Einführung
Die blutige, sich über dreieinhalb Jahre hinziehende deutsche Besatzungszeit (April 1941 – Oktober 1944) hinterließ in Griechenland zahllose menschliche, gesellschaftliche, psychische und wirtschaftliche Schäden und Wunden und wurde zur schwarzen Seite in der Geschichte der griechisch-deutschen Beziehungen. Unterdrückung und Verelendung, die sich als Folge der Ausbeutung des Landes durch die Besatzungsmächte einstellten, haben den Nachkriegsweg des Landes gebrandmarkt; zugleich hat sich die Exekution wehrloser Menschen als Vergeltung für den Verlust deutscher Offiziere und Soldaten – unter Anwendung der berüchtigten „Sühnequote“ 1:10, 1:50 und sogar 1:100 (Fleischer, 1979, 187ff.)! – bis heute ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Allein im Zeitraum Juni 1943 bis September 1944, der als die meisthervorstechende Phase deutscher Strafmaßnahmen gilt, überschritt die Zahl der zu Sühne und Abschreckung Exekutierten die 25.000 (Fleischer, 1991, 86), während etwa genauso viele inhaftiert wurden. Zahllos waren auch diejenigen, die in Konzentrationslager kamen oder zu Zwangsarbeit gezwungen wurden, von der Auslöschung 50.000 griechischer Juden ganz zu schweigen. Hinzuzurechnen sind Hungertote, Seuchen, dazu auch der Geburtenrückgang – alles in allem ergab das bis Ende der Besatzungszeit einen Bevölkerungsrückgang, der sich insgesamt auf einige Hunderttausend belief (u.a. Fleischer, 1986, 117ff.; Eichholtz, 1999, 45). Doch auch die materiellen Verluste waren unermesslich. Gegen Ende des Krieges waren hunderte Dörfer und Provinzstädte komplett zerstört, über eine Million Einwohner obdachlos (23% der Bausubstanz des Landes gingen durch Brandlegung und Bombardierung verloren), ca. 5000 Schulen zerbombt, niedergebrannt oder geplündert, nachdem sie als Gefängnisse, Lager und dergleichen benutzt worden waren, nur ein Viertel des Schienennetzes war noch in Funktion, während Infrastruktur aller Art wie Straßen, Brücken, der Kanal von Korinth und die für das Land so wichtigen Häfen enorme Schäden erlitten hatten.
Entsprechend unvorstellbare Ausmaße hatte der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes nach vier Jahren Krieg und Besatzung angenommen. Das zur Deckung der Bedürfnisse des Dritten Reichs in Anspruch genommene nationale Vermögen hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst – mit dem Ergebnis, dass das zerstörte und wirtschaftlich völlig mittellose Griechenland 1944 außerstande war, auch seine um 10% geschrumpfte Bevölkerung zu ernähren. Gerade die landwirtschaftliche Produktion und die Viehwirtschaft verzeichneten besondere Schäden. Auch im Außenhandel waren die entstandenen Schäden unbezifferbar; die Handelsflotte existierte nicht mehr, denn von den 583 Handelsschiffen, über die das Land 1939 verfügte, waren im Laufe des Kriegs 434 verlorengegangen – und mit ihnen 3.000 griechische Seeleute. Das Telekommunikationsnetz verzeichnete Totalschaden. Auch der so wichtige und bedeutende kulturelle Reichtum Griechenlands war ausgeplündert: hunderte von Monumenten zerstört, tausende Antiken gestohlen. Als Resultat dieser Ausplünderung des Landes stieg die Inflation um das 15,3-Millionfache, während Griechenland für die Beseitigung all dieser katastrophalen Schäden das 33fache des Nationaleinkommens von 1946 gebraucht hätte (Doxiadis, 1945; Eckert, 1988, 238ff.; Etmektsoglou, 2000, 63). Indessen verhinderte diese „Erbschaft“ aus der Zeit der Nazibesatzung nicht die Wiederaufnahme der beidseitigen Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland, und das schon kurze Zeit nach Kriegsende, als Ende der 40er Jahre der griechische Bürgerkrieg zu Ende gegangen und die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden war. Der Kalte Krieg begünstigte die Annäherung beider Länder durch ihre Einbindung in das westliche Verteidigungsbündnis. Parallel dazu konnten die Deutschen beobachten, dass der mittlerweile blutig ausgetragene Bürgerkrieg die Erinnerung an die Besatzungszeit verblassen ließ und günstige Voraussetzungen für die Wiederannäherung der beiden Länder geschaffen hatte. 1951 berichtete der deutsche Botschafter Hermann Knoke seiner Regierung in Bonn, dass dank der Untaten der „Banditenkämpfer“ die Erinnerung an die SS-Verbrechen „in Griechenland etwas verblasst sei“. Diese Überzeugung wurde in den folgenden Jahren von deutschen Dienststellen bis zu dem Punkt kultiviert, dass Bundespräsident Theodor Heuss anlässlich seines bevorstehenden Griechenlandbesuchs von 1956 dahingehend informiert wurde, dass „glücklicherweise die Ereignisse unter deutscher Besatzung von den grässlichen Geschehnissen des Bürgerkriegs überdeckt worden seien“ (Fleischer, 15.10.1999). Während der ganzen ersten Nachkriegszeit waren die gegenseitigen Beziehungen wesentlich von den Wirtschaftsinteressen beider Länder bestimmt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit bot ein neutrales Terrain, auf dem innerhalb eines so kurzen Zeitraums nach dem Krieg die Wiederaufnahme der gegenseitigen Kontakte abgestützt werden konnte. Diese von ökonomischen Interessen initiierte Normalisierung der Beziehungen förderte zugleich die Westbindung der beiden Länder. Der Bundesrepublik Deutschland gelang es schon bald nach dem Krieg, sich neu zu formieren, und sie war schon während der 50erJahre in der Lage, Griechenland bei der Nutzung von Rohstoffen und beim Aufbau von Strukturen in Industrie und öffentlichem Sektor zu unterstützen. All dies war nicht nur für Griechenland, das sich nach dem katastrophalen Jahrzehnt der 1940er Jahre abmühen musste, wieder Tritt zu fassen, sondern auch für Westdeutschland, dessen Industrie dabei war sich zu erholen und vom griechischen Wiederaufbau eindeutig profitieren konnte, von großem Nutzen.
So attraktiv die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch sein mochten: für Bonn hatten die politischen Vorteile Priorität. Wie es Konrad Adenauer selbst aussprach, sahen alle aufeinanderfolgenden Bundesregierungen in Griechenland einen „Eckstein der NATO“, ein Bollwerk gegen den Kommunismus.1„Griechenland – Eckpfeiler der freien Welt“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. März 1954, Nr. 47, 377. Mit seinen engen wirtschaftlichen Kontakten sicherte sich Bonn den unschätzbaren Vorteil, in der „Deutschen Frage“ auf internationalem Forum mit der vorbehaltlosen Unterstützung aller griechischen Nachkriegsregierungen rechnen zu können (Apostolopoulos, 2004, 136). Der Vorteil für Westdeutschland lag also vor allem auf politischem Gebiet, denn seine enge Zusammenarbeit mit Griechenland stärkte international sein Profil als friedliebendes, dem Westen verschriebenes Land, das überdies auch für die Sicherheit eines Verbündeten sorgte. Exakt in diesem Rahmen war die Bundesregierung weiterhin bestrebt, Lösungen für die bilateralen Fragen zu finden, die in Zusammenhang mit der kriegsbelasteten Vergangenheit standen. Das alles bestätigte sich auf denkbar konkrete Weise bei Konstantinos Karamanlis’ Bonn-Besuch im Zeitraum 10. – 12. November 1958. Dieser Besuch war der vielleicht bedeutendste Schnitt- und Wendepunkt für die Nachkriegsbeziehungen beider Länder und wurde für den Ministerpräsidenten durch die Gewährung eines 200 Millionen-Mark-Kredits, Investitionszusagen über 100 Millionen Mark sowie durch die Zusage technischer Hilfe insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet zu einem großen Erfolg.2„Bulletin zum Besuch des griechischen Ministerpräsidenten“, November 1958 in: Archiv Konstantinos Karamanlis/Stiftung Konstantinos G. Karamanlis, Dossier 7A/001046.
Athen erlangte auf diese Weise Zugang zu bedeutenden Summen an Kapital, an die damals heranzukommen keineswegs leicht war, und konnte damit zugleich seine ökonomische und ebenso politische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten etwas abmildern (Apostolopoulos, 2004, 77ff.). Die deutsche Regierung zielte mit ihrer Wirtschaftshilfe auf eine Stärkung der Regierung Karamanlis ab, die sich aufgrund ihrer Isolation innerhalb des westlichen Bündnisses der Zypernfrage wegen in einer schwierigen Lage befand. Sie zeigte damit, dass sie die heikle Rolle Griechenlands innerhalb des Ost-West-Konflikts anerkannte, und war parallel dazu bemüht, das Image eines neuen Deutschland aufzubauen, das sich radikal vom Dritten Reich unterschied.
Vergangenheitsbewältigung
Vor dem Hintergrund des eben Geschilderten und beschleunigt von den Nachkriegszusammenhängen stand der Prozess einer normalisierenden Einebnung der Kriegsvergangenheit, für den die deutsche Geschichtswissenschaft den Begriff Vergangenheitsbewältigung3Zur Vergangenheitsbewältigung s. auch Fleischer, 2008, 85ff. und allgemein Fischer/Matthias, 2008; Reichel, 2007 sowie Frei, 1996.etabliert hat, unter günstigen Vorzeichen. Im Fall der griechisch-deutschen Beziehungen ging es dabei um hauptsächlich zwei Fragenkomplexe: sie betrafen zum einen die Verfolgung von Kriegsverbrechern, zum anderen die Zahlung von Kriegsentschädigungen.
Die Kriegsverbrecherfrage
Die Strafverfolgung von Deutschen, die während der Besatzungszeit für schwere Verbrechen und Vergeltungsaktionen gegen das griechische Volk verantwortlich waren, stellte eines der heikelsten Kapitel dar, das die gegenseitigen Beziehungen belastete. Der Ausgang der Sache ist bezeichnend dafür, auf welche Weise sich jede der beiden Seiten dem historischen Trauma des Zweiten Weltkrieges stellte: Griechischerseits begegnete man dem Ganzen mit Realismus und war bestrebt, wirtschaftlich-finanzielle Gegenleistungen zu erzielen, von deutscher Seite aus war man bestrebt, für Vergessen zu sorgen und das Beweismaterial für die Verbrechen „unsichtbar“ werden zu lassen – es sollte ein neues Kapitel aufgeschlagen und nach vorn geschaut werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen mussten die Schuldigen nicht für ihre Taten zahlen, ebenso wenig wurden Strafverfolgungsverfahren gegen sie eingeleitet, zumal Fälle, die von der griechischen an die deutsche Justiz weitergeleitet wurden, nie vor Gericht kamen: Entsprechend der üblichen Praxis der Bundesrepublik Deutschland, im Inneren für Ruhe zu sorgen, indem sie ihre Staatsangehörigen „beschützte“, die für Taten im Zweiten Weltkrieg verfolgt wurden, verliefen bis 1970 alle Fälle im Sand (Dordanas, 2007, 569; Konstantinakou, 2015, 370).4Dazu Dordanas (2007, 569): „Die deutschen Strafverfolgungsbehörden taten sich leicht darin, hinreichend belegte Fälle ad acta zu legen, bei denen die Angeklagten ohne weiteres hätten vor Gericht gebracht werden können. Ergebnis dessen war, dass kein einziger Fall vor ein westdeutsches Gericht gelangte“. Bezüglich der Vorwände der deutschen Justiz, die griechischen Behörden hätten Namen und generell Einzelheiten, die für die Identifikation der Täter relevant waren, fehlerhaft eingetragen, hält Konstantinakou (2015, 356) fest: „Diese Auslassungen und Fehler (bei Personalien der Kriegsverbrecher) stellten ein „hochwillkommenes Alibi“ für die Regierungen, insbesondere die deutsche, aber auch italienische Regierung dar, wenn sie später dazu aufgerufen wurden, selbst für die Bestrafung derjenigen ihrer Staatsangehörigen zu sorgen, die als Verbrecher unter Anklage standen“. Charakteristisches Beispiel für die westdeutsche Verschleppungstaktik bei Gerichtsprozessen gegen eigene Staatsangehörige war der Fall des einstigen Reichsbevollmächtigten Günther Altenburg. Seine Strafverfolgung wurde von der Staatsanwaltschaft Koblenz bis ans Ende der 50er Jahre mit der Begründung verschoben, dass sein Aufenthaltsort unbekannt sei. Altenburg war zur selben Zeit Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer in Köln (!) (Konstantinakou 2015, 481). Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen war bereits erfolgt und 1950 ein erster Wirtschaftsvertrag abgeschlossen (Tabakexport), als Athen und Bonn schon in dieser ersten Phase ihrer bilateralen Nachkriegsbeziehungen darangingen, in der Kriegsverbrecherfrage zusammenzuarbeiten. Zwar hatte die griechische Regierung über 800 Falldossiers zur Hand, die das Griechische Nationale Büro für Kriegsverbrechen (Ε.Ε.Γ.Ε.Π.) unter Leitung des späteren Vize-Staatsanwalts am Areopag Andreas Toussis zusammengestellt hatte,5Das Griechische Nationale Büro für Kriegsverbrechen (Ε.Ε.Γ.Ε.