Erstmaliges Auftreten Brechts in Griechenland
Ziel der vorliegenden Studie ist die erneute Beschäftigung mit einem ganz entscheidenden Desiderat innerhalb der neugriechischen Theatergeschichte: ein Abriss der Brecht-Rezeption in Griechenland.1Nachdrücklicher Dank gilt hier den Professoren Platonas Mavromoustakos und Miltos Pechlivanos für den nützlichen Gedankenaustausch zum Thema. Mit dem Schwerpunkt auf Originalquellen und anhand ausgewählter Bibliographie richte ich in den hier folgenden Abschnitten den Fokus auf den Zeitpunkt des Eintritts Brechts in die griechische Theaterlandschaft Ende der 50er Jahre. Die Studie trägt einerseits zur Erstellung eines Interpretationsschemas für die politische Dimension des Gegenstands, andererseits zur Verknüpfung des Themas mit den deutsch-griechischen Kulturbeziehungen unter den beiden deutschen Staaten jener Tage bei (ein Aspekt, der bis heute unbeachtet geblieben ist). Abschließend wird eine Bewertung der Brechtrezeption in Griechenland in den nachfolgenden Jahrzehnten bis 1990 vorgenommen. Wie ich in der Studie geltend mache, durchläuft Brecht in Griechenland von der Zeit moderner Regiearbeit bis hin zu deren Postmoderne eine Reihe sich wandelnder Rezeptionsphasen. Genauer gesagt nehmen wir unseren Weg vom Nachkriegs-Brecht der Linken und der Dichtung (1957-1966) hin zur „Brechtomania“ in den Jahren der Diktatur (1967-1974), begegnen dann dem unterhaltsamem Brecht in den ersten Jahren der Metapolitefsi (1975-1981), und gelangen schließlich zum Brecht der Postmoderne (1982-1990). In meinem Essay untersuche ich der Reihe nach das erste Erscheinen des Brecht’schen Werks in Griechenland samt den Auseinandersetzungen um dessen politischen Charakter, die Koun-Inszenierung von 1957 und deren kritische Aufnahme, die politischen Dimensionen der griechisch-deutschen Beziehungen am Wendepunkt des ersten Aufkommens des Brecht’schen Schaffens in Griechenland, die vielen Facetten und Erscheinungsformen Brechts vom Ende der 50er bis zum Ende der 80er Jahre, und schließlich als Epilog die kulturellen Brücken, die die szenische Realisierung der Stücke des engagierten Fürsprechers des Epischen Theaters in Deutschland entstehen ließ.
Die Rezeption des deutschen Dramatikers Bertolt Brecht (1898-1956) in Griechenland setzte Mitte der 50er Jahre mit einer Reihe von Artikeln, Aufführungen und Übersetzungen seines dramatischen, theoretischen und dichterischen Werks ein.2Vollständiger Überblick über die Brechtrezeption der Jahre 1955-1981: Haviaras, 1989. Chronologische Auflistung der Aufführungen 1957-1986: Chaviaras, 1987b, 30-40. 50 Jahre Brecht in Griechenland: Mavromoustakos, 2006c, 19-25. Erste, vereinzelte bibliographische Erwähnung Brechts im Jahre 1931: Mygdalis, 1977, 44. Auslösendes Moment dafür, dass man in der Welt der Literatur und des Theaters auf Brecht aufmerksam wurde, war das Echo auf die erfolgreichen Aufführungen des Berliner Ensembles in Paris 1954/55 und der Tod des Dichters und Schriftstellers kurz darauf im Jahre 1956.3Die hier genannten Aufführungen waren in den 50er Jahren z.B. von besonderer Bedeutung für die französische Brechtrezeption (Barthes, 1964,52; Dort, 1967, 315-333; Mortier, 1986; Kangjelari, 2013, 1). Vom ersten Augenblick der Aufnahme Brechts in Griechenland an zeichnete sich die Kluft ab, welche die linksintellektuelle Szene, die die marxistische Ausrichtung seines Schaffens in den Vordergrund stellte, von jenem Teil des geistigen und künstlerischen Ambientes trennte, der sein Gewicht auf die ästhetische Bedeutung des Brecht’schen Epischen Theaters und den poetischen Humanismus von Stücken wie Der Kaukasische