Einführung
Die Chemie war eine der ersten Naturwissenschaften, die als wissenschaftliches Fach Autonomie erlangte. Die intensive theoretische und experimentelle Arbeit im 17. und 18. Jahrhundert führte im 19. Jahrhundert zur Entwicklung der Praktiken und Begriffe, die die Chemie als Wissenschaft bis heute charakterisieren. Das Periodensystem, die chemische Terminologie, die Unterteilung der Chemie in organische und anorganische auf der Basis der Eigenschaften des Kohlenstoffs, das Gesetz der konstanten Proportionen und die meisten übrigen chemischen Kenntnisse, die man in einem modernen Schulbuch findet, wurden während des 19. Jahrhunderts entweder entwickelt oder eingeführt (Levere, 2001, 80–120). Das Auftauchen neuer Ideen ging einher mit dem Auftauchen neuer Institutionen und Ausbildungspraktiken. Die Lösung der Chemie von der Medizin und der Pharmakologie ging mit der Gründung von der Chemie gewidmeten Lehrstühlen an europäischen und amerikanischen Hochschulen einher sowie mit einer engeren Verbindung der chemischen Forschung mit der damaligen Industrie. Gleichzeitig führte Justus von Liebig (1803–1873) an der Universität Gießen eine neue Form der akademischen Ausbildung in Laboren ein, die später auch auf die Physik übersprang und bis heute die Grundlage der wissenschaftlichen akademischen Ausbildung bildet (Brock, 2002). Die Chemie wurde schließlich zum Gegenstand nationaler und nationalistischer Auseinandersetzungen zwischen den großen europäischen Staaten, vor allem zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Französische, deutsche und britische Chemiker verteidigten verbissen den nationalen Vorrang, während sie sich gleichzeitig um mehr Finanzierung für chemische Forschung bemühten, indem sie die chemischen Leistungen anderer Nationen propagierten (Paul, 1972; Rocke, 1992, 2001). Chemiker anderer Länder, selbst in Fällen von bevölkerungsreichen und tatkräftigen Staaten, gingen oft so weit, in ihrer internen Kommunikation die deutsche oder französische Sprache zu benutzen (Gordin, 2015).
Was die Geschichte der Chemie in Griechenland angeht, harrt sie noch der Aufzeichnung ebenso wie einer umfassenden Geschichte der Naturwissenschaften ganz allgemein. Nur wenige Forscher haben sich intensiv mit der Geschichtsschreibung der Wissenschaften im griechischen Raum beschäftigt (Vlahakis, 1999; Dialetis/Gavroglu/Patiniotis, 1999; Karas, 2003; Patiniotis, 2007; Nikolaidis, 2011). Noch wenigere haben sich mit den Naturwissenschaften im modernen Griechenland auseinandergesetzt (Chatzis/Nikolaidis, 2003; Karkanis, 2012; Tampakis, 2014, 2015; Tampakis/Vlahakis, 2016). Daher ist der Einfluss der deutschen Wissenschaft und des deutschen Denkens auf Griechenland lediglich Gegenstand einer Diskussion am Rande. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, den deutschen Einflüssen auf die Etablierung der Wissenschaft der Chemie in Griechenland zu eben jener Zeit nachzugehen, als die Chemie weltweit ihre moderne institutionelle und theoretische Gestalt annahm.