Π.) wurde auf der Grundlage des Notstandgesetzes 384 vom 8.6.1945 eröffnet, um genaue Ermittlungen zu Kriegsverbrechen durchführen zu können, die während des 2. Weltkriegs von Organen der feindlichen Staaten gegen natürliche und Rechtspersonen auf griechischem Staatsgebiet und gegen griechische Staatsangehörige im Ausland verübt worden waren (Art. 1). Artikel 7 definierte die Gründungsziele des Büros im Einzelnen: „Die gemäß obigen Maßgaben eingerichteten Dienststellen haben zum Ziel, die während des gegenwärtigen Krieges verübten Kriegsverbrechen, den Ort und den Zeitpunkt ihrer Durchführung sowie die dafür Verantwortlichen auf der Grundlage der in vorliegendem Gesetz definierten Einzelheiten und der Vorgaben der Verfassung genau zu ermitteln“. Das Büro unterstand der Aufsicht des Justizministers. Das Gesetz wurde per Novelle Nr. 73/8. Oktober 1945 modifiziert („Bestrafung und gerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen/Modifikation des Notstandgesetzes Nr. 384/1945“). Die Novelle präzisierte den Begriff ‚Kriegsverbrechen‘ und legte die Bestrafung der Schuldigen fallweise fest. Sie gab das Verfahren vor, dem das Büro bei Ausübung seiner Pflichten zu folgen hatte, und sorgte für die Einrichtung eines Sonderkriegsgerichts in Athen. Bei der Verfolgung der Kriegsverbrecher ging man nach Maßgabe dieser Novelle vor. Im Laufe seiner Tätigkeit stellte das Büro Anklageschriften zusammen und veranlasste in mehr als 800 Fällen die Verfolgung von Kriegsverbrechen, die von deutschen Militärangehörigen begangen worden waren (Allgemeines Staatsarchiv, 2011, https://greekarchivesinventory.gak.gr/index.php/u-u-485).wusste aber, dass sie die Täter nicht vor ein griechisches Gericht bringen konnten, da diese sich mittlerweile auf deutschem Boden aufhielten. Deshalb ging sie ab 1952 anhand des Gesetzes 2058/1952 dazu über, die betreffenden Fälle zu weiterer Verfolgung an die deutschen Behörden weiterzuleiten. Dies Vorgehen wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt, wobei darauf zu achten war, nicht zu sehr die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung zu provozieren, wie aus einem Memorandum der deutschen Botschaft in Athen vom 18. Dezember 1954 hervorgeht (Apostolopoulos, 2004, 144ff.). Seit Mitte der 50er Jahre zeigte sich die Athener Regierung zu einer endgültigen Regelung der Frage bereit. Als sie aber der westdeutschen Regierung den Vorschlag machte, weiterhin Fälle an die deutschen Behörden zur Bearbeitung weiterzuleiten, lehnte diese zunächst einmal ab und gab zu verstehen, dass sie eine gesetzliche Regelung seitens der griechischen Regierung selbst bevorzuge, denn – so ihr Vorwand – der Vorschlag der griechischen Seite würde nicht nur die deutsche Justiz erheblich belasten, sondern auch die öffentliche Meinung herausfordern! Die Bonner Reaktion auf den Athener Vorschlag machte jedenfalls deutlich, dass die Bundesregierung das ganze Problem zwar auf die eine oder andere Weise zum Abschluss bringen, sich aber nicht auf Strafverfolgungen und Gerichtsverfahren auf deutschem Boden einlassen wollte. Bei den bilateralen Verhandlungen, die im Juni 1956 in der westdeutschen Hauptstadt stattfanden, kamen beide Seiten überein, die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern bis zum Abschluss einschlägiger Nachforschungen deutscher Behörden für einige Monate auszusetzen, um das Thema dann endgültig zu regeln (Fleischer, 2001, 215ff.). Während man sich auf deutscher Seite nach Ende dieses Aufschubs weiterhin schwertat, die Erledigung der Fälle voranzutreiben, kam nun auch noch der berüchtigte Fall Merten ans Licht, der durch eingehende Presseberichterstattung enorme Ausmaße annahm und die griechisch-deutschen Beziehungen erheblich belastete.
Max Merten, dem nicht bekannt war, dass der befristete Strafverfolgungsaufschub für Kriegsverbrecher zu Ende gegangen war, wurde auf Veranlassung von Andreas Toussis während einer Griechenlandreise im April 1957 festgenommen. Ihm wurden mehrere Anklagepunkte zur Last gelegt, besonders seine Mitwirkung an der Deportation Tausender Juden aus Thessaloniki in die Konzentrationslager. Die mit der Verhaftung Mertens erfolgende Wiederaufnahme der Kriegsverbrecherfrage und die Ausführlichkeit, mit der man sich dem Fall widmete, erfolgte wohl als Antwort der griechischen Seite auf deutsche Verschleppungsmanöver, die Frage endgültig zu regeln. Doch ist das Ganze auch deutlich in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Deutschlandbesuch des griechischen Premiers im November 1958 zu sehen, von dem oben schon die Rede war. Die Athener Regierung, die Bonn nicht mit einer Strafverfolgung von Kriegsverbrechern an griechischen Gerichten unter Druck setzen konnte, da diese sich in Deutschland aufhielten, und dazu feststellen musste, dass die deutsche Seite ihr gegenüber die Angelegenheit totschweigen wollte und keinerlei Bereitschaft zeigte (und sei es nur pro forma und nach außen hin!), Gerichtsverfahren zu eröffnen, entschloss sich, mit Mertens Verhaftung daran zu erinnern, dass sie keineswegs gewillt sei, sich so ohne weiteres aus der ganzen Angelegenheit zurückzuziehen. Und da eine tatsächliche Verfolgung der Verbrecher offensichtlich keine Zukunft, Athen aber auch nichts in der Hand hatte, dem entgegenzuwirken, lag es für die griechische Regierung nahe, pragmatische Realpolitik an den Tag zu legen und die problematische Frage damit zum Abschluss zu bringen, sich wirtschaftliche Vorteile zu sichern. Mit dem Karamanlis-Besuch kam das Kriegsverbrecher-Thema und der damals so aktuelle Fall Merten definitiv zum Abschluss (Apostolopoulos, 2018, 351). Die Verfolgung der Kriegsverbrecher wurde auf Anfang 1959 verschoben, das Büro für Kriegsverbrechen gegen Ende desselben Jahres aufgelöst.6Das Griechische Nationale Büro für Kriegsverbrechen (Ε.Ε.Γ.Ε.Π.) wurde per Gesetzerlass 4016 vom 3. November 1959 abgeschafft („Novelle der Kriegsverbrecher-Gesetzgebung“). Damit wurden das Gesetz 384/1945 und die Novelle 73/1945 annulliert; alle Zuständigkeiten, die Archive, die Akten der Prozesse gegen Kriegsverbrecher und was sonst die gerichtliche Funktion des Büros betraf, wurden an das Athener Berufungsgericht übertragen (Allgemeines Staatsarchiv, 2011, https://greekarchivesinventory.gak.gr/index.php/u-u-485). Um sich im Gegenzug bedeutende Wirtschaftshilfe zu sichern, hatte der griechische Ministerpräsident offensichtlich versprochen, den Fragenkomplex ad acta zu legen, und dies in den folgenden Monaten trotz der Proteste auf innenpolitischer Bühne konsequent durchgesetzt. Am 18. Februar 1959, also weniger als drei Monate nach seinem Westdeutschland-Besuch, brachte Karamanlis das Gesetz 3933/1959 („Einstellung der Verfolgung von Kriegsverbrechern“) durchs Griechische Parlament, mit dem gerichtliche Verfolgung deutscher Staatsangehöriger „ipso iure/von Rechts wegen“ abgeschafft wurde. Das Gesetz bestimmte, dass Kopien der Prozessakten an die deutschen Justizbehörden weiterzuleiten seien. Auf der Grundlage des zweiten Artikels des Gesetzes wurden alle, die eine Strafe verbüßten, aus ihrer Haft entlassen und des Landes verwiesen. Mit dem Verzicht auf die Verfolgung von Kriegsverbrechern wurde unter das Thema „Konfrontation mit der Kriegsvergangenheit“ ein Schlussstrich gezogen.
