen, trete hier das unablässige Bemühen der Persönlichkeit in den Vordergrund, sich zu dem sie bestimmenden Gesetz, dem der Freiheit, zu erheben und in Übereinstimmung mit dem Sollen des Sittengesetzes Kultur – Wissenschaft, Kunst und Religion – zu schaffen. Diese Manifestationen, so schließt Tsatsos, ließen sich nur verstehen, wenn man Geschichte im Lichte er Wertigkeit betrachte, in Übereinstimmung mit Rickert, auf den er sich ausdrücklich bezieht: Wissenschaftliche Tätigkeit müsse sich den vom Geist diktierten moralischen Prinzipien unterwerfen. Konstantinos Tsatsos beruft sich zwar auf die moderne Wissenschaft, um seinen idealistischen Standpunkt zu untermauern, hält sie aber gleichzeitig für eine bloße „Methode“, die nicht zur „Moralisierung“ des Menschen beitragen könne. Er leugnet die Wissenschaftlichkeit des historischen Materialismus und hält dessen soziale Ziele als moralische Forderungen aufrecht, die sich aus moralischen Gesetzen/Werten ableiten ließen und von den intellektuellen Eliten, die das Sollen repräsentierten, formuliert worden seien (Tsatsos, 1932-1933 [Ο Rickert…], 361-364; 1934 [Η γνωσεολογία…], 49-117; 1934 [Η κοινωνική φιλοσοφία…], 388-439). Die Forderung nach sozialem Wandel basiere auf moralischen Grundlagen. Kommunismus und Kapitalismus werden – trotz der Toleranz gegenüber letzterem – aufgrund der gemeinsamen materialistisch-wirtschaftlichen Herkunft als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet; es entstehe eine radikalere Macht als die der Kommunisten: die „Ideokraten“, Feinde des „faulen Regimes“ der kapitalistischen Ungerechtigkeit, Verfechter der „klassenlosen“ Einheit der Menschen auf der Grundlage ihrer Moraltheorie und ihrer Sensibilität für die Verletzung der moralisch-geistigen Persönlichkeit, etwas, was den Kommunisten gleichgültig sei (Tsatsos, 1933, 360-366).

    Was Tsatsos am Neukantianismus jedoch nicht befriedigte, war dessen dualistische Weltanschauung. Er war der Ansicht, dass diese der Forderung nach der Einheit des Geistes und damit der Legitimität seines Eingriffs in die sinnliche Welt widerspräche (Tsatsos, 1930-1931, 362-372). Es sei notwendig, über den Neukantianismus hinauszugehen und einen objektiven Idealismus im hegelianischen oder platonischen Sinn zu entwickeln. In dieser Richtung schätzt er besonders den Beitrag von Karl Larenz, der seiner Ansicht nach eine adäquate Begründung des Rechts und des Staates auf der Grundlage der hegelschen Grundlagen seines Denkens biete. Karl Larenz war der Cheftheoretiker der berüchtigten Kieler Schule, die die rassistische Gesetzgebung der Nazis zementierte. Er behauptete, dass es keine individuellen Rechte per se gebe, sondern nur die innerhalb der Volksgemeinschaft. Larenz wurde 1903 geboren. Er promovierte in Kiel über Hegel und schrieb 1928-1929 seine Habilitation in Göttingen unter der Betreuung von Julius Binder. 1933 wurde er an der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zum Assistenten ernannt und übernahm 1935-1936, als jüdische und andere unerwünschte Lehrende ihre Stelle verlassen mussten, die Vollprofessur für Zivilrecht und Rechtsphilosophie. Seine Rechtsauffassung fand Eingang in Artikel 1 des neuen nationalsozialistischen Zivilgesetzbuchs. Während des Krieges beteiligte er sich mit Carl Schmitt und anderen freiwillig an dem berüchtigten Projekt Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, einem gigantischen Experiment, das darauf abzielte, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse an die deutsche Überlegenheitstheorie anzupassen und für die Nachkriegszeit eine gesamteuropäische, absolut hierarchische Rechtsordnung vorzubereiten (La Torre, 1993).2Diese Informationen verdanke ich meinem lieben Freund und Kollegen Dimitris Stefosis, dem ich auch an dieser Stelle danke. Was Tsatsos an Larenz‘ Denkweise reizte, war, dass er sich auf die grundlegende Frage der Rechtsgültigkeit konzentrierte und behauptete, dass „die wahre Legitimierung nur in einem objektiven Prinzip, in der Idee des Rechts, zu finden ist“ (Tsatsos, 1930-1931, 363). Aber es gab noch etwas anderes, das Tsatsos‘ Anerkennung gewann: Indem sich Larenz weigerte, das Seiende vom Sollen zu trennen, die als gegensätzliche Momente derselben logischen Einheit betrachtet wurden und in jeder zivilisatorischen Schöpfung koexistierten, vermied er die Probleme dualistischer Weltanschauungen. Die Koexistenz dieser beiden Momente sei überall zu beobachten, also auch im Recht, was bedeutet, dass die Autorität des Rechts gleichzeitig eine mentale Norm und eine sinnliche/zeitliche Realität sei, eine deontologische und reale Autorität, also Idee und Positivität in einem. Die Legitimierung des positiven Rechts innerhalb der Rechtsidee verleihe ihm (dem positiven Recht) Einheit. Die einzelnen Regeln fußten also nicht unmittelbar auf der Idee, sondern auf der Einheit des positiven Rechts: Die Gültigkeit der einzelnen Regeln sei in dem Maße begründet, in dem sie teleologisch mit dem gesamten Rechtssystem verbunden seien. Ein Staat ohne innere Widersprüche, der zugleich das Sollen und das Gute, aber auch faktische Realität sei, habe absoluten Vorrang, da er die Verkörperung der Rechtsidee darstelle.

