Der Alte Südliche Friedhof, ein Ehrenplatz für verdiente Philhellenen: die Grabmäler der Mitglieder des Regentschaftsrats
Der deutsche Philhellenismus, der in Bayern im Umkreis Ludwigs I. von schwärmerischen Leitbildern bis hin zu der nationalistischen Ideologie der „Großen Idee“ (Megali Idea) reichte (Mitsou, 2005, § 10), erfuhr mit der Berufung des zweitgeborenen bayerischen Prinzen Otto (1815–1867) zum König des befreiten Griechenlands bekanntlich eine realpolitische Dimension.1Zum ludovizianischen Staatphilhellenismus vgl. grundlegend Spaenle (1990). Das Bemühen um eine „Regeneration“ des verarmten und rückständigen Landes wurde von den bayerischen Vertretern des Philhellenismus, allen voran von Ludwig I., dem Altphilologen Thiersch und dem Rechtsgelehrten Georg Ludwig von Maurer als eine deutsch-patriotische Angelegenheit gesehen (Espagne, 2005, § 13). Das politische Engagement führte zu einem engen und wechselseitigen Austausch zwischen Bayern und Griechenland, gerade auch in ästhetischen und stadtplanerischen Konzepten, die noch heute das Erscheinungsbild Münchens als sogenanntem Isar-Athen und Athens als neuer Hauptstadt prägen.2Vgl. hierzu umfassend Baumstark (1999). Während München unter Ludwig I. mit Bauten versehen wurde, die als Resultat seines angestrebten Kunstkönigtums vor allem an die glanzvolle Epoche der griechischen Antike anknüpften und die Stadt damit in diese „Traditionslinie“ stellen sollten, erhielt Athen mittels eines „Kultur-Reimports“ unter maßgeblicher Beteiligung derselben bayerischen Protagonisten, nämlich des Königs sowie vor allem seiner Architekten Friedrich von Gärtner und Leo von Klenze, eine auf antiken Vorbildern beruhende klassizistische Gestalt. Letzteres geschah sicher mit dem Bestreben, auf diese Weise an die ruhmreiche Vergangenheit des alten Athens wieder anzuknüpfen.
Auch auf dem Alten Südlichen Friedhof in München gibt es heute noch erhaltene Zeugnisse dieses engen Austauschs der beiden Länder. Die Bedeutung des neuen zentralen Bestattungsorts der bayerischen Hauptstadt wurde von Ludwig I. früh als über die private Memoria hinausgehend erkannt.3Zu Folgendem vgl. ausführlich Denk/Ziesemer (2014). Hier ließ der König zahlreiche Ehrengrabmäler setzen und prägte in diesem Sinne auch die Erweiterung des Friedhofs zu einem würdigen Campo Santo mit Arkaden maßgeblich nach seinen Vorstellungen (Abb. 1). Mit dem Friedhof gewann die Residenzstadt einen neuen öffentlichen Gedenkort, der sich ebenbürtig (und doch heute wenig bekannt) in die großen königlichen Gedächtnisprojekte wie die unweit gelegene bayerische Ruhmeshalle (Abb. 2) und die bei Regensburg errichtete Walhalla einreihte. Kaum überraschend, nutzten auch die maßgeblichen Philhellenen aus dem Umfeld Ludwigs I. und Ottos I. diesen neuen „Ehrenplatz“, wie er von den Zeitgenossen bezeichnet wurde, für ihre aufwendigen Grabstätten. Jene von König Ludwig veranlassten Ehrengrabmäler für die beiden in München verstorbenen Griechen, die, heute ihrer Farbe beraubt, eher unscheinbar wirken, sind auf dem Alten Südlichen Friedhof in eine Reihe anspruchsvoller Grabmäler bedeutender Philhellenen eingebettet. In politischer Hinsicht sind an erster Stelle die Repräsentanten des Regentschaftsrats anzuführen. Bekanntlich waltete bis zur Thronbesteigung Ottos im Jahr 1835 der vom bayerischen König entsandte Regentschaftsrat über die Staatsgeschäfte, namentlich der zeitweilige Präsident des Regentschaftsrats und griechische Staatskanzler Joseph Ludwig von Armansperg (1787–1853), der Staats- und Reichsrat und Professor des französischen Rechts Georg Ludwig von Maurer (1790–1872) und der Generalmajor und Künstler Carl Wilhelm Freiherr von Heideck (1788–1861). Während Graf von Armansperg nach seinem Tod im Jahr 1853 ein – heute verlorenes – Monument in einem Stilmix aus Gotik und Renaissance erhielt (Denk/Ziesemer, 2014, 120), sind die Grabstätten der beiden anderen Regentschaftsratsmitglieder Maurer und Heideck dezidiert von einem formalen und ikonografischen Bezug auf die griechische Antike geprägt. Dies dürfte keinesfalls ein Zufall gewesen sein, sondern eine bewusste Stilentscheidung, die es genauer zu analysieren gilt.