Die Entschädigungsfrage – die Besatzungsanleihe
Im Gegensatz zum Kriegsverbrecherthema gelang es der deutschen Seite im Laufe des Karamanlis-Besuchs von 1958 nicht, dem Ministerpräsidenten – wie eigentlich vorgesehen – die Zusage eines endgültigen Verzichts Griechenlands auf Kriegsentschädigungsansprüche abzuringen – ein Faktum, das sich in offiziellen deutschen Schreiben ausdrücklich niedergelegt findet: Einem Informationspapier des westdeutschen Außenministeriums von 1966 ist zu entnehmen, dass Legationsrat 1. Klasse Hermann als Teilnehmer an den Verhandlungen von 1958 einräumt, dass, wiewohl im deutschen Vertragsentwurf ausdrücklich von einem griechischen Verzicht auf Entschädigungen die Rede war, dieser Passus „aus unbekannten Gründen“ gestrichen wurde.7Vgl. Schreiben des westdeutschen Außenministeriums vom 23.12.1966 (V7 – 82.03/1/94.08) an das Finanz-, Justiz- und Wirtschaftsministerium zum Thema „griechische Forderungen im Zusammenhang mit dem II. Weltkrieg“, in: BA, Ref. B102, Bd. 135788. Das widerlegt die auch in den letzten Jahren erwähnte Überzeugung deutscher Führungspersönlichkeiten, die Entschädigungsfrage sei mit dem 200-Millionen-Mark-Kredit abgegolten, den sich die Regierung Karamanlis während der Wirtschaftsverhandlungen von 1958 gesichert hatte – ein Kredit, der übrigens kein Geschenk war, sondern ordnungsgemäß abbezahlt worden ist…
Ein anderes Argument von deutscher Seite in der diesbezüglichen Diskussion, die besonders in den letzten Jahren wieder aufgeflammt ist, betrifft die Verspätung, mit der das Thema neu aufgegriffen wird: mehr als ein halbes Jahrhundert später könne man das Thema Wiedergutmachung nicht wieder aufs Tapet bringen. Doch hat Athen sehr wohl beizeiten, d.h. gleich nach Kriegsende im Oktober 1945 auf der Pariser Konferenz zu Kriegsentschädigungsfragen eine Forderung über mehr als 17,8 Milliarden Dollar erhoben. U.a. auf Betreiben der Verbündeten lieferte daraufhin das besiegte Deutschland an die griechische Seite 25 Millionen Dollar in Sachwerten (Industrieanlagen und Maschinen) – mit anderen Worten: Griechenland erhielt 0,12% der von ihm geforderten Summe.8Vgl. das Memorandum der deutschen Botschaft in Athen vom 02.03.1997 (Nr. 225-57) über eine entsprechende Diskussion im Griechischen Parlament, in: PA AA, Ref. 206, Bd. 20. Die Tatsache, dass Griechenland praktisch keinerlei Wiedergutmachung erhielt, wird auch von amerikanischer Seite bestätigt. – s. National Archives and Records Administration, Rg 59, POL 27MILITARY OPERATIONS Z/1/63 GREECE: Airgram from American Embassy Athens to Department of State, “Congressional Inquiry: Status of War Reparations due Greece”, 1963.
Die wichtigste Entwicklung in der Frage ergab sich wenige Jahre später dadurch, dass an einem entscheidenden Wendepunkt des Kalten Krieges die Staaten West- und Ostdeutschland gegründet wurden. Auf energische Initiative der USA, die im Zentrum Europas ein wirtschaftlich starkes Westdeutschland wünschten, wurde am 27. Februar 1953 der Vertrag von London unterzeichnet,9Auf deutsch spricht man vom Londoner Schuldenabkommen, während der Vertrag international als London Debt Agreement bekannt ist (Agreement on German External Debts, London, February 27, 1953). Der Vertragstext liegt vor in: German_Ext_Debts_Pt_1.pdf (publishing.service.gov.uk).dessen Artikel 5, Abs. 2 Westdeutschland von der Zahlung von Entschädigungen für den letzten Krieg bis zur endgültigen Regelung der „Deutschen Frage“ befreite. Der Vertrag wurde vereinbart zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreiches, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Dänemarks, Norwegens, Schwedens, Irlands, Griechenlands, Spaniens, der Schweiz, Luxemburgs, Liechtensteins, Jugoslawiens, Kanadas, Ceylons, Irans, Pakistans und der Südafrikanischen Union. Was dabei die deutschen Verpflichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg betraf, so gelang es der deutschen Delegation, an deren Spitze der Bankier Hermann Josef Abs als eine der führenden Persönlichkeiten des westdeutschen Nachkriegs-Wirtschaftswunders stand, einen lediglich kleinen Teil der deutschen Verpflichtungen, und zwar nur an die drei westlichen Besatzungsmächte USA, Vereinigtes Königreich und Frankreich, zurückzuzahlen. Der hinter diesem Vertrag stehende Grundgedanke war, Verantwortung für die Kriegsschulden des Dritten Reichs trage nicht nur Westdeutschland, an das seine neuen westlichen Verbündeten ihre Forderungen richten, sondern ganz Deutschland. Unter den Gegebenheiten von 1950 und angesichts der durch den Kalten Krieg festzementierten Spaltung der Welt in West und Ost wurde die Angelegenheit damit „ad calendas graecas“ vertagt (Fleischer, 2000, 363). Dementsprechend wurden im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte die Ansprüche der griechischen Seite aus dem 2. Weltkrieg unter Berufung auf den Londoner Vertrag und auf die Argumentation, die Wiedergutmachungsfrage könne erst nach einer Wiedervereinigung auf den Tisch kommen, weiterhin abgewiesen. Allerdings geht das wiedervereinigte Deutschland auch nach 1990 der diesbezüglichen Diskussion systematisch aus dem Wege (Surmann/Schröder, 1999, 116).10Die Wiedervereinigung Deutschlands erfolgte mit dem Zwei-plus-Vier- oder Moskauer Vertrag, der am 12. September 1990 von den beiden deutschen Staaten (West- und Ostdeutschland) einerseits und den vier Siegermächten des 2. Weltkriegs (USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich) andererseits unterzeichnet wurde. Der Vertragstext steht zur Verfügung in: documentArchiv.de – Zwei-plus-Vier-Vertrag (12.09.1990).
