Der versteinerte Kaiser. Kulturtransfers zwischen deutscher und griechischer Nationalromantik

  • Veröffentlicht 11.01.23

Die mittelalterliche Sage des schlafenden Endkaisers war sowohl im östlichen wie im westlichen christlichen Mittelalter eine gelehrte und gleichzeitig eine volkstümliche Tradition, und auch die modernen Entwicklungen und Umformungen der Sage in der Nationalromantik des 19. Jahrhunderts verliefen parallel. Daher stellt sich die Frage nach den Analogien und Unterschieden des Motivs im deutschen und im griechischen Fall. Wie können sie interpretiert werden? Welche Hinweise auf Verflechtungen und kulturelle Transfers lassen sich aufspüren? Handelt es sich einfach um Erfindungen des 19. Jahrhunderts oder ist die Beziehung zwischen vormodernen Traditionen und modernen Anwendungen komplexer?

Inhalt

    Einführung

    Die mittelalterliche Sage des schlafenden Endkaisers, des messianischen Erlösers, der aus der Unsichtbarkeit aufsteigen und das Römische Reich vor dem Weltuntergang wiederherstellen wird, ist ein beispielhafter Fall vormoderner kultureller Transfers. Der Ursprungstext der Sage, die Apokalypse des Pseudo-Methodius, wurde in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, in der Zeit der arabischen/islamischen Eroberungen, auf syrisch geschrieben. Durch seine griechischen und lateinischen Übersetzungen wurde er zur gemeinsamen, gelehrten wie volkstümlichen Überlieferung sowohl im östlichen wie im westlichen christlichen Mittelalter, verbunden mit konkreten historischen Monarchen, aber auch mit erfundenen namhaften oder anonymen Erlösern und Rächern (Alexander, 1971). Etwas Entsprechendes kann auch für die modernen Entwicklungen der Sage im 19. Jahrhundert behauptet werden. Die Säkularisierung und Instrumentalisierung politisch-theologischer Motive wurde zu einem besonderen Charakteristikum jener Varianten des Nationalismus, die als Nationalromantik bezeichnet wurden, und die Sage des Endkaisers bildet einen bezeichnenden Fall solch moderner Umformungen und Applikationen. In diesem Essay versuchen wir zunächst, die Parallelen und Analogien dieser Applikationen im Rahmen der deutschen und der griechischen Nationalromantik aufzuzeigen und anschließend Hinweise auf Verflechtungen und kulturelle Transfers aufzuspüren, die – das ist die Arbeitshypothese – zur Deutung dieser Analogien beitragen.

    Vivit et non vivit

    Im deutschen Fall hat diese Sage im 19. Jahrhundert eine eindrucksvolle Laufbahn zurückgelegt, eine im Kontext des deutschen Nationalismus wiederholt mit neuer Bedeutung aufgeladene Laufbahn (Münkler, 2009, 37-68; Görich, 2011, 2017; Kaul, 2008). Die ursprüngliche Version des Mythos verstand Kaiser Friedrich II., das Weltwunder [stupor mundi], der bereits zu Lebzeiten im 13. Jahrhundert eschatologische Ängste und Erwartungen inspiriert hatte, nur als scheinbar tot [vivit et non vivit] und bereit, nach Ablauf der Zeit zurückzukehren (Shaw, 2001; Görich, 2017, 108-109). Zu Beginn der Reformation und des Buchdrucks hatte sich die Identität des verborgenen Kaisers bereits vom Enkel auf den Großvater Friedrich I. Barbarossa verschoben, dessen Grab und Gebeine unbekannt blieben. Im Volksbüchlein von 1519 hatte sich Barbarossa in eine Höhle in irgendeinem Berg zurückgezogen, um zur gegebenen Zeit zurückzukehren und um endgültig den Papst zu unterwerfen und soziale Gerechtigkeit und ewigen Frieden zu bringen: sein Name – Friedrich – enthielt in gewisser Weise sein Programm: Frieden (Görich, 2011, 201; Kellermann, 2013, 185). Für Luther selbst war sein Beschützer, der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, die Verkörperung und Erfüllung der Sage, wenn auch nur allegorisch. Obwohl im 17. und 18. Jahrhundert die Sage in gedruckten Sammlungen vor allem lokaler Natur nicht fehlt, wird die Wende, was ihren neueren Gebrauch angeht, in die Jahre der Napoleonischen Kriege und der Ausformung der Forderung nach deutscher nationaler Einigung lokalisiert. Dieser Gebrauch bezeichnet die Säkularisierung der Sage mit der stillschweigenden Aufhebung der ursprünglichen eschatologischen Konnotationen.

