Neues Bauen und Archäologie. Deutsch-griechische Architektennetzwerke in der Zwischenkriegszeit

  • Veröffentlicht 19.01.23

Welche Bedeutung hatte die moderne Architektur im Griechenland der Zwischenkriegszeit und die „griechische“ Version des Neuen Bauens, die von deutschen und in Deutschland ausgebildeten griechischen Architekten vertreten wurde, die verschiedene Projekte in Griechenland entwarfen und realisierten? Welche Rolle spielten deutsche Architekten und Archäologen, die sich mit der Erforschung, der Ausgrabung und dem Studium des archäologischen Reichtums Griechenlands befassten, bei der Erweiterung der wissenschaftlichen Kenntnisse über antike Architektur? Welches Verhältnis besteht zwischen moderner und antiker Architektur? Und wie sahen die Architekten der Zwischenkriegszeit dieses Verhältnis?

Inhalt

    Neue Architektur

    Die Moderne Architektur war eine neue Bewegung der Architektur und Stadtplanung des frühen 20. Jahrhunderts. Die moderne Architektur hat ihre Wurzeln in der industriellen Revolution und den damit einhergehenden Veränderungen in der Wirtschaft, aber auch in Bereichen wie Material und Konstruktion sowie der räumlichen und sozialen Organisation. Der Höhepunkt der modernen architektonischen Wende lässt sich auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verorten, als unter den neuen Bedingungen vielerorts gleichzeitig innovative Tendenzen aufkamen.1In Deutschland wurde 1919 das Staatliche Bauhaus gegründet. In Wien beteiligte sich Adolf Loos an der Planung der Gemeindebauten des Roten Wien. In Frankreich errichtete Le Corbusier die ersten puristischen Gebäude, in den Niederlanden entwarf J.J.P. Oud an der Küste schlichte Arbeiterwohnungen (Oud, 1926). Diese neue Architekturrichtung wird in Deutschland Neues Bauen genannt und oft mit sozialistischer Politik in Verbindung gebracht, die neue Wohnsiedlungen, Schulen, Krankenhäuser und andere Gebäude mit volks- und sozialpolitischer Funktion entwerfen ließ. In diesem Zusammenhang basieren die Entwürfe des Neuen Bauens auf Prinzipien wie Funktionalität, Ökonomie von Mittel und Material und Schlichtheit der Form; architektonische Stile und Ausstattungen des Klassizismus werden dabei abgelehnt. Grundprinzip des Neuen Bauens ist die Ablehnung der Nachahmung historischer Architektur. So wird die klassizistische Architektur, die auf der allgemeinen Akzeptanz bestimmter Ordnungen und Formen beruht und sich häufig an der griechischen Antike orientiert, zum Antipoden der modernen Architektur. Diese wird als Gegenspielerin des Klassizismus betrachtet, da sie die architektonischen Ordnungen der Vergangenheit und damit auch den Historismus und den Akademismus ablehnt, die sie hervorgebracht haben. In Anbetracht der klassisch-humanistischen Ausbildung der Archäologen und ihrer systematischen Beschäftigung mit der Vergangenheit erscheint es logisch, dass sie modernen Architekten, die die Architektur der Vergangenheit ablehnen und einen dynamischen, zukunftsorientierten Weg einschlagen, wenn nicht missbilligend, so doch zumindest skeptisch gegenüberstehen. Die Beziehung zwischen Archäologie und moderner Architektur war jedoch nicht eindimensional, sondern recht komplex, wie wir im Weiteren sehen werden.

    Deutsches Archäologisches Institut

    1874 gründete das Deutsche Archäologische Institut (DAI) die Abteilung Athen und war damit das zweite ausländische archäologische Institut, das sich in Griechenland niederließ.2Das älteste ausländische archäologische Institut in Griechenland war das französische, die École française d’Athènes (EFA), die 1846 gegründet wurde. Dem DAI folgten 1881 die American School of Classical Studies, 1886 die British School of Athens und 1898 das Österreichische Archäologische Institut. Eine der wichtigsten Ausgrabungen des DAI – und aus vielen unterschiedlichen Gründen ein „Zankapfel“ –  war Olympia (Marchand, 1996, 77-91). Einer der Protagonisten der dortigen Ausgrabungen war Friedrich Adler, Architekturprofessor an der Berliner Bauakademie. In sein Grabungsteam nahm er einen seiner studentischen Schützlinge auf, seinen Schwiegersohn Wilhelm Dörpfeld (1853-1940). Dörpfeld wurde für mehrere deutsch-griechische Netzwerke zur Schlüsselfigur (Sporn, 2019; Kankeleit, 2019). Zusammen mit Ernst Ziller entwarf er das Hauptgebäude des Athener DAI (1887-1897), dessen Errichtung von Heinrich Schliemann finanziert wurde (Korka, 2019, 7). Es ist kein Zufall, dass Dörpfeld die Deutsche Schule Athen (DSA) gründete und ihr erstes Schulgebäude entwarf, das 1897 eröffnet wurde, denn der deutsche Architekt und Archäologe war mit seiner Familie nach Athen gezogen. Seine Kinder gehörten zu den ersten Schülern der DSA. Die von Dörpfeld Ende des 19. Jahrhunderts entworfenen Gebäude sind klassizistisch und folgten damit dem damals herrschenden architektonischen Stil. Architektur und Städtebau wandelten sich nach der Jahrhundertwende allmählich und nahmen in der Zwischenkriegszeit eine moderne Form an.

    Bauhütten, Bauhaus und Griechenland

    In Deutschland stand die neue Architektur in direktem Zusammenhang mit der Industrialisierung des Landes. Sie zielte sowohl auf die künstlerische und technische Bildung (Maciuika, 2006) als auch auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den urbanen Zentren. In diesem Zusammenhang ist die Gründung des Bauhauses im April 1919 (ein Zusammenschluss der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar und der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar) als Abkehr von der klassizistischen akademischen Ausbildung und hin zu einer eher angewandten und kooperativen Ausbildung in der Tradition der mittelalterlichen Bauhütten zu verstehen (Whitford, 1984, 29-30). Diese erste Phase des Staatlichen Bauhauses, die noch von der traumatischen Erfahrung des Krieges geprägt war, hatte starke expressionistische Züge. Als Walter Gropius 1920 den kurzen Artikel „Neues Bauen“ schrieb, sah er aus Zerstörung und Krieg neue Möglichkeiten des Bauens erwachsen, sowohl im geistigen als auch im materiellen Sinn des Wortes, und pries die einzigartigen Eigenschaften von Holz (Gropius, 1920). Das ist kein Zufall, da er zu dieser Zeit mit dem Unternehmer, Fabrikanten und Holzhändler Adolf Sommerfeld zusammenarbeitete, der ihn mit dem Entwurf seines Privathauses in Berlin beauftragt hatte. Das Projekt entwickelte sich zu einem der ersten Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bauhaus-Werkstätten. Mit der Bauaufsicht war Gropius‘ ungarischer Mitarbeiter Fred Forbat beauftragt, der später zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt der deutsch-griechischen Architektennetzwerke werden sollte.