Kurz bevor Georg Ludwig von Maurer, einer der wichtigsten Vertreter der „Großen Idee“ (Mitsou, 2005, § 10), 1832 Mitglied des Regentschaftsrats wurde,4ADB 20, 699ff. (Georg Ludwig von Maurer). ließ er bereits 1831, im selben Jahr, als er den Philologen und großen Griechenlandunterstützer Thiersch kennenlernte, für seine verstorbene Gattin Friederike Wilhelmine ein anspruchsvolles Grabmal mit einem Thanatos-Relief an der linken Mauerseite errichten. Wie eine erhaltene Entwurfszeichnung belegt (Abb. 3), handelt es sich bei diesem höchstwahrscheinlich um ein Werk Ludwig von Schwanthalers5Münchner Stadtmuseum, Graphikslg., Inv. Nr. S 1951, L. v. Schwanthaler, lavierte Feder und Bleistift, 36,5 x 26,1 cm (die fiktive Inschrift verweist möglicherweise auf eine ursprünglich geplante Verwendung für das Grabmal der Familie Kerstorf). sowie um ein frühes Beispiel für die Verwendung der antiken Todesikonografie auf dem Friedhof. Am griechischen Stil orientierte sich schließlich auch die nach Maurers Tod erfolgte und für seine eigene Memoria gedachte Umgestaltung des Grabmals (Abb. 4). Denn bei dieser nach 1872 erfolgten Maßnahme wurde das kostbare „griechische“ Thanatos-Relief belassen und zusätzlich Maurers Hermenbüste, also eine originär griechische Büstenform, dort aufgestellt. Die Büste zeigt Maurer nicht als alten Mann, sondern im mittleren Alter, als er als juristischer Berater im Regentschaftsrat an der Neugründung Griechenlands beteiligt war. Sicherlich können wir davon ausgehen, dass sich die schließlich dann auch politische Verbundenheit Maurers mit Griechenland auch in der Gestaltung des eigenen Familiengrabmals niederschlagen sollte. Auch wenn es sich nicht um die Kopie eines antiken Grabmals handelt, so dürften dessen Hauptkomponenten Thanatos-Relief und (nachträgliche) Hermenbüste als „philhellenisches“ Bekenntnis von den Zeitgenossen verstanden worden sein. Eine Bestätigung erhält eine solche intendierte „philhellenische“ Lesart durch das etwas spätere und bei Weitem noch „griechischer“ gestaltete Grabmal der Familie Carl Wilhelm Freiherr von Heidecks (Abb. 5).