    Meilensteine, Höhepunkt und Fall

    Ein Meilenstein in diesem Prozess sind die Jahre 1816-1817. In der wegweisenden Sammlung Deutsche Sagen der Brüder Grimm (1816) erscheint Barbarossa germanisiert als Friedrich Rotbart im Kyffhäuser (Borst, 1979, 31; Weinfurter, 2004, 240). Die zeitgenössische (1817) Ballade Barbarossa von Friedrich Rückert bringt die klassische Form der Sage auf den Punkt. Durch zahlreiche Vertonungen und insbesondere durch ihre ein Jahrhundert lange Präsenz in den Schulbüchern als Gedicht zum Auswendiglernen wird sie zum Vehikel ihrer Weitergabe. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zu den Revolutionen von 1848 fungierte Barbarossa als Symbol der Hoffnung, aber auch der Enttäuschung über die unerfüllte Einigung, als Symbol für die Kritik an der Kleinstaaterei der zahlreichen Könige und Fürsten und als Symbol einer verbreiteten Forderung des Volkes, unabhängig von republikanischer oder royalistischer Gesinnung. (Görich 2017, 113).

    Der zweite Meilenstein, 1871, ist mit dem Aufstieg Preußens zur Führungsmacht der deutschen Welt verbunden (Weinfurter, 2004, 243). Obwohl der erste Kaiser, Wilhelm I. und auch sein Kanzler Bismarck zurückhaltend waren, was die Übernahme des Symbols angeht (Borst, 1979, 38), war die Berufung auf die Sage und ihr Gebrauch in der Presse, in Gedichten und Theaterstücken weit verbreitet. Unter dem Spitznamen Barbablanca (Weißbart) erschien Wilhelm I. als Verkörperung und Erfüllung der Sage, als Barbarossas Antitypus, der aufgerufen war, das neugegründete Deutsche Reich zu legitimieren und als Verbindungsglied zur nichtpreussischen römisch-katholischen deutschen Welt zu fungieren. Besonderes Interesse in Bezug auf die Frage der Analogien zu Griechenland bietet, wie man sehen wird, die doppelte Rolle von Universitätsprofessoren in der Forschung über die Wege und Ursprünge der Legende (die zu Pseudo-Methodius führte), und bei ihrer Verbreitung durch enthusiastische Vorträge. Bezeichnende Fälle sind die Professoren Felix Dahn, Georg Voigt, Franz Kampers und Johann Nepomuk Sepp, der 1871 Rückerts Gedicht um die Zeile ergänzte: „erfüllt ist jetzt die Sage“ (Görich, 2011, 204).

    Die allmähliche Aneignung und die offizielle staatliche und dynastische Nutzung der Sage erreichten ihren Höhepunkt 1896 mit dem Bau und der Einweihung des Kyffhäuser-Denkmals bei der Burg Kyffhausen und der Festrede des neuen Kaisers, Wilhelm II. (Borst, 1979, 55). Die nächste Station auf seinem ständig konservativer werdenden Weg markiert die Gründung des Kyffhäuserbundes, das heißt des Verbandes der Veteranen der deutschen Einigungskriege 1864–1871, der hauptsächlich als Bastion gegen die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie diente und kurz vor dem Ersten Weltkrieg fast drei Millionen Mitglieder hatte. Nach dem Zusammenbruch des Reiches ist die ästhetisierte, aber von politischen Dimensionen nicht freie Präsenz der Sage in der Mythologie des Kreises um den Dichter Stefan George zu verzeichnen (Spindler, 2011). In der Nazizeit scheint die Sage in der nationalsozialistischen Propaganda keine zentrale Rolle gespielt zu haben. Letzte Station auf dem Weg war 1941 die Bezeichnung Unternehmen Barbarossa für den Feldzug gegen die UdSSR. Die Bezeichnung hat Hitler persönlich ausgewählt, aber hinsichtlich seiner Motive und der beabsichtigten Konnotationen gehen die Meinungen auseinander (Münkler, 2009,67).