    1933 lehnte Tsatsos die formal-liberale Konzeption ab, weil diese den Staat „nur als Lückenfüller und gegenüber der Moral minderwertig“ darstelle. Stattdessen unterstützte er Staatsformen, die „schöpferische Züge“ erkennen ließen und die „Energiekreise“ ausdehnten, indem sie den Staat als oberstes Ziel, Idee und „Bildungsgrundlage“ definierten. Der Staat, der im Gegensatz zum Individuum die Zeit als „den größten Feind nicht nur des physischen, sondern auch des geistigen Lebens“, transzendiere, sei notwendig geworden, um den Individuen die Tradition der anhaltenden Schöpfung zu vermitteln, wobei Eudämonie, also die materielle Glückseligkeit, und Gewalt die Mittel zur Erreichung dieses Ziels seien. Der Staat erlangte eine unbestreitbare Vorrangstellung als einheitliche moralisch-erzieherische Kraft und Tsatsos wurde ihr philosophischer Apostel wider die politischen Aspekte des Materialismus (Tsatsos, 1932-1933 [Η αποστολή της…], 387-421). Das ideokratische philosophische Denken wird mit den zusätzlichen Vorteilen seiner griechischen Wurzeln angereichert: der platonischen Ideenlehre, dem griechischen Boden und dem griechischen Licht. Daher könne es auch eine politische Regulierung auf der Grundlage der „Nation“ schaffen und in der Folge das akute ideologische Vakuum der Zeit füllen. Im Rahmen dieser Sichtweise wurde das „griechische Element“, wie Tziovas (1989, 80-81, 153) bemerkt, rassisch und starr definiert, um damit jedes unvereinbare Element auszuschließen. In diesem Sinne war es kein Zufall, dass Anhänger des „griechischen Elements“, die die dynamischen und offenen Komponenten der griechischen Identität betonten, wie z.B. Theotokas, trotz ihrer anfänglichen Sympathie für Tsatsos‘ Ansichten, sich schnell von dem distanzierten, was sie als Wandlung der Ideokratie zu einem Dogma empfanden (Theotokas, 1935, 282; 1936, 302-303, 316-317).

    Trotz ihrer Differenzen gehörten Tsatsos und Kanellopoulos jenen konservativ-liberalen Strömungen an (Tsatsos der konservativ-liberalen, Kanellopoulos der radikal-konservativen), die über den spektakulären Aufstieg der Linken nach dem Krieg besorgt waren, während gleichzeitig klar war, dass die Ideale der Vorkriegszeit nicht in der Lage waren, die erforderliche nationale politische Regulierung zu erbringen. Hierbei scheint die Beobachtung von Modris Eksteins (1989, 225) vollkommen zutreffend:

    The growth of the left was a reflection of a desire for radical change in the wake of what was regarded as the bankruptcy of the old order. The effect of this upsurge of the left was to reinforce the noticeable shift of conservatism toward a more extreme position on the right, a “new conservatism.” The shift was, however, not simply a reaction against the left; it was propelled by a recognition that conservatism had to do more now than conserve: the task was not to conserve but to rebuild. The right, too, had to engage in radical reform if the world was to be set aright.

    Liest man dieses Zitat in umgekehrter Richtung, kann man sowohl die Inspiration für Glinos‘ Projekt als auch die Schärfe seiner Auseinandersetzung mit Tsatsos/Kanellopoulos nachvollziehen (Bogiatzis, 2012, 391-461).