Bonn war bereit, als ausschließlich im Rahmen des Vertrags vom 18. März 1960 und allein für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung geleistete „freiwillige Wiedergutmachung“, nicht aber als Entschädigung, um keine Präzedenzfälle zu schaffen, die Summe von 115 Millionen Mark bereitzustellen.11Bundesarchiv Koblenz, Ref. B136 – Bundeskanzleramt, Bd. 1138: „Text des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland über Leistungen zugunsten griechischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind“. Derartige Verträge schloss Westdeutschland auch mit anderen Ländern. Sie bezogen sich auf Bürger nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, die aus formalen Gründen (z.B. eben der Staatsangehörigkeit) keine Ansprüche auf Entschädigungszahlungen seitens des westdeutschen Staats geltend machen konnten, weil diese auf binnenstaatlicher Gesetzesregelung basierten. Im Falle Griechenlands betraf dieser Vertrag in der Hauptsache Griechen jüdischer Herkunft und Zwangsarbeit-Opfer (Apostolopoulos, 2018, 355ff.).12Dieses Vorgehen wurde auch von den Vereinigten Staaten mit Interesse verfolgt, vgl. NARA, RG 59, 662A.81, Microfilm C-0067 (R 2): Foreign Service Dispatch from the American Embassy in Athens to the Department of State, “Greek German Indemnification Agreement”, Athens, 11.5.1960. In einem Memorandum des Bundesaußenministeriums im Vorfeld der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags vom Januar 1961 ist auch unter Verweis auf den Vertrag vom 18. März 1960 ausdrücklich festgehalten, dass der 115-Millionen-Mark-Vertrag ausschließlich der konkret benannten Opfergruppe zugedacht sei, eventuelle Schadenersatzforderungen aber aufgrund des Londoner Abkommens von 1953 erst vorbehaltlich einer definitiven Lösung der „Deutschen Frage“ geklärt werden könnten. Ebenfalls hielt man auf deutscher Seite fest, dass Athen sich vorbehielt, diese Forderungen zu erheben, sowie es dazu die Möglichkeit hätte, und räumte es als „selbstverständlich“ ein, „dass die Bundesregierung“ diesen Vorbehalt Griechenlands „nicht ausschließen könne“.13Vgl. das Memorandum des Bundesaußenministeriums vom 25. Januar 1961 zur anstehenden Sitzung des Außenausschusses des Bundestags vom 26. Januar 1961, der sich u.a. mit der Ratifikation des Vertrags vom 18. März 1960 befasste, in: PA AA, Ref. 206, Bd. 133. So wie man von Seiten Deutschlands den Vertrag von 1960 als „Ausnahme von der Regel“ einer Befreiung von aller Kriegswiedergutmachung bis zur Lösung der „Deutschen Frage“ hinstellen wollte (es ging ja hier darum, zu verhindern, dass der Status quo in Frage gestellt wurde, der sich für die Bundesrepublik so ausnehmend günstig entwickelt hatte), so war auch die griechische Seite darauf bedacht, auf diplomatischer wie politischer Ebene klarzustellen, dass das Thema der Entschädigungszahlungen bis zu seiner zukünftigen Regelung eine offen bleibende Frage sei.
Hier wurde allerdings nicht nur das zentrale Thema der Wiedergutmachungen an Opfern von Vergeltungsmaßnahmen, der Vermögensverluste, der Zerstörung von Infrastruktur usw. in der Schwebe gelassen, sondern ebenso der Fall der Zwangsanleihe, die das Dritte Reich der Athener Kollaborationsregierung abgepresst hatte. Die Vereinbarung über die Anleihe wurde von den Griechenlandbevollmächtigten Deutschlands und Italiens Günther Altenburg und Pellegrino Ghigi am 14. März 1942 (rückwirkend auf den 1. Januar desselben Jahres) in Rom unterzeichnet. Die Aufnahme des Darlehens erfolgte erst neun Tage später in Abwesenheit der griechischen Seite und wurde ihr als Zwangsvollstreckung auferlegt. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Anleihegelder nicht für den Unterhalt der Besatzungstruppen auf griechischem Staatsgebiet bestimmt waren: Deren auf 1,5 Milliarden Drachmen monatlich ermittelte Kosten gingen zu Lasten des besetzten Landes.14Vgl. dazu die Informationsnotiz des Ministerialdirektors am Bundesfinanzministerium Dr. Féaux de la Croix vom 23. September 1964 an den Ministerialdirektor am Bundeswirtschaftsministeriums Dr. Reinhardt (VI A/1-0 1266 Griech -15-64) zum Thema den 2. Weltkrieg betreffende Wiedergutmachungsforderungen Griechenlands, in: BA, Ref. B102, Bd. 135788. Das Darlehen selbst war auf Zahlungen der Bank von Griechenland für anderweitige Verpflichtungen des Dritten Reichs ausgerichtet – bis hin zu dem Punkt, dass auf diesem Wege zeitweise sogar Rommels Afrikafeldzug finanziert wurde. Die jeweilige Inanspruchnahme der Anleihe erfolgte in Form monatlicher Auszahlungen, deren Höhe und Befristung – keineswegs zufällig – in der Vereinbarung unbestimmt geblieben waren. Schon bald wurde klar, dass die deutsche Seite unbeschränkte Abhebungen je nach Bedarf tätigen würde. Bezeichnend ist, dass in den drei ersten auf den März ‘42 folgenden Monaten die Abhebungen insgesamt das Zehnfache, in den darauffolgenden drei Monaten das Zwanzigfache der „Besatzungskosten“ überstiegen. Unvermeidliche Folge dieser Umstände war, dass die griechische Wirtschaft dabei so unermesslichen wie katastrophalen Schaden erlitt und die Drachme als Währung beinahe zu existieren aufhörte – eine Hypothek, die das Wirtschaftsleben des Landes noch viele Jahre nach Kriegsende belasten sollte. Wie auch immer, die griechische Regierung fügte sich umstandslos in die Situation: der Finanzminister gab der Bank von Griechenland den Auftrag, mit den Auszahlungen des Darlehens zu beginnen. Durch Modifikationen des ursprünglichen Abkommens wurde die Zwangsanleihe in ein Vertragsdarlehen umgewandelt und dabei festgelegt, dass die Darlehensbeträge angepasst werden konnten und ihre Rückzahlung ab April 1943 beginnen sollte. In der Tat zahlten die Achsenmächte im Lauf der Besatzungszeit auf zwei spezifische Rechnungen hin einige Beträge ein (Etmektsoglou, 2000, 66), ein Umstand, der belegt, dass sie diese Einzahlungen als Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen gegenüber Griechenland betrachteten.
