Die lokale Dimension der „deutschen Bedrohung“: Der Fall Patras
Besonderes Interesse für unsere Fragestellung bieten die beiden Analysen des britischen Konsulats in Patras und der britischen Botschaft in Athen, die die Frage der deutschen Propaganda1Zur deutschen Propaganda in Griechenland während dieses Zeitraums vgl. Dordanas, 2020. betreffen und im Juli bzw. November 1917 verfasst wurden.
Die Hervorhebung von Patras ergibt sich für die Briten aus der Präsenz eines im Hinblick auf den wirtschaftlichen und sozialen Einfluss bedeutenden Teils der Bevölkerung deutscher Abstammung, aus Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland, aber auch aus der Einschätzung der Stadt als Bastion des Antivenizelismus.2Der britische inoffizielle Vertreter Venizelos‘ in Großbritannien, Ronald Burrows, übergab im Dezember 1916 der Times in London Auszüge aus der Korrespondenz mit Venizelos, in denen ausführlich über Patras und militärische Patrouillen von antivenizelistischen Kräften in der Stadt und im Hafen berichtet wurde. Ronald Burrows, „The Greek Rebuff“, The Times, 04.12.1916 (vgl. Leontaritis, 1980, 175).
Die Handelsbeziehungen zwischen Patras und Deutschland stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die Stadt zum Zentrum des Korinthenexports entwickelte, der für die griechische Volkswirtschaft von allergrößter Bedeutung war (Moulias, 2005). Bezeichnend für die lokale Gesellschaft waren Theodor Hamburger und Gustav Clauss, die das Handelshaus Fels & Co leiteten und später eine bedeutende unternehmerische Aktivität in der Region entfalteten. Der 1847 in Patras eingetroffene Hamburger amtierte neben seiner unternehmerischen Tätigkeit als preußischer Konsul und gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Händlervereins und des Handelsclubs von Patras (Bakounakis, 2005,76). Als ein Höhepunkt der lokalen Wirtschaftsgeschichte kann die Gründung der Weinkellerei Achaia Clauss im Jahre 1861 durch den Bayern Gustav Clauss angesehen werden. Clauss hatte sich 1854 in Patras niedergelassen und erhielt 1858 auch die Stellung eines bayerischen Konsuls, die er bis zu seinem Tode 1908 behielt (ebd.). Auch sollte erwähnt werden, dass die wachsende Nachfrage des deutschen (und holländischen) Markts nach Korinthen in den 1890er Jahren – inmitten der Korinthenkrise – für die griechische Volkswirtschaft von erheblicher Bedeutung war (Pisanias, 1988, 66-68).
Die besondere Physiognomie der Stadt, die sie zu einem bevorzugten Ort der deutschen Propaganda machte, wird in der folgenden Beschreibung der britischen Botschaft treffend zusammengefasst: „Bis vor Kurzem beherbergte Patras eine bedeutende deutsche Kolonie aus wohlhabenden Händlern und ihren Familien, die vitale Interessen in Handel und Landwirtschaft hatten […] sowie Repräsentanten in jeder Stadt und jedem Dorf der gesamten Peloponnes hatten“.3TNA/FO/286/665/327 (26.11.1917). Vgl. auch „Greece not at War: Ministers to Enemy countries recalled“, The Balkan News 241 (2017), Thessaloniki, 2-3.
Diese Analyse stellte ferner fest, dass diese Kolonie in Ausübung der Propaganda über größere Bewegungsfreiheit verfügte als entsprechende Gruppen, die in der weiteren Umgebung der Hauptstadt lebten. Unter den günstigen Umständen für die Entfaltung der deutschfreundlichen Propaganda betonte sie die starke royalistische und antivenizelistische Stimmung in der Region sowie den politischen Einfluss des aus Patras stammenden Führungskaders der antivenizelistischen Fraktion4Ebd. und Vorsitzenden der Nationalistenpartei, Dimitrios Gounaris (vgl. Christopoulou, 2017).
Die einseitige Definition von Patras als einer antivenizelistischen Bastion muss jedoch in Anbetracht des starken Einflusses des Venizelismus in der Region relativiert werden. In den Jahren 1910-1914 hatte die Presse in Patras eine venizelosfreundliche Ausrichtung, während die Ethniki, eine offen antivenizelistische Zeitung, erst 1915 erscheint (Tompros, 2010, 117, 130). Auch die vorliegenden Analysen der Wahlen im Jahr 1915 (Mai und Dezember) sprechen nicht dafür, die Hauptstadt der Region Achaia vor 1926 als antivenizelistische „Zitadelle“ zu betrachten.5Zur Analyse der Wahlen von 1915 vgl. Oikonomou, 1989, 367-385. Gestützt auf Berechnungen von Al. Papanastasiou wird der Anteil der Liberalen in der Region Achaia-Elis insgesamt in den kritischen Wahlen von 1920 auf 45,8 % geschätzt, dem höchsten im „alten Griechenland“ (vgl. Papanastasiou, 1923, 98-99). Wir danken Panajotis Koustenis für die entsprechenden Hinweise. Was die britische Auffassung des politischen Kräfteverhältnisses in Patras als besonders positiv für die deutsche Propaganda angeht, muss auch die dynamische Präsenz der Epistrati (royalistischer Reservistenverband) in der Stