Einleitung: Themen- und Rahmensetzung
Vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise stellt der Besuch des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck im März 2014 einen Wendepunkt dar. In Begleitung seines griechischen Amtskollegen Karolos Papoulias hielt Joachim Gauck eine Rede am Mahnmal des Dorfes Lingiades in Epirus, ein kleiner Ort 10 Minuten von der Stadt Ioannina entfernt. 1943 haben Soldaten der Wehrmacht im Rahmen einer sogenannten Sühnemaßnahme das Dorf zerstört und die anwesenden Einwohner, in ihrer Mehrheit Frauen, Kinder und Greise, ermordet. Ähnliche Zerstörungs- und Morderfahrungen hatten über 1000 Ortschaften in ganz Griechenland während der Besatzungszeit (Doxiadis, 1946). Seit 1997 (Hellenisches Parlament, 1997) werden solche Orte nach einem Anerkennungsverfahren mit dem Titel „Märtyrer“1Das Wort “Märtyrer” hat eine religiöse Konnotation, die hier nicht zutrifft, aber für die Symbolik wichtig ist. Das Martyrium, das Leid der Bewohner soll durch den Titel zum Ausdruck kommen. In diesem Beitrag wird der Begriff, den sich die Dörfer zuschreiben verwendet, ohne einen Diskurs darüber zu führen. ergänzt, um das Leiden dieser Orte und seiner Einwohner anzuerkennen2Der Begriff „martyriko“ wurde schon vor dem Krieg für Schicksalsschläge benutzt. Verbreitet wurde der Begriff durch das französische Dorf Oradour-sur-Glane, welches wegen seiner eigenen Tragödie als „village martyr“ bezeichnet wurde (Farmer, 2000). Die griechischen Dörfer haben das französische Paradigma an die eigenen Gegebenheiten angepasst und zur Titelgebung benutzt.. Man spricht von Märtyrerstädten (martyriki poli) und Märtyrerdörfern (martyriko chorio), in diesem Essay werden sie zusammenfassend auch Märtyrergemeinden oder Märtyrerorte genannt. Im Deutschen wird oft der Begriff Opferdorf/Opferdörfer verwendet. Diese Orte haben inzwischen einen besonderen Stellenwert für beide Länder, als Orte des Grauens, der Erinnerung und damit verbunden als Orte der Versöhnung.
Gaucks Besuch signalisierte einen Politikwechsel, der die dunkelsten Kapitel deutsch-griechischer Beziehungen neu thematisierte. Zum einen, weil der deutsche Präsident um Verzeihung bat und zum anderen, weil er von Versöhnung sprach. Diese Versöhnungsgeste wurde von der deutschen Politik gegenüber Hellas direkt mit zwei praktischen Ansätzen bestärkt. Die Gründung eines deutsch-griechischen Jugendwerks (JW) wurde vorgeschlagen und das Auswärtige Amt errichtete den deutsch-griechischen Zukunftsfonds (DGZF). Der Beginn einer koordinierten Versöhnungspolitik von Seiten Deutschlands nahm damit bereits Ende 2014 langsam Form an. Konkret wurde es als Politik ausgedrückt, mit dem Ziel eine gemeinsame Erinnerungskultur zu etablieren und Versöhnung mit den Märtyrergemeinden und den jüdischen Gemeinden anzustreben (Auswärtiges Amt, 2014).
In diesem Essay wird zuerst der theoretischen Rahmen aktueller Versöhnungsforschung gesetzt und anschließend die deutsche Außen- und Versöhnungspolitik umrissen. Der Überblick über die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland wird die Abwesenheit einer umfassenden Aufarbeitung aufzeigen. In diesem Rahmen werden versöhnungspolitische Gesten beleuchtet und zentral die Politik der Periode 2014-2019, die Bedeutung symbolischer Gesten sowie die Rolle der griechischen Opferdörfer und ihrer Einstellung besprochen. Auf die Geschichte und Rolle der griechischen jüdischen Gemeinden wird nicht gesondert eingegangen, da einerseits einschlägige Forschung und Literatur dazu bereits vorhanden ist3Vgl. u. a. die Werke von Maria Kavala (2015), Rika Benveniste (2014), Giorgos Kokkinos (2015), Leon A. Nar (2018), Odette Varon-Vassard (2019), Anna Maria Droumpouki (2019) und Leon Saltiel (2020). und andererseits ein solches Thema ein ganz eigenes Kapitel im deutsch-griechischen Dialog verdient.
Versöhnungsforschung: zwischen Prozess und Ergebnis
Das junge Feld der Versöhnungsforschung untersucht die Normalisierung und -wenn möglich- die Besserung von Beziehungen zwischen Staaten, Gruppierungen und Individuen nach gravierenden Ereignissen. Solche Ereignisse sind Kriege und Bürgerkriege, Genozide, Apartheid, Sklaverei und weitere schwere Menschenrechtsverletzungen (Leiner, 13.08.2018). Im Falle Deutschlands und Griechenlands sind es die Geschehnisse der Besatzungszeit und deren Folgen, die beim Versöhnungsprozess im Mittelpunkt stehen. Während der Besatzungszeit kam es zur Ausbeutung, Deportation und Ermordung der griechischen Juden, zahlreichen Massakern, Erschießungen und Vertreibungen von Zivilisten aber auch zur Zerstörung ganzer Ortschaften. Die Besatzungszeit 1941-1944 (1945 im Falle Kretas) hinterließ ein zerstörtes und ausgebeutetes Land mit tiefen Nachwirkungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (Mazower, 2000; 2016). Wiederannäherung und Versöhnung nach Konflikten sind wichtige Bestandteile eines friedlichen Zusammenlebens (Leiner, 2018). Ein Versöhnungsprozess soll als Ergebnis die Versöhnung haben (Bloomfield, 2003), daher ist Versöhnung Prozess und Ziel zugleich. Um diese Dualität aufzubrechen, spricht Gardner Feldman von stabilem Frieden (stable peace) (Gardner Feldman, 2012, 9) oder tiefer Versöhnung (deep reconciliation) (Gardner Feldman 2017), um das Ergebnis vom Prozess zu unterscheiden.
Versöhnung ist ein langjähriger Prozess, er dauert über Generationen hinweg an und ist im Rahmen der deutsch-griechischen Beziehungen als Makroprozess zu verstehen. Das Gelingen eines solchen Makroprozesses basiert auf verschiedenen Aspekten: von Strafprozessen und öffentlichen Entschuldigungen, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenarbeit bis hin zu materiellen Leistungen und Begegnungen von religiösen Würdenträgern, zivilgesellschaftlichen sowie politischen Akteuren. Der Prozess erfordert verschiedene Komponenten, darunter die öffentliche Entschuldigung von politischen Akteuren und Vertretern der Tätergruppe, Aufarbeitung und Wahrheitsfindung, Anerkennung der Opfer und ihres Leidens. Gerechtigkeit kann strafend, restaurierend oder beides sein. Ethische und materielle Wiedergutmachung können den Prozess komplementieren. Die Vielfalt der Bereiche betont den inter- und transdisziplinären Charakter der Versöhnungsforschung, die eine Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen erfordert. In der Versöhnungsforschung geht es darum, wie man Hass und Feindschaft überwindet und tiefe Gräben nachhaltig überbrückt. Wichtig dabei sind Gerechtigkeit und Wahrheit, Reparationen, Anerkennung, aber auch Trauer über das was nicht wiedergutgemacht werden kann. Gegenseitige Achtung und ein offener und vertrauensvoller Dialog zur gemeinsamen Lösungsfindung sind für den Prozess ausschlaggebend (Leiner, 2018; Nadler et al., 2008).
Transitional Justice ist für den Prozess wichtig (Bloomfield, 2003), denn um zielführend zu sein, muss dieser von politischen, religiösen und zivilgesellschaftlichen Interessensgruppen getragen werden. Er widmet sich hauptsächlich den Bedürfnissen der Leidtragenden (Gardner Feldman, 2012, 14), aber inkludiert auch Vorteile und Erleichterung für die Tätergruppe (Nadler/Shnabel, 2008; Stephan, 2008). Denn ehemalige Feinde, Opfer und Täter stehen oft in einer gegenseitigen Abhängigkeit (Du Toit, 2018, 189-214), die Versöhnung verlangt, damit sich ein Konflikt nicht fortsetzt. Gleichzeitig muss man darauf achten, dass Maßnahmen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen, denn es ist eine Ausgewogenheit der Aktionen notwendig, in der sich Gerechtigkeit, Reparation und Anerkennung zusammenfinden:
As already stated, acknowledgement of harm without criminal trials can appear as lip service and a lack of sincerity. The same is true for acknowledgement without reparations. Conversely, reparations without public recognition of harm may seem like blood money (Rehrmann, 2020, 34).
Versöhnungspolitik als Außenpolitik: das deutsche Paradigma
Versöhnung ist ein wichtiger Bestandteil deutscher Außenpolitik. Gardner Feldman hat mit ihrem Buch „Germany’s foreign policy of reconciliation“ (2012) die deutsche Versöhnungspolitik gegenüber Israel, Frankreich, Polen und Tschechien beschrieben und analysiert. Ziel dieser Politik war anfangs die Reintegration Deutschlands auf der internationalen Bühne und sie bleibt bis heute Bestandteil eines politischen Versöhnungsprozesses zwischen ehemaligen Feinden. Diese Außenpolitik hat gewisse Charakteristika: sie bezieht sich hauptsächlich auf Traumata des Zweiten Weltkrieges, sie findet auf symbolischer und pragmatischer Ebene statt und kombiniert unterschiedliche Politikfelder. Ein Beispiel von realer Versöhnungspolitik ist die Schaffung des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen Jugendwerks, eine Zukunftsinvestition in die Freundschaft der Jugend zwischen den jeweiligen Ländern. Eine symbolische Geste der Entschuldigung, die einen Wechsel der deutschen Ostpolitik ankündigte und immer noch positiv nachwirkt, war der Kniefall des Kanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos. Seit 1997 besteht ein deutsch-tschechischer Zukunftsfonds, der Jugend- und Erinnerungsarbeit fördert. Die Rede der Kanzlerin Merkel in der Knesset in Israel war ein besonderer Moment in der Geschichte der beiden Länder. All diese Beispiele (Gardner Feldman, 2012) sind Teile einer deutschen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die zur Aus- und Versöhnung zwischen Aggressoren und Eroberten, zwischen Tätern und Opfern, ihren Nachfahren und Vertretungsinstanzen beitragen soll und es weitgehend auch tut. Deutschland gilt generell als Vorreiter einer solchen Politik, die Symbolik und Pragmatismus auf der internationalen Bühne zusammenbringt (Mihr, 2017).
Freundschaft ohne Versöhnung: Rückblick und relevante Literatur
Im Rahmen dieser Politik rückte Griechenland erst 2014 in den Vordergrund.4Bezeichnend für diesen Prozess ist auch die Veröffentlichung des exzellenten Bandes „Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Griechische und deutsche Erinnerungskultur. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik der Okkupation Griechenlands (1941-1944)“ (Kambas, Mitsou, 2015). Es handelt sich hier jedoch nicht um eine Neuentdeckung des Themas, sondern um eine Neuauslegung. Der deutschen Diplomatie muss die Bedeutung der Besatzungszeit und ihrer Folgen bewusst gewesen sein, eine offene Diskussion hatte zu diesem Thema jedoch nicht stattgefunden, trotz der materiellen Ansprüche, die die griechischen Regierungen und die griechische Gesellschaft weiterhin stellt (Radiopoulos, 2019). Für deutsche Regierungen war es wichtig, diese Büchse der Pandora nicht zu öffnen, da ein Ansturm von Forderungen ehemals feindlicher Länder befürchtet wurde. Královás (2016) analytische und umfassende Darstellung deutsch-griechischer Beziehungen und der Nachwirkung der Besatzungszeit sieht wenig Chancen zur Versöhnung (Králová, 2016, 248-252). Sie beobachtet zu viele Versäumnisse auf beiden Seiten: besonders die fehlende Strafjustiz für verübte Verbrechen, aber auch die von beiden Ländern fehlende Unterstützung für griechische Opfer. Die Nachkriegsbeziehungen waren von wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten und vom Kalten Krieg geprägt (Pelt, 2006). Realpolitik und Postkriegsnarrative diktierten die Beziehungen. Die griechischen Gastarbeiter und die deutsche Solidarität zur Zeit der griechischen Militärdiktatur stärkten die zwischenmenschlichen Freundschaften und die politischen Verbindungen der beiden Länder (Apostolopoulos, 2018, 362-63; Papanastasiou, 2018), ohne die Vergangenheit zu thematisieren oder aufzuarbeiten – eine Freundschaft ohne Versöhnung.
Bezüglich einer Strafjustiz für Naziverbrechen sind große Mängel zu beobachten, die beiden Ländern zuzuschreiben sind. Die Zahl von Verurteilungen deutscher Naziverbrecher und griechischer Kollaborateure ist sehr gering (Zaikas, 2018). Die griechischen Regierungen haben sich oft kooperativ gegenüber deutschen Stellen gezeigt, zulasten der Gerechtigkeitserwartungen der eigenen Bevölkerung (Spiliotis, 2000). Gleichzeitig wurden griechische Forderungen nach Reparation weiterhin aufrechterhalten (Konstantinakou, 2015), aber ein wichtiger Teil eines Versöhnungsprozesses, nämlich die Bestrafung von Verbrechen ist inzwischen ausgeschlossen. Nach dem Ende des Krieges und der Besatzung haben unterschiedliche Opferdörfer und Opferverbände den Kontakt zu Deutschland gesucht und vergebens um Hilfe gebeten (Droumpouki, 2014, 371-372). Deutsche Regierungen haben vehement diese Hilfe verweigert. Selbst bei deutschen zivilgesellschaftlichen Initiativen war man stets darauf bedacht, als privat zu gelten, um Eindrücke einer Reparation oder Wiedergutmachung zu vermeiden und keinen Präzedenzfall zu bilden (Schramm, 2003; Rondholz, 2015; Karpouchtsis, 2021). Im Rahmen einer gesamtdeutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wurde langsam die Rolle der Wehrmacht anders verstanden. Während in Griechenland jährlich die Opferdörfer an ihre Toten und ihre Verluste erinnerten, haben in Deutschland über Jahrzehnte Veteranentreffen zur Traditionspflege stattgefunden (Rondholz, 2015). Der Mythos der sauberen Wehrmacht wurde lange gepflegt, dagegen wurden Verbrechen als Handlungen der SS dargestellt und selbst bis in die 1990er fiel es der deutschen Öffentlichkeit schwer hinzunehmen, dass auch die Wehrmacht Verbrechen begangen hatte. Auch heute noch finden feierliche Gedenkveranstaltungen für Wehrmachtsverbände weiterhin statt, ohne ein Wort über deren Opfer zu verlieren.
In diesem Zusammenhang steht die Idee, dass Sühnemaßnahmen und maßlose Bestrafung von Zivilisten zur Bekämpfung der Andarten normal seien bzw. zumindest im Rahmen der Kriegsführung hinnehmbar. Dies bezeugt auch noch 1995 die Antwort der deutschen Botschaft in Athen auf eine Anfrage von Argyris Sfountouris, einem Überlebenden des Massakers von Distomo (Seibel, 2016, 239-240). Dieses Argumentationsmuster lässt sich noch immer finden. Charakteristisch ist das Buch von Heinz Richter (2011), das den Widerstand und die Sühnemaßnahmen zu relativieren versucht (Richter, 2011, 287-291). Ähnlich verhalten sich revisionistische Werke, die hauptsächlich einen Bürgerkrieg zwischen griechischen Gruppen sehen und weniger auf die Rolle der Achsenmächte fokussieren, wie Voglis und Nioutsikos (2017) erklären. Leider ist diese Argumentationslinie für eine Versöhnung hinderlich. Sie steht im direkten Gegensatz zur Anerkennung der Opfer und ihres Leids und widerspricht den dargestellten Ergebnissen historischer Forschung. Im Rahmen eines Versöhnungsprozesses müssten die Opfer Empfänger von Anerkennung sein und auch deren Wahrheit müsste zum Ausdruck kommen und von der Tätergruppe und den eigenen Instanzen wahrgenommen werden. Desinteresse und Relativierung oder gar Forderungen zur Anerkennung der Tätergruppe bilden keine Vertrauensbasis und behindern eine seriöse Auseinandersetzung. In Gaucks Worten: „Es sind die nicht gesagten Sätze und die nicht vorhandenen Kenntnisse, die eine zweite Schuld begründen, da sie die Opfer sogar noch aus der Erinnerung verbannen (Gauck, 2014).5Auf Griechisch aus der offiziellen Übersetzung des Bundespräsidialamtes: „Είναι αυτές οι φράσεις που δεν έχουν ειπωθεί, αυτή η ανύπαρκτη γνώση που θεμελιώνουν μια δεύτερη ενοχή, αφού αποκλείουν τα θύματα ακόμη και από την μνήμη.“ https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2014/03/140307-Griechenland-Mahnmal-Lingiades.pdf?__blob=publicationFile
Hagen Fleischer (2009) geht bei seiner Analyse der Public History ausführlich auf die Kraft von Narrativen ein. In seinem letzten Werk weist er auch auf das Zusammenspiel der symbolischen Gesten hin, die eine materielle Unterstreichung benötigen (Fleischer, 2020, 251-252). Narrative verändern sich langsam, oft nach härteren Auseinandersetzungen, die meistens mit materiellen Ansprüchen in Verbindung gebracht werden. Noch im Jahr 2000, auf der Konferenz „Versöhnung ohne Wahrheit“ wurde darauf hingewiesen, dass man die Reparationsfrage anders angehen müsse und auf andere materielle Lösungen für getanes Unrecht ausweichen sollte (Skarpelis-Sperk, 2001). Auch diese Konferenz entsprang einer juristischen Auseinandersetzung, sie war das Ergebnis der Klage Angehöriger des Opferdorfes Distomo gegen Deutschland, ein Fall, der das verbreitete Konzept der Staatenimmunität verändern könnte (Paech, 2009). Obwohl deutsche Regierungen die Reparationsdebatte vehement ablehnen, sorgt dieses Thema weiterhin für Diskussionen in den Parlamenten beider Länder.6Das Thema beschäftigt kontinuierlich das griechische Parlament. Auch nicht-regierende Fraktionen des Deutschen Bundestags gehen immer wieder dem Thema nach, so zum Beispiel die Veranstaltungen der Parteien Die Linke (13.11.2019) und Bündnis 90/Die Grünen (02.03.2020) im Bundestag, die mit geladenen Gästen aus beiden Ländern, das Thema behandelten. Gardner Feldman (2017) wertet in einem Kurzbeitrag die neuen Entwicklungen positiv. Sie sieht die Chance für einen Versöhnungsprozess, der zum tiefen Frieden führen kann. Die Möglichkeit der politischen Entschuldigung und der politischen Verzeihung untersucht Droumpouki (2019) indem sie die langwierige und schwierige Nachkriegszeit der griechischen Juden und ihrer Wiedergutmachungsforderungen aufzeigt, während Kokkinos (2019) im Vorwort des Werkes die Frage der andauernden Last aufwirft, um auch hier den Gedanken der politischen Entschuldigung zu begrüßen (Droumpouki, 2019). Die Dimensionen und Nachwirkungen traumatischer Erfahrung, aber auch die Frage der Entschuldigung und der Anerkennung behandelt Zeta Papandreou (2018). Auch Fleischer (2020) argumentiert, dass deutsch-griechische Versöhnung keine rein ökonomische, sondern auch eine politische, kulturelle, symbolische und ethische Angelegenheit sei. Ein ernstgemeinter Versöhnungsversuch kann ohne den Einbezug der Zivilgesellschaft weder gelingen noch als ernstgemeint wahrgenommen werden (Schwelling, 2012; Wüstenberg, 2017). Zudem muss die Balance zwischen ökonomischen, das heißt materiellen, und symbolischen Maßnahmen gefunden werden. Diese Maßnahmen müssen nicht nur den politischen Gegebenheiten entsprechen, sondern auch den Bedürfnissen der Opfer und ihrer Nachfahren angepasst sein. Dazu gehören politische und öffentliche Gesten der Versöhnung und der Entschuldigung.
Der Wendepunkt: zwischen Symbolik und Policy
Bisher haben fünf Bundespräsidenten Orte der Erinnerung und des Terrors in Griechenland besucht, zwei davon in den Jahren 2014-2020. Von besonderer Bedeutung war der Besuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1987 (Fleischer, 2020), der in der Hinrichtungsstätte von Kessariani in Athen der Exekutierten gedachte und dabei zum ersten Mal auch weitere Orte von Massakern benannte (Weizsäcker, 1987). Der erste Besuch eines Präsidenten in einem solchen Ort fand im Jahre 2000 statt, und zwar von Präsident Johannes Rau, der in seiner Rede in der Märtyrerstadt Kalavryta tiefe Scham und Trauer, aber keine Entschuldigung und keinen Wunsch nach Verzeihung äußerte. Der Besuch wurde nur in Teilen positiv aufgenommen, eine materielle Wiedergutmachung blieb aus (Droumpouki, 2014, 377-379).
„Mit Scham und mit Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung.“ (Gauck, 2014)7Auf Griechisch aus der offiziellen Übersetzung des Bundespräsidialamtes: „Με αίσθημα ντροπής και με πόνο ζητώ στο όνομα της Γερμανίας συγνώμη από τις οικογένειες των δολοφονηθέντων“ https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2014/03/140307-Griechenland-Mahnmal-Lingiades.pdf?__blob=publicationFile So deutlich hatte sich vor Joachim Gauck kein anderes deutsches Staatsoberhaupt in Griechenland geäußert. „Dass wir uns gemeinsam auch dem schwierigen Teil unserer Vergangenheit stellen können, ist für mich eines der großen Wunder, die durch Versöhnung entstehen.“ (Gauck, 2014) Diese Äußerung hätte zur Zeit der Finanzkrise für Misstrauen sorgen können, da solche Gesten in Krisenzeiten nicht immer produktiv sind (Wohl et al., 2011; Shnabel et al., 2015). Auch werden solche Bitten um Verzeihung von den Opfern und ihren Nachfahren nicht immer akzeptiert, was wiederum für die Tätergruppe schwer sein kann (Harth et al, 2011). Diese Umstände nehmen jedoch den Äußerungen Gaucks nicht das Gewicht, ganz im Gegenteil weisen sie auf existierende Gräben hin. Gauck hat in ganz Europa Orte der Erinnerung besucht und ähnliche Reden gehalten, doch der Griechenlandbesuch und die vorgeschlagenen Instrumente der Annäherung und der Versöhnung deuteten auf das große Versäumnis deutscher Außenpolitik hin. Die beschlossenen Initiativen können somit als direkte Folge der damaligen, im Rahmen der Finanzkrise rasanten Verschlechterung der bilateralen Beziehungen aufgefasst werden – sie waren also Resultat der deutsch-griechischen Auseinandersetzung.
Gauck sprach von Verzeihung, Versöhnung und gemeinsamem Erinnern. Dies wollte er mit zwei praktischen Maßnahmen umsetzen, der Schaffung eines deutsch-griechischen Jugendwerks und eines Zukunftsfonds, der jährlich mit einer Million Euro dotiert ist und der seit 2014 Projekte zur Aufarbeitung und Erinnerung finanziert. Die beiden Ansätze hatten einen ethischen Charakter und waren zukunftsweisend, deckten jedoch weder die finanziellen Forderungen der Opferdörfer, der Opfer sowie deren Nachfahren noch die vom griechischen Parlament hervorgebrachten Forderungen (Hellenisches Parlament, 2016). Somit waren sie als ethische Gesten zu verstehen, da sie nicht als Reparation fungieren sollten und es auch nicht konnten (Auswärtiges Amt, 2014). Beide Initiativen waren Teil einer Versöhnungspolitik gegenüber Griechenland, die so bis zu jenem Zeitpunkt nicht existierte.
Gedenkfeiern in Märtyrerorten: die symbolische Dimension von Anerkennung und Dialog
Die griechische Gedenkkultur ist eng mit national geprägten Narrativen verbunden. Symbolik und Rituale sind dabei von enormer Bedeutung und prägen die griechische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, da sie Teil des Bildungssystems sind (Karpouchtsis, 2018). Eine übliche Handlung bei Gedenk- und Ehrungszeremonien, besonders von Individuen in Vertretungsrollen, ist die Kranzniederlegung. Bereits früh versuchten deutsche Diplomaten aus beiden deutschen Staaten, sich auf solchen Veranstaltungen zu profilieren. Ab 1991 nahmen die Einladungen deutscher Diplomaten zu Gedenkfeiern bestimmter Opfergemeinden zu (Fleischer, 2020, 250-251). Dieser Trend setzte sich fort und wurde in vielen Opferdörfern zur gängigen Praxis. Kranzniederlegungen bilden häufig den Kern diplomatischer Gesten an Orten der Erinnerung. Sie symbolisieren die Anerkennung der Vergangenheit durch die deutsche Vertretung. Diese Einladungen der Gemeinden an deutsche Diplomaten zeigen mehrere Tatsachen auf. Die aktive Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung, also die Kranzniederlegung einer offiziellen Vertretung Deutschlands, die vielleicht auch gebeten wird, einige Worte zu sagen, weisen auf eine hohe Dialogbereitschaft seitens der Gemeinden hin. Es ist eine Aufforderung zum gemeinsamen Gedenken. Gleichzeitig wirkt die Partizipation der deutschen Vertretung wie ein Schuldbekenntnis, als Anerkennung der Tat und dient damit auch der Anerkennung der Opfer. Einladungen an die Vertretung der ehemaligen Täter zur Teilnahme an Gedenkfeiern der Opferdörfer sind nicht selbstverständlich; nicht alle Märtyrergemeinden luden deutsche Diplomaten zur Teilnahme ein. Doch stellten diese Einladungen eine Basis für einen gemeinsamen Weg in die Zukunft dar. Eine Einladung zur aktiven Teilnahme signalisiert, dass eine Vertrauensbasis da ist, dass ein offener Dialogkanal existiert. Insgesamt haben die Einladungen zur Teilnahme an Gedenkveranstaltungen besonders in Nordgriechenland in den letzten Jahren zugenommen;8Interview im Generalkonsulat Thessaloniki, 2019 – noch unveröffentlicht.ein Zeichen für eine Annäherung, die es in dieser Form lange nicht gab.
Versöhnung für die nächste Generationen? Die Schaffung eines deutsch-griechischen Jugendwerks
Die Einrichtung von Jugendwerken gehört zur klassischen Vorgehensweise deutscher Versöhnungspolitik, wie das deutsch-französische oder das deutsch-polnische Jugendwerk zeigen. Jugendaustausch und das Zusammenkommen von Menschen aus ehemals feindlichen Gruppen stärkt den Zusammenhalt, den Dialog und trägt zur Festigung des Friedens bei. Dem gleichen Prinzip folgen europäische Austauschprogramme wie Erasmus+: eine Chance, andere Länder, Sprachen und vor allem Menschen näher kennenzulernen, soll zu stärkerem Zusammenhalt führen. Die Etablierung des Jugendwerks wurde im deutsch-griechischen Aktionsplan festgeschrieben, den die damaligen Außenminister Kotzias und Steinmeier 2016 erstellten (Auswärtiges Amt, 2016). Die Zustimmung der griechischen Regierungen war eindeutig. Die Schaffung des Jugendwerks, eine engere Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft sowie die Integration der Okkupationsgeschichte in Schulbücher der deutschen Sekundarstufe wurden bestätigt (Auswärtiges Amt, 2016).
In der finalen Erklärung zur Schaffung des gemeinsamen Jugendwerks spielten Erinnerungsorte und explizit die Märtyrergemeinden eine Rolle, denn zur geschichtlichen und politischen Bildung der Jugendlichen sollten zur Vermittlung von Wissen über die Zeit der Okkupation genau diese Orte besucht werden (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil II Nr. 20, 1047). Dennoch wurde von manchen Märtyrergemeinden und vom „Griechischen Nationalrat für Entschädigungs- und Reparationsforderungen gegenüber Deutschland“ (ESDOGE)9Mitbegründer des „Griechischen Nationalrats für Entschädigungs- und Reparationsforderungen gegenüber Deutschland“ (ESDOGE) war Manolis Glezos, linker Politiker und Aktivist. Er ist ein Symbol des griechischen Widerstands, weil er gemeinsam mit Apostolos Santas im Mai 1941 in einer nächtlichen Aktion die Nazi-Flagge von der Akropolis entfernte. dieses Projekt als Trojanisches Pferd angesehen, das die Geschichte neu zu schreiben versuchte und die Reparationsdebatte aus dem Weg räumen sollte (ESDOGE, 12.07.2020). Die Reparationsdebatte und die Ansprüche Griechenlands waren von der Schaffung des Jugendwerks nicht betroffen, da in der Präambel des Abkommens zur Schaffung des Jugendwerks festgehalten wurde, dass die Rechtspositionen beider Länder zur Thematik unberührt blieben (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil II Nr. 20, 1047). Dass dies in einem solchen Abkommen explizit erwähnt wurde, unterstreicht die Bedeutung dieses Themas für beide Regierungen.
Mit der Schaffung des Jugendwerks und der Einbindung griechischer Opfergemeinden in den Jugendaustausch sollte ein wahrer Mehrwert für den Versöhnungsprozess erzeugt werden. Der Besuch von Opferdörfern würde zur Anerkennung des Geschehenen und des Leids beitragen, Jugendliche aus beiden Ländern über die begangenen Gräueltaten der Okkupationsmächte unterrichten und die Wichtigkeit eines friedlichen Zusammenlebens vermitteln. Soziale Kontakte und Jugendaustausch stellen gelebte Versöhnungsarbeit dar. Dass die Regierungen beider Länder diesen Weg einschlugen, zeigt das existierende Vertrauen.
Der deutsch-griechische Zukunftsfonds: ein Instrument symbolischen Charakters
Der Fonds wurde Ende 2014 geschaffen und ist im Auswärtigen Amt angesiedelt. Er konzentriert sich auf drei Bereiche und unterstützt in diesen eine Vielfalt von Projekten: 1) die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte und die Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur, 2) die Versöhnung mit den jüdischen Gemeinden Griechenlands sowie die 3) Versöhnung mit den Märtyrergemeinden und den Menschen dieser Gemeinden (Auswärtiges Amt, 2014). Der Name des deutsch-griechischen Zukunftsfonds ist teilweise irreführend, denn er ist zwar deutsch-griechisch im Sinne der Förderung von Projekten griechischer Antragssteller bzw. für Projekte in Griechenland, die griechische offizielle Seite, also Staat oder Regierung, ist darin aber nicht vertreten. Der Fonds konnte mit Fokus auf den Bereich der Aufarbeitung konstruktive Arbeit leisten, hat die Forschung im Rahmen der gemeinsamen Geschichte gefördert und mit griechischen Partnern wie der Stavros Niarchos Stiftung bilaterale Projekte, darunter die Schaffung eines Zeitzeugenarchivs mit über 90 Interviews von griechischen Überlebenden, unterstützt. Auch die Publikation und Übersetzung von Büchern, die den Zweiten Weltkrieg behandeln, oder die Finanzierung von Dokumentarfilmen wie „Der Balkon“ leisteten einen Beitrag zur Streuung und Verbreitung von Wissen und informierten mit neuem Material eine breitere Öffentlichkeit. Die Schaffung von Wissenschaft und Kunst legte einen Grundstein für die Versöhnungsarbeit, denn sie ermöglichte eine wissenschaftliche, künstlerische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Knotenpunkten der gemeinsamen Vergangenheit. Damit wurde nicht nur der Dialog, sondern auch das Verständnis über die Nachwirkungen der Vergangenheit bereichert. Alle diese Aktionen arbeiteten auf das Ziel der Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur hin. Der Zukunftsfonds wurde von den Märtyrergemeinden unterschiedlich wahrgenommen und führte zu divergierenden Ansichten über seine Aktivität. Die Reaktionen reichten von Unwissenheit, Desinteresse, Misstrauen bis hin zur Verurteilung. Einige Gemeinden begrüßten jedoch den Fonds, nutzten diesen und empfahlen ihn weiter. Dieses breite Spektrum war besonders in der Zeit 2014-2019 bemerkbar, also in den ersten fünf Jahren seiner Existenz, und zeigt auch en miniature das differenzierte Bild der griechischen Märtyrerstädte und -dörfer.