Laut eigener Auskunft des Reichsbevollmächtigten in Griechenland Günther Altenburg belief sich die Gesamthöhe der Anleihe auf 476 Millionen nachbesatzungszeitlicher Mark (Fleischer, 2000, 365), laut der Bank von Griechenland auf 228 Millionen Dollar zum Kurs von 1944 (die Mark stand damals zum Dollar im Verhältnis 1:2). Laut Gotzamanis (1954, 14), dem zuständigen Minister während der Besatzungszeit, hatte Italien 64.800.000 und Deutschland 160 Millionen Dollar in Anspruch genommen, während Prof. Angelos Angelopoulos (1945, 37ff.) die verbleibende Schuld auf 210.602.400 Dollar bezifferte.
Generell wird die Summe von allen Seiten bestätigt. Gerechnet vom Augenblick der offiziellen Festlegung des Anleihekapitals an ist eine Berechnung der Schuld unter Einbezug von Aufwertung und Zinsen eine einfache Sache. Einem Dossier des Staatlichen Rechnungswesens zufolge beläuft sich der heutige Geldwert der Besatzungsanleihe auf 10-11 Milliarden Euro (Tsolis, 11.1.2015). Aus dem hier Dargelegten geht klar hervor, weshalb die Frage der Kriegsentschädigungen und des Besatzungsdarlehens, die (besonders in Krisenzeiten wie nach 2010) in der öffentlichen Diskussion mit einiger Regelmäßigkeit wieder aufs Tapet kommt, einiges an Rechnungen aus der Kriegsvergangenheit offenhält. Bis 1990 konnte man auf deutscher Seite die Forderungen ehemals besetzter Länder durchaus in Einklang mit internationalem Recht abweisen. Es ist charakteristisch für die Nachkriegsjahrzehnte, dass in jedem die Kriegsentschädigungen und das Besatzungsdarlehen betreffenden Informationspapier des westdeutschen Außenministeriums, sowie man auf griechischer Seite das bewusste Thema anschnitt, allen mit Verhandlungen und bilateralen Kontakten befassten offiziellen Vertretern nahegelegt wurde, die deutsche Argumentation auf die für die Bundesregierung günstigen Bestimmungen des Londoner Abkommens von 1953 zu konzentrieren. Nach der Wiedervereinigung gibt es allerdings kein tragfähiges Argument mehr dafür, einer Verhandlung des betreffenden Themas, insbesondere der Darlehensfrage auszuweichen. Ja, man könnte sagen, dass die jahrzehntelang konsequente Berufung auf das Londoner Abkommen die deutsche Seite nun um so eindeutiger darauf verpflichte, für eine Lösung der Frage zu sorgen. Fest steht, dass Deutschlands Weigerung die Kriegsvergangenheit unbewältigt in der Schwebe lässt.
Der Weg ins vereinte Europa
Im Gegensatz zu den offen gebliebenen Fragen aus der Kriegsvergangenheit gestaltete sich die beiderseitige Zusammenarbeit im europäischen Rahmen als absolut erfolgreich. Die Bundesrepublik Deutschland spielte als eines der sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) eine bestimmende Rolle bei dem Bestreben Griechenlands, sich dem vereinten Europa anzuschließen, wobei es Athen schon seit Ende der 50er Jahre darum zu tun war, auch auf dieser Ebene seine Rolle als „Eckstein“ der NATO nutzbringend einzusetzen. Fast unmittelbar nach Unterzeichnung der Römischen Verträge am 7. Juli 1957 kam während des zweitägigen Bonn-Besuchs des griechischen Handels- und Industrieministers Panajis Papaligouras bei Gesprächen, die im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit stattfanden, der griechische Wunsch, sich der EWG anzuschließen, auf den Tisch.15Vgl. das Gesprächsprotokoll vom 16. Juli1957 über den Besuch des griechischen Handels- und Industrieministers Panajis Papaligouras im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, in: PA AA, Ref. 412, Bd. 173. Die wohlwollende Haltung Westdeutschlands gegenüber dieser Perspektive erlaubte es der griechischen Regierung, am 27. Juli 1959 der Gemeinschaft einen offiziellen Antrag vorzulegen. Wenige Tage später begrüßte der westdeutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister Ludwig Ehrhard diesen Schritt und bestätigte dabei die positive deutsche Einstellung zu einem Beginn der Verhandlungen (Svolopoulos, 2005.4, 148). Wo immer Schwierigkeiten auftraten, begegnete man diesen auf hoher Ebene und mit direkter Verständigung zwischen Griechenlands Ministerpräsidenten Konstantinos Karamanlis und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Ein solcher Fall trat Ende Sommer 1960 an einem kritischen Wendepunkt der Verhandlungen ein. Als die negativen Reaktionen der Gemeinschaftsstaaten, und hier vor allem Italiens in der Frage des Exports griechischer Agrarprodukte überhandnahmen, forderte Karamanlis im August 1960 in einem Briefwechsel zwischen beiden Politikern die energische Unterstützung Bonns ein. In seinem Schreiben mit dem Antrag auf deutsche Unterstützung hob der griechische Premier unter anderem die Bedeutung des Tabakexports nach Deutschland für die griechische Wirtschaft sowie die Notwendigkeit einer ausreichenden Subventionierung hervor, da es für Griechenland hier nicht nur darum gehe, seinen Verpflichtungen gegenüber der EWG nachzukommen, sondern vor allem auch stabil an den Westen gebunden zu bleiben (Svolopoulos, 2005.4, 386ff.).
Bonns Unterstützung war in jedem Stadium der Verhandlungen vorbildlich und die Bemühungen Griechenlands nahmen mit dem Assoziierungsvertrag vom 9. Juli 1961, der am 1. November 1962 dann in Kraft trat, einen positiven Verlauf. Es handelte sich um den ersten Assoziierungsvertrag der EWG mit einem Drittstaat – ein Vorgang, an dem abzulesen war, welche Bedeutung die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Westen generell Griechenland beimaßen (Botsiou, 2010, 305).16Vgl. Das Schreiben Bundeskanzler Adenauers vom 28. Februar 1961 an den griechischen Ministerpräsidenten Karamanlis, übermittelt über ein (streng geheimes) Telegramm des griechischen Botschafters in Bonn Themistoklis Tsatsos. Übersetzung aus dem Deutschen in: Archiv Konstantinos Karamanlis/Stiftung Konstantinos G. Karamanlis, Dossier 14A/000385. Ebenso in: Bundesarchiv (Koblenz), Ref. B102, 12164-2.
In der auf die Unterschrift des Vertrags folgenden Zeit zeigte Athen sehr deutlich, wie sehr es den Beitrag Bonns zu dem ganzen Verfahren und sein Verständnis für die Besonderheiten der griechischen Wirtschaft anerkannte. Auf der bilateralen Beziehungsebene brachte Griechenland seine Dankbarkeit für die vorbildliche Weise zum Ausdruck, mit der die Bundesregierung die griechischen Positionen unterstützt habe. Wie Westdeutschland den Vertrag hinsichtlich der beiderseitigen Beziehungen einschätzte, fasst ein Telegramm Adenauers an Karamanlis zusammen, in dem er seine Überzeugung kundtat, dass die Assoziierung Griechenlands an die Länder der Europäischen Gemeinschaft für Griechenland und Deutschland nicht allein wirtschaftliche Vorteile erbringe, sondern auch zur Stärkung des „freien Europas“ beitrage.17„Der Bundeskanzler zur Assoziierung Griechenlands mit der EWG“, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 3. November 1962, Nr. 204, 1735. Die nächste Runde auf dem Weg in die Europäische Union, bei der es diesmal um die vollständige Eingliederung Griechenlands ging, kam unmittelbar nach dem Sturz der Obristendiktatur 1974 in Gang. Auf griechischer Seite war es Konstantinos Karamanlis selbst, der die führende Rolle übernahm und wie kein anderer griechischer Politiker nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch nationalen Gründen die Anbindung an Europa betrieb. Er selbst war ja auch der Hauptverantwortliche dafür gewesen, dass Griechenland die Nähe der Gemeinschaft schon Ende der 50er Jahre, d.h. gleich nach ihrer Gründung gesucht hatte. Denn die Europäische Gemeinschaft war es, die die Stabilität der griechischen Demokratie und vor allem die militärische Sicherheit des Landes gewährleisten konnte (Svolopoulos, 1990, 143).
Auch bei diesem neuerlichen Unternehmen wurde der Beitrag des „deutschen Faktors“, der im europäischen Raum wie global eine zunehmend wichtigere Rolle spielte, als unverzichtbar angesehen (Pengas, 1992, 49 und Svolopoulos, 2005.10, 386ff.). Am 12. Juni 1975 wurde Griechenlands Antrag auf Vollmitgliedschaft vorgelegt.18Vgl. das Schreiben vom 12. Juni 1975 von Konstantinos Karamanlis an G. Fitzgerald (auf Französisch), dazu auch die Pressemitteilung der Bundesregierung, in: PA AA, Ref. 410, Bd. 105611. Ungefähr sechs Monate später kam es zu ersten Schwierigkeiten bei dem Unternehmen: In ihrem Gutachten vom 28. Januar 1978 reagierte die Europäische Kommission zwar positiv, schlug aber eine Übergangsperiode vor der vollständigen Eingliederung des Landes vor. Argument der Kommission war, es werde Zeit dafür gebraucht, die dazu nötigen wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Der Eingliederungsprozess Griechenlands hätte sich unweigerlich verzögert, wäre dieses Gutachten Wirklichkeit geworden. Deshalb setzte Karamanlis wie schon in der Vergangenheit sein ganz persönliches Prestige ein, um die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Als Resultat seiner an die Regierungen der neun Mitgliedsstaaten und besonders an die französische und deutsche Regierung gerichteten Intervention wurde der Vorschlag der Kommission abgelehnt (Botsiou 2010, 310). So konnten im Juli 1976 die Beitrittsverhandlungen ihren Anfang nehmen.
Etwa ein Jahr später bedurfte es einer weiteren Intervention des griechischen Premiers. Diesmal ging es darum zu vermeiden, im Laufe des Jahres 1977 den griechischen Beitritt in die EWG mit demjenigen der Staaten der Iberischen Halbinsel zu verknüpfen, nachdem Spanien und Portugal etwa zur selben Zeit entsprechende Anträge gestellt hatten. Für die ungehinderte Fortsetzung des Weges Griechenlands zum Beitritt war der westdeutsche Einfluss in dieser Phase von besonders bestimmender Bedeutung. Kanzler Helmut Schmidt versicherte Karamanlis seines Verständnisses für dessen Besorgnisse, während Vizekanzler und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Gesprächen bei seinem Athenbesuch der griechischen Regierung bestätigte, sie könne mit der Unterstützung Bonns rechnen (Svolopoulos, 2005.9, 428ff.).
Die Bekundungen der Deutschen waren insofern von besonderem Wert, als sie das Vertrauen sichtbar werden ließen, welches sie den Positionen des griechischen Ministerpräsidenten entgegenbrachten. Anzumerken ist hier, dass Karamanlis aufgrund seiner langjährigen Freundschaft mit dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing gewissermaßen „garantiert“ auf eine positive Haltung Frankreichs rechnen konnte. Mitte der 70er Jahre war demgegenüber die Bekanntschaft mit Schmidt noch frisch. Wie auch immer: klar zutage trat die Tatsache, dass der westdeutsche Kanzler den guten Ausgang der Verhandlungen als gegeben betrachtete, als der griechische Premier bei seinem Besuch in Westdeutschland im Frühjahr 1978 seinem Wunsch Ausdruck verlieh, die Beitrittsverhandlungen möglichst bis Ende desselben Jahres, d.h. solange der deutsche Vorsitz in der Gemeinschaft noch andauerte, zum Abschluss kommen lassen.19Vgl. die Aufzeichnungen vom 3. Mai 1978 über die Gespräche des Bundeskanzlers mit Ministerpräsident Karamanlis im Kanzleramt am 3. Mai 1978, in: PA AA, Ref. 410, Bd. 121687. Letzte Schwierigkeiten bei den Beitrittsverhandlungen ergaben sich in deren abschließenden und kritischsten Phase, nämlich als es galt, befriedigende Lösungen für drei wichtige Problemfelder zu finden: a) die Zeit der Anwendung der Übergangsmaßnahmen, b) die Landwirtschaft und c) die Sozialpolitik. Am 12. Dezember bestellte Karamanlis die betreffenden Auslandsbotschafter in sein Büro ein und überreichte ihnen ein Rundschreiben an die Führer der neun Mitgliedsstaaten. Bei dieser Begegnung wurde klargestellt, dass Griechenland zwar bestrebt war, der EWG beizutreten, aber nicht bereit sei, Zugeständnisse zu machen, die seine Interessen und seine nationale Würde berührten. Der westdeutsche Botschafter versicherte, dass seine Regierung und ebenso die Regierungen der anderen Mitgliedsstaaten bereit seien, alles Notwendige zu tun, um jede im Endstadium der Verhandlungen aufkommende Schwierigkeit zu überwinden (Svolopoulos, 2005.10, 406ff.). Diese Haltung bewahrheitete sich in den Verhandlungen, die am 20. Dezember 1978 in Brüssel mit dem Resultat stattfanden, dass der Vertrag über die Aufnahme Griechenlands als zehntes EWG-Mitglied bereits am folgenden Tag gemeinsam vereinbart wurde. In Anerkennung des westdeutschen Beitrags dazu sandte der griechische Ministerpräsident am 22. Dezember umgehend einen Dankesbrief an den Bundesaußenminister und hob dabei dessen ganz persönlichen Anteil an dem Verhandlungserfolg hervor.20S. Schreiben von Konstantinos Karamanlis an den Bundesaußenminister vom 22. Dezember 1978, in: PA AA, Ref. 410, Bd. 121689.
So wurde in Athen am 28. Mai 1979, 18 Jahre nach der Assoziation, die Urkunde über den Beitritt Griechenlands in die EWG in Gegenwart der Ministerpräsidenten und Außenminister unterzeichnet. Nach weiteren eineinhalb Jahren wurde Griechenland dann endgültig zehntes Mitglied der Gemeinschaft, fünf Jahre vor dem Beitritt Spaniens und Portugals, die, wie bereits oben erwähnt, fast gleichzeitig mit Griechenland ihren entsprechenden Antrag vorgelegt hatten. Bei der Unterzeichnung der Urkunde über den Beitritt Griechenlands in die EWG brachten auch die beiden deutschen Protagonisten Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher ihre Befriedigung zum Ausdruck. Trotz der Schwierigkeiten auf wirtschaftstechnischem Feld und obwohl sich der EWG-Beitritt Griechenlands mit Gewissheit in Form einer höheren deutschen Beitragszahlung zum Gemeinschaftshaushalt niederschlagen würde, hatte Deutschland aus politischen Gründen zugunsten des Beitritts des Landes in die Gemeinschaft Stellung bezogen (Apostolopoulos, 2010, 284). Eine bedeutende Rolle spielten sicherlich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das persönliche Verhältnis Karamanlis-Schmidt (Schmidt, 1990, 407), wie zuvor das zu Adenauer, dazu der Respekt, das Verständnis und die Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelte, und sicherlich ebenso der positive Einfluss des französischen Präsidenten Giscard d’Estaing wurden zu bestimmenden Elementen für die Stabilität der deutschen Position. So nahm das Bemühen Griechenlands um Beitritt insofern seinen guten Verlauf, als es mit politisch maßgeblichen Kriterien seitens der Achse Frankreich-Deutschland rechnen konnte (Botsiou, 2010, 309). Seit den 80er Jahren haben sich bis heute die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland im Rahmen der Europäischen Union stetig entwickelt und tun dies weiterhin. Trotz zeitweise gravierender Meinungsunterschiede, ablesbar etwa an der Konfrontation zwischen Ministerpräsident Andreas Papandreou und Kanzler Helmut Kohl auf der Gipfelkonferenz der Europäischen Gemeinschaft Mitte der 80er Jahre anlässlich des griechischen Vorschlags, die wirtschaftliche Unterstützung schwächerer Regionen der Mittelmeerländer aufzustocken (Apostolopoulos, 2010, 285), gleichermaßen ablesbar an dem Dissens Anfang der 90er Jahre bezüglich der Zukunft der Balkanländer, bei dem Deutschland auf einer umgehenden Anerkennung der Republiken Slowenien und Kroatien durch die EG bestand, während Griechenland für den Erhalt eines jugoslawischen Bundesstaates eintrat (Apostolopoulos, 2015, 614), gestaltete sich die Zusammenarbeit der beiden Länder ausnehmend eng.
Schlussfolgerungen
Anfang des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, inmitten einer wirklich komplexen und schwierigen Gesamtsituation für die meisten europäischen Länder und die Welt überhaupt, voller wirtschaftlicher und sozialer Probleme und mit einer Europäischen Union, die nach den großen Vorwärtssprüngen der letzten Jahrzehnte sichtlich aus dem Tritt geraten ist, besteht für Griechenland und Deutschland Anlass, Lehren aus einer kritischen Untersuchung des Verlaufs ihrer Beziehungen von den ersten Nachkriegsjahren bis heute zu ziehen. Für Griechenland, wo es in für das Land ungünstigen Situationen reichlich oft dazu kommt, dass Stereotype aus der Kriegsvergangenheit und Besatzungszeit mit leichter Hand heraufbeschworen werden, wäre hinreichende Rückbesinnung darauf nötig, dass die enge Zusammenarbeit mit Deutschland auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene bewusste Präferenz der griechischen Nachkriegsregierungen (ERE, Zentrumsunion, Nea Dimokratia, PASOK usw.) gewesen ist. Das lag offensichtlich im ureigenen Interesse des Landes. Besonders wichtig ist, trotz der unterschiedlichen Sicht beider Länder auf außenpolitische Themen (Verhältnis Griechenland-Türkei, Balkanfragen) im Auge zu behalten, dass Griechenland auf seinem Weg ins vereinigte Europa stets auf Deutschlands Unterstützung rechnen konnte – bei der Assoziation an die EWG auf diejenige Konrad Adenauers, beim endgültigen Beitritt auf diejenige Helmut Schmidts, aber auch in jüngerer Zeit auf diejenige Gerhard Schröders bei der Aufnahme in die Euro-Zone. Auf der anderen Seite richten die öffentliche Meinung in Deutschland und die Berliner Regierung ihr Augenmerk zu wenig darauf, dass die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht so weit hinter uns liegt, wie manch einer glauben möchte, wobei obendrein klar bleibt, dass Griechenland zu keiner Zeit für diese umfassende Katastrophe in hinreichendem Ausmaß entschädigt worden ist. In der Nachkriegsszenerie mit dem aufkommenden Ost-West-Konflikt sah sich das besiegte Deutschland besonderer Nachsicht und Milde gegenüber – hauptsächlich seitens großer Staaten wie den USA, aber auch kleiner wie Griechenland. Wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon 1987 betonte, waren die Griechen trotz allem Unheil der Kriegs- und Besatzungszeit diejenigen, die nach dem Krieg „als erste dem Gegner die Hand reichten“ (Europa-Archiv, 1987, 133).