Kreidekreis und Der gute Mensch von Sezuan legte.4Zur widersprüchlichen Rezeption des Autors: Markaris, 1999, 54-59; Mavromoustakos, 2006a, 119-123 und 2006b, 140-141; Ioannidis, 2018, 293-294. Für die Brechtrezeption sind die beiden fast zeitgleich erfolgenden Übertragungen desselben Theaterstücks durch zwei Übersetzer ganz unterschiedlicher Herkunft von besonderem Interesse: 1956 übersetzte der marxistische Journalist Asteris Stangos für die linksorientierte Zeitschrift Epitheorissi Technis (Revue für Kunst) den Kaukasischen Kreidekreis. Das Blatt sollte sich in dieser Epoche rechter Vorherrschaft (1955-1964) mit regelmäßig erscheinenden Übersetzungen und Hommagen als stete Unterstützerin der Verbreitung Brechts erweisen, übrigens in Gleichklang mit Kostas Nitsos’ Zeitschrift Theatro (Theater), die von 1961-1966 und 1973-1981 Entsprechendes beitrug. Anfang 1971 wird Koun parallel zur Veröffentlichung der Stangos-Übersetzung den Kreidekreis in der Übersetzung von Odysseas Elytis inszenieren, der in Gegensatz zu den linken Literaturkritikern seiner Zeit im die Aufführung begleitenden Programmheft die politischen Ansatzpunkte in den Hintergrund stellte und sich zugunsten eines ästhetischen Impulses für das Werk positionierte (Ioannidis, 2018, 294).5Zu dieser Übersetzung vgl. Veloudis, 25.11.2008. Dieser Widerspruch ließ die asymptotischen Formen der Annäherung an das Schaffen des deutschen Dramatikers sichtbar werden, die sich bei dessen erstem Erscheinen in der neugriechischen Theaterwelt sogleich bemerkbar machten.
Gegen Ende der 50er Jahre wurde dann die inländische Brechtrezeption von den Inszenierungen Kouns und der volatilen Ambivalenz der Kritik zwischen politischer Dimension und Überwiegen des Ästhetischen im dramatischen Schaffen des deutschen Autors, will sagen: von der Seilakrobatik zwischen dem Brecht der Linken und dem Poeten Brecht dominiert. Schon in den ersten Artikeln, die in der griechischen Presse über den deutschen Dramatiker zu Papier gebracht wurden, kam dieser Zwiespalt zum Ausdruck.6Presseartikel über Brecht 1955-1957: Chaviaras, 1987a, 23-29. In ihnen manifestierte sich das Auf und Ab der einheimischen Kritik zwischen Verschweigen und emphatischer Betonung des Politischen im dramatischen Werk Brechts. Insbesondere die Brechtpräsentation der Kritikerin Aglaïa Mitropoulou von 1955 führte zu einer charakteristischen Kontroverse innerhalb der Brechtrezeption, an der von linker Seite der Kritiker Kostas Stamatiou beteiligt war. Mitropoulou hatte in einem ihrer Artikel die Humanität des deutschen Dramatikers hervorgehoben, der politische und religiöse Unterschiede hinter sich lasse (Mitropoulou, 12.07.1955). Stamatiou beeilte sich daraufhin, diese „Entstellung“ der Brecht’schen Ideologie zu korrigieren, denn auf diese Weise, so unterstrich er, werde der Deutsche als „verzweifelter Künder christlich-metaphysischer Herzensgüte“ apostrophiert, der in Wirklichkeit ein gründlich orientierter Geistesarbeiter, ein dialektischer Marxist mit handfester Ideologie und „Schöpfer eines theatralischen Waffenarsenals im Dienste neuer Ideen“ sei (Stamatiou, 20.07.1955). Sowie der Brecht-Diskurs in Griechenland in Gang kam, unterstrich man in der linksintellektuellen Welt, die Denkungsart des Autors habe ihre Wurzeln in seiner Marx-Lektüre von 1926, und erinnerten ihre Landsleute indirekt daran, dass dieses ideologische Merkmal Charakteristikum des sozialistischen Ostdeutschland in Berlin, nicht aber des bundesrepublikanischen Westdeutschland in Bonn sei.7Marxens Einfluss auf Brecht: Wächter, 2003. Zu Brechts Denkungsart s. Puchner, 1973 und Papandreou 16.03.1980.