Griechische Märtyrerstädte und -dörfer: ein Überblick
Das Netzwerk der griechischen Märtyrerstädte und Märtyrerdörfer besteht aus allen Gemeinden, die den Titel „Märtyrer“ tragen. Die Mitglieder werden vertreten durch ihre Bürgermeisterin, ihren Bürgermeister. Im Jahr 2020 zählte das stetig wachsende Netzwerk über 110 Mitglieder. Das Netzwerk hat die Rechtsform einer gemeinnützigen Organisation und zu seinen Zielen gehören unter anderem: die Erinnerung an die Gräuel der Besatzungszeit wach zu halten, an die Opfer zu erinnern und diese zu ehren, für Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Reparation einzustehen und den Frieden in der Welt zu fördern (Netzwerk Märtyrerstädte und -dörfer, 2000). Das Netzwerk stellt das vielfältige Bild griechischer Erinnerungsorte dar, die unterschiedliche traumatische Erfahrung gemacht haben und in ihrer Demografie, Ökonomie, geografischen Lage und ihrer Regional- oder Kommunaltraditionen Unterschiede aufweisen. Jeder Ort hat seine eigene Geschichte. Manche, wie Doxato in der Nähe von Drama, fielen den bulgarischen Besatzungskräften zum Opfer, andere, wie Servia in Westmakedonien, wurden zuerst von italienischen Truppen und später erneut von deutschen Truppen niedergebrannt. Manche Dörfer haben schreckliche Massaker erlebt, die Zivilisten, Neugeborene, Kinder und Frauen getroffen haben, wie Distomo. In anderen Orten haben organisierte Erschießungen der männlichen Bevölkerung stattgefunden, wie in Kalavryta oder in Viannos auf Kreta. Thessaloniki ist wegen der Ausbeutung, Deportation und Ermordung seiner jüdischen Gemeinde im Netzwerk vertreten. Die Einbringung eines Mitglieds hängt von der Aktivität des Bürgermeisters bzw. der Bürgermeisterin der Gemeinde ab und auch von dem Engagement des jeweiligen Vorsitzenden des Netzwerks. Die Märtyrerorte unterscheiden sich in ihrer Erfahrung, in der Art des Traumas und in ihrer Entwicklung nach dem Krieg. Trotz dieser Unterschiede formt die gemeinsame Erfahrung ein Kollektiv und eine Zielsetzung, die im Statut der Organisation zum Ausdruck kommt. Der Sitz des Netzwerks ist Kalavryta, die Stadt, die 1993 als erste den Titel „Märtyrerstadt“ erhielt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kalavryta der Hauptgedenkort Griechenlands wäre. Gedenk- und Trauerfeiern finden in allen Märtyrerdörfern und -städten statt. Das hat auch Auswirkungen auf das Verständnis der Erinnerung und des Nachwirkens des Zweiten Weltkriegs in Griechenland. Eine symbolische Geste an einem der Orte kann nicht für alle Orte zählen; ein Besuch in Lingiades ist nicht einem Besuch in Viannos oder in Chortiatis gleichzusetzen.
Chancen und Grenzen symbolischer Gesten in verschiedenen Märtyrerorten
Der persönliche Kontakt und die Zugänglichkeit sind für den Empfang von symbolischen Gesten von Bedeutung. Gaucks öffentlichkeitswirksamer Auftritt in Lingiades hinterließ einen so positiven Eindruck, weil er offen war und in Anwesenheit seines griechischen Amtskollegen stattfand. Dagegen erhielt der Besuch des Präsidenten Steinmeier im ehemaligen Geisel- und Konzentrationslager von Chaidari im Oktober 2018 deutlich weniger Aufmerksamkeit10Es fiel bei den im Frühling 2019 von mir geführten Interviews auf, dass die wenigsten Bürgermeister und Vertreter der Opferdörfer sich an den Besuch Steinmeiers erinnerten und das obwohl dieser weniger als ein Jahr her war; dagegen konnten sich alle noch an Gaucks Rede in Lingiades erinnern.. Relevante Faktoren hierfür waren, dass Chaidari keine Märtyrergemeinde ist und dass der Bundespräsident das ehemalige Konzentrationslager nur in enger Begleitung besuchte.
Symbolische Gesten wie Kranzniederlegungen haben unterschiedliches Gewicht in den Gemeinden. So war es für Distomo oder Kalavryta wichtig, dass der Botschafter bzw. ein offizieller Vertreter Deutschlands teilnimmt, da in den letzten Jahren stets Einladungen versendet wurden. Das wirkt als Anerkennung des verursachten Schadens, der damaligen Schuld und der jetzigen Verantwortung. In Servia hingegen wurde das Erinnern an die Zerstörung der Kleinstadt weniger als offene Angelegenheit gesehen.11Interviews in Servia 2018 – noch unveröffentlicht. Auch auf Kreta fanden sich verschiedene Meinungen. Es gab keine aktiven Teilnahmen deutscher diplomatischer Vertretungen, das heißt keine Kranzniederlegung an einem Gedenktag. Solche Gesten müssten von einer Dialogbereitschaft zum Thema der Reparationen und der materiellen Wiedergutmachung begleitet werden.12Interviews in Rethymnon, Kandanos und Viannos 2019 – noch unveröffentlicht. In diesem Rahmen setzt die symbolische Geste die materielle Geste voraus. Lokal unterschiedliche Einstellungen diktieren einen differenzierten Umgang mit Gedenkfeiern und verändern auch die Rolle der diplomatischen Vertretung Deutschlands.
Gesten der Anerkennung und der Zusammenarbeit wurden begrüßt, wenn sie von der Zivilgesellschaft kamen, oder auch von politischen Akteuren, wenn diese als aufrichtig empfunden wurden. Das war der Fall bei der Zusammenarbeit von bestimmten Dörfern mit der Hamburger Organisation AK Distomo, die die Reparationsforderungen der Opferdörfer unterstützte, oder 2018 beim Besuch der Vizepräsidentin des Bundestags Claudia Roth in Tymbaki auf Kreta, deren Teilnahme und Aufgeschlossenheit als positiv empfunden wurde.13Interviews in Rethymnon 2019 – noch unveröffentlicht. Hier ließ sich ein Unterschied wahrnehmen, und zwar zwischen der offiziellen Vertretung, also der deutschen Regierung, und den politischen sowie zivilgesellschaftlichen Partnern, die auf die Forderungen der Märtyrergemeinden eingingen bzw. zumindest zum Dialog bereit waren. Auch die Einstellungen zum Zukunftsfonds und dem damit verbundenen Anspruch auf eine gemeinsame Erinnerungskultur gingen bei den Opferdörfern auseinander. Während einige Orte bereits 2015 diese Initiative begrüßten und aktiv daran mitarbeiteten, haben andere eine Zusammenarbeit scharf verurteilt.