    Anlässlich der ersten großen Bauhaus-Ausstellung im Jahr 1923 hatte Walter Gropius die Losung „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ verkündet. Damit vollzog er die Abkehr vom ursprünglich expressionistischen und romantischen Ansatz der Schule hin zu einem eher technokratischen und funktionalen Entwurfsansatz, der im Rahmen der allgemeinen Standardisierungstendenz eine engere Zusammenarbeit mit der industriellen Produktion anstrebte.3Zu diesem Wendepunkt in der Geschichte des Bauhauses vgl. Whitford, 1984, 121; Forgas, 1999, 135-153; Droste, 2006, 54-61 & 105-114; Wick, 2000, 40. 1924, ein Jahr nach der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne, beauftragte das griechische Komitee für die Rehabilitierung von Flüchtlingen (EAP) die Sommerfeld-Tochtergesellschaft „Dehatege“ mit dem Bau von 10.000 Holzhäusern in Makedonien und im Großraum Thessaloniki zur Unterbringung von Flüchtlingen, die im Rahmen des Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei aus Kleinasien gekommen waren.4Der Name „Dehatege“ wird von den Initialen D.H.T.G. abgeleitet und steht für die Danziger Hoch- und Tiefbaugesellschaft mbH. Es handelte sich um ein Belgrader Unternehmen, das Adolf Sommerfeld gegründet hatte, als er den Auftrag zum Bau der standardisierten Holzhäuser für Flüchtlinge in Makedonien übernahm (Kress, 2011, 129-131). Auf Griechisch schrieb sich die Firma in Kapitalbuchstaben ΔΕΧΑΤΕΓΕ, in der damaligen Presse und Fachliteratur wurde sie als „“Δεχάτεγκε““ bzw. „“Δεχατεγκέ““ geführt, die Betonung also auf der zweiten bzw. der letzten Silbe (Notaras, 1934, 65). Der Name „Dehatege“ blieb als Synonym (Deonym) typisierter Flüchtlingshäuser erhalten (Gavras, 2009, 219). Forbat übernahm als Chefarchitekt die Leitung der „Dehatege“. Im November 1924 zog er nach Thessaloniki und blieb bis Mai 1925 in Griechenland. Dort lernte er den Sohn von Wilhelm Dörpfeld Fritz Dörpfeld (1892-1966) kennen, der Automobilingenieur war, und arbeitete mit ihm zusammen für Sommerfeld (Forbat, 2019). Die allgemeine Diskussion über die Baustandardisierung hatte in Deutschland bereits vor dem Krieg begonnen. In der Zwischenkriegszeit gewann sie allmählich an Bedeutung, da sie Zeit-, Material- und Kosteneinsparungen ermöglichte. Sommerfelds Unternehmen war auf die Standardisierung von Holzkonstruktionen spezialisiert und stellte auch die Rohstoffe bereit. Das standardisierte „Dehatege“-System ermöglichte es, in nur wenigen Monaten Tausende von Wohneinheiten für die Unterbringung der Flüchtlinge in Makedonien zu errichten.5Der Massenbau der „Dehatege“-Häuschen löste heftige Debatten darüber aus, ob er für den griechischen Staat wirtschaftlich und vorteilhaft war (Notaras, 1934, 81). Schließlich wurden auch hohe Beamte der Generaldirektion für Umsiedlung Makedoniens strafrechtlich verfolgt („Simiomata“ – Notizen, Zeitung Eleftheron Vima, Sonntag, 25. Juli 1925).