Aufführung und Reaktion der Kritik
Die Aufführung des vom „Revolutionär“ und „Feind der Intoleranz“ Brecht geschriebenen Stücks Der Kaukasische Kreidekreis sollte dann in der Inszenierung von Koun im Januar 1957 stattfinden (Stavrou, 27.01.1957; A.8So ist der betreffende Artikel von Tassos Alkoulis unterzeichnet., 1956, 243). Der avantgardistisch orientierte Regisseur, der sich dabei gleichermaßen vom Epischen Theater wie vom Absurden Theater inspirieren ließ, um sich in seiner weiteren Laufbahn dann der Erneuerung der Inszenierung der antiken Tragödie zu widmen, arbeitete zu dieser Zeit mit Mitteln im Sinne eines seinen persönlichen Auffassungen entsprechenden poetisch-psychographischen Realismus.9Brechts Bedeutung für die Inszenierung der antiken Tragödie: Koun, 1987, 93. Zum Poetischen Realismus s. Koun, 1987, 24; Kangkelaris, 2010, 136; Vassiliou, 2012, 483-485; Chadsipantasis, 2012, 526; Nikitas, 2021. Dabei hielt er Distanz zu den politischen Spannungsfeldern seiner Zeit und brachte sich in erster Linie für den künstlerisch-ästhetischen Wert der dramatischen Texte ein (Ioannidis, 2018, 301). Anzumerken ist, dass die Koun-Inszenierung ein für die ideologische Ausrichtung des Kaukasischen Kreidekreises fundamentales Element aussparen sollte: den Prolog, der in einer sowjetischen Kolchose spielt und unter dem Deckmantel des Mythos in aller Deutlichkeit den sozialen Konflikt umreißt. Diese aufgrund der zeitgenössischen Literaturkritik erwartbare Vorentscheidung hatte man auch bei anderen Aufführungen des Stückes in Europa getroffen.10Der Prolog war z.B. 1954 mit ausdrücklicher Genehmigung Brechts bei einer Aufführung in Westdeutschland gestrichen worden. Ebenso bemerkenswert ist, dass mit dieser Koun-Inszenierung – abgesehen von einigen in den 50er Jahren von Athener Vorstadtensembles gebotenen Boulevardstücken aus Deutschland – erstmals seit der Befreiung von 1944 und dem damit einhergehenden Verschwinden neuerer deutscher Dramatik wieder ein Autor aus der Heimat Goethes und Schillers, die in jenen Jahren als einzige weiterhin im Nationaltheater gespielt wurden, auf die Bühne kam (Ioannidis, 2018, 220-223). Die Jahre, die nach dem Rückzug der deutschen Besatzungstruppen inzwischen vergangen waren, förderten infolge des Brecht mittlerweile international zuteil gewordenen Ruhms, zugleich aber auch aufgrund der innenpolitischen und ästhetischen Bedürfnisse, die sein Schaffen im Griechenland der Nachkriegszeit bewusst machte, günstige Voraussetzungen, als bedeutender deutscher Dramatiker des 20. Jahrhunderts einen ebenso bedeutenden Platz im Theaterleben des Landes in Anspruch zu nehmen. Und wirklich: mit der Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises sorgte das Theatro Technis (Theater für Bühnenkunst) für den größten Erfolg seiner Laufbahn, indem es der Athener Öffentlichkeit mehr als drei Monate lang das zukunftweisende Theaterschaffen des (wie der Schauspieler und Regisseur Dimitris Myrat Brecht titulierte:) „guten Menschen von Augsburg“ vermittelte (Myrat, 1966, 21).11Zum Erfolg des Kaukasischen Kreidekreises im Theatro Technis (Theater für Bühnenkunst)vgl. Ioannidis, 2018, 300.
Insbesondere mit Blick auf die ästhetischen und politischen Koordinaten des Brecht’schen Theaters sollte die Kritik an der ersten Vorstellung beim gebildeten Bürgertum, hier vertreten durch M. Karagatsis und Alkis Thrylos (Pseudonym für Eleni Ourani), negativ ausfallen. Karagatsis beeilte sich zu unterstreichen, dass die Aristoteles zuwiderlaufende Präsenz eines Erzählers das Werk zur „szenischen Umsetzung eines Feuilletontexts voll herzzerreißend romantischer, aufs naivste politintriganter Abenteuerlichkeiten“ mache (Karagatsis, 29.01.1957).12Ausführlicheres über Karagatsis bei Pechlivanos, 2017. Ganz in antikommunistischem Geist fügte er hinzu, Brechts Ruhm verdanke sich nicht künstlerischen Werten, vielmehr hätten „geistesfremde Faktoren“ für seine Verbreitung gesorgt. Ganz dem entsprechend hob Thrylos ihrerseits hervor, Brechts „stilistische Vorgehensweise vermittelt den Eindruck, hier werde ein unbedeutender Text mit Illustrationen versehen“ (Thrylos, 1957, 288). Und im bedrohlichen Gefühl, hinter den Kulissen des Theatro Technis (Theater für Bühnenkunst) geistere das Gespenst des Kommunismus umher, weist sie lärmend darauf hin, dass die „fanatische, also geistfeindliche Truppe, zu der Brecht gehört, sich sehr geschickt darauf versteht, mit viel Getöse und Jubelgeschrei Reklame für ihre Parteigänger zu machen“ (Thrylos, 1957, 289). Auf der Gegenseite standen Linksintellektuelle wie Jerassimos Stavrou, der anlässlich der Aufführung auf die marxistischen ideologischen Grundlagen des deutschen Dramatikers hinwies und dabei hervorhob, dass das, „woran Brecht glaubt, in die Überzeugung mündet, dass die Wahrheit bei den Klassikern des Marxismus zu finden sei – dass die Welt in Barbarei versinke, weil die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln gewaltsam durchgesetzt und etabliert würden“ (Stavrou 27.01.1957).