    Ioannis Metaxas, die Ingenieure und Intellektuellen des Regimes vom 4. August: Auf der Suche nach einer nationalen Renaissance und Idealen zur Überwindung der „seelenlosen“ Ära

    Ioannis Metaxas, ein ehemaliger Militäringenieur, der zwischen 1899 und 1903 im kaiserlichen Deutschland studiert hatte und in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs aufgrund der griechischen „Nationalen Spaltung“ verbannt wurde, übte auf der Grundlage dessen, was Mannheim als „Altkonservatismus“ (1997, 146-149, 273-283) bezeichnete, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts scharfe Kritik an der liberalen Moderne. In der Überzeugung, dass der Bereich des politischen Handelns grundsätzlich irrational und nicht auf die Verwaltung/Institutionen beschränkt sei, verneinte er die rationale Beilegung politischer Konflikte und setzte dem rationalen Denken eine Matrix von Elementen jenseits des Diskurses entgegen: den Instinkt des Führers, dessen Glaube, dynamischen Willen, Scharfsinn, Kampfgeist, Geduld und Beharrlichkeit, das, was seiner Meinung nach den historischen Prozess verkörpere (Metaxas, 2005, Bd. 3, 515). In den 1920er und 1930er Jahren wurden die konservativen Elemente seiner Denkweise durch faschistische verstärkt, insbesondere durch die Idee des Vorrangs des irrationalen Handelns gegenüber dem Wissen (Metaxas, 2005, Bd. 3, 615), der lebenswichtigen Bedeutung des Mythos und der Notwendigkeit einer nationalen Renaissance (Kallis, 2010, 303-330; Pelt, 2002, 143-172). Diese ideologischen Topoi wurden während der Diktatur des 4. August deutlich artikuliert: Glaube, Enthusiasmus, Seele, Geist und starker Wille waren Kräfte, denen Wissen und Rationalität unterworfen waren und die entweder als ihre blassen Anhänger oder als inspirierende Äußerungen fungierten. In seinem Denken war der Staat des 4. August die organische Darstellung einer einheitlichen Gesellschaft oder sollte es werden. Und die Schaffung der Dritten griechischen Zivilisation, mit der der Staat auf die akute ideologische Krise reagierte, war ein weiterer Grund, ihn nicht als seelenlosen „Maschinenstaat“ zu betrachten (Metaxas, 1969, Bd. 1, 35-37, 183-187, 438-440).

    Entscheidend für seine Persönlichkeitsbildung war – dank eines Stipendiums des griechischen Königshauses – sein Studium in Deutschland, wie er selbst angab. Dort begann ihn die Verschmelzung von Technizismus und Vitalismus zu beschäftigen, was zu einem der charakteristischsten Merkmale seiner Denkweise wurde. Metaxas war beeindruckt von der preußischen Effizienz, die laut Eksteins (1989, 70-73) das Kennzeichen des damaligen Deutschland war. In Berlin, wo die symphonischen Werke Richard Wagners leidenschaftlich von großen Menschenmengen besucht wurden, hatte eine Aufführung von Goethes Faust eine offenbarende Wirkung auf ihn, die ihn dazu veranlasste, die Kräfte zu verherrlichen, die im Leben entscheidend seien: den Wert der Persönlichkeit, die sich weigere, von der „öffentlichen Meinung“ (fremd)bestimmt zu werden, und den Kult des Handelns (Metaxas, 2005, Bd. 1, 467-468, 519, 587-589, 648). Im damaligen Deutschland setzte die Zeit des heftigen Konflikts zwischen Kultur und Zivilisation ein, bei dem es nicht nur darum ging, die beiden Sphären voneinander zu trennen (Elias, 1997, 71-113.Ringer, 1990), sondern auch um den Versuch, die Zivilisation mit Elementen der Kultur zu verweben (Herf, 1996; Hård, 1998, 33-68). Dies war vor allem das Prisma, durch das Metaxas die entscheidenden europäischen und griechischen Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts betrachtete. Metaxas betrachtete den tobenden Ersten Weltkrieg als Auswuchs einer unmoralischen Ordnung der Dinge, als Ergebnis einer Zivilisation, die die althergebrachten, geheiligten Hierarchien mit Füßen trat.Nichtsdestotrotz könnte er (oder es wurde von ihm erwartet) zu der ersehnten moralischen Säuberung führen. Bei dem Versuch, die tiefere Bedeutung zu erfassen, verwendete Metaxas eine ähnliche Terminologie wie die der Mandarine, der Orthodoxen und der Modernisten, wie diese von Ringer vorgestellt werden:

    Troeltsch argued that democracies could not fight an aggressive war without disguising it as a defense against an overwhelming moral threat. 73 Since Cromwell, he said, the English had developed an especially pronounced talent for this sort of hypocrisy; they habitually identified their side of a conflict with justice, charity, and the rights of the oppressed. The French achieved an analogous effect with their arguments about the future of reason and humanity. (Ringer, 1990, 182)