Bei diesem erweist sich der Rückgriff als programmatisch, denn über die architektonische Form, die Ornamentik und Ikonografie hinaus lehnte es sich zudem mit seiner ursprünglichen, heute verlorenen Farbigkeit engstens an antike Vorbilder an. Der hohe Militär und Maler Heideck, genannt Heidegger, der als langjähriger Vertrauter Ludwigs I. stark von dessen Philhellenismus geprägt war, nahm bereits am griechischen Unabhängigkeitskampf teil und erwarb sich dabei bekanntlich große Verdienste. 1828 wurde er Kommandant von Nauplia und bald darauf Militärgouverneur von Argos und kehrte schließlich als gefeierter Held in seine Heimat zurück (Seewald, 2009, 34–35, 46–47). Mit der Ernennung des minderjährigen Prinzen Otto zum griechischen König wurde Heideck 1832 abermals nach Griechenland entsandt, um zusammen mit Armansperg und Maurer als Berater Ottos im besagten Regentschaftsrat bis 1835 zu dienen.6Zur Bildung des Regentschaftsrats vgl. Seewald (2009, 96–101). Vor dem Hintergrund seines Einsatzes für ein neues Hellas, für den Heideck sogar die griechische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, gilt es, das kurz darauf entstandene Grabmal auf dem Alten Südlichen Friedhof zu analysieren, dessen Beauftragung er schon bald nach seiner Rückkehr in Angriff nahm. Der frühe Tod seiner Gattin Caroline führte dazu, dass Heideck in ihrem Sterbejahr 1838 in privilegierter Lage im heute zerstörten Bogengang, den sogenannten Alten Arkaden, eine Familiengrabstätte erwarb. Er ließ ein monumentales Wandgrabmal errichten, das sein Selbstverständnis als engagierter Philhellene, aber auch als Künstler zum Ausdruck brachte.
Noch deutlich konsequenter, als dies bei der Familiengrabstätte Maurer der Fall war, setzte Heideck auf eine unmittelbare Rezeption antiker Grabstelen, obgleich monumental vergrößert. So griff er auf die Grundform antiker Palmettenstelen zurück.7Vgl. zu den antiken Palmettenstelen Hildebrandt (2006, bes. Kat.-Nr. 9.1). Die Ornamente wie der Eier- oder Perlstab sowie die Ikonografie rezipierten ebenfalls antike Vorlagen: So begegnen der Schmetterling als Bild der unsterblichen Seele und die Vorstellung des Todes als Bruder des Schlafes in der Mohnkapsel des Palmettenaufsatzes. Auf Thanatos wird durch die umgedrehte Fackel an den seitlichen Pfosten des bankähnlichen Sockels verwiesen. Für den Entwurf der aufwendigen Grabstele hatte sich Heideck ganz bewusst für Eduard Metzger entschieden, einen Architekten, dessen Name heute zwar kaum mehr bekannt ist, der jedoch mit der antiken (Bau-)Kunst Griechenlands auf das Engste vertraut war und aktiv an der entbrannten Polychromiedebatte teilnahm.8Die Urheberschaft von Metzger belegen seine in den Palmettenaufsatz geritzte Signatur sowie Marggraff (1846, 265); zur „farbigen“ Antike siehe grundlegend Brinkmann/Wünsche (2003). Metzger, ein Schüler Klenzes und Gärtners, unternahm 1831/32 mit Thiersch eine ihn stark prägende Forschungsreise nach Griechenland, um als Reisezeichner die Ornamente und Bauformen, aber auch die antike Farbigkeit vor Ort zu studieren.9Zu seiner Griechenlandreise siehe Metzger (1833, 92–95) sowie Sternke (2008, 23). Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er 1833 einen Artikel im Kunst-Blatt „Über Altgriechische Baukunst“ und schlug sich im Polychromiestreit auf die Seite Klenzes. Beide vertraten die Auffassung, dass die antike Baukunst nur partiell farbig gefasst war und nicht, wie dies beispielsweise Gottfried Semper vermutete, vollständig (Denk/Ziesemer, 2014, 161–162). Metzger verbreitete den Entwurf des Grabmals bereits 1841 in seiner Publikation Ornamente aus deutschen Gewächsen zum Gebrauch für Plastik und Malerei, einmal in einer Schwarz-Weiß-Lithographie mit Vorderansicht und Aufriss der Schmalseite, des Weiteren in einer Farblithographie (Abb. 6).