    Die Hinwendung zu Technik, industrieller Produktion und Standardisierung markierte die Radikalisierung der modernen Architektur in Deutschland, die als Neue Sachlichkeit oder Neues Bauen bezeichnet wurde. Die neue Gestaltung in Architektur und Städtebau der Zwischenkriegszeit knüpfte an die Industriebauten der Vorkriegszeit an und schuf neue Wohnsiedlungen, Verkehrsbauten, Bildungs-, Kultur- und Geschäftsgebäude, Einrichtungen für Gesundheit und Freizeit. Die gebaute Umwelt wurde nach einem neuen, einfachen, schmucklosen, rein funktionalen, wirtschaftlichen und hygienischen Ansatz umgestaltet, der einer sauberen, luft- und sonnendurchfluteten Ästhetik folgte. Diese neue Strömung des Neuen Bauens erreichte Griechenland über deutsch-griechische Netzwerke.6Diese Bauten bekommen oft das Etikett „Bauhaus-Stil“, was eher unangemessen ist, da, wie bereits erwähnt, die moderne Architektur den Begriff des Stils ablehnte. Darüber hinaus bot der Bauhaus-Lehrplan nicht einmal Architekturkurse an. Solche gab es rudimentär und erst gegen Ende seiner Ära, also nach 1927 (Dima, 2021). 1926 wurde Carl Bensel (1878-1949) mit der Planung des Rotkreuzkrankenhauses im Bezirk Ampelokipi beauftragt (Lubitz, 2016). Dafür kooperierte das Hamburger Büro Bensel & Kamps mit dem griechischen Architekten Jeorjios Diamantopoulos. Das Krankenhaus wurde 1930 eingeweiht.7Jeorjios Diamantopoulos (1890-1941): Architekt. Technische Hochschule München (1913). Sein Bruder Moschos Diamantopoulos (1886-1964): Bauingenieur, NTUA (1907) &Technische Hochschule München (1912), Ingenieur (Leiter Stahlbeton) der Firma „S. Agapitos und Mitarbeiter“ und danach Leiter des Planungsbüros „Ergoliptiki S.A.“, vgl. https://engineers.ims.forth.gr/engineer/ (26.9.2020); Lamprou, 2018, 31. Etwa gleichzeitig (1928-1929) erweiterte die DSA den Schulkomplex in der Arachovis-Straße mit einem Anbau. Dem alten, neoklassizistischen Dörpfeld-Gebäude wurde ein völlig modernes Gebäude im Geist des Neuen Bauens angefügt. Geplant wurde es vom deutschen Architekten Gustav Eglau, der ebenfalls mit Diamantopoulos zusammenarbeitete. Anderswo wird erwähnt, dass auch Bensel dem Architektenteam des Neubaus angehörte. Man würde erwarten, dass Dörpfeld mit dem neuen Stil der DSA-Erweiterung nicht einverstanden gewesen wäre, aber genau das Gegenteil war der Fall: Der Entwurf von Eglau war seine persönliche Wahl für den Erweiterungsbau gewesen (Hansen, 2018, 29; Kankeleit, 2019, 286). Eglau arbeitete mit Diamantopoulos zusammen, ein Großteil der Bauarbeiten wurde im Rahmen der Athener Deutschen Kolonie ausgeführt.8Eglau beschreibt die geschäftliche Situation in Athen in den frühen 1930er Jahren in zwei Briefen an Forbat (1.2.1932 & 1.12.1933) (Fred Forbat Archiv, ArkDes, Stockholm, AM1970-13-112). Eglau unterrichtete auch an der staatlichen Sivitanidios Schule, einer der wenigen höheren technischen Schulen Griechenlands, die auf den Vorgaben des Deutschen Ausschusses für Technische Bildung basierten.9Deutscher Ausschuss für Technische Bildung (DATSCH). Der deutsche Architekt äußerte sich stets sehr positiv über die griechischen Jugendlichen, die sich seiner Meinung nach durch große Auffassungsgabe und Wissensdurst auszeichneten, ohne dabei ihr lebenslustiges und fröhliches Gemüt zu verlieren.10Vgl. ein Schreiben von Eglau an Forbat, Athen, 23.12.1932; Forbat Archiv, AM1970-13-112. Nicht weit von der DSA entfernt, wurden auf dem Lycabettus-Hügel nach Plänen von Bensel & Kamps die evangelische Kirche und das dazugehörige Gemeindehaus gebaut. Beide sind innovative Beispiele des Neuen Bauens, die in den frühen 1930er Jahren die École française d’Athènes (EFA) umrahmten. 1931 wurde die „Grundschule sta Pefkakia“ neben der evangelischen Kirche errichtet, das vielleicht einzige wirklich moderne Bauwerk von Dimitris Pikionis.11Dimitris Pikionis (1887-1968), Bauingenieur, NTUA (1908); 1908-1909: Studium des freien Zeichnens und der Bildhauerei in München; 1909-1912: Studiengang Zeichnen und Malen (Académie de la Grande Chaumière), Kurse in architektonischem Entwerfen (Werkstatt des Architekten G. Chifflot, École des Beaux Arts), Paris. 1925-1958: Professor an der Fakultät für Architektur der Nationalen Technischen Universität Athen. 1966: Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie von Athen (Abteilung Literatur und Künste, Lehrstuhl für Architektur).

    Das Gerichtsgebäude: antike griechische und moderne Architektur

    Ein Ereignis, von dem wir annehmen können, dass es die beiden Pole Klassizismus und Moderne (wohl eine Art Zwischenkriegsversion der alten Kontroverse zwischen Antike und Moderne) miteinander versöhnte, ist der einträchtige internationale Aufschrei gegen den Bau des von Alexandros Nikoloudis entworfenen Gerichtsgebäudes am Fuß der Akropolis.12Zum Gegensatz modern-antik und zur sogenannten Kontroverse zwischen Antike und Moderne vgl. Calinescu, 2011, 51-68.

    Die Auseinandersetzung  brach 1930 aus und hatte starke politische Auswirkungen, weil sich das Gerichtsgebäude in die venizelische Vision von Rechtsstaatlichkeit einfügte (Kotsaki, 2017). Bei der Bekanntgabe des Vorhabens und der Internationalisierung der Problematik entwickelte sich angesichts des westeuropäischen Interesses am Schutz der Athener Akropolis als Weltkulturerbe ein allgemeiner Meinungskonsens, an dem sich auch deutsche Architekten und Archäologen beteiligten. Das Deutsche Archäologische Institut reagierte Ende April 1931 und setzte ein Protestdokument auf, in dem mehr als 20 Professoren aus allen Bereichen der Altertumswissenschaft ihre Bedenken äußerten.13Maschinengeschriebener Text, an dessen Ende folgende Namen aufgeführt sind: „Behrens. Borchardt. Bulle. Dörpfeld. Dragendorff. Fabricius. Freytag. Jaeger. Karo. Koch. Langlotz. von Luecken. Noack. Rodenwaldt. Sauer. Schäfer. Schubert. Schuchhardt. Steindorff. Watzinger. Wiegand. von Wilamowitz-Moellendorff. Wolters. Zahn» [Deutsches Archäologisches Institut – Athen Archiv, Ordner K8 (ehem. Nr. 34)].

    Das Athener Gerichtsgebäude beschäftigte auch den wegweisenden Architekten des Neuen Bauens Erich Mendelsohn. Im Berliner Tageblatt schrieb er einen Artikel mit dem Titel: „Die Akropolis in Gefahr“ (Mendelsohn, 24.04.1931). Gleichzeitig veröffentlichte der Bund Deutscher Architekten (BDA), bei dem Mendelsohn aktives Mitglied war, ein Protestschreiben, in dem er zu dem Schluss kam: „Die heutige Architektenschaft hat sich freigemacht von den Begriffen einer falschen Monumentalität zu Gunsten der Erfüllung eines echten, eines wirklichen Lebens.“14Getippter und nicht signierter Textentwurf mit dem Titel „Entwurf. Kundgebung des Bundes Deutscher Architekten“ zum Thema Gerichtsgebäude im Umfeld der Akropolis, undatiert, Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, V/8a. Im Mai 1931, auf dem Höhepunkt der internationalen Entrüstung über das Gerichtsgebäude, reiste Mendelsohn für einige Zeit nach Griechenland, von wo er als Korrespondent des Berliner Tageblatts vier weitere Texte veröffentlichte. Diese Artikel, geschrieben auf Briefbögen des Hotels „Le Petit Palais Athènes“, werden im gleichnamigen Archiv der Kunstbibliothek Berlin aufbewahrt.15Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Mss 16. Während seines Aufenthalts in Griechenland hielt Mendelsohn auch drei Vorträge in Athen. Der erste fand am 9. Mai 1931 in der Aula des Literaturvereins Parnassos statt und trug den Titel „Architektur unserer Zeit“.16Manuskripttext des Vortrags, Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, V30. Den zweiten hielt Mendelsohn an der Nationalen Technischen Universität Athen und er befasste sich darin mit der Architektur in zwei ideologisch entgegengesetzten Ländern, Russland und den USA. Der dritte Vortrag, organisiert von der Ingenieurkammer Griechenlands, wurde am 18. Mai 1931 im Saal der Archäologischen Gesellschaft gehalten, in Anwesenheit des Bildungsministers G. Papandreou, ausländischer Botschafter, Mitglieder der ausländischen archäologischen Institute in Athen, vieler Wissenschaftler und Ingenieure.17Zu Mendelsohns Vorträgen 1931 in Athen (Anonymer Architekt, 1931). Das Thema dieses letzten Vortrags waren die Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten und Voraussetzungen der neuen modernen Architektur. Aus Mendelsohns Nachlass geht nicht hervor, ob die drei Vorträge teilweise inhaltlich übereinstimmten, aber aus den zeitgenössischen Veröffentlichungen geht hervor, dass insbesondere die dritte Veranstaltung bedeutend war und großen Eindruck hinterließ. Es heißt, dass die griechische technische Welt dank Mendelsohns Vorträgen vielleicht zum ersten Mal die Gelegenheit bekommen habe, so direkt Einblick in die Prozesse der zeitgenössischen architektonischen Bestrebungen in Europa zu bekommen (Anonymer Architekt, 1931, 49).