    Deutschland, der eine Kriegskontrahent, repräsentierte in Metaxas‘ Denkweise den reifen Ernst, das Pflichtbewusstsein, die Gottgefälligkeit und die Disziplin.Es nährte sich vom Kampf und strebte, um der Kultur willen, nach Macht.Der Gegenpol Frankreich stünde dagegen für Unreife und Unordnung, einen verlogenen Diskurs, Disziplinlosigkeit, Unmoral, krankhaften Individualismus, schlussendlich für die Abwesenheit des Geistes (Metaxas, 2005, Bd. 2, 316, 325, 348, 360, 361-362 366-367; Metaxas, 1969). Der deutsche Sieg wurde von der Entwicklung der modernen Zivilisation selbst diktiert, da nach Metaxas‘ Einschätzung ihre Entwicklung im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Neubewertung organischer Ganzheiten und kollektiver Lösungen, aber auch durch die gleichzeitige Abkehr von der Überbetonung der Bedeutung des Individuums gekennzeichnet gewesen sei. Die unerwartete Niederlage des Ersten Weltkriegs galt, so die in Deutschland weit verbreitete Ansicht, als Verschwörung der Kräfte der seelenlosen, korrupten, unmoralischen Zivilisation und ihrer hohlen Ideale und damit als Bestätigung des moralischen Verfalls und der Dekadenz (Eksteins, 1989, 87). Dieser Wahrnehmung/diesem Zustand wurden die persönliche Integrität und die Aussicht auf das zukünftige Ringen im Rahmen neuer Antagonismen entgegengestellt (Metaxas, 2005, Bd. 2, 453-454, 507, 533). Der Erste Weltkrieg stellte aber auch den Höhepunkt nicht nur ideologischer Strömungen dar, die bereits im 19. Jahrhundert auf die entscheidende Einschränkung liberaler Regulierung abzielten. Infolgedessen wurde der Interventionsstaat zunehmend gestärkt, und es waren die bürgerlichen Eliten, die sich nachdrücklich um eine solche Funktion sowie um eine Ausweitung ihrer Befugnisse bemühten. Angesichts der entscheidenden Rolle des Staates während des Kriegs und danach habe sich, laut Metaxas, der politische Wettbewerb gewandelt: Worum es ging, sei nicht mehr das Erreichen parlamentarischer Mehrheiten, sondern die totale Kontrolle des Staates; damit sei der Parlamentarismus belang- und inhaltlos geworden. In diesem Sinne war das Regime des 4. August eine logische und notwendige Entwicklung jener antidemokratischen Tendenzen, die in den Nachkriegsjahren verstärkt worden waren und sich ausgeweitet hatten. Was jedoch den revolutionären Charakter seines Regimes garantiere, war unter anderem sein entschiedener Bruch mit dem liberalen Geist und der griechischen betrügerisch-falschen Version der parlamentarischen Institution sowie seine Suche nach einem Dritten Weg jenseits von Liberalismus und Kommunismus. Es war eine „Revolution“, die die Wiederherstellung der von der Aufklärung unterminierten konservativen Ideale mit der Wiedergeburt der griechischen Nation zu verbinden versuchte (Metaxas, 1969, Bd. 1, 23-27, 134-135, 248-249;  2. Band, 102-103).

    Vonnöten war eine spirituelle Version der Megáli Idéa (Große Idee), ein neuer Mythos, der die Jugend zu mobilisieren vermochte – und damit stand Metaxas nicht allein da; die Faschisten und die Nationalsozialisten waren genau denselben Weg gegangen (Eksteins, 1989, 194-196, 311-331). Metaxas reihte sich bei den Kritikern von Venizelos ein, die diesen als Verfechter materialistischer Ansichten beschuldigten, und warf ihm 1935 vor, die nationalen Ideale zerstört zu haben, indem er nach dem katastrophalen Ausgang des Griechisch-Türkischen Kriegs, der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe von 1922, materialistischen Zielen den Vorrang gegeben habe, die nicht dazu geeignet waren, die Jugend zu begeistern. Daraus schloss er, dass der griechischen Jugend ein enthusiastisches nationales Ideal fehle, das ihr den Weg weisen könne. Eine spirituelle Version der Megáli Idéa, zu deren Verwirklichung die jungen Menschen aufgerufen waren, um die venizelistische „demagogische Plage“ zu überwinden, war für Metaxas die angemessene Lösung (Metaxas, 1935, 523-529). Das vitale Bedürfnis der jungen Menschen nach Idealen in Verbindung einerseits mit der Erosion der nationalen Ideale nach 1922 und andererseits der Verbreitung internationalistischer Lehren, erkläre die Verwurzelung des Kommunismus in der griechischen Jugend. Während der Diktatur waren Metaxas´ Reden gespickt mit modernistischen Topoi. In seiner Darlegung war das Regime des 4. August eine blühende Organisation, die sich dem „seelenlosen“ Parlamentarismus entgegenstelle (Metaxas, 1969, Bd. 1, 31, 258-266). Sie verfolge, so Metaxas in einer Rede 1939, einen evolutionären Kurs, der in der Schaffung einer griechischen Kultur gipfeln und all ihre anderen Errungenschaften krönen werde (Metaxas, 2005, Bd. 4, 449-463, 759-760; Metaxas, 1969, Bd. 1, 53). Die Schaffung dieser Kultur erforderte Inspirationsquellen, die das dekadente Europa natürlich nicht bieten könne.Die Künstler sollten, wenn sie „vitale Werke“ schaffen wollten, „aus der großen, unerschöpflichen Quelle, die man Volksseele nennt“, Typen und „genuin griechische Charaktere“ schöpfen (Metaxas, 2005, Bd. 4, 841-842). In To Neon Kratos (Der Neue Staat), der halbamtlichen Zeitschrift des Regimes, stellte der modernistische Maler Nikos Hadjikyriakos-Ghika (1937, 126-132) fest, dass „die Ermutigung des Herrn Premierministers, griechische Kunst zu schaffen, bei vielen von uns Zustimmung findet“. Dabei lobte er, dass Metaxas den richtigen Weg weise, und betonte, dass die einzige bestehende künstlerische Tradition Griechenlands die der Volkskunst sei. Der Volkskundler Stilpon Kyriakidis (1940, 645-656) stellte fest, dass die auf der „Volksseele“ beruhende Schöpfung ein Gegengewicht zur vergänglichen, aber notwendigen technisch-wissenschaftlichen Zivilisation sein müsse, da sonst die Gefahr des kulturellen Niedergangs und politischer Unruhen drohe.

    Metaxas΄ offene Technikbegeisterung stand im Einklang mit der Tatsache, dass während seines Regimes die „produktiven öffentlichen Projekte“ wieder aufgenommen wurden, die wegen der Krise Anfang der 1930er Jahre gestoppt worden waren. Parallel dazu wurden große Straßen- und Landgewinnungsprojekte sowie der Bau von Wehranlagen an den Nordgrenzen des Landes größtenteils abgeschlossen. Dank der Intervention der griechischen Ingenieurkammer wurde die Realisierung dieser Projekte griechischen Unternehmen und Ingenieuren anvertraut (Antoniou, 2006). Metaxas vereinnahmte die Technologie im Rahmen der Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation. Die Kultur der höheren Werte und der höchsten Inhalte müsse die seelenlose Zivilisation durchdringen, um weitere Entgleisungen zu verhindern. Als Voraussetzungen für die Erfüllung der wohltätigen Rolle der Technologie nannte er ihre Einbindung in die Strukturen eines autoritären Staates mit einer starken Regierung und ihre gleichzeitige Unterordnung unter die Grundprinzipien des Regimes des 4. August, also Religion, Vaterland, Familie, Loyalität gegenüber Staat und König, Moralisierung der Jugend, gesellschaftliche Solidarität. Wissenschaftler und Ingenieure seien daher verpflichtet, die Idee des Nationalstaates als einzigen Sinn des Lebens zu unterstützen, was die Ingenieurwissenschaft zu mehr als nur einer seelenlosem Form des Wissens erhebe (Metaxas, 1969, Bd. 1, 144, 186-187, 216-217, 238-241, 284, 351-352, 420-422). Zahlreiche Wissenschaftler und Ingenieure waren dazu bereit, sie beteiligten sich an Initiativen des Regimes zur Verbreitung der Wissenschaft in der Bevölkerung (Archiv von Ioannis Metaxas, GAK, K065/29) und/oder stellten bereitwillig ihr Wissen und Ansehen für die Verwirklichung der Ziele des Regimes zur Verfügung. Dimitrios Karanopoulos z.B., der den Wert der Propaganda für die Festigung „neuer Doktrinen“ und die Begründung „neuer Regime“ erkannte, hatte die Vorstellung, dass:

    der Athener Rundfunk der Leuchtturm der Dritten griechischen Zivilisation wird, die der Regent des Staates zu errichten gedenkt; er wird in den Händen des Staates eine treibende Kraft zur friedlichen Expansion des ewigen Griechenlands sein und schließlich ein wesentlicher Faktor bei den Humanisierungs- und Assimilationsbemühungen der Nation werden. (Karanopoulos, 1938, 187-192)