In einem weiteren Artikel machte Stavrou abermals geltend, dass Der Kaukasische Kreidekreis über ein starkes politisches Fundament insofern verfüge, als er über das Mittel einer allegorischen Erzählung sichtbar werden lasse, wie der dialektische Materialismus eines Marx und Engels jenen „Klassenkonflikt“ beleuchte, der entstehe, wenn sich die „Massen in Bewegung setzten“ (Stavrou, 29.01.1957). Die „klassenkämpferische Bedeutung“ der Dramen Brechts unterstrich 1958 auch der Regisseur am Nationaltheater Alexis Solomos, der ja Ende der 1940er Jahre seine Lehrjahre an der Seite des Vorkämpfers des Epischen Theaters Erwin Piscator verbracht hatte und nun in einem Artikel über das dramatische Schaffen Brechts heraushob, die Botschaft von Werken wie Die Dreigroschenoper sei, dass „der bürgerliche Kosmos nichts weiter als ein … Zusammenschluss von Übeltätern sei“ (Solomos, 02.11.1958).13Über Alexis Solomos vgl. Solomos, 2018. Zu Aspekten der Rezeption des Werks in Deutschland vgl.Puchner, 2011. Den Mittelweg zwischen Polemik und Verteidigung wählten anlässlich der Inszenierung von 1957 eine Reihe anderer in Griechenland lebender Intellektueller, die sich für das künstlerische Wagnis der Brecht’schen Methodik starkmachten und bestrebt waren, Brechts tiefer zu verortenden Humanismus auszumachen. Insbesondere Marios Ploritis, an zweiter Stelle auch Angelos Terzakis bestiegen das Vehikel der idealistische Dichtkunst des Deutschen, wodurch die politische Spannung zugunsten des künstlerischen Genusses in den Hintergrund trat. Ploritis betonte in diesem Zusammenhang charakteristischerweise, dass dies Brecht’sche Werk „als schönes Beispiel für die Kunst eines noblen, lauteren Poeten Bestand haben werde“ und fügte ergänzend an, dass „vor allem dies den Dichter charakterisiere: seine Liebe zum misshandelten Menschen“ (Ploritis, 29.01.1957). Terzakis merkte an, dass „seine herzerwärmendsten Momente“, d.h. seine „menschlichsten“ und „gefühlvollsten“ den Wert des Dramatikers ausmachten (Terzakis, 26.01.1957).
Zwei deutsche Staaten im Wettstreit
Brechts Rezeption in Griechenland Ende der 1950er Jahre erfolgte zeitgleich mit bedeutsamen politischen und kulturellen Entwicklungen auf der Ebene der Beziehungen Griechenlands zum west- wie ostdeutschen Staat. Die Tatsache, dass Brechts Theater, das „Berliner Ensemble“, aber auch Brechts ideologische Präferenzen ihr Zuhause in Ostdeutschland hatten, sorgten für Koordinaten, die es für Griechenlands Intellektuelle schwierig werden ließ, sich einem deutschen Dramatiker gegenüber zu positionieren, der bereits seit 1948 in Ostberlin etabliert war. Diese Konstellation bildete den unsichtbaren Hintergrund, vor dem innergriechische politische und künstlerische Bindungen mit den Vorgaben internationaler Beziehungsverhältnisse zusammenfinden mussten. Festzustellen ist, dass die Nachkriegskonkurrenz zwischen den beiden deutschen Staaten Bundesrepublik Deutschland (BRD) und Deutsche Demokratische Republik (DDR) hier insofern von besonderer Intensität war, als Ostdeutschland danach strebte, dem starken Einfluss entgegenzutreten, über den Westdeutschland in Griechenland als Schauplatz geopolitischer Herausforderungen und zivilisatorisch-kulturellen Anspruchs verfügte (Stergiou, 2018, 367-369). Dabei stellte gerade das Jahr 1958 mit seinem Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Konstantinos Karamanlis in Bonn und dem Abschluss eines Wirtschaftsvertrages, der die Überlegenheit des westlichen Blocks festschrieb, eine entscheidende Wegmarke für die Zusammenarbeit zwischen Griechenland und Westdeutschland dar (Apostolopoulos, 2018, 351). Auf die Bekundungen wirtschaftlicher Vorherrschaft Westdeutschlands antwortete Ostdeutschland mit der Waffe der Kultur. Es sei hier daran erinnert, dass Ostdeutschland in der Nachkriegszeit systematisch danach strebte, sich in Europa als friedliebender europäischer Staat in Szene zu setzen, und zwar als ein Staat ohne das militaristische Wesen Westdeutschlands (Stergiou, 2018, 376). Gleichzeitig setzte es sich auf der Grundlage seines sogenannten „dritten Pfeilers“ [seiner Außenpolitik] zum fundamentalen Ziel, in Europa mit kulturellen Leistungen für sich einzunehmen (Roufousos, 2014, 28).14Zur Brechtrezeption in Ostdeutschland vgl. Bradley & Leader, 2011. In diesem Sinne erwies sich Brecht als idealer Exportartikel. Es gab aber auch entsprechende kulturelle Importe: 1958 beginnt die griechische Kultur, in Ostdeutschland präsent zu werden, und 1959 glückt es aufgrund einer Initiative des Regisseurs Takis Mousenidis, die Fundamente einer Brücke für Theaterkontakte zu legen. So sollte Mousenidis in diesem deutschen Staat Aufführungen antiker Dramen realisieren und zusammen mit Manos Ploritis Kooperationsgespräche vorantreiben, während ein angedachter Auftritt des Griechischen Nationaltheaters (wie es griechische Parlamentarier vorgeschlagen hatten) letztendlich aus politischen Gründen nicht zustande kam. Ein weiterer wichtiger Umstand, der hier von mir hervorzuheben ist, stellt die offizielle Eingliederung Brechts in die Kulturpolitik der Vereinigten Demokratischen Linken (EDA) in Griechenland dar, und zwar mit der spezifischen Begründung, dass die EDA-Partei uneingeschränkt die Zielsetzungen Ostdeutschlands unterstütze.15Zum Verhältnis EDA-Partei – Ostdeutschland vgl. Bradley & Leader, 2011. In einer Eingabe der für Literatur und Kunst zuständigen Sektion der EDA aus dem Jahre 1962 wurde die Aufführung von Werken „mit klarem fortschrittlichem und gesellschaftlichem Inhalt“ wie etwa der Werke Brechts vorgeschlagen, die der Perspektive einer „griechischen Volkskultur“ Vorschub leisten würde und dabei als oberstes Ziel eine „vielseitige Massenbewegung im Dienste der Renaissance des Theaters“ verfolge (EDA, 1962, 9, 14 und 17).16Ich mache allerdings auf das Fehlen des szenisch ja stets anspruchsvollen Brecht im Repertoire linksorientierter Nachkriegsensembles wie derjenigen von Katrakis, Damianos und Karoussou aufmerksam. Zu den Aufführungschroniken der genannten Ensembles s. Stamatopoulou, 2017, 495-533 und 772-792.
Vielgestalt und Vielgesichtigkeit
Die Vielgestaltigkeit Brechts und seiner Rezeption in Griechenland sollte Ende der 50er Jahre, aber auch in den anschließenden Jahrzehnten mehr und mehr zutage treten. Nach dem entscheidenden Bühnendebüt des Dramatikers im Jahre 1957 erlebte das Jahrzehnt noch eine ganze Reihe vervollständigender Wiedergaben seines Schaffens. In diesen Jahren des Neuerstehens des griechischen Theaters, das die Fortschrittsdebatte der Zeit von 1961 bis 1967 vorausahnen ließ, legte der deutsche Autor die Fundamente für seine Beliebtheit besonders in den Jahren der Diktatur.17Entwicklung des Theaterwesens in den Jahren 1951-1967: Mavromoustakos, 2005, 67-131; Ioannidis, 2014, 137-165, 375-426. Gleichzeitig begründete er damit einen viele Jahre umfassenden griechisch-deutschen Begegnungsraum. Mit Aufführungen des Guten Menschen von Sezuan (1958) und der beiden Szenen Die jüdische Frau und Der Spitzel (1959) wandte sich Karolos Koun erneut dem dramatischen Schaffen Brechts zu, Takis Mousenidis inszenierte 1958 die Mutter Courage mit Kyveli [Adrianou] in der Hauptrolle und Tassos Alkoulis brachte 1959 Die Jüdische Frau (unter dem Titel 3. Reich) heraus. Die nicht von entsprechendem künstlerischem und finanziellem Erfolg gekrönte Inszenierung des Guten Menschen von Sezuan löste bei der Kritik eine Aufnahme in denselben Parametern aus, wie sie sich ein Jahr zuvor bei der Aufführung des Kaukasischen Kreidekreises etabliert hatten (Ioannidis, 2018, 460-463), das heißt: abermals wurden Brechts ästhetische Vorzüge und die in sie gelegte politische Sprengkraft gegeneinander ausgespielt. Die Debatte in Griechenlands Intellektuellenkreisen machte sich darüber hinaus am Unvermögen der verschiedenen Aufführungen fest, die Mischung aus Epischem Theater und