Die Chemie in Griechenland bis 1860
Die neuen chemischen Kenntnisse des 18. Jahrhunderts werden der orthodoxen griechisch-sprachigen Bevölkerung des Osmanischen Reichs und den Griechen in Europa durch die Bewegung der Neugriechischen Aufklärung nahegebracht (Vlahakis, 1995). Exemplarisch sei das Werk Χημείας Επιτομή [Kompendium der Chemie] von K. M. Koumas angeführt, das 1808 in Wien erschien, und die Übersetzung des Werkes Chemische Philosophie von Fourcroy durch Theodossios Iliadis im Jahre 1802. Im selben Zeitraum erscheint die Chemie als Fach in den Schulen, in denen Gelehrte der Neugriechischen Aufklärung unterrichten. Chemieunterricht tritt auf am Philologischen Gymnasium von Smyrna, an der Akademie von Kydonies [Anm. d. Üb.: heute Ayvalık], an der Fürstlichen Akademie von Bukarest und anderswo. Die griechischsprachigen orthodoxen Gelehrten jener Zeit bemühen sich, den raschen Entwicklungen der Theorien der Chemie zu folgen und publizieren in der Zeitschrift Lojios Ermis, damit die griechischsprachige orthodoxe Bevölkerung Zugang zum praktischen Nutzen der neuen Wissenschaft erhält (Papadimitriou/Vlahakis, 2003). Das Erscheinen eines unabhängigen griechischen Staates im Jahre 1830 und die Gründung von Militärakademien, der Universität Athen und des Athener Polytechnikums führten dazu, dass die ersten Lehrstühle eigens für Naturwissenschaften, darunter auch für Chemie, eingerichtet wurden (Kimourtzis, 2001). Ab Inbetriebnahme dieser Hochschulen unterrichteten in den Naturwissenschaften jahrzehntelang dieselben Professoren.
Der erste Professor für Chemie an der Universität Athen und an der Technischen Schule, die später zum Polytechnikum wurde, war Xaver Johannes Landerer (1809–1885). Obgleich eine ausführliche Erörterung des Wirkens von Xaverios Landerer – wie er genannt wurde – die Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit übersteigt, kann man nicht umhin, seine Tätigkeit zu erwähnen, da mit ihm die Praxis der Chemie in Griechenland einsetzt. X. Landerer hatte Pharmazeutik an der Universität München studiert und kam als Oberhofapotheker an den Hof von Otto nach Griechenland. Die Chemie kommt also als Gehilfin der Pharmakologie nach Griechenland, so wie es im Übrigen fast an allen europäischen Universitäten jener Zeit der Fall war. X. Landerer lehrte Chemie an der Universität und am späteren Polytechnikum, schrieb viele Artikel über Pharmazeutik und Chemie für die damalige Presse, verfasste aber auch einige der ersten Lehrbücher jener Zeit für Pharmazeutik und Chemie mit Wiederauflagen bis 1868. Zugleich war er eines der ersten Mitglieder des Ärztlichen Beirats und nahm als solcher teil an Delegationen zur Untersuchung von Heilquellen, Pestausbrüchen und sogar von Funden des Archäologischen Museums (Karkanis, 2012, 471–475). Für seine Beliebtheit spricht, dass er, obwohl nach Verabschiedung der Verfassung1[Anm. d. Üb.: Die König Otto aufgezwungene Verfassung von 1844 führte dazu, dass nahezu alle Ausländer aus dem Staatsdienst entlassen wurden.] von 1843 aus dem Dienst entlassen, sehr rasch wieder seinen Lehrstuhl erhielt. In Landerers vielschichtiger Tätigkeit können wir die grundsätzlichen Merkmale der späteren Präsenz der Chemie in Griechenland finden: Benutzung von deutschen Lehrbüchern und Praktiken als Vorbilder, Nutzung chemischer Kenntnisse auf vielen Ebenen – Medizin, Archäologie, Naturkunde – aber auch eine enge Beziehung zur Pharmakologie. Alexandros Venizelos (1812–1862), 1840 zum Privatdozenten der Chemie und später zum Professor für Allgemeine Experimentelle Chemie ernannt, um 1843 Landerers kurze Vakanz abzudecken, hatte eine sehr viel bescheidenere Präsenz. Obgleich er selbst erstklassige Studien an den Universitäten Berlin und Leipzig absolviert hatte, blieb Al. Venizelos sowohl in der Forschung wie in der Lehre in Landerers Schatten. 1860 gab er wegen einer langwierigen Krankheit die Lehrtätigkeit auf (Stefanidis, 1952, 8).