    Frixos Theodoridis (1938, 390-396) wies darauf hin, dass die Maschine – das Kriegsflugzeug – der stählerne Hort der Spiritualität der Dritten griechischen Zivilisation sein könnte, während Thrasyvoulos Vlisidis, Biologieprofessor an der Universität Athen, bestätigte, dass „die Grundlagen der Politik des Neuen Staates wissenschaftlich fundiert“ seien (Vlisidis, 1939, 554-556). Technika Chronika (Technische Chronik), das Sprachrohr der Ingenieurkammer, veröffentlichte Artikel, in denen Julius Dorpmüllers Reichsbahn, Fritz Todts Autobahnen, Mussolinis Aquädukte und Albert Speers Stadien gepriesen wurden (Antoniou, 2006). Spilios Agapitos, der zu den sozialpolitisch interessierten Architekten gehörte, war einer der Pioniere der Gartenstadtarchitektur. Auf der Grundlage seines Berichts wurde 1926 das Kapitel über Griechenland in der Studienreihe der Internationalen Arbeitsorganisation zu den Gewerkschaftsfreiheiten in seinen Mitgliedsstaaten zusammengestellt (Liakos, 1993, 306). Als Präsident der Griechischen Polytechnischen Gesellschaft (Ellinikos Polytechnikos Syllogos) äußerte er 1929 anlässlich des dreißigjährigen Bestehens des Verbandes vor dem Ministerpräsidenten Venizelos Beschwerden und Sorgen über die Unvermeidlichkeit der Vorherrschaft des aus Amerika kommenden mechanokratischen Geistes, der die Prinzipien und Werte hinwegfege, und die letzten Spuren der klassischen Tradition im „alten Europa“ verdränge. Der Vorrang der (geistigen) Kultur vor der seelenlosen (technisch-wissenschaftlichen) Zivilisation, wie er sich in Agapitos΄ Denken manifestierte und der sich den Forderungen der Kultur unterwerfen müsse, schien 1937, als der Diktator die Polytechnische Gesellschaft anlässlich ihres 38-jährigen Bestehens besuchte, mit Agapitos΄ Verherrlichung von Metaxas und seinem Bekenntnis zum absoluten Festhalten an den Idealen des Regimes durchaus vereinbar zu sein (Antoniou, 2006, 400-402). Im Jahr 1938 wurde das hundertjährige Bestehen der Nationalen Technischen Universität Athen (NTUA) mit dreitägigen, groß angelegten Jubiläumsfeierlichkeiten begangen (23.-25.10.38). König Georg, Ioannis Metaxas und andere Würdenträger wurden von den militärisch aufgestellten Mitgliedern der E.O.N. (Ethniki Organossis Neoleas, Jugendorganisation des Metaxas-Regimes) empfangen und hielten dann Reden, die sich im Rahmen dessen bewegten, was hier vorgestellt wurde. Die Präsenz des nationalsozialistischen Deutschland war besonders stark: Der deutsche Botschafter Prinz Victor zu Erbach-Schönberg hob die seit zwei Jahren unternommene Stärkung der bereits engen Beziehungen zwischen der NTUA und der deutschen Wissenschaft hervor, die durch die Gründung des Friedrich-von-Zentner-Instituts (benannt nach dem ersten Direktor der Kunsthochschule, dem Vorläufer der NTUA) besiegelt worden war. Er wünschte eine weitere Vertiefung der Beziehungen und verlieh Konstantinos Jeorjikopoulos und Nikos Kitsikis, dem Rektor bzw. Prorektor der NTUA, die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität München bzw. der Technischen Universität Berlin und überreichte ihnen entsprechende Urkunden, auf denen das Hakenkreuz prangte (Technika Chronika, 1939).3Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich meinen Freunden und Kollegen Michalis Asimakopoulos und Yannis Antoniou, denen ich an dieser Stelle ebenfalls danke.