Daraus geht hervor, dass er entsprechend seinem Standpunkt im Polychromiestreit und in Absprache mit dem Auftraggeber Heideck bei diesem Familiengrabmal auf eine Teilkolorierung setzte. Auch die beigefügte Beschreibung geht darauf ein: „Der Stein findet seinen Platz unter einem bedeckten Bogengang, soll aus weißem Marmor ausgeführt und nach dem Wunsche des Herrn Generals, welcher bekanntlich selbst Künstler ist, theilweise bemalt werden.“10Metzger (1841, Heft II, Bl. 12 und Beiblatt zu 12). Diese Bemalung wurde tatsächlich realisiert, denn auch wenn heute mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen, sind an der Heideck-Stele noch immer Pigmentreste nachweisbar, wie dies Pigmentuntersuchungen im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts am Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierung der Technischen Universität München in Zusammenarbeit mit dem Rathgen-Forschungslabor der Staatlichen Museen zu Berlin bezeugen.11Zu den restauratorischen und naturwissenschaftlichen Pigmentanalysen vgl. ausführlich Denk/Simon/Ziesemer (2012, 199) und Denk/Ziesemer (2014, 160–163, Abb. 12). Letztlich kann auch die Fokussierung auf die dekorativen Elemente des Grabsteins, insbesondere im Bereich der bekrönenden Palmette, programmatisch verstanden werden, denn Metzger bemühte sich ausdrücklich um die Hebung der ornamentalen Kunst nach dem, wie er schreibt, unerreichten Vorbild der Griechen.12Ebd., Vorwort [o. S.]. Heidecks Familiengrabmal, das von einer deutlichen Referenz auf griechische Vorbilder zeugt und zugleich eine Höchstleistung bildhauerischer Arbeit dieser Zeit darstellt, bildete vor dem Verlust der Farbigkeit mit den im Folgenden vorzustellenden Ehrengrabmälern für die beiden in München verstorbenen Griechen ein „Ensemble“. Als solches wurde es auch wahrgenommen. Der damalige Generalsekretär der Akademie der Künste in München schreibt in seiner Abhandlung über die Münchner Kunstschätze zur Mitte des Jahrhunderts:
Mehrere Denkmäler gehören der neueren Zeit an, und unter diesen nehmen unsere Aufmerksamkeit vorzüglich drei in griechischer Cippusform gebildete Grabsteine in Anspruch. Es sind dies die polychromisch bemalten Denkmäler zweier Griechen und der Familie von Heideck, letzteres von ausgezeichneter Schönheit in der Profilirung der Glieder und in der Zeichnung der oberen Palmettenzierde (von dem Architekten Ed. Metzger herrührend) (Marggraff, 1846, 265).
Bunte Grabmäler für neugriechische Helden
Nochmals gesteigert erscheint die Sichtbarkeit des „bayerischen Staatsphilhellenismus“ (Spaenle, 1990) an den von Ludwig I. gestifteten Grabmälern für die eingangs erwähnten jungen Griechen. Ilias Mavromichalis und Leonidas Odysseus, die bzw. deren Familie sich im Freiheitskampf hervorgetan hatten, starben 1836 fern ihrer Heimat nicht durch kriegerische Einwirkung, sondern im Kampf gegen einen anders gearteten Feind, die Cholera.