Das Profil des griechischen Chemikers ab 1860
Die Entwicklung eines Wissenschaftszweigs folgt nicht notwendigerweise den politischen Wechselfällen, obwohl sie von ihnen beeinflusst wird. Gleichwohl änderte sich in den 1860er Jahren der Betrieb der Naturwissenschaften in Griechenland grundsätzlich. Abgesehen von der Krönung des Prinzen Christian Wilhelm von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg als Georg I von Griechenland im Jahre 1863, gingen damals viele der ersten Dozenten an Universität und Polytechnikum, die in den Jahren nach deren Gründung berufen worden waren, aus Altersgründen in Pension (Gavroglou/Karamanolakis/Barkoula, 2014). Folglich übernahmen ab den 1980er Jahren jüngere Chemiker Posten und Lehrstühle an Universität, Polytechnikum und den Militärakademien. Dieser Zeitraum liegt im Zentrum der Studie. Das Profil der griechischen Chemiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll daher etwas genauer untersucht werden. Hinter unserer bisherigen Analyse steckt die unausgesprochene Annahme, dass die Chemie in Griechenland als eine eilig organisierte Wissenschaft nur an den Hochschulen gepflegt wurde. Im internationalen Kontext wäre eine solche historiographische Herangehensweise von zweifelhaftem Wert, da in diesem Zeitraum weltweit die chemische Industrie auf den Plan tritt und bis zum Jahre 1900 Tausende von Chemikern beschäftigen wird (Misa, 2011, 151–157). In Griechenland ist die Situation jedoch völlig anders. Die Universität Athen wird von Beginn ihres Betriebes bis 1867 nicht einen einzigen Absolventen der Naturwissenschaften hervorbringen. 1868 ist Konstantinos Mitsopoulos (1844–1911) der erste; er war Neffe des früheren Professors der Physiographie und Mineralogie Iraklis Mitsopoulos (1816–1892) und wurde später selbst Professor der Physiographie, Rektor am Polytechnikum und führte die moderne Geologie in Griechenland ein. Weitere zehn Jahre vergehen, bis 1877 die nächsten beiden Absolventen erscheinen; 1878 folgen fünf weitere und bis zum Ende des Jahrhunderts werden insgesamt 127 Studenten das Studium abschließen, die meisten davon nach 1890 (Lappas 2004, 410–412). Es steht also fest, dass die Anzahl der Naturwissenschaftler in Griechenland, und unter ihnen die der Chemiker, im gesamten uns interessierenden Zeitraum äußerst gering und identisch war mit den Dozenten an den Hochschulen. Dem entsprach, dass sich keine nennenswerte chemische Industrie entwickelte, die Chemiker außerhalb der Universität und der anderen Hochschulen hätte beschäftigen können. Die ersten Brauereien, wie die von Johann Fix und Lorentzos Mamos, erscheinen 1864 und 1876 und erreichen erst gegen Ende des Jahrhunderts industrielle Dimensionen. Der Bedarf an primären chemischen Zubereitungen und Medikamenten wird von den Apotheken gedeckt.
Die griechischen Chemiker, die diesen Titel nachweislich tragen dürfen und in diesem Zeitraum tätig sind, werden in der folgenden Tabelle 1 aufgeführt. Es werden ihre Studien, ihr Fachgebiet und die Institutionen genannt, an denen sie gearbeitet haben. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass die Chemie, soweit es die griechischen Hochschulen betrifft, eine deutsch-französische Wissenschaft war. Nicht nur das, sondern die Fachgebiete waren, bis auf ganz wenige Ausnahmen, untereinander aufgeteilt: in Frankreich studiert haben vor allem jene, die sich mit Pharmazeutischer Chemie beschäftigten, während Allgemeine Chemie, die damals fast alle anderen Zweige umfasste, nur Professoren unterrichten, die ihr Studium in Deutschland absolviert hatten. Die Ausnahme von Aristidis Voussakis, der am Polytechnikum lehrte, ändert das Bild nicht wesentlich, da er ein in Athen bekannter Apotheker war, aber ohne Doktordiplom. Deswegen wurde er auch 1879 trotz eines entsprechenden Vorschlags der Medizinischen Fakultät nicht Privatdozent an der Athener Universität (ΠΦΦΣ, 28.12.1879). Ein Gegenbeispiel ist Anastassios Damverjis, der eine lange und anerkannte Karriere in der griechischen Wissenschaftswelt absolvierte. Obwohl er unter anderem Pharmazeutische Chemie unterrichtete und einer der bekanntesten Apotheker seiner Zeit und Gründer einer der ersten pharmazeutischen Industrien in Griechenland war, hatte er an deutschen Universitäten studiert (Karamanolakis, 2013).