    Angesichts der Anwesenheit von Archäologen beim letzten Vortrag können wir ihn als einen besonderen Moment der Begegnung zwischen der archäologischen Gemeinde und dem Neuen Bauen bewerten. Dieses Zusammentreffen bekam noch mehr Schwung durch Mendelsohns Äußerungen in einer Tageszeitung, wonach die moderne Architektur der antiken griechischen Architektur näher stehe als der Architektur des 19. Jahrhunderts, die die griechische Architektur imitierte. Für Mendelsohn war die moderne Architektur unabhängig und frei und verfolgte das Ziel, ihr Zeitalter auszudrücken, das heißt das Leben, alles Leben. Hier, so Mendelsohn, trafen sich die moderne und die antike griechische Architektur: In den wichtigen, grundlegenden Linien, in denen beide ihr Zeitalter, das Leben als Ganzes, frei zum Ausdruck brachten. Die moderne Kritik, so fuhr er fort, habe Schnörkel und Verzierungen abgeschafft, die ein Missverständnis der antiken Architektur seien. „Das Überflüssige kann nicht schön sein, weil es nicht echt ist“, mit diesen Worten wird der deutsche Architekturpionier zitiert. (D.S.D., also Dionyssis S. Devaris, 19.05.1931). In seinem letzten Vortrag zögerte Mendelsohn natürlich nicht, den traurigen Zustand der griechischen Hauptstadt zu kritisieren. Wie auch in seinem Artikel „Neu-Athen“18Mendelsohn, 5.6.1931; Heinze-Greenberg/Stephan, 2000, 118-119; (auf Griechisch) Mendelsohn, 1987; Stephan, 2003, 59-60; (auf Griechisch) Mendelsohn, 2019. nachzulesen war, hatte Athen seine Vorbilder vergessen, bot zu der Zeit ein groteskes Schauspiel und musste sich entscheiden, ob es dem Orient oder dem Okzident angehöre. Mendelsohn hielt es für gegeben, dass „Europas Mutter“ über genügend Quellen verfüge und stellte fest, dass „Unruhe“ und „Überhebung“ fehl am Platz seien, da das Gesetz ewig gültig sei und eine feste Brücke Neues und Altes verbinde, während die Elemente unverändert blieben: Nur die Formen, die sie ausdrücken, ändern sich in jedem Zeitalter. So betrachtete er das Neue Athen als „eine Aufgabe, gross genug, um der grossen Vergangenheit dieser Stadt ebenbürtig zu sein“. Nach Mendelsohn bedeute die Akropolis, die ‚hohe Stadt‘ Athens, „die elementare Lösung, die Urstadt“, gültig für alle Zeiten und für die ganze Welt.

    Neues Bauen, Archäologie und traditionelle Architektur

    Zur gleichen Zeit fand 1931 in Berlin die große Deutsche Bauausstellung statt, die für die neue moderne Architektur warb. Ein Teil der Ausstellung lief unter dem Titel „Neues Bauen“. Der Architekt Heinz Johannes (1901-1945) betitelte den 1931 erschienenen Führer zur modernen Berliner Architektur mit „Neues Bauen in Berlin“. Auf den Seiten dieses detaillierten Katalogs wurden 118 Bauten des Neuen Bauens präsentiert, jedes Projekt versehen mit Bild, Datum und Detailinformationen. In der Publikation werden auch zahlreiche Bauten von Mendelsohn vorgestellt, der im Berlin der Zwischenkriegszeit einer der wichtigsten modernen Architekten war. Im selben Jahr arbeitete Johannes an den ersten Entwürfen für einen Neubau des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen in der Rigillis-Straße. Der Einfluss des Neuen Bauens war unverkennbar. Johannes hatte bereits von 1927 bis 1930 an diversen Ausgrabungen in Griechenland mitgewirkt und war von 1931 bis 1938 als Mitarbeiter des DAI tätig.19Johannes entwarf auch das Kerameikos-Museum (1936-1938), das von Gustav Oberländer (1867-1936) finanziert wurde (Sporn, 2019, 53; Hellner, 2019, 84). Vielen Dank an Dimitris Grigoropoulos vom DAI für die Informationen zu H. Johannes und für den Hinweis auf den Artikel von Nils Hellner. Zudem organisierte Johannes 1938 zusammen mit Kostas Biris die erste griechische Ausstellung über die Athener Architektur des 19. Jahrhunderts in den Räumen der Griechisch-Deutschen Gesellschaft.20Die Ausstellung lief vom 24. Mai bis zum 6. Juni 1938. Die Räume der Griechisch-Deutschen Gesellschaft befanden sich in der Asklepios-Straße, Nr. 3 („Athen des Klassizismus“, Zeitung Eleftheron Vima vom Dienstag, 24.5.1938, 2; Biris, 2015, 56-57).