    Funktionstragende Intellektuelle des Regimes wie Dimitrios Vezanis (1937, 22-27), betonten, dass das griechische Bildungssystem bei den Jugendlichen den Wunsch nach Aufopferung, Leidensfähigkeit und antidemokratischer Loyalität wecken solle, um eine „starke und motivierte Jugend“ zu schaffen, und auch, dass die „überlegene“ Ethik, die das Regime, wie auch in den jeweiligen Diktaturen der damaligen Zeit, verkörpere, eine neue Politik hervorgebracht habe (Vezanis, 1938). Elias Kyriakopoulos (1939, 345-357) und Achilleas Kyrou (1937, 6-12) äußerten ihre Genugtuung darüber, dass das Regime des 4. August im Einklang mit den „nicht abbrechenden Neugründungen“ von Nationalstaaten und ihrer neuen Ideale (Mutter Erde, völkisch-nationale Traditionen, Ablehnung des Internationalismus) sei. Es gebe den Menschen einen neuen Lebenssinn, indem es eine historisch-pädagogische Mission als „totalitärer Staat“, das Äquivalent der antiken Polis, dem Stadtstaat, erfülle. Merkmal dieses Staates sei die Einheit, er sei ein Organismus, der anders als einzelne Individuen nicht vergänglich sei. Evangelos Kyriakis (1938 [Παλαιαί και νέαι…], 180-186; 1938 [Αι περί πολιτισμού…], 824-828) betonte, dass Metaxas‘ Ansichten über Kultur und Zivilisation auf denen von Spengler beruhten. Und wo Kyriakis Spengler – dessen Einfluss in intellektuellen Kreisen der Zwischenkriegszeit groß war (Soethaert, 2018) – für unzureichend hielt, wandte er sich an den prominenten NS-Theoretiker und Funktionär Otto Dietrich (1995 /1939). Denn er war der Meinung, dass dessen Buch, das Kyriakis selbst übersetzt hatte, in einer Zeit des Aufbruchs Griechenland nicht gleichgültig lassen sollte. Es gab noch einen weiteren Kolumnisten der Wochenzeitschrift To Neon Kratos, Petros Thnitos, ein Pseudonym des konservativen Soziologen Evangelos Lempesis, der laut Alexandros-Andreas Kyrtsis (1996, 214-226) der vielleicht unvoreingenommenste Theoretiker der sozialen Ungleichheit im Griechenland der Zwischenkriegszeit war, der sich enthusiastisch auf Spengler bezog. Thnitos hielt Spengler nicht für einen simplen Pessimisten, sondern für einen Propheten des Sieges der Kräfte Kultur, Rasse und Boden, die im Großen Krieg nur vorübergehend vom Kapital besiegt worden waren (Thnitos, 1937, 265-274; 1938, 76-91). Aristos Kampanis (1938 [Οι διανοούμενοι και…], 377-382), der sich weitgehend auf die Konservative Revolution und andere rechtsextreme Dritte Wege der Zwischenkriegszeit stützte (Stamos, 2014; 2019) – identifizierte als Feinde des Regimes die „intellektuelle Verschmutzung“ durch Liberalismus, Marxismus, Ästhetizismus, Feminismus und Freudianismus und schätzte gleichzeitig die organischen Kräfte der Geschichte (Kampanis, 1937, 209-216; 1938 [Άφετε τους νεκρούς…], 145-152; 1940 [Ιστορία και…], 642-644; 1940 [Η Ιστορία πηγή…], 710-717), während sich Dimosthenis Stefanidis (1939a, 1476-1486; 1939b, 1588-1619) ausdrücklich auf die Lösung der sozialen Frage durch den deutschen Nationalsozialismus bezog.

    Schlussfolgerungen

    Die turbulenten Entwicklungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg und der Beginn des Zeitalters der Massen wurden von den deutschen Mandarinen im Lichte der tiefgreifenden Krise der Kultur, der Bildung und des Wissens, der Werte, des Geistes und der Geschichte insgesamt betrachtet, was ihre Ängste und Zweifel noch verstärkte, ob sie das, was sie als ihre selbstverständliche Mission ansahen, erfüllen könnten: die geistige Führung des deutschen Nationalstaates. Gegen Ende der 1920er Jahre radikalisierte sich ein großer Teil von ihnen, indem sie „revolutionär-konservative“ Topoi formulierten oder offen mit dem aufkommenden Nationalsozialismus und dessen Vertretern innerhalb und außerhalb der Universitäten liebäugelten. In dieser – auch für Griechenland – kritischen Phase machten sich griechische Politiker, öffentlich agierende Intellektuelle, Ingenieure und Wissenschaftler die Sorgen und Ängste der Mandarine zu eigen, entweder, weil sie damals in Deutschland studierten und in direkten Kontakt mit diesen Lehren gekommen waren, oder indem sie deren öffentliche Überlegungen zur Überwindung der akuten sozialen, politischen und kulturideologischen Krise aufgriffen. Die Betonung eines neu definierten nationalen Kulturerbes als neuer heiliger Baldachin (sacred canopy) und neuer Himmelschutz (sky shelter), wie es Roger Griffin ausdrückt, von dem ein neues kohärentes Weltbild, untrennbar mit einer angestrebten zentralen Rolle des Staates, einen laut Zygmunt Bauman staatlichen Gärtners (gardening-state) (Griffin, 2007, 183-184) ausgehen würde, ging einher mit der grundsätzlichen Kritik, der Abscheu vor dem Parlamentarismus und dessen Unterminierung. In diesem Rahmen spielten konservative Ideen eine Schlüsselrolle, die erneuerte – ebenfalls deutsch inspirierte, aber aus konkreten Quellen stammende – nationalistische Perspektive bestimmte entscheidend, aber kreativ und nicht reflexiv, was die Aufgabe der in Betracht kommenden Akteure, aber auch die neue kulturelle Orientierung des griechischen Volkes im Allgemeinen sein sollte. In diesem Sinne waren die Pläne für die kulturelle und technologische Entwicklung von Metaxas, aber auch die der Intellektuellen in seinem weiteren Umfeld mit ihrer antiliberalen/antiparlamentarischen/antikommunistischen Ausrichtung, der Vorrang der Ethik vor der sozialen Freiheit, wie von Tsatsos aufgeführt wurden, und die daraus resultierenden autoritären Folgen sowie Kanellopoulos‘ hochmütige und gleichzeitig totale Verherrlichung der Kultur – trotz individueller Unterschiede – Teil dieser Perspektive und rührten aus den oben genannten Quellen.