Tabelle 1: Griechische Chemiker (1860–1900)2Die Daten stammen von: Stefanidis, 1952; Karkanis, 2012; Biris, 1957. Mit (PD) markiert sind jene, die nur Privatdozenten waren und keinen Lehrstuhl innehatten. Nicht enthalten sind Chemiker wie K. Zengelis (1879-1957) und P. Zacharias (1873-1957), die 1895 und 1901 ernannt wurden und im Wesentlichen nicht im 19. Jahrhundert aktiv waren.
Der Chemiker, der mehr als alle anderen diesen Zeitraum bestimmte, war zweifellos Anastassios Christomanos. Er war der erste griechische Chemiker und vielleicht auch der letzte, der sich im Bewusstsein seiner Zeitgenossen als „der Chemiker“ etablierte, und gleichzeitig bestimmte, welches die Rolle der Chemie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein würde. Die auf ihn folgenden griechischen Chemiker waren seine Schüler oder seine Protegés. Kein Zufall, dass der erste Wissenschaftshistoriker in Griechenland, Michail Stefanidis (1868–1957) Folgendes schreibt:
Christomanos’ Eintritt in die Universität stellt eine neue Etappe in der Entwicklung der Physikalisch-Mathematischen Fakultät dar … Christomanos’ Lehre definierte genau den Platz der chemischen Wissenschaft in der griechischen Universität, beseitigte ihre bis dahin existierende Verschmelzung mit der Pharmazeutik in der Person von Landerer, verlieh der allgemeinen experimentellen Chemie ihre Eigenständigkeit, und mit der Eigenständigkeit des Chemiestudiums erlangte die Physik-Abteilung ihre der Mathematischen Abteilung ebenbürtige Stellung. (Stefanidis, 1948, 16).
Christomanos’ Etablierung als nationaler Chemiker kann man auch aus seiner Erwähnung durch den satirischen Dichter Jeorjios Souris ersehen (Souris, 1891, Gedicht 44):
Eines Tages, als ich partout nicht wusste, was tun,
Ließ ich meine Tränen tropfen in ein tiefes Glas
und trug es flink zu Christomanos, dem Chemiker,
ach bitte, sagte ich, tu mir den Gefallen,
sie zu analysieren, um rauszufinden, wie sie gemacht,
damit ich hinfort nicht vergeblich weine.
der Chemiker entgegnete „das, du alter Sturkopf,
ist nichts anderes als chlorhaltiges Kalium“.
Und auch die Tränen, die du jedes Mal vergießt,
wenn die Gegenpartei säugt am Busen der Heimat
und du daneben sitzt und Luft schluckst
und deine Augen sich nach Brot verzehren.
Na was, so viele Tränen und Klagen!…
Sollt’ ich meinen, das wär’ was Besonderes?
Lebtest du noch heute, jammernder Jeremia,
machte dir Chemie das Weinen zum Lachanfall.
Christomanos’ Karriere war lang und vielseitig (Tampakis/Vlahakis, 2016). Er initiierte die Gründung eines chemischen Labors, richtete eine Assistentenstelle ein, schrieb und übersetzte Handbücher der Chemie, übernahm chemische Analysen für Privatleute und staatliche Dienststellen, nahm an Delegationen teil und führte chemische Untersuchungen für das Archäologische Museum durch. Was das deutsche Vorbild in der griechischen Chemie angeht, war die Art und Weise wesentlich, mit der Christomanos all diese Aufgaben erledigte. Bevor er nach Griechenland kam, hatte Christomanos an der Seite von deutschen Chemikern wie Karl Weltzien (1813–1870), Robert Bunsen (1811–1899) und Gustav Kirchhoff (1824–1887) gelernt, danach arbeitete er in der industriellen Farbenproduktion. Er brachte also nicht nur neue chemische Kenntnisse und Methoden nach Griechenland, sondern auch die Ideologie der chemischen Forschung seiner Zeit. Das beinhaltete auch die Ausbildung der Studenten im Labor – eine eindeutig deutsche Neuerung –, das strenge Arbeitsethos im Labor, aber auch die Überzeugung, dass die Chemie eine wirtschaftliche und nationale Rolle zu spielen habe, insbesondere im Zusammenhang mit der höheren Schulbildung. Weiter unten werden wir Gelegenheit zu weiteren Ausführungen haben, wie die griechischen Chemiker Deutschland als Vorbild nutzten. An dieser Stelle mag es genügen, zu erwähnen, dass Christomanos’ internationale Anerkennung so weit ging, dass einer seiner ersten Assistenten im von ihm gegründeten Chemielabor Hans Jahn (1853–1906) war, später Professor an der Universität Wien und Spezialist für Elektrochemie. Christomanos legte Wert darauf, dass der Assistent des Chemielabors eine deutsche Ausbildung absolviert hatte, und als Leiter des Chemielabors reproduzierte er den autoritären und für die Mitarbeiter anspruchsvollen Leitungsstil der deutschen Labore. Das war auch der Grund, warum Jahn nach seinem dritten Jahr als Assistent 1878 kündigte. Christomanos warf ihm vor, dass er das Chemielabor ohne seine Erlaubnis für berufliche Arbeiten nutzte und nicht die vorgeschriebene sechsstündige Anwesenheit im Labor einhielte, worauf Jahn als Entgegnung ein Memorandum über seine Arbeiten vorlegte (ΑΛΕΠ/ΑΓΣ, 24.02.1878). Trotz dieser negativen Erfahrung bestand Christomanos auf einer deutschen Ausbildung für seine Mitarbeiter und beantragte 1899 die Einstellung eines deutschen Assistenten am Chemielabor. Als dies abgelehnt wurde, beantragte er die Entsendung des amtierenden Assistenten zur Weiterbildung nach Berlin im Jahr 1901 (Karkanis, 2012, 612). Es ist also kein Zufall, dass seit Christomanos’ Berufung an die Universität Athen griechische Chemiker ihr Studium vor allem an deutschen Universitäten und Einrichtungen absolvierten.
Die Chemielehrbücher in Griechenland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die Lehrbücher zeigen in hervorragender Weise an, wie eine wissenschaftliche Gemeinschaft funktioniert. Die Quellen, die Thematik und die Bezüge zeigen gewöhnlich an, was an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit als Vorbild für akzeptiertes Wissen angesehen wird (Brooke, 2000). In diesem Verständnis werden im Folgenden die Lehrbücher aufgeführt, die nach 1860 auf Griechisch publiziert wurden und im Übrigen auch die große Mehrheit der chemischen Lehrbücher im 19. Jahrhundert darstellen.
Griechische Chemielehrbücher (1860–1900)3Die Tabelle wurde nach Recherchen in der Nationalbibliothek, in der Bibliothek der Nationalen Kapodistrias Universität von Athen, in der Parlamentsbibliothek und in der Bibliothek des Nationalen Polytechnikums erstellt.