    Verflechtungen und gerade Strecken

    Auch in Griechenland hat die Sage von Konstantinos XI. Palaiologos, der versteinert in einer Höhle nahe den Mauern von Konstantinopel auf die Stunde wartet, in der er die Stadt wieder einnehmen und die Türken bis zum Roten Apfelbaum jagen würde, nationale Visionen und Erwartungen verfestigt, die sich einerseits auf die Megali Idea und andererseits auf den griechischen Thronfolger Konstantinos bezogen, der, auch mittels der Sage, mit dem Titel Konstantinos XII. ausgestattet wurde. Bedeutende Stationen auf dem Weg, den der „Versteinerte Kaiser “ in Griechenland zurücklegte, war die Veröffentlichung der gleichnamigen Volkstradition durch Nikolaos Politis 1904, aber auch das von Jeorjios Vizyinos 21 Jahre zuvor, 1883, veröffentlichte Gedicht mit dem Titel „Der letzte Palaiologos“.

    Im Falle von Politis vermag die deutsche Bildung und die Orientierung am Beispiel der deutschen Volkskunde Hypothesen zu stützen, dass deutsche Vorbilder beim Aufzeichnen und bei der Präsentation von „volkstümlichen Traditionen“ sowie beim Aufzeigen ihrer politischen Bedeutung eine Rolle gespielt haben mögen. Der Fall von Jeorjios Vizyinos liefert hingegen deutlichere Hinweise. Jeorjios Michail Syrmas oder Michailidis oder Vizyinos nach dem Namen seiner besonderen Heimat Vizyi (heute Vize im europäischen Teil der Türkei) wurde 1849 geboren. Ein armes sensibles Waisenkind, ausgestattet mit besonderen geistigen und intellektuellen Gaben, gewinnt er die Unterstützung einer Reihe von Gönnern, ohne die er keine enzyklopädische Bildung erlangt hätte und nicht ausgezeichnet worden wäre und schließlich auch nicht zum Studium nach Deutschland gegangen wäre, nachdem er sein Studium  an der Universität Athen unterbrach. Von 1875–1878 studiert er Philologie und Philosophie in Göttingen und veröffentlicht 1881 in Leipzig seine Dissertation. Zwischenzeitlich ausgezeichnet in zwei Lyrikwettbewerben in Athen, veröffentlicht er 1883 in London seine Gedichtsammlung Athenische Brisen. Darin ist das Gedicht „Der letzte Palaiologos“ enthalten (Vizyinos, 2014, 79-83).

    Das Gedicht ist im Wesentlichen eine Erzählung in Form eines Dialogs zwischen einer Großmutter und ihrem Enkel – höchstwahrscheinlich der Dichter selbst. Es ist aufgeteilt in drei Teile. Der erste könnte Erlebnis-Erinnerung genannt werden: der Jugendbesuch der Großmutter in einer Höhle in Konstantinopel unter der Goldenen Pforte, der Porta Aurea der byzantinischen Mauern, in der der letzte byzantinische Kaiser in voller kaiserlicher Montur schläft . Der zweite Teil könnte Mythos-Geschichte genannt werden: Konstantinos Palaiologos weigert sich, die Stadt zu übergeben, kämpft tapfer, bleibt allein zurück, wird verwundet, und kurz vor dem unabwendbaren Ende hebt ihn ein Engel in die Höhe und bringt ihn in eine Höhle, wo er „ihn zum Schlafe legt“. Der dritte Teil ist die Verheißung-Prophezeiung:

    Wenn du mächtig bist, mein Sohn, und Waffen trägst und den
    Eid leistest auf die Freiheit, du und die ganze Jugend
    Rettet das Land –
    Dann wird der Engel erscheinen und engelhafte Kräfte
    Werden eintreten und den Kaiser wecken und ihm sagen
    Dass die Stunde endlich gekommen!

    Und der Kaiser wird aufstehen und sein Schwert ergreifen
    Und als euer General wird er in sein früheres Reich ziehen
    den Türken zu schlagen.
    Und Schlag auf Schlag wird er ihn treiben weit
    hinter den Roten Apfelbaum, und bis hinter die Sonne,
    damit er nie zurückkehre (aaO, 83).1Im Original ist das Gedicht gereimt, und zwar nach dem Schema: a,b,c a,b,c. (A.d.Ü.)

    Hier stößt man auf eine wesentliche griechisch-deutsche Verflechtung, da die Ähnlichkeiten mit Rückerts Gedicht so groß sind, dass ein Zufall eher unwahrscheinlich ist. Es ist bekannt, dass Vizyinos ziemlich viele Gedichte dieser Sammlung während seines Aufenthalts in Deutschland vor 1881 geschrieben hat. Obwohl sich in seinen Schriften kein Hinweis auf Rückerts Gedicht gefunden hat, hat seine Beschäftigung mit der deutschen Romantik in seinem Essay „Auf den Helikon: Balladen“ Ausdruck gefunden, in dem er auch einige der bekannteren deutschen Balladen übersetzt (von Goethe, Heine, Uhland) (Sidera-Lytra, 1996,28).

    Mit der Veröffentlichung von „Der letzte Palaiologos“, aber auch des entsprechenden Gedichts „Baloukli“ hatte Vizyinos seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, volkstümliche Traditionen zu bearbeiten. Deshalb beauftragte ihn das griechische Außenministerium 1885, nach den volkstümlichen Vorbildern Lieder und Erzählungen zu verfassen, die „den seit Anbeginn griechischen Charakter der Provinzen“ Epirus, Makedonien und Thrakien2Diese drei Provinzen gehörten damals nicht zum griechischen Staatsgebiet. (A.d.Ü.) darstellen, um beim „einfachen Volk“ ein nationales Bewusstsein auszubilden (Andreadis, 1975, 104-105; Varelas, 2010, 199-200). Wie Vizyinos selbst gesteht „haben sich leider beim gemeinen Volk auch dieser Provinzen nicht viele historische Erinnerungen an die griechische Größe erhalten und es bleiben auch keine bedeutenden Traditionen hinsichtlich der byzantinischen Triumphe gegen die Slawen übrig“. Es sollte dabei nicht vergessen werden, dass man sich auf dem Höhepunkt nicht nur des griechischen, sondern auch des bulgarischen Nationalismus befand. Daher schreibt Vizyinos in seinem Bericht an Außenminister Alexandros A. Kontostavlos, dass dort, wo sich das geschichtliche Bewusstsein stark abgeschwächt habe oder völlig verschwunden sei, nicht Dichter, sondern Lehrer vonnöten seien. Dichtung wärme die Herzen und hebe die Gesinnung der Menschen nur dort, wo es eine solche gebe. Dort, wo die (nationale) Gesinnung fehle, könne das Ziel des Wiederanfachens nur gelingen, schreibt Vizyinos in seinem Bericht, durch „das Vertrautmachen des Volkes mit geschichtlichen Ereignissen, aber in der Form und Art und Weise entsprechend aufbereiteter einheimischer Traditionen“. Aufbereitet durch Volkskundler, meint er: damit die geschichtliche Kenntnis vom einfachen Volk übernommen werde, müsse sie zunächst in Einklang gebracht werden mit dem Klima des Volkes durch die Wiedergabe der geschichtlichen Ereignisse in der Form und auf die Art und Weise der Volkstradition, angepasst an die Objekte der volkstümlichen Fantasie (Andreadis, 1975, 106).