Wie wir dem Nekrolog in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 11. November 1836 sowie einer Außerordentlichen Beilage derselben Zeitung zu „Kunstdenkmälern in München“ vom 14. November 1837 entnehmen,13Augsburger Allgemeine Zeitung vom 11.11.1836 (Außerordentliche Beilage 535–536); Augsburger Allgemeine Zeitung vom 14.11.1837 (Außerordentliche Beilage 563–564). entstammte Mavromichalis einem alten, in Griechenland hochangesehenen Geschlecht, das sich seit Generationen im Kampf gegen die osmanische Besatzung hervorgetan hatte.14Siehe auch Allgemeine Zeitung von und für Bayern, Nr. 319, 14.11.1836. Weitere biografische Details bei Hafner, 2019, 77. Aufgrund seiner Unterstützung des neuen, aus Bayern stammenden Monarchen war er schließlich zum Adjutanten Seiner Majestät ernannt worden und begleitete den König auf dessen Deutschlandreise, die auch nach München führte. Dort verstarb er am 8. November 1836 an der „Asiatischen Brechruhr“ und wurde – der Stadtchronik zufolge – feierlich mit „drei Grabsalven (…), dem dießseitigen Hoffourier, bayer. und griech. Hoflakaien, mit Flambeaux, dann einer äußerst zahlreichen und glänzenden Ehrenbegleitung zu Grabe getragen.“15Stadtarchiv München, Stadtchronik, 8.11.1836. Nicht nur in München, auch in seiner griechischen Heimat, der Halbinsel Mani, wurde er posthum in hohem Maße verehrt und fand dort sogar Eingang in die populäre Liedkultur (Hafner, 2019, 77, Anm. 9). In Entsprechung zu seinem Rang als Offizier des griechischen Königs sowie zu der vor allem durch den bayerischen König zuerkannten symbolischen Bedeutung als Repräsentant des neuen Griechenland erhielt Mavromichalis ein Grabmal, das sich von den umgebenden deutlich absetzte (Abb. 7): Klenze entwarf eine vergleichsweise hohe antikisierende Stele mit Relief eines ruhenden bzw. sterbenden Löwen als Sinnbild der soldatischen Tapferkeit. Damit folgte er einem populären Darstellungstypus der Zeit: Der Löwe fand sich seit der Antike und erneut im Klassizismus verschiedentlich auf Soldatengrabmälern und -gedenkstätten.16Der Typus des ruhenden Löwen zum Gedenken an gefallene Soldaten findet sich in jenen Jahren verschiedentlich, so etwa beim Grabmal des Generals Scharnhorst auf dem Invalidenfriedhof in Berlin sowie beim Denkmal für die 1792 in Paris gefallenen Schweizer Gardisten in Luzern nach einem Entwurf von Bertel Thorvaldsen (1819–1821). So wurde beispielsweise etwa zeitgleich mit dem Münchner Grab ebenfalls auf Veranlassung des bayerischen Königs in Nauplia ein monumentales Löwenrelief in eine Felswand für die in Griechenland verstorbenen bayerischen Soldaten ausgeführt (Denk/Ziesemer, 2014, 159).17Ausgeführt von Christian Heinrich Siegel (1838–1841).
Das Mavromichalis-Grabmal zeichnete sich gegenüber den umgebenden Stelen auch durch seine zweifache Ansichtigkeit aus. Es wurde nicht wie üblich eine Schauseite, sondern es wurden zwei identische geschaffen. Dies erhöhte nicht nur die optische Wirkung und herausgehobene Stellung im Gefüge des Friedhofs, sondern ermöglichte auch eine Variation in der Inschrift: Auf der Seite zum Hauptweg findet sich ein Epigramm in altgriechischer Sprache, auf der Rückseite dessen deutsche Übersetzung:
Wie jüngst überzeugend von Markus Hafner dargelegt werden konnte, dürfte diese von Ludwig I. veranlasste Inschrift – in Analogie zu der des Leonidas – von dem bereits genannten Altphilologen Friedrich Wilhelm von Thiersch stammen, der sich von antiken Vorlagen, etwa der Sepulkraltopik der Anthologia Graeca sowie der homerischen Epik, anregen ließ. Für Hafner ist dies ein Beleg für die „aktive Rezeption griechischer Dialekte im Rahmen des Philhellenismus“ (Hafner, 2019, 73). Diese Sonderstellung innerhalb des Münchner Friedhofs wurde noch durch die polychrome Fassung der Steinoberflächen auf beiden Seiten des Grabmals untermauert. Wie der zugehörige Entwurf (Abb. 8) beweist, orientierte sich Klenze dabei an den Farben der Antike, ohne – wie schon bei der Form des Grabmals – eine Kopie antiker Vorlagen anzustreben. Das dominante Himmelblau des Fonds, das auch im Aufsatzkreuz zu finden war, und das Weiß des Natursteins können dabei möglicherweise als Anspielung auf die Farben und die Gestalt der Flagge des griechischen Unabhängigkeitskampfes (blaues Kreuz auf weißem Grund) gesehen werden.
Das zweite Griechengrabmal, das zeitgleich mit dem Grabmal Mavromichalis von Klenze entworfen und 1837 fertiggestellt wurde,18Ebenfalls erwähnt in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 14.11.1837 (Außerordentliche Beilage, Nr. 563–564). weicht in seiner Erscheinungsform vom ersteren ab und ist deutlich kleiner. Dennoch stimmt es in wesentlichen Aspekten mit diesem überein. Dies betrifft vor allem die Beidansichtigkeit, die Verwendung einer griechischen und deutschen Inschrift sowie die ursprüngliche farbige Fassung (Abb. 9 und 10). Der Knabe Leonidas Odysseus starb genau einen Monat nach Ilias Mavromichalis und wurde nur elf Jahre alt. Da seine Familie aus Mittelgriechenland aktiven Widerstand gegen die türkische Besatzung geleistet hatte, wurde Leonidas nach dem frühen Tod seines Vaters ins Kadettenkorps in München aufgenommen. Er gehörte damit zu einer Gruppe von 36 Zöglingen aus Griechenland, die zwischen 1829 und 1843 Zugang zu dieser Einrichtung fanden und deren Unterhalt von Ludwig I. aus seiner Kabinettskasse und vom Griechenverein bestritten wurde.19Vgl. Braun/Gross/Heyl,1987, 45f. Auf Veranlassung des griechischen Konsulats wurde eine Grabstelle in unmittelbarer Nähe zu der des anderen Griechen gewählt. Klenze wurde zweifellos bei seinem Entwurf zu diesem Grabmal – einer blockhaften Stele mit flachem Dreiecksgiebel – von einem kurz zuvor in Piräus ausgegrabenen antiken Grabstein, der sogenannten Stele der Kalisto,20Athen, Epigraphisches Museum, Inv. Nr. 9134. angeregt. Der Bericht zu dieser Ausgrabung mit kolorierter Tafel erschien zwar erst 1838 im Kunst-Blatt (Abb. 11),21Ross, 1838, 233–234 und kolorierte Tafel. es kann aber davon ausgegangen werden, dass Klenze schon vor der Veröffentlichung über die Grabungsfunde genauestens informiert war. Die dort entdeckten Stelen waren auch deshalb von großem Interesse, weil sie noch „deutliche Spuren der Bemalung“ aufwiesen.22Ebd., 233; vgl. auch Marggraff, 1846, 265. Eindeutiger noch als im Fall Mavromichalis ist nachweisbar, dass Thiersch auf Veranlassung von König Ludwig das Epigramm des Grabmals schuf. Das belegt eine Anweisung des Königs in einem Brief an Klenze von Ende 1836. Er verlangte:
einen Entwurf zum Grabstein des in diesen Tagen hier an Auszehrung gestorb. Sohnes Odysseus mir zu zeichnen, daß dessen Vater von dem Thurme der Akropolis (Athens) gestürzt, dessen seiner von den Türken (Aly Bascha) lebendig gebraten wurde, soll darauf stehen, Teutsch und Griechisch, Tirsch [soll] die Inschr[if]t verfassen.23Glaser (2004), Vorwort zum Jahr 1836, S. 643; vgl. dazu auch Söltl, 1842, 270.
Thiersch schrieb daraufhin die folgende, an antiken Vorlagen orientierte Inschrift:
Hafner verweist bei diesem Grabmal auf den von Thiersch verwendeten antiken Topos der immatura mors (des vorzeitigen Todes), sodass anders als bei Mavromichalis keine hymnische Lobpreisung über die Heldentaten des Verstorbenen vorgenommen werden kann. Stattdessen steht im Epigramm des Leonidas seine familiäre Genealogie sowie das Leid der Familie über seinen frühen Tod im Fokus (Hafner, 2019, 86–88). Für die Philhellenen Ludwig I., Klenze und Thiersch dürfte es somit von hoher Symbolkraft gewesen sein, einem griechischen Knaben fernab seiner Heimat ein Grabmal zu errichten, das sowohl in der Gestalt als auch in der Sprache ganz unmittelbar auf die ruhmreiche Vergangenheit seines Landes und dessen Kultur Bezug nimmt. 1866 wurde Ludwig vom städtischen Magistrat darauf hingewiesen, dass für den Erhalt der Grabstellen und ihrer Denkmäler nicht gesorgt war und die Belegungsfristen abliefen. Wie wichtig ihm diese Griechengrabmäler waren, bezeugt die Tatsache, dass der greise König sich daraufhin entschied, diese aufgrund ihrer historischen Bedeutung persönlich und „für ewige Zeiten“ zu erwerben und für die Instandhaltung eine Stiftung einzurichten.24Stadtarchiv München, Bestattungsamt 1673, diverse Schreiben von 1866. Trotz dieser vorsorglichen Maßnahme für den Erhalt ging jedoch wie beim Heideck-Grabmal auch bei den „Griechengrabmälern“ der Farbauftrag schon bald verloren. Nachweisbar sind allerdings heute noch Pigmentreste.25Siehe dazu Denk/Simon/Ziesemer (2012, 199–200) und Denk/Ziesemer (2014, 162–163) und Abb. 11.
Ein „philhellenischer“ Nachklang in der Münchner Grabkunst: die Grabmäler von Thiersch und Klenze
Zur Gruppe „philhellenischer“ Grabmäler auf dem Friedhof fügen sich – gewissermaßen bereits als historisierende Nachklänge – schließlich jene der beiden genannten Vertreter aus Kunst und Wissenschaft, die im Auftrag Ludwigs I. die Griechengrabmäler mit ihren vielschichtigen Anspielungen auf die griechische Kunst und Heldentopik geschaffen haben. Der Philologe Thiersch und der Architekt Klenze fanden ihre letzte Ruhestätte an herausgehobenen Standorten auf dem Münchner Hauptfriedhof. Obwohl die Stilrichtung des Klassizismus zum Zeitpunkt der Errichtung ihrer Grabmäler um 1860 bzw. 1864 längst vorüber war und andere Stile wie die Neugotik und die Neorenaissance die Führung in der Münchner Grabmalkunst übernommen hatten, fällt unmittelbar auf, dass beide Stelen noch gänzlich im „griechischen“ Stil gestaltet sind.
Thiersch als „véritable incarnation du philhellénisme bavarois“ (Espagne, 2005, § 4) und Autor der Epigramme der beiden Griechengrabmäler blieb der philhellenischen Idee sein Leben lang treu, nicht zuletzt mit seinem Einfluss auf die altsprachliche Bildung in Bayern. Dementsprechend zahlreich sind die Anspielungen auf Würde- und Ornamentformen der Antike bei seinem Grabmal trotz der späten Errichtung um 1860 (Abb. 12): Dies zeigt sich etwa – ähnlich wie bei Maurer – in der Hermenbüste26Im Deutschen Kunstblatt von 1858 wird im Zusammenhang mit der Besprechung neuerer plastischer Werke auf den „Neugriechen Leonidas Dorsch [Drossis]“ verwiesen, „der auch die Büste des ehrwürdigen Jubilars Friedrich von Thiersch mit glücklichem Erfolg modellirt hat“ (Deutsches Kunstblatt, 9, 1858, S. 226). Eine Verwendung der Büste wenige Jahre später für das Grabmal erscheint durchaus plausibel (dazu