Ioannis Ioannou, 1864
Elemente der Anorganischen Chemie
Anastassios Christomanos, 1865
Tafeln oder Methode zur qualitativen chemischen Analyse auf flüssigem Wege zum Gebrauch der Ärzte, Apotheker und Chemiker
Ioannis Ioannou, 1866
Elemente der Organischen Chemie
Georgios Zavitsanos, 1867
Pharmazeutische Chemie
Anastassios Christomanos, 1871
Lehrbuch der Chemie nach dem neuesten Fortschritt der Wissenschaft in drei Bänden mit Abbildungen und Holzschnitten
Leandros Dossios, 1871
Elementare Lektionen der technologischen Chemie
Georgios Zavitsanos, 1874
Praktische Übungen des Pharmazie-Kurses der Universität
Henry Roscoe, 1878
Chemie (übersetzt von Christomanos)
Aristidis Voussakis, 1882
Chemie-Lektionen
Anastassios Damverjis, 1883
Chemie-Kurs, erteilt an der Militärakademie im Unterrichtsjahr 1882–1883
Anastassios Christomanos, 1887–1889
Lehrbuch der Chemie nach dem neusten Fortschritt der theoretischen Wissenschaft
Tilemachos Komninos, 1890
Lehrbuch der Analytischen Chemie
Henry Roscoe, 1890
Chemie (übersetzt von Roussopoulos)
Anastassios Damverjis, 1891
Elemente der Chemie
Tilemachos Komninos, 1894
Taschenbuch der Chemie: Elementare anorganische, organische und analytische Chemie im Überblick
Prokopios Zacharias, 1898
Leitfaden der quantitativen Analyse für Studenten der Chemie
Die Titel erlauben nicht, die Einflüsse zu ermitteln, unter denen die Verfasser standen, aber die Einführungen und die Texte selbst sind diesbezüglich aufschlussreich. Im ersten Lehrbuch von 1864 nennt Ioannou ausdrücklich die Werke von Thomas Graham (1805–1869) als seine Quellen, der zwar auf Englisch schrieb und in London lehrte, dessen Lehrbücher aber von F. Otto ins Deutsche übersetzt worden waren. Diese Übersetzungen benutzt Ioannou sowie auch die Lehrbücher von Johann Scherrer (1814–1869) und Eugen von Gorup-Besánez (1817–1884). Für seine Anorganische Chemie von 1866 war das Vorbild jedoch der Traité élémentaire de chimie médicale (1864) des Franzosen Adolphe Wurtz (1817–1884). Christomanos’ Lehrbücher waren eindeutiger in die deutsche chemische Tradition eingebettet. Die Tafeln zur chemischen Analyse von 1865 sind eine überarbeitete Form des entsprechenden Werkes des Professors der Universität Gießen Heinrich Will (1812–1890), einer herausragenden Gestalt der deutschen Chemie. Die späteren Lehrbücher von Christomanos basierten auf dem Werk von Sir Henry Roscoe (1833–1915), das er im Übrigen 1878 übersetzte und das Othon Roussopoulos 1890 in einer späteren Auflage erneut übersetzte. Roscoe war zwar ein bedeutender englischer Chemiker, aber auch ein enger Schüler und Mitarbeiter der deutschen Chemiker Kirchhoff und Bunsen, in deren Laboren er arbeitete, als Christomanos studierte. Roscoes Lehrbuch wurde sehr rasch ins Deutsche übersetzt und von der deutschen Übersetzung ins Griechische weiterübersetzt. Als Lehrbuch spiegelt es deutsche chemische Ideen und Traditionen wider und war sogar ein entscheidender Faktor der Ausstrahlung in den englischen Raum hinein. Etwas Entsprechendes passierte auch mit den Lehrbüchern von Anastassios Damverjis, der in Deutschland studiert hatte und Artikel für deutsche Zeitschriften schrieb. Seine Lehrbücher geben ein Sammelsurium von französischen und deutschen Quellen an, sind aber im Geist der Lehrbücher von Christomanos verfasst. Die Lehrbücher von L. Dossios und T. Komninos sind schwerer einzuordnen, da sie keine Quellen angeben. Die Tatsache aber, dass beide Verfasser in Deutschland studiertenund auf Deutsch publizierten sowie die Benutzung konkreter Beispiele in den Lehrbüchern führt zum Ergebnis, dass auch diese Werke vor allem deutsche Quellen benutzen. Das geht auch aus einem Pamphlet hervor, das Dimitrios Gastis, Komninos’ Konkurrent um die Assistentenstelle, 1911 veröffentlichte. Darin bezichtigt er Komninos zu Recht, er habe das Lehrbuch des Deutschen Heinrich August Bernthsen (1855–1931) kopiert (Gastis, 1911).