Beitrag, Limitationen und Ausblick
Über Jahrzehnte fand zwischen den beiden Ländern keine koordinierte und gezielte Versöhnungspolitik statt. Die Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren vom Kalten Krieg und realpolitischem Pragmatismus geprägt. Über die Zeit entstanden neue politische und private Freundschaften, die den Krieg, die Besatzung und seine Folgen nicht thematisierten – daher auch die Bezeichnung Freundschaft ohne Versöhnung. Versöhnung und Annäherung zu griechischen Opferdörfern suchte hauptsächlich die deutsche Zivilgesellschaft. Die Geschichte der Opfer wurde von politischen Narrativen und Unwissen überschattet oder gar relativiert. Zudem wurde der Wunsch nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung auf den finanziellen Aspekt reduziert und so hauptsächlich als ein rein wirtschaftliches Anliegen behandelt. Anerkennung, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeitsherstellung blieben über Jahrzehnte aus.
Die deutsche Außenpolitik gegenüber griechischen Märtyrerorten war seit 2014 eine eindeutige Versöhnungspolitik, die nicht nur die Dörfer, sondern größere Teile der griechischen und deutschen Gesellschaft zu bewegen versuchte und dabei klare Ziele formulierte: gemeinsame Erinnerungskultur und Versöhnung mit den Opfern und ihren Nachfahren. Davon zeugte zum einen der Beschluss zur Schaffung eines deutsch-griechischen Jugendwerks, das die gesamte Jugend beider Länder ansprechen sollte. Zum anderen waren gemeinsame wissenschaftliche und erinnerungsrelevante Veranstaltungen und Projekte ein Schritt in die Richtung einer gemeinsamen Erinnerungskultur und Aufarbeitung, die den ethischen Charakter der Wahrheitsfindung hatten. Die griechischen Regierungen ließen sich im Rahmen der Partnerschaft weitgehend auf diese Politik ein, was die Kooperation zur Schaffung des Jugendwerks bezeugte. Der Drang nach Versöhnung wurde jedoch nicht im gleichen Maße zum Ausdruck gebracht und Reparations- und Wiedergutmachungsforderungen wurden stets aufrechterhalten. Während die Kooperation bei der Jugendarbeit und der gemeinsamen Aufarbeitung vorankam, variierte die Bereitschaft der Märtyrergemeinden, mit Deutschland zusammenzuarbeiten.
In den Jahren 2014-2019 reagierten die griechischen Opfergemeinden unterschiedlich auf die deutschen Initiativen und waren zum Teil auch anderer Meinung als die eigene Zentralregierung, da nicht alle die Schaffung des Jugendwerks befürworteten. Jedoch unterstützten alle Märtyrerstädte und -dörfer die Reparations- und Wiedergutmachungsforderungen. Während dieser Periode zeigten sie auch keine einheitliche Einstellung zur deutschen Versöhnungspolitik. Als willkommen erwiesen sich zivilgesellschaftliche und politische Initiativen, die den eigenen Forderungen entsprachen oder zumindest einen offenen Dialog darüber führten. Diese Einstellungen spiegelten sich auch in den Gedenkfeiern wider. Manche Dörfer luden deutsche Vertretungen zur aktiven Teilnahme ein, andere verschickten keine Einladungen oder ließen nur eine passive Teilnahme zu. Das zeugt von einem unterschiedlichen Grad der Einbindung der ehemaligen Peiniger und den divergierenden Einstellungen der Gemeinden. Forderungen nach Reparation und Wiedergutmachung waren dabei ausschlaggebend und wurden im jeweiligen Ort anders gewichtet. Insgesamt kann für die Jahre 2014-2019 eine Dialogbereitschaft festgestellt werden, die mal stärker oder schwächer ausgeprägt war. Es ist offensichtlich, dass der Dialog in dieser Zeit intensiver war als vor dem Besuch Gaucks; ein Umstand, der mit dem Engagement Deutschlands zu tun hat. Das war eine erkennbare Veränderung in den bilateralen Beziehungen.
Die Untersuchung der deutschen Versöhnungspolitik gegenüber Griechenland mit einem Fokus auf griechische Opferdörfer zeigte: Symbolische Zeichen sind willkommen, benötigen jedoch weitere materielle Unterstützung. Zudem wurden die unterschiedlichen Einstellungen der griechischen Opferdörfer deutlich und damit die Grenzen der deutschen Versöhnungspolitik in diesem Bereich. Die dem vorliegenden Format geschuldete Kürze dieser Betrachtungen ließ eine Behandlung weiterer Politikfelder, wie der Außenpolitik gegenüber Drittländern oder die Forschungs- und Kommunalzusammenarbeit der beiden Länder nicht zu; doch auch diese Politikfelder beeinflussen den Versöhnungsprozess und verdienen weitere Untersuchung. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist die deutsch-griechische Versöhnung ein besonderer Fall, da der Prozess 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer andauert, neu definiert und bereichert wird. Im Rahmen der deutsch-griechischen Verflechtungen verdient dieses Thema nicht nur einen geschichtlichen, sondern auch einen politikwissenschaftlichen und realpolitischen Fokus. So könnte dieser Versöhnungsprozess auch für andere Bereiche der bilateralen Beziehungen ausschlaggebend sein und als Paradigma für entsprechende Prozesse anderer Länder dienen.