    Die Ausstellung bestand aus Zeichnungen und Fotografien von Heinz Johannes, Hermann Wagner und Kostas Biris, dem Direktor des Bauamtes der Athener Stadtverwaltung. Das Material wurde in Form eines Katalogs veröffentlicht (Johannes, 1939). Diese Publikation ist ein wichtiges Dokument nicht nur für das neoklassizistische Athen des 19. Jahrhunderts, sondern stellt auch ein Portrait der Hauptstadt in der Zwischenkriegszeit dar, denn viele Fotos zeigen die neu errichteten, damals modernen Gebäude des griechischen Neuen Bauens neben neoklassizistischen Bauwerken sowie volkstümlichen Häusern aus dem vorigen Jahrhundert (Johannes, 1939, 103, 135, 221, 237, 239).

    Heinrich Lauterbach schilderte in seinem Artikel „Notizen von einer Reise in Griechenland“ seine Reiseeindrücke und konzentrierte sich dabei auf die neue Architekturbewegung im Griechenland der Zwischenkriegszeit. In seinem Artikel von 1932 stellte Lauterbach der deutschen Öffentlichkeit verschiedene Gebäude des Neuen Bauens vor, die entweder von deutschen Architekten oder griechischen Architekturkollegen, die in Deutschland studiert hatten, errichtet worden waren (Lauterbach, 1932). Die Titelseite der Zeitschrift Die Form, des offiziellen Organs des Deutschen Werkbundes, zierte ein Foto von Diamantopoulos‘ neu errichtetem Wohnhaus (1928-1929) am Fuße des Lycabettos-Hügels. Der entsprechende Artikel begann mit einer Beschreibung der attischen Landschaft, betrachtet von der Akropolis, der „heiligen Burg“ aus,  und wurde vom Foto einer antiken Kore im Akropolismuseum begleitet. Nach einer detaillierten Beschreibung der modernen Gebäude und ihrer Architekten in Griechenland stellte Lauterbach eine Verbindung zwischen der griechischen Moderne und der traditionellen Architektur der ägäischen Inseln her. Er stellte fest, dass die griechischen Architekten das Glück hatten, der Bautradition der ägäischen Inseln sehr nahe zu sein, und dass sie die Tradition eher als inspirierend denn als konventionell betrachteten. Er erwähnte, dass er das Glück hatte, die Ägäis bereisen und eine Zeit lang auf Santorin bleiben zu können. Er schloss den Artikel mit einer Reihe von Aufnahmen traditioneller Architektur und der vulkanischen Landschaft von Santorin, beeindruckt von der Monolithizität und Plastizität der geometrischen Primärformen. Es war nicht das erste Mal, dass die Korrespondenz zwischen der modernen Architektur und der traditionellen Architektur der ägäischen Inseln hervorgehoben wurde. Andererseits fand sich ein Zusammenhang zwischen dem antiken Tempel und dem traditionellen ägäischen Haus bereits 1906 in Adolf Furtwänglers Buch über den Aphaia-Tempel auf Ägina, wo traditionelle Häuser neben dem Tempel den Bedürfnissen der Ausgrabung dienten, was fotografisch dokumentiert worden war (Furtwängler, 1906, IX). Den Titel des ersten Kapitels „Der Tempel“ krönte Furtwängler mit einer Fotografie eines volkstümlichen Hauses auf Ägina (Furtwängler, 1906, 11). In dieser Tradition können wir, ausgehend von Pikionis‘ Studie über das Haus von Rodakis auf Ägina – dessen Entdeckung Furtwängler zugeschrieben wird – (Vrieslander, 1934), eine imaginäre Linie zur „Grundschule sta Pefkakia“ und zum Athener Neuen Bauen ziehen. Die antike, die traditionelle und die moderne Architektur stehen dann nicht mehr im Widerspruch zueinander, sondern harmonieren miteinander und geben, der erwähnten Schlussfolgerung Mendelsohns folgend, eindrucksvolle Beispiele einer lebendigen Architektur, die den Bedingungen und Bedürfnissen der jeweiligen Zeit entsprechen.

    Architekten des Neuen Bauens in Griechenland

    Als jedoch 1933 die Prominenz der internationalen modernen Architekturszene zum 4. Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, dem CIAM IV, nach Griechenland kam, stand Dimitris Pikionis dem Kongress kritisch gegenüber. Er erkannte die überragende Bedeutung des Konferenzthemas Die funktionelle Stadt an, stellte jedoch fest, dass diese Fragen in der Theorie die komplexesten und subtilsten und in der Praxis die am schwierigsten zu lösen seien. Pikionis begann, wie Mendelsohn zwei Jahre zuvor, mit dem Verfall Athens und dem schmerzlichen Vergleich der Stadt in Bezug auf die Ideallösungen und Bemühungen des modernen Urbanismus als auch mit dem hohen Niveau der Zivilisation, die dieser Landstrich in der Vergangenheit hervorgebracht hatte. Pikionis hielt jedoch Losungen in der Kunst, wie den des Rationalismus, oder Dogmen, wie das der „modernen technischen Vorhaben“, für einschränkend und betonte die Notwendigkeit, die vom Westen angebotenen Lösungen, die oft mit der griechischen Landschaft und dem Licht der Region unvereinbar seien, mit mehr Bedacht anzugehen (Pikionis, 1933). Pikionis‘ Artikel zum bevorstehenden Kongress folgte in derselben Ausgabe von Technika Chronika direkt ein Artikel von Ioannis Despotopoulos zum selben Thema. Der Artikel von Despotopoulos trug den griechischen Titel der Konferenz: I organiki polis (Die organische Stadt).21Zur Bedeutung und zum Hintersinn der Übersetzung des Titels „Die funktionelle Stadt“ als „Die organische Stadt“ auf Griechisch vgl. Dima, 2015.

    Despotopoulos war einer der Protagonisten des Neuen Bauens in Griechenland, seine Werke waren in Lauterbachs Artikel enthalten. Auch hatte er bereits eine enge Beziehung zu Forbat aufgebaut, der, nach seiner Tätigkeit in Deutschland und Ungarn, in einer der Gruppen deutscher Architekten in der Sowjetunion arbeitete, die dorthin gezogen waren, um die neuen sozialistischen Städte aufzubauen.22Zu den deutschen Architekten, die in den 1930er Jahren als Architektenbrigaden in die UdSSR aufbrachen vgl. Gantner, 1933.