    Die Methode der Aufbereitung von Zeugnissen der Volkstradition (vgl. „Gefühle und Träume und Wünsche/ und Bilder und Traditionen und Mythen“) (Vizyinos, 2014, 269) wird auf metaphorische und gleichnishafte Art und Weise in Vizyinos’ Gedicht „Mein Handwerk“ beschrieben (ebd., 268-271), das auch in den Athener Brisen veröffentlicht wurde. Hier begibt sich der Dichter in die Rolle des Schneiders:

    Ich schneide ein Kleid für jeden zu
    Eine Tracht, die Eindruck macht-
    Nach dem Muster, das mir gefällt,
    und das dem Körper angepasst

         Auf, so weck’ ich die Kinder der Kunst-
    Und schau, im Handumdrehen, welch Wunder!
    Sie nähen mir die Stücke zusammen,
    dass man weder Naht sieht noch Schnitt!
    (ebd., 270, vgl. auch Varelas, 2010, 202–203).3Das Gedicht ist im Original gereimt nach dem Schema a,b a,b. (A.d.Ü.)

    Fäden und Scheren

    Lassen wir das Schneiderhandwerk beiseite und kehren zu Vizyinos’ „Der letzte Palaiologos“ zurück, so erstaunt das voluntaristische Element, das das Gedicht beherrscht: der Zeitpunkt der Erhebung des schlafenden Kaisers wird jener sein, in dem die Generation des Knaben/des Hörers der Erzählung den militärischen Eid leistet und die Waffen ergreift. Dann wird der Kaiser aufstehen und wie ein General, aber auch als Anführer jener Generation „den Türken schlagen“. Hier ist offensichtlich, dass die Monarchie nicht einfach als Staatsform hervorgehoben wird, sondern als übergeschichtliches Element, als Teil, könnte man sagen, eines natürlich gegebenen Sachverhalts. Der Dichter stellt im Übrigen an einer anderen Stelle des Gedichts die „Monarchie“ mit der „Freiheit“ gleich (vgl. „Aber Gott wollte das nicht. Er wollt’ nicht/die Nation der Christen/ ewig ohne Monarchen und Hoffnung auf Freiheit“, Vizyinos 2014,82). Keineswegs zufällig wird 1886 „Der letzte Palaiologos“ in einer Sonderausgabe der Zeitung Akropolis aus Anlass der militärischen Vereidigung von Thronfolger Konstantinos abgedruckt (Varelas, 2010, 203, Anm. 17).

    An anderer Stelle ist gezeigt worden, dass die Erwartung, dass ein messianischer Kaiser-Erlöser kommen werde, der die Osmanen besiegen und Konstantinopel einnehmen würde, eine Rolle in dem Prozess der Legitimierung der Monarchie in Griechenland spielte, indem sie der Institution Elemente verlieh, über die die Inhaber nicht verfügten: den Glanz des politischen Charismas und die Authentizität einer griechischen Abstammung (Chatzopoulos, 2014). Der damalige Nachfolger auf dem griechischen Thron wurde buchstäblich seit seiner Geburt (1868) (ebd., 18–20, 30) in den Mantel des monarchischen Erlösers eingehüllt. Die Erwartungen, die ihn umgaben, beruhten auf einer langen Tradition von Weissagungen, seien sie schriftlich oder mündlich, die in der griechischen Literatur bekannt sind unter dem Begriff Chresmologie (Orakelliteratur) Dimaras, 2000, 65–66; Kariotoglou, 2000, 13–26). Der Diskurs vom Kommen eines irdischen Monarchen-Erlösers, der die Feinde des Römischen Reiches zerstören würde, entstand aus dem Zusammentreffen des griechischen und römischen Prophetentums mit der jüdischen und christlichen Eschatologie in der Spätantike. Die Gestalt des letzten byzantinischen Kaisers, wie sie die Apokalypse des Pseudo-Methodius (Alexander, 1985, 151–184) geformt hatte, wurde in späteren byzantinischen Prophezeiungen (8.–10. Jahrhundert) abgewandelt in einen „mittellosen Kaiser“, während ein Nebenzweig der sogenannten Weissagungen von Leon dem Weisen (nach 1204) das Auferstehen eines „verborgenen“ Kaisers voraussagte, der in einer Höhle am westlichen Ende von Konstantinopel schlief (Mango, 1984) oder, gemäß einer anderen Variante, im Innersten der Hagia Sophia. Gemäß Pantazis Larissaios, einem der frühen Lehrer der Neugriechischen Aufklärung, der sich auch mit der Interpretation von Weissagungen beschäftigte, „schläft dieser heilige Kaiser, solange der ungläubige gottlose Kaiser der Türken herrscht, in einem Gewölbe der Hagia Sophia; nach der vollständigen Auflösung des Osmanischen Reiches wird ihn göttliche Vorsehung aufwecken, damit er in Konstantinopel herrsche“ (Stefanidis, 1838, 82-83; Kariotoglou, 2000,117).

    Die Orakeltradition war der Rahmen zum Verständnis von Vizyinos’ Ausarbeitung seitens des damaligen Lehrers des Thronfolgers, des gleichfalls in Deutschland ausgebildeten Spyridon Lampros, in seinem Vortrag „Nationale Hoffnungen und Träume“ im Jahr 1900:

    so wie die deutsche Sage erzählt, dass Barbarossa in Erwartung besserer Zeiten schläft, um wieder zu erscheinen, […] so ist auch Konstantinos Palaiologos für das griechische Volk nicht tot, sondern verborgen oder wurde in den Ptocholeon der älteren Sagen verwandelt und wartet auf bessere Zeiten, um als der versteinerte, der erwartete Kaiser aufzuerstehen (Lampros, 1902, 342).

    Es sei angemerkt, dass Vizyinos nie einen „versteinerten“ Kaiser erwähnte. Er sprach vom „schlafenden“. Aber auch Lampros selbst hat in früheren Reden, in denen der Bezug auf Vizyinos stillschweigend, aber deutlich war, die Bezeichnung „versteinert“ nicht benutzt: weder in dem andeutenden „unter Führung der griechischen Monarchie“ (1891) noch in „der Kaiser ist nicht gestorben; er schläft, er schläft einen tiefen und jahrhundertelangen Schlaf in der geheimen Höhle unter der Burg beim Goldenen Tor“ (1894). Das Adjektiv „versteinert“ scheint zumindest bei Lampros zum ersten Mal 1900 in der genannten Rede aufzutauchen. Lampros’ Zweck war jedoch nicht philologisch, sondern politisch:

    Warum sollten wir nicht in der Zuversicht schwelgen, mit der der patriotische Dichter [d. h. Vizyinos] uns erfüllt, dessen Gedicht ich gelesen habe? […] warum sollte ich nicht hoffen, dass die nationalen Überlieferungen, in denen wir hier geschwelgt haben, diejenigen mit nationalem Schwung erfüllen wird, denen aufgetragen ist, die uralten Sehnsüchte des Griechentums getreulich […] zu erfüllen (ebd., 346)?

    Das letzte Glied in der Kette ist Nikolaos Politis. Der Vater der griechischen Volkskunde veröffentlicht 1904 die Sage vom „Versteinerten Kaiser“ in der Form, die wir alle kennen. Was mögen die Anfänge seiner Beschäftigung mit der Sage gewesen sein? Lampros hatte vier Jahre zuvor in seiner Rede im Jahr 1900 angemerkt, dass die Überlieferungen hinsichtlich der Hagia Sophia und des Kaisers viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten „[…] aber vor allem vom Kollegen Professor N.G. Politis studiert wurden“ (ebd., 339, Anm. 1). Die Nachforschung in den Zeitschriften Parthenon (1871–1873) und Estia (1876–1895), in denen Nikolaos Politis Arbeiten veröffentlichte, verlief ergebnislos. Aber auch hier waren die Motive der akademischen Beschäftigung nicht rein historisch-philologisch, sondern politisch, entsprechend der deutschen volkskundlichen Strömung, von der Politis inspiriert wurde. Wie er selbst in seinen ausführlichen Kommentaren schreibt, ist die Überlieferung des „Versteinerten Kaisers aus nationaler Sicht die kostbarste von allen, weil in ihr die Sehnsüchte und die Hoffnungen der versklavten Nation auf Freiheit und Wiederauferstehung gipfeln“ (Politis, 1904, II, 658; 1920, 20–21). Sehnsüchte und Hoffnungen also. Die Hoffnungen sind „die Überzeugung des griechischen Volkes, dass es unausweichlich durch das Schwert […] das väterliche Erbe […] erwerben wird, wie [die Überzeugung] durch Weissagungen und Vorhersagen, Überlieferungen und Volkslieder und in bewaffneten Erhebungen zum Ausdruck kommt“ (ebd., 659). Die nationalen Sehnsüchte zeigen andererseits, „dass das Volk sich seiner selbst bewusst ist, dass es seine Vergangenheit und die sich ihm daraus für die Gegenwart erwachsenden Pflichten zur Schaffung einer günstigen Zukunft erkennt“. Die Kenntnis der kollektiven Vergangenheit formt demnach kollektive Pflichten in der Gegenwart, die ihrerseits eine günstige Zukunft vorbereiten. Aber der Satz lässt sich auch andersherum lesen: so wie es keine Zukunft ohne kollektive Gegenwart geben kann, kann es keine Gegenwart geben ohne Kenntnis der kollektiven Vergangenheit.

    N. G. Politis schreibt, dass die Sage „vielerorts“ anzutreffen sei, womit er dem „Versteinerten Kaiser“ eine panhellenische Dimension verleiht (Politis, 1904, I, 22). In einer Epoche mit großem volkskundlichen Interesse, wie es das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts war, in dem mündliche Überlieferungen von vielen systematisch gesammelt werden (z. B. sammelt Nikolaos Politis selbst als Schüler von 14–16 Jahren Material und veröffentlicht es in der Zeitschrift Pandora), in dem volkskundliches Material zum Anlass für literarische Inspiration und Produktion wird, würde man erwarten, dass eine so bedeutende Sage im öffentlichen Diskurs häufiger und dichter auftreten würde und auf jeden Fall früher als zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hätte die Sage vom „Versteinerten Kaiser“ etwa nicht als Motiv in der Literatur nicht nur von Vizyinos, sondern auch von anderen Dichtern und Prosaschriftstellern genutzt werden können? Hätte etwa nicht zum Beispiel Achilleas Paraschos sich auf die Sage berufen können in seinem Gedicht „Zwei Konstantinose“ (1886)? Hätte es nicht irgendeinen Bezug in der „Schlafenden Prinzessin“ von Alexandros Papadiamantis im Jahr 1891geben können (Vassiliou 2015, 314, Anm. 751)? Hätte sich nicht Alexandros Moraïtidis in „Auferstehung einer geschlagenen Stadt“ (1888), in „Konstantinopels Eroberung“ (1894) oder in „Christos Voskres“ (1901) auf die Sage berufen können, also in thematisch völlig einschlägigen Prosatexten und Gedichten, die sich ausdrücklich auf die Sage des schlafenden Kaisers beziehen, aber Konstantinos Palaiologos überhaupt nicht erwähnen? Vergleichbare volkskundliche Stoffe wie z. B. die Sage der „letzten oder unterbrochenen Messe“ erscheinen in der Literatur des 19. Jahrhunderts viel eher als ihre Aufzeichnung durch die Volkskundler. Vizyinos’ „Der letzte Palaiologos“ scheint ein philologisches Unikum zu sein, mindestens bis zum Jahrhundertwechsel und dem „Versteinerten Kaiser“ von Christos Christovassilis (1901), der 18 Jahre nach Vizyinos’ „Letztem Palaiologos“ dieselbe Linie verfolgt, indem er Konstantinos Palaiologos in den Rahmen der Orakeltradition stellt.