Denk/Ziesemer, 2014, 495). Siehe auch https://www.bavarikon.de/search?lang=de&terms=Dorsch%2C+Leonidas&sort=&rows=10. oder aber im Aufsatzbereich mit antiker Ornamentik. In Ergänzung zum architektonischen Vokabular sind auch die emblematischen Elemente der griechischen Antike entnommen: Neben dem Relief einer Eule als Symbol der Weisheit im Giebelaufsatz und als Verweis auf den Gelehrten Thiersch finden sich im unteren Bereich der Stele – ähnlich wie beim Grabmal Heidecks – das flache Relief eines Schmetterlings als Zeichen der auferstandenen menschlichen Seele sowie auf dem Sockel zwei gekreuzte, gesenkte Fackeln für das erloschene Leben. Klenzes Rolle im bayerischen Philhellenismus ist jener Thierschs durchaus vergleichbar. Im Austausch zwischen Bayern und Griechenland nahm er eine ähnlich bedeutende und kenntnisreiche „Mittlerfunktion“ im Kulturtransfer zwischen den beiden Ländern ein. Auch er verbrachte längere Zeit in Griechenland, teils in politischer Mission, verfolgte dort mit wissenschaftlichem Interesse archäologische Ausgrabungen und war entscheidend an der Sicherung und Instandsetzung der Akropolis beteiligt. Sein architektonisches und archäologisches Wissen setzte er maßgeblich in der Stadtplanung für München und Athen um.27Dazu etwa Buttlar u.a. (1985); Nerdinger (2000); Buttlar (2016, 230–233).
Während Klenzes Hauptrivale Friedrich von Gärtner 1848 noch ein Ehrengrabmal in den Neuen Arkaden des Friedhofs durch Ludwig I. erhalten hatte (Denk/Ziesemer, 2014, 468), musste Klenzes Familie 1864 selbst für den Erwerb einer teuren Arkadengruft und die Beauftragung eines aufwendigen Grabmals aufkommen (Denk/Ziesemer, 2014, 463–465).28Entwurf und Ausführung von Anselm Sickinger, Büste von Johann Halbig. Ähnlich wie beim Grabmal Heideck wurde dafür der Typus der griechischen Palmettenstele gewählt und mit der Ehrenform einer Hermenbüste auf einer hohen kannelierten Säule kombiniert (Abb. 13) – also erneut Rückgriffe auf antike Grabmalkomponenten, hier allerdings in eher unhistorischer Zusammenstellung und zudem in der Monumentalität nochmals gesteigert. Vor dem Hintergrund seiner Entwürfe für Mavromichalis und Leonidas und seiner Begeisterung für die antike Polychromie wäre es nur folgerichtig gewesen, wenn sein eigenes, vom Bildhauer Anselm Sickinger entworfenes und gefertigtes Grabmal ebenfalls farbig gefasst worden wäre. Aber so wie schon das Grabmal für Thiersch beließ man auch Klenzes Grabmal monochrom. Bereits wenige Jahre nach Aufstellung der griechischen Grabmäler in den 1830er Jahren hatte man nämlich erkennen müssen, dass die zur Verfügung stehenden Malverfahren dem widrigen nördlichen Klima nicht standhielten und die Farbfassungen rasch Schaden erlitten.29Vgl. Glaser (2007), 16; Denk/Simon/Ziesemer (2012, 198–200); Denk/Ziesemer (2014, 165–166). Interessanterweise wurde die Idee eines farbigen Grabmals für Klenze in einem – nicht ausgeführten – Entwurf des Architekten Ludwig Lange offensichtlich durchaus erwogen, noch dazu in Verbindung mit einem Formenvokabular, das den antiken Vorbildern deutlich näherkam (Abb. 14). Allerdings hätte man die Farbakzente mittels unterschiedlicher Materialien erreichen wollen und damit auf eine möglichst dauerhafte Memoria abgezielt (Denk/Ziesemer, 2014, 165–166). Der Verzicht auf die Farbe wurde beim tatsächlich ausgeführten Klenze-Grabmal durch monumentale Proportionen und eine besonders reiche Ornamentierung kompensiert.