    Im März 1933 verließ Forbat Russland und verbrachte einige Zeit in Griechenland, wo er zu der Lebensweise zurückkehrte, die er seit der Zeit der Errichtung der Flüchtlingssiedlungen kannte. Er aktivierte vor Ort seine alten Bekannten, darunter auch Fritz Dörpfelds Vater, der ihm in Olympia die Gelegenheit verschaffte, an den Grundrissen des Zeustempels mitzuarbeiten23Die Zeichnungen von Forbat sind als Tafeln (18, 19 und 20) in Dörpfeld, 1935, enthalten. Gleichzeitig war er eine zentrale Figur bei der Reorganisation der griechischen CIAM-Gruppe, die bis dahin nur sehr wenige Mitglieder hatte, alle mit Bezug zu Frankreich. Auf Vermittlung von Forbat schlossen sich der Gruppe Despotopoulos, Dragoumis und Eglau an, alle drei deutschlandorientiert. Der 4. Kongress sollte zunächst in Moskau stattfinden, wo, wie bereits erwähnt, „Architektenbrigaden“ arbeiteten, die dem Neuen Bauen und dem Bauhaus nahestanden. Die Machtergreifung durch die Nazis und die Verschiebung des Kongresses durch die Sowjets hatten zur Folge, dass die führenden deutschen Architekten nicht an den Arbeiten der CIAM IV teilnahmen. Vielen deutschen Architekten innerhalb und außerhalb des CIAM, die Deutschland überstürzt verlassen hatten, war in den 1930er Jahren Griechenland eine Station wert gewesen. Erich Mendelsohn hielt sich häufig in Griechenland auf und pendelte zwischen London und Jerusalem. Auch Bruno Taut besuchte 1933 Athen auf dem Weg von Berlin nach Japan. Margarete Schütte-Lihotzky, die die berühmte Frankfurter Küche entworfen hatte, besuchte Athen und Thessaloniki zweimal, 1932 und 1937, und reiste von dort aus in die Türkei.

    Mitte der 1930er Jahre korrespondierten Despotopoulos und Dragoumis mit Forbat und dem ehemaligen Berliner Stadtbaurat Martin Wagner.24Martin Wagner (1885-1957), Architekt und Stadtplaner. Er studierte in Berlin und Dresden und arbeitete für Groß-Berlin an der Planung von Grünanlagen (1914-1918). Baudirektor des Berliner Bezirks Schöneberg (1918-1926). Geschäftsführer der DEWOG (1925-1926). Zusammen mit Bruno Taut entwarf er 1926 die Wohnsiedlung Britz in Berlin. Er trat die Nachfolge von Ludwig Hoffmann als Berliner Stadtbaudirektor an (1926-1933). 1924 und 1929 reiste er in die USA und 1930 nach Moskau. 1935 emigrierte er in die Türkei. 1938-1950 lehrte er an der Harvard University/ USA. Der damalige Bürgermeister von Athen, Kostas Kotzias, hatte die Frage der Athener Stadtplanung ganz oben auf seine Agenda gesetzt (Kotzias, 1934). In diesem Rahmen versuchten Dragoumis und Despotopoulos, Forbat und Wagner nach Athen einzuladen. Sie sollten einen Lehrstuhl erhalten oder als Berater am Regulierungsplan für den Großraum Athen beteiligt werden (Dima, 2015, 89-94). Wagner wurde in der Zwischenzeit als technischer Berater für Stadtplanungsfragen nach Istanbul berufen. Kotzias besuchte Istanbul, traf sich mit Wagner und lud ihn zu einem Vortrag ein, den er am 18. Dezember 1935 im Auditorium der NTUA über die städtebauliche Neuordnung Athens hielt (Wagner, 1936). Die politischen Entwicklungen jener Zeit waren rasant und führten zu großer Instabilität. Einige Monate später, im April 1936, setzte König Georg die Regierung von Ioannis Metaxas ein, am 4. August 1936 wurde eine Diktatur installiert. Das Regime vom 4. August institutionalisierte sofort die Hauptstadtverwaltung und ernannte Kotzias zum verantwortlichen Minister (Sarigiannis, 2000, 114-115; Biris, 2015, 65-66; Jakoumakatos, 2003, 243-295); die Kontakte zu den deutschen Vertretern des Neuen Bauens nahmen ab. Die Bemühungen griechischer deutschsprachiger Freunde, wie Despotopoulos und vor allem Alexandros Dragoumis, dies zu ändern, blieben erfolglos.

    Zur gleichen Zeit verstärkten sich nach dieser konservativen Wende die deutsch-griechischen Beziehungen und Kotzias unterhielt besonders freundschaftliche Beziehungen zum NS-Regime (Pelt, 1998, 118-124).25Kotzias unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Göring und Goebbels. Er war das einzige Mitglied der griechischen Regierung, das Hitler persönlich getroffen hatte. Die Briten sahen in ihm den „griechischen Göring“ und Goebbels betrachtete ihn als Freund des deutschen Volkes (Pelt, 1998, 186). Die Olympischen Spiele von 1936 wurden zu einem eindrucksvollen Beweis für die Instrumentalisierung der antiken griechischen Kultur zu Propagandazwecken. Das Entzünden des olympischen Feuers in Olympia und der Fackellauf nach Berlin – die als Wiederbelebung des antiken griechischen Geistes dargestellt wurden, in Wirklichkeit aber Erfindungen des nationalsozialistischen Deutschland waren – brachten Griechenland als Wiege der Olympischen Spiele ins Rampenlicht (Diem, 1937, 512-594). Bei dieser Gelegenheit besuchte nach den Spielen, im September 1936 der Reichspropagandaleiter Josef Goebbels Athen. Zwei Monate später hielt Werner March, der Architekt des Berliner Olympiastadions, in Athen einen Vortrag über die Olympischen Spiele von 1936 aus dem Blickwinkel der Architektur.26Der Vortrag des Architekten und Universitätsprofessors Werner March (1894-1976) wurde von der Ingenieurkammer Griechenlands (TEE) organisiert und fand am 27. November 1936 in der Aula des Literaturvereins Parnassos statt (March, 1937).  Bereits im September 1936 war der Artikel „Die olympische Sportanlage in Berlin“ in Technika Chronika, veröffentlicht worden. Heft 113 (1. September 1936), 779-787.

    In den Fußstapfen seines Vaters Otto March, der 1913 das Deutsche Stadion, den Vorläufer des Berliner Olympiastadions, erbaut hatte, gewann Werner March 1926 einen Preis beim Wettbewerb für das Deutsche Sportzentrum und entwarf von 1928 bis 1933 Olympiastadion und Olympisches Dorf. Diese Entwürfe wurden auf der Deutschen Bauausstellung präsentiert (Diem, 1937, 130-134), die Bauten selbst waren im oben erwähntem Katalog Neues Bauen von Johannes zu sehen (Johannes, 1931, 33-35, 40). In seinem Athener Vortrag stellte March fest, dass die Konzentration und Kombination aller Veranstaltungsorte, Festivitäten und Stadien auf einem gemeinsamen Feld und ihre künstlerische Gestaltung zu einem harmonischen Ganzen „vor allem dem Führer des Deutschen Reichs Adolf Hitler zu verdanken“ seien (March 1937, 41). Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden die ursprünglichen Entwürfe von March stark verändert (Meyer, 2017). Größe und auch Ästhetik der Gebäude wurden dem gigantischen, imposanten und autoritären Maßstab angepasst, wie sie die NS-Symbolik forderte (Miller Lane, 1968). Die von der nationalsozialistischen Propaganda verwendete Architektur mag sich zwar auf das klassische Griechenland berufen, bildet aber in ihrem Wesen den Gegensatz zur lebendigen Architektur jeder Epoche – Antike, traditionelle Architektur und Neues Bauen –, wie in den vorangegangenen Abschnitten dargelegt wurde. Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Architektur standen nicht das Leben und die Bedürfnisse der Menschen, sondern ideologische Zwänge und die grausame Lobpreisung des Todes (Georgiadis, 2019).

    Zusammenfassung

    Der Beitrag untersucht die deutsch-griechischen Architektennetzwerke in der Zwischenkriegszeit, die Besuche deutschsprachiger Architekten in Griechenland und die Aktivitäten griechischer Architekten, die im deutschsprachigen Raum studiert hatten oder dort arbeiteten und dabei die deutsch-griechischen Beziehungen und den gegenseitigen Austausch förderten. Die Agilität deutscher Architekten in Griechenland zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand in direktem Zusammenhang mit der Erstellung technischer Projekte und der Archäologie. Interessant ist die Art und Weise, wie diese deutsch-griechischen Architektennetzwerke zustande kamen. In der Zwischenkriegszeit begann man in Griechenland die moderne Architektur durch sozialpolitische Maßnahmen offiziell zu fördern, etwa durch Wiederaufbauprogramme für Schulen, Krankenhäuser und Sozialwohnungen. Auf diese Weise wurde die staatliche Architektur modernisiert und löste sich von den neoklassizistischen und eklektizistischen Vorbildern und Stilen, die sie zuvor kennzeichneten. Im Zusammenhang mit dieser Wende werden griechische Architekten, die in Deutschland studierten, wie Ioannis Despotopoulos, Alexandros Dragoumis und Jeorjios Diamantopoulos, sowie ihre Beziehungen untersucht. Ebenso werden deutschsprachige Architekten behandelt, die in Griechenland baulich tätig waren, wie Wilhelm Dörpfeld, der vor allem als Archäologe bekannt ist, und andere, weniger bekannte wie Fred Forbat, Heinz Johannes, Gustav Eglau, Carl Bensel und andere. Vorgestellt werden auch deutschsprachige Architekten, die Griechenland besuchten – sei es aus beruflichen Gründen, als Touristen oder als Durchreisende – und die Netzwerke, die bei ihren Aktivitäten eine Rolle spielten. So besuchte Erich Mendelsohn 1931 in Absprache mit dem DAI Griechenland, um nach dem internationalen Aufschrei über den Bau eines Gerichtsgebäudes nahe der Akropolis einige Artikel für das Berliner Tageblatt zu schreiben und drei Vorträge zu halten. Der 4. Congrès Internationaux d’Architecture Moderne IV (CIAM IV), der im Sommer 1933 an Bord eines Schiffes stattfand, das von Marseille nach Athen fuhr, war für die moderne Architektur von katalytischer Bedeutung. Mitte der 1930er Jahre traten junge Architekten mit deutschen Verbindungen wie Konstantinos Doxiadis auf den Plan, während deutsche Architekten wie Martin Wagner (ehemaliger Berliner Stadtbaudirektor) oder Werner March (Schöpfer des Berliner Olympiastadions) zu Vorträgen nach Griechenland eingeladen wurden. Die Wirtschaftskrise, der konservative Wandel, der zu Beginn der 1930er Jahre in ganz Europa einsetzte, und die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland gingen auch an Griechenland nicht spurlos vorbei.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Athanassios Tsingas