Gesellschaftskritik des Dramatikers in eine harmonische Balance zueinander zu bringen. Dabei rückte nochmals Kouns Herangehensweise ins Zentrum der Diskussion. Trotz bestimmter „formalistischer“ Elemente, die der Regisseur im Guten Menschen von Sezuan zu erproben gesucht habe, missglückte laut Tassos Alkoulis die erforderliche „Ausrichtung auf das Sozialistische“ (Alkoulis, 1959, 152-154). Um auf den zweiten wichtigen Fall einzugehen: mit der Aufführung der Mutter Courage wurde Brecht vor den Wagen des innergriechischen Revanchismus gespannt und verfehlte damit die Anforderungen des Epischen Theaters.18Zur vielfachen Präsenz zahlreicher führender Ensembles in den Jahren 1995-1964 vom Ensemble Elli Lambeti – Dimitris Horn bis hin zum Ensemble Aliki Voujiouklaki s. Stamatopoulou, 2017, 533-614. Als dasselbe Werk 1971 mit Katina Paxinou wieder auf die Bühne kam, hob sich auch unter den neuen historischen und künstlerischen Vorzeichen der Diktatur, vor allem aber der ersten Jahre des Systemwechsels („Metapolitefsi“) der Vorhang nochmals für diese Art interpretatorischen Vorgehens. Schließlich kam es gegen Ende des Jahrzehnts (1958) zu Stamatious bemerkenswerter Teilübersetzung des Kleinen Organon für das Theater, also des wichtigsten theoretischen Brechttextes, dem drei Jahre später in der Zeitschrift Theater (Theatro) die vollständige Übertragung von Myrat folgen sollte (Brecht, 1958; 1961).
Anfang der 60er Jahre setzte sich die 1957 in Gang gekommene Rezeptionswelle Brechtschen Bühnenschaffens mit einer ganzen Reihe von Aufführungen fort. Im schärfer gewordenen politischen Klima dieser Jahre des sogenannten „Unerbittlichen Kampfes“ zog Koun es vor, Brechts Stoffe östlich-fernöstlicher Herkunft beiseite zu lassen und das antifaschistische Stück Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui auf die Bühne zu bringen. Die linke Presse legte es umgehend als Parabel aus, die den Wahlen „der Gewalt und Fälschung“ den Spiegel vorhielte, während die Zentrumspresse die demokratischen Tugenden des Stückes pries (Stavrou, 05.11.1961; Orfanidis, 04.11.1961).19Den „Unerbittlichen Kampf“ hatte Georgios Papandreou (Zentrumsunion) nach den irregulären Wahlen von 1961 gegen die [siegreiche] konservative ERE-Partei von Konstantinos Karamanlis ausgerufen. Dabei ging es im Bündnis mit der Linkspartei EDA um die Nichtanerkennung der Legalität der Regierung (Kostis, 2014, 752). Weitere Regisseure, angefangen von Vassilis Diamantopoulos, der 1961 Das Leben des Galilei individuell-personalisierend inszenierte, bis hin zu Minos Volanakis, der 1965 den Guten Menschen von Sezuan eher im Sinne des Epischen Theaters realisierte, setzten die Experimente mit Brechts epischer Methode fort. Parallel dazu veröffentlichte Petros Markaris 1965 seine nach Brechtscher Art gestaltete Geschichte des Ali Retzos und trug damit zur Aneignung Brechts innerhalb des neugriechischen dramatischen Schaffens bei.20Inszenierung von Diamantopoulos: Ioannidis, 2018, 456-459. Volananakis‘ Herangehensweise: Dimopoulos, 04.01.1965. Zu dem Stück von Markaris s. Mavromoustakos, 1987, 252-282; Pefanis, 2001, 112-114. Daran schloss sich dann die überzogene „Brechtomania“ der Junta-Zeit (1967-1974) an (Jeorgoussopoulos, 04.01.1976). In dieser Zeitspanne, in welcher die Beziehungen zwischen Griechen und Deutschen aufgrund der demokratiefreundlichen Haltung Westdeutschlands besonders positiv gediehen (ein Umstand, der das diktatorische Regime zu engeren Beziehungen mit Ostdeutschland veranlasste), wurde Brecht zum Werkzeug im Kampf um die Demokratie, zugleich aber auch zur künstlerischen Mode.21Zur politischen Nutzung Brechts s. Markaris, 1999, 56-57; Van Steen, 2013, 89-90; Papadojiannis, 2017, 227. Tendenzen, Brecht politisch missbräuchlich zu nutzen: Kritikos (Thodoros, Chatzipantasis), 1972, 181; Nitsos, 1973, 7-8. Zum Brecht der Diktaturjahre s. Van Steen, 2014, 250-279; Hager, 2008, 161-165. Massiv politisierte