Die Werke von Jeorjios Zavitsanos und Aristidis Voussakis sind andererseits offensichtlich von der französischen Literatur beeinflusst. Beide haben in Frankreich studiert, und Voussakis benutzt in seinem Lehrbuch auch französische Terminologie. Diese drei Lehrbücher sind aber auch die einzigen, die deutliche französische Einflüsse aufweisen.
Die Lehrbücher der Chemie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen, waren im Wesentlichen Kompilationen, Adaptionen und in einigen Fällen auch Übersetzungen deutscher Lehrbücher.
Argumente und Muster
Das Erscheinen der Chemie in Griechenland war, wie jede weitere Wissenschaft, begleitet von einer Diskussion über ihren Zweck und Nutzen. Die griechischen Chemiker mussten die chemische Terminologie übersetzen und an das Griechische anpassen und ein Image aufbauen, was es bedeutete, Chemiker und allgemein Naturwissenschaftler zu sein (Tampakis, 2015). Beispiele dazu wie etwa Souris’ Gedicht oder der Streit über die öffentliche Nutzung des chemischen Labors wurden bereits erwähnt. In diesem Rahmen bewegt sich auch ein weiteres Gedicht von Souris, das er 1906 in der Zeitung Romios aus Anlass von Christomanos’ 40. Hochschuljubiläum veröffentlichte (40 Jahrjubiläum, 1906, 33):
Die Chemie, Mutter des Fortschritts,
irrt mal hier, mal dort herum,
hebt stolz den Kopf und
Kränze in der Hand haltend
sucht sie in der Lichter Tempel
nach dem hehren Christomanos.
Als weise Wissenschaft bekränzt sie
wer vierzig Jahre ihr Lob pries,
und sieht ihre Kinder vorbeiziehen
und rufen: zum Wohl, Christomanos.4Beide Gedichte sind im Original gereimt.
Die deutsche chemische Praxis hat auch in diesem Prozess als Muster fungiert. Der offensichtlichste Einfluss ist vielleicht derjenige, der paradoxerweise am meisten ignoriert worden ist: die chemische Terminologie selbst. Viele chemische Elemente sind im 19. Jahrhundert entdeckt worden, und deren Bezeichnung spiegelt häufig die chemische Gemeinschaft wider, die sie entdeckt hat. Andere Elemente bewahren bis heute verschiedene Bezeichnungen in verschiedenen Sprachen. Die Tabelle 2 zeigt die Unterschiede.
Tabelle 2: Bezeichnungen chemischer Elemente
Die Schlussfolgerungen daraus sind höchst interessant. Bei Elementen, die aus der Antike bekannt waren wie Silber und Kupfer, wurden in der griechischen Chemie die altgriechischen Bezeichnungen beibehalten. Neue Elemente, die auf der Basis altgriechischer Wortstämme benannt wurden, behielten gleichfalls ihre griechischen Bezeichnungen. Beispiele dafür sind der Wasserstoff, der 1776 von Henry Cavendish (1731–1810) identifiziert wurde, aber seine heutige Bezeichnung von Antoine Lavoisier (1743–1794) erhielt, sowie der Sauerstoff, der von Carl Wilhelm Scheele (1742–1786) und unabhängig davon von Joseph Priestley (1733–1804) entdeckt, aber ebenfalls von Lavoisier benannt wurde. In jedem anderen Fall, wie Natrium und Kalium zeigen, hat die deutsche Bezeichnung obsiegt. Der deutsche Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der Chemie in Griechenland geht jedoch über die Terminologie hinaus. Wie wohl zu erwarten, übersetzen die griechischen Chemiker mit deutscher Ausbildung deutsche chemische Lehrbücher für ihre Lehre, sie führen deutsche Chemiker als Beispiele sowohl für ihre Argumentation wie für die Popularisierung ihres Faches an. Als Konstantinos Zengelis 1896 seine Einführungsvorlesung mit dem Thema Die Chemie in unserer Zeit hält, lässt er sie dem damaligen Brauch entsprechend als autonomen Text drucken. Die