    Einzelnachweise

    • 1
      In Deutschland wurde 1919 das Staatliche Bauhaus gegründet. In Wien beteiligte sich Adolf Loos an der Planung der Gemeindebauten des Roten Wien. In Frankreich errichtete Le Corbusier die ersten puristischen Gebäude, in den Niederlanden entwarf J.J.P. Oud an der Küste schlichte Arbeiterwohnungen (Oud, 1926).
    • 2
      Das älteste ausländische archäologische Institut in Griechenland war das französische, die École française d’Athènes (EFA), die 1846 gegründet wurde. Dem DAI folgten 1881 die American School of Classical Studies, 1886 die British School of Athens und 1898 das Österreichische Archäologische Institut.
    • 3
      Zu diesem Wendepunkt in der Geschichte des Bauhauses vgl. Whitford, 1984, 121; Forgas, 1999, 135-153; Droste, 2006, 54-61 & 105-114; Wick, 2000, 40.
    • 4
      Der Name „Dehatege“ wird von den Initialen D.H.T.G. abgeleitet und steht für die Danziger Hoch- und Tiefbaugesellschaft mbH. Es handelte sich um ein Belgrader Unternehmen, das Adolf Sommerfeld gegründet hatte, als er den Auftrag zum Bau der standardisierten Holzhäuser für Flüchtlinge in Makedonien übernahm (Kress, 2011, 129-131). Auf Griechisch schrieb sich die Firma in Kapitalbuchstaben ΔΕΧΑΤΕΓΕ, in der damaligen Presse und Fachliteratur wurde sie als „“Δεχάτεγκε““ bzw. „“Δεχατεγκέ““ geführt, die Betonung also auf der zweiten bzw. der letzten Silbe (Notaras, 1934, 65). Der Name „Dehatege“ blieb als Synonym (Deonym) typisierter Flüchtlingshäuser erhalten (Gavras, 2009, 219).
    • 5
      Der Massenbau der „Dehatege“-Häuschen löste heftige Debatten darüber aus, ob er für den griechischen Staat wirtschaftlich und vorteilhaft war (Notaras, 1934, 81). Schließlich wurden auch hohe Beamte der Generaldirektion für Umsiedlung Makedoniens strafrechtlich verfolgt („Simiomata“ – Notizen, Zeitung Eleftheron Vima, Sonntag, 25. Juli 1925).
    • 6
      Diese Bauten bekommen oft das Etikett „Bauhaus-Stil“, was eher unangemessen ist, da, wie bereits erwähnt, die moderne Architektur den Begriff des Stils ablehnte. Darüber hinaus bot der Bauhaus-Lehrplan nicht einmal Architekturkurse an. Solche gab es rudimentär und erst gegen Ende seiner Ära, also nach 1927 (Dima, 2021).
    • 7
      Jeorjios Diamantopoulos (1890-1941): Architekt. Technische Hochschule München (1913). Sein Bruder Moschos Diamantopoulos (1886-1964): Bauingenieur, NTUA (1907) &Technische Hochschule München (1912), Ingenieur (Leiter Stahlbeton) der Firma „S. Agapitos und Mitarbeiter“ und danach Leiter des Planungsbüros „Ergoliptiki S.A.“, vgl. https://engineers.ims.forth.gr/engineer/ (26.9.2020); Lamprou, 2018, 31.
    • 8
      Eglau beschreibt die geschäftliche Situation in Athen in den frühen 1930er Jahren in zwei Briefen an Forbat (1.2.1932 & 1.12.1933) (Fred Forbat Archiv, ArkDes, Stockholm, AM1970-13-112).
    • 9
      Deutscher Ausschuss für Technische Bildung (DATSCH).
    • 10
      Vgl. ein Schreiben von Eglau an Forbat, Athen, 23.12.1932; Forbat Archiv, AM1970-13-112.
    • 11
      Dimitris Pikionis (1887-1968), Bauingenieur, NTUA (1908); 1908-1909: Studium des freien Zeichnens und der Bildhauerei in München; 1909-1912: Studiengang Zeichnen und Malen (Académie de la Grande Chaumière), Kurse in architektonischem Entwerfen (Werkstatt des Architekten G. Chifflot, École des Beaux Arts), Paris. 1925-1958: Professor an der Fakultät für Architektur der Nationalen Technischen Universität Athen. 1966: Wahl zum ordentlichen Mitglied der Akademie von Athen (Abteilung Literatur und Künste, Lehrstuhl für Architektur).
    • 12
      Zum Gegensatz modern-antik und zur sogenannten Kontroverse zwischen Antike und Moderne vgl. Calinescu, 2011, 51-68.
    • 13
      Maschinengeschriebener Text, an dessen Ende folgende Namen aufgeführt sind: „Behrens. Borchardt. Bulle. Dörpfeld. Dragendorff. Fabricius. Freytag. Jaeger. Karo. Koch. Langlotz. von Luecken. Noack. Rodenwaldt. Sauer. Schäfer. Schubert. Schuchhardt. Steindorff. Watzinger. Wiegand. von Wilamowitz-Moellendorff. Wolters. Zahn» [Deutsches Archäologisches Institut – Athen Archiv, Ordner K8 (ehem. Nr. 34)].
    • 14
      Getippter und nicht signierter Textentwurf mit dem Titel „Entwurf. Kundgebung des Bundes Deutscher Architekten“ zum Thema Gerichtsgebäude im Umfeld der Akropolis, undatiert, Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, V/8a.
    • 15
      Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Mss 16.
    • 16
      Manuskripttext des Vortrags, Erich Mendelsohn-Archiv (EMA), Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, V30.
    • 17
      Zu Mendelsohns Vorträgen 1931 in Athen (Anonymer Architekt, 1931).
    • 18
      Mendelsohn, 5.6.1931; Heinze-Greenberg/Stephan, 2000, 118-119; (auf Griechisch) Mendelsohn, 1987; Stephan, 2003, 59-60; (auf Griechisch) Mendelsohn, 2019.
    • 19
      Johannes entwarf auch das Kerameikos-Museum (1936-1938), das von Gustav Oberländer (1867-1936) finanziert wurde (Sporn, 2019, 53; Hellner, 2019, 84). Vielen Dank an Dimitris Grigoropoulos vom DAI für die Informationen zu H. Johannes und für den Hinweis auf den Artikel von Nils Hellner.
    • 20
      Die Ausstellung lief vom 24. Mai bis zum 6. Juni 1938. Die Räume der Griechisch-Deutschen Gesellschaft befanden sich in der Asklepios-Straße, Nr. 3 („Athen des Klassizismus“, Zeitung Eleftheron Vima vom Dienstag, 24.5.1938, 2; Biris, 2015, 56-57).
    • 21
      Zur Bedeutung und zum Hintersinn der Übersetzung des Titels „Die funktionelle Stadt“ als „Die organische Stadt“ auf Griechisch vgl. Dima, 2015.
    • 22
      Zu den deutschen Architekten, die in den 1930er Jahren als Architektenbrigaden in die UdSSR aufbrachen vgl. Gantner, 1933.
    • 23
      Die Zeichnungen von Forbat sind als Tafeln (18, 19 und 20) in Dörpfeld, 1935, enthalten.
    • 24
      Martin Wagner (1885-1957), Architekt und Stadtplaner. Er studierte in Berlin und Dresden und arbeitete für Groß-Berlin an der Planung von Grünanlagen (1914-1918). Baudirektor des Berliner Bezirks Schöneberg (1918-1926). Geschäftsführer der DEWOG (1925-1926). Zusammen mit Bruno Taut entwarf er 1926 die Wohnsiedlung Britz in Berlin. Er trat die Nachfolge von Ludwig Hoffmann als Berliner Stadtbaudirektor an (1926-1933). 1924 und 1929 reiste er in die USA und 1930 nach Moskau. 1935 emigrierte er in die Türkei. 1938-1950 lehrte er an der Harvard University/ USA.
    • 25
      Kotzias unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Göring und Goebbels. Er war das einzige Mitglied der griechischen Regierung, das Hitler persönlich getroffen hatte. Die Briten sahen in ihm den „griechischen Göring“ und Goebbels betrachtete ihn als Freund des deutschen Volkes (Pelt, 1998, 186).
    • 26
      Der Vortrag des Architekten und Universitätsprofessors Werner March (1894-1976) wurde von der Ingenieurkammer Griechenlands (TEE) organisiert und fand am 27. November 1936 in der Aula des Literaturvereins Parnassos statt (March, 1937).  Bereits im September 1936 war der Artikel „Die olympische Sportanlage in Berlin“ in Technika Chronika, veröffentlicht worden. Heft 113 (1. September 1936), 779-787.

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Lina Dima: «Neues Bauen und Archäologie. Deutsch-griechische Architektennetzwerke in der Zwischenkriegszeit», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 19.01.23, URI : https://comdeg.eu/essay/112926/.