Perspektivik des Theaters in der Juntazeit: Mavromoustakos, 2005, 139-140; Jeorgakaki, 2015, 25-26. Zu den griechisch-deutschen Beziehungen dieser Jahre s. Apostolopoulos, 2018, 358-360; Stergiou, 2018, 377-380. Regisseure wie Alexis Minotis, Alexis Solomos, Dimitris Myrat, Tassos Alkoulis und Spyros Evanjelatos griffen in dieser so intensiv politisierten Epoche des griechischen Theaters nach Werken Brechts. Zur selben Zeit kam das in Brechts Manier verfasste Werk von Markaris in dem Augenblick auf die Bühne, als Markaris ein weiteres gleichartiges Stück, das Epos vom König Yby (1971), veröffentlicht hatte (Van Steen, 2013, 94-104 und 107), während Koun unter den ersten Inszenierungen, zu denen es im Theatro Technis (Theater für Bühnenkunst) nach dem Ende der Diktatur kam, Furcht und Elend des Dritten Reichs herausbrachte.
In den ersten Jahren nach dem Systemwechsel mit ihrem Rückgang der politischen Hochspannung rückte der Fokus auf den unterhaltsamen Brecht: Regisseure wie Jules Dassin, Nikos Koundouros und Minos Volanakis gaben Werken wie der Dreigroschenoper und Herr Puntila und sein Knecht Matti den Vorzug, um Brecht in den Trend zum Revanchismus einzubinden.22Ich verweile hier überblicksweise bei drei fundamental wichtigen Inszenierungen: Dassins Dreigroschenoper von 1975-76 stufte die Kritik als einen der „Brecht zutiefst zuwiderlaufenden Interpretationsversuche“ ein (Kritikos, 03.02.1987). Mavromoustakos urteilt, die Aufführung bewahre einen gewissen Kontakt zu Brechts Theaterkonzept (Mavromoustakos, 2006b, 141-142. Herr Puntila und sein Knecht Matti in Volanakis‘ Inszenierung von 1976 mache sich hinter aller „zersetzenden Schärfe des dialektischen Materialismus“, so der Regisseur, auf die Suche nach dem „kreativen Spaß“ und der „Ebene des Komischen“ ([Anonymus], 17.01.1976). Die Dreigroschenoper in Koundouros‘ Version von 1980-1981 wird als „Kostüm-Oper“, „sinnlich-kulinarisch und darauf aus zu unterhalten“ charakterisiert (Jeorgoussopoulos, 19.02.1981; Varopoulou, 13.03.1981).
Im Zeitraum 1975-1981 übernahmen nicht nur auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern auch auf der Leinwand der Lichtspieltheater erstrahlende Stars wie Nikos Kourkoulos, Jiannis Papamichail, Melina Merkouri und Elli Lambeti Brechtsche Hauptrollen. In derselben Zeit legte Leonidas Trivisas zusammen mit der Experimentellen Volksbühne eigene Vorschläge zur Interpretation Brechts vor, die sich enger an der politischen Ausrichtung und den Verfahren des Epischen Theaters orientierten.23Zu Trivisas‘ Herangehensweise an Brecht: Markaris, 1999, 58; Mavromoustakos, 2006b, 141. Ausführlicheres über sein Regieschaffen bei Siropoulou, 2014, 213-222. In den 80er Jahren nahm die Rezeption des deutschen Dramatikers eine neue Wendung, als Regisseure wie die Heiner-Müller-Verehrer Thodoros Tersopoulos (er hatte am Berliner Ensemble gelernt) und Michail Marmarinos in Inszenierungen der Mutter Courage (1982/83) und der Brecht-Maschine (1989/90) schon auf der Suche nach einem Brecht der Postmoderne waren.24Zur Tersopoulos-Inszenierung s. Chatzidimitriou, 2005, 43-46. Näheres zur Kritik an der Tersopoulos-Aufführung s. Kritikos, 10.01.1983, an derjenigen von Marmarinos s. Kangelari, 10.12.1989. Trotz mancher politischer Reiberei und trotz der Fortsetzung einer griechischen Version von Ostpolitik war das Verhältnis Griechenland-Westdeutschland in dieser Zeit bereits auf die gemeinsame Arbeit an der europäischen Einigung abgestimmt (Apostolopoulos, 2014, [8]; Stergiou, 2018, 371). Zeitgleich mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 schien die griechische Theaterregie ihre Binnenspaltung zwischen dem politischen und dem poetischen bzw. dem didaktischen und dem unterhaltsamen Brecht hinter sich zu lassen, um sich auch ihrerseits der globalen Sprache postmoderner Ästhetik anzuschließen.25Ausführlicheres zum theatralischen Vermächtnis Brechts s. Ardittis, 2006, 26-30.