    Erfindung oder Neuformulierung?

    Es scheint also, dass die Sage vom „Versteinerten Kaiser“ keine echte Volksüberlieferung ist. Verantwortlich für die letztendliche Gestaltung und die große Verbreitung der Sage waren höchstwahrscheinlich Spyridon Lampros und Nikolaos Politis, während die ursprüngliche Gestaltung Jeorjios Vizyinos zuzuschreiben ist. Einer der Fäden, der die drei verbindet, ist ihre deutsche Ausbildung und Erfahrung (Sidera-lytra, 1996; Gazi, 1999; Mitsou, 2019). Das macht allerdings aus der Sage kein Importprodukt. Was die deutsche Umgebung vielleicht offeriert hat, ist ein Modell: die Art und Weise, wie eine vormoderne prophetische Sage neu interpretiert und in den Dienst einer nationalen und gleichzeitig dynastischen Ideologie gestellt werden konnte. Es scheint ferner, dass der erste des Dreigestirns, J. Vizyinos, auf seine poetische Methode die geschichtlichen Ereignisse um den Tod des letzten byzantinischen Kaisers „nach dem Schema und auf die Art und Weise“ einer griechischen Tradition – der Orakeltradition – aufbereitet hat, die aber vor langer Zeit auf anderen Pfaden in das deutsche kulturelle Umfeld aufgenommen worden war.

    Es ist nicht sicher, inwieweit Vizyinos die Methode der „Aufbereitung“ erfunden oder sie von der deutschen volkskundlichen Tradition übernommen hat. Sicher ist, dass er die Sage des „Versteinerten Kaisers“ nicht ex nihilo erfunden hat. Richtiger wäre zu sagen, dass er die alte prophetische Sage des schlafenden Kaisers neu formuliert und für den griechischen Thron politisch nutzbar gemacht hat. Angemerkt sei, dass alle Elemente, aus denen sich die endgültige Fassung der Sage zusammensetzt, bereits auf dem Tisch lagen: die kollektive Erinnerung an Konstantinos Palaiologos’ Opfer war sowohl vor dem Freiheitskampf lebendig wie danach, als Byzanz noch nicht zu einem Teil der griechischen Geschichte geworden war (Politis, 2004). Vom schlafenden Kaiser der Orakeltradition war bereits die Rede. Und auch das „Versteinern“ gibt es: eine ganze Kategorie von mündlichen Überlieferungen nennt man „Versteinerungen“ gemäß der Kategorisierung von Nikolaos Politis (1904). Wenn all diese Elemente zusammenpassen, bilden sie ein Narrativ über die Vergangenheit, das Bedürfnisse der Gegenwart bedient, während es Zielsetzungen für die Zukunft formuliert, mit anderen Worten einen Mythos, gemäß der Definition von Anthony Smith (2004, 34). Einen Mythos, der den griechischen mit dem deutschen Fall verflicht, wie man sehen konnte. Mit dem Unterschied, dass der Mythos im Falle der deutschen Nationalromantik eine eingetretene politische Realität – das Reich – legitimierte, während er für die griechische Ideologie der Megali Idea das Wunschziel symbolisierte.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Ulf-Dieter Klemm

    Einzelnachweise

    • 1
      Im Original ist das Gedicht gereimt, und zwar nach dem Schema: a,b,c a,b,c. (A.d.Ü.)
    • 2
      Diese drei Provinzen gehörten damals nicht zum griechischen Staatsgebiet. (A.d.Ü.)
    • 3
      Das Gedicht ist im Original gereimt nach dem Schema a,b a,b. (A.d.Ü.)

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Nikolas Pissis, Marios Hatzopoulos: «Der versteinerte Kaiser. Kulturtransfers zwischen deutscher und griechischer Nationalromantik», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 11.01.23, URI : https://comdeg.eu/essay/112504/.