    Zusammenfassung

    Laut der innovativen Studie von Fritz Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community waren die deutschen Mandarine vor allem Professoren deutscher Universitäten und hochrangige Mitarbeiter der Staatsbürokratie. Sie bildeten eine Elite, eine soziale Schicht, die auf der Grundlage ihres kulturellen Kapitals die geistige Führung der deutschen Nation anstrebte. Die turbulenten Entwicklungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg und der Beginn des Zeitalters der Massen wurden von den Mandarinen allgemein im Lichte der tiefgreifenden Krise von Kultur, Lernen und Wissen, der Werte, des Geistes und der Geschichte betrachtet. Die Zuspitzung der Krise in der Zwischenkriegszeit bedrohte ihr soziales Ansehen und ihren Status und untergrub dabei ihren Kulturauftrag und die damit verbundenen Ansprüche. So versuchten sie, auf ihr früheres Erbe zurückzugreifen, um die ihrer Meinung nach richtigen Antworten – unabhängig davon, ob sie den Orthodoxen oder den Modernisten angehörten – auf die von der Krise aufgeworfenen Fragen zu geben, insbesondere in Bezug auf die Schaffung eines Rechtsstaats, der Legitimität verkörpern und Zivilisation schaffen würde. Dieser Staat würde sich gegen eine Vielzahl von Gegnern wenden: gegen die Kräfte der Maschine und die der Experten der Technik, gegen die utilitaristische Wissenschaft, die deutsche Arbeiterbewegung und den Klassenkampf. In dieser kritischen Phase trafen prominente griechische Intellektuelle – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – auf die Ängste und Sorgen der deutschen Mandarine, während sie von ihren eigenen Ängsten und Sorgen verfolgt wurden: Die griechische Zwischenkriegskrise, die aus der Kombination von der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe und der Wirtschaftskrise der frühen 30er Jahre resultierte, stellte akut – trotz dem raschen Wirtschaftswachstum und seinem erfolgreichen Management – zwei miteinander verknüpfte Fragen in den Mittelpunkt, den staatlichen/sozialen Wiederaufbau und die neue kulturelle Ausrichtung Griechenlands. Obwohl sich die ganze Problematik hauptsächlich auf die Studie von Ringer stützt, wird sie von heuristischen „Werkzeugen“ wie der historischen Sozialwissenschaft von Peter Wagner (1994; 2008) begleitet, der die Zwischenkriegszeit als den Höhepunkt der ersten Krise der Moderne betrachtet. Weitere wichtige „Werkzeuge“, die die Problematik dieses Essays befruchtet haben, sind die Wissenschafts- und Technologiestudien, insbesondere das Konzept der „intellektuellen Aneignung von Technologie“, wie es von Mikael Hård und Andrew Jamison (1998) entwickelt wurde, schließlich bestimmte Trends der Studien zu Faschismus und Moderne, insbesondere die von Roger Griffin (2007), Peter Osborne (1995) und Dick Pels (1998; 2000, ix-xix, 1-26, 193-227), die den Faschismus als palingenetische Moderne betrachten und die Zukunftsorientierung der Konservativen Revolution betonen, aber, zu guter Letzt, ebenso auch einige wichtige Beiträge zur Geistesgeschichte der Zwischenkriegszeit.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Athanassios Tsingas

    Einzelnachweise

    • 1
      Die Bezeichnung „Rechtsstaat als Kulturschöpfer“ aus dem Titel dieses Essays ist diesem Buch (Ringer, 1990, ix) entnommen. Auch in der deutschen Übersetzung des Essays beziehen sich sämtliche Verweise auf Ringers Werk und Zitate daraus auf die englische Originalausgabe und nicht auf dessen deutsche Übersetzung, die 1983 unter dem Titel Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, 1890-1933 erschien.
    • 2
      Diese Informationen verdanke ich meinem lieben Freund und Kollegen Dimitris Stefosis, dem ich auch an dieser Stelle danke.
    • 3
      Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich meinen Freunden und Kollegen Michalis Asimakopoulos und Yannis Antoniou, denen ich an dieser Stelle ebenfalls danke.

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Vassilis Α. Bogiatzis: «Die Suche nach einem „Rechtsstaat als Kulturschöpfer“: deutsche Mandarine, griechische Intellektuelle und die Heilungsansätze gegen die moderne „Krankheit“ in der Zwischenkriegszeit», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 07.03.23, URI : https://comdeg.eu/essay/113244/.