Fazit
An der Brechtrezeption der 1950er Jahre lassen sich nicht allein die damaligen politischen und künstlerischen Gegensätze innerhalb Griechenlands ablesen: sie lässt, wenige Jahre nach der so schmerzhaft belasteten Besatzungszeit und dem grausamen Bürgerkrieg auch eine ganze Reihe problematischer Fragen auf dem Feld der griechisch-deutschen Beziehungen neu aufleben. Von besonderer Bedeutung war dabei die in Richtung Ostdeutschland geknüpfte Verbindung zu Brecht und seinem Berliner Ensemble, das seit 1950 die Methode der künstlerischen Verfremdung in ganz Europa verbreitet hatte.26Die Übersetzung des Begriffs Verfremdungstechnik und speziell der Vokabel Verfremdung ins Griechische differiert. Petros Markaris schlägt statt αποστασιοποίηση (Distanzierung) παραξένισμα(Verfremdung) als geeigneter vor und merkt dazu an: „Bei uns wird παραξένισμα (Verfremdung) häufig mit αποστασιοποίηση (Distanzierung) übersetzt, eine Fehldeutung, die wir von den Franzosen übernommen haben“ (Markaris, 1982, 38). Zum Begriff παραξένισμα s. Dort, 1975, 218-220.
Die Anerkennung, die dem Dramatiker durch europaweite Aufführungen und wissenschaftliche Monographien zuteilwurde, machte deutlich, dass es auch für einen linksorientierten Schriftsteller möglich war, weltweiten Ruhm zu erwerben, und stärkte zugleich das Image eines sozialistischen Staats, der sich darauf verstand, auch in der Epoche des Kalten Kriegs mit friedliebendem künstlerischem Schaffen auszustrahlen. Besonders in Kreisen der marxistischen Intelligenz Griechenlands milderte Brechts Präsenz dementsprechend die nationalen Traumata aus der Vergangenheit und förderte dabei, gestützt auf Brechts internationales Prestige, die Geltung der Linkspolitik Ostdeutschlands. Von gleichem Wert und Nutzen war in der griechischen Theaterwelt Brechts Beitrag für diejenigen, die sich für das Dichterische stark machten und Gewicht auf die weltumspannend einigende Kraft des Humanismus legten, während Künstler wie Koun ihr ästhetisches Vokabular mit aus dem Epischen Theater geschöpften Elementen erweiterten. In den Augen bestimmter, dem Antikommunismus zuneigender bürgerlicher Intellektueller Athens stand Brechts Breitenwirkung dagegen im Dienste des verurteilungswürdigen ostdeutschen Sozialismus und verstärkte damit gerade in dem Augenblick das Misstrauen zwischen Griechenland und der Bundesrepublik, in dem die rechtsorientierte griechische Regierung die Zusammenarbeit mit einem um vergangenheitsbewältigende Normalisierung bemühten Westdeutschland suchte (Reichel, 2007). Das facettenreiche Wirken Brechts, der 1933 auf Distanz zum Naziregime, aber auch zum dogmatischen Stalinismus ins selbstgewählte Leben im Exil gegangen war, verstärkte die vielschichtige Aufnahme seines Schaffens. Die griechische Brechtrezeption Ende der 50er Jahre ist Ausdruck des Wandels des griechisch-deutschen Verhältnisses von den Erfahrungen der Besatzungszeit bis hin zu den bilateralen Beziehungen der Nachkriegsjahre, und dies stets unter dem Vorzeichen der gespaltenen Haltung der griechischen Intelligenz bezüglich der politischen Gewichtung seines Schaffens.