Helden seines Texts sind in überwältigender Mehrheit deutsche Chemiker wie Robert Bunsen, August Kekulé und Wilhelm Ostwald. Zum Schluss seiner Rede führt Zengelis Argumente für die wirtschaftliche und nationale Bedeutung der Chemie an und nennt als Vorbild weder England noch Frankreich an, sondern Deutschland und Justus Liebig (Zengelis, 1896, 27–28). In seiner Rektoratsrede 1896 mit Titel Naturwissenschaften und Fortschritt weist Anastassios Christomanos mit einer Reihe von Argumenten nach, dass die Naturwissenschaften unerlässlich für den Fortschritt der Nation seien. Er nennt dabei eine Reihe von europäischen Wissenschaftlern, aber im Falle der Chemie erwähnt er außer dem Italiener Amedeo Avogadro (1776–1856) nur die Deutschen Rudolf Clausius (1822–1888) und natürlich seine Lehrer Bunsen und Kirchhoff (Christomanos, 1897, 12–14). Und in einer Briefveröffentlichung in der Zeitschrift Parnassos zum Thema des Chemie-Unterrichts, ursprünglich an den Rektor der Universität Athen, A. Anagnostakis, gerichtet, setzt er sich für die notwendige materielle und ausbildungsmäßige Aufwertung der Chemie ein. Um die Bedeutung seines Fachs zu belegen, benutzt er Beispiele aus Österreich und Deutschland und als Vorbild für effiziente Labore das Chemielabor von Hofmann in Berlin und jenes von Bunsen in Heidelberg (Christomanos, 1879). Ähnliches gilt für Leandros Dossios, der in seiner Antrittsvorlesung 1869 voller Bewunderung an eine Reihe von Vorläufer der modernen Chemie wie Lavoisier und den Deutschen Georg Stahl (1659–1734) erinnert und, als er die moderne Chemie beschreibt, Liebig erwähnt. (Dossios, 1869, 17–18). Schließlich wird selbst in den Nachrufen die Tendenz zu den deutschen Chemikern deutlich. Der einzige Nachruf auf einen Wissenschaftler, den An. Christomanos schreibt, ist der auf seinen alten Lehrer Hofmann (Christomanos, 1892). Acht Jahre später wird Damverjis im Parnassos-Saal einen Vortrag zum Gedenken an Robert Bunsen halten und später auf zwanzig Seiten drucken lassen (Damverjis, 1900).
Schlussfolgerungen: Das deutsche Vorbild und die Chemie in Griechenland
Die Institutionalisierung der Chemie in Griechenland als einer autonomen Wissenschaft mit eigenen Praktiken wurde durch die deutsche Chemie und die Praktiken der deutschen Chemiker beeinflusst. Dieser Prozess beschleunigte sich nach 1860 aus Gründen, die mit der Entwicklung der Universität Athen und des Polytechnikums zu tun haben und weniger aus irgendwelchen industriellen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Griechische Naturwissenschaftler, die den Titel des Chemikers zu Recht trugen, waren im ganzen Zeitraum 1860–1905 gering an Zahl und beeinflussten daher die Normen und wissenschaftlichen, didaktischen und professionellen Praktiken der griechischen Chemie entscheidend. Mit Ausnahme der offensichtlichen und bestimmenden Präsenz der französischen chemischen Tradition in der pharmazeutischen Chemie, wurden die griechischen Chemiker an deutschen und deutschsprachigen Universitäten ausgebildet, übersetzten und kompilierten sie deutsche Lehrbücher, schrieben Artikel in deutschen Zeitschriften und beriefen sich in ihrer Argumentation auf deutsche Beispiele aus der Chemie. Diese Beziehungen waren keine Einbahnstraße, wie die Präsenz von Christomanos und Damverjis auf internationalen Kongressen und Jahns Aufenthalt in Griechenland zeigen. Im Ergebnis hat sich die griechische Chemie in den ersten fünfzig Jahren ihrer Existenz in und durch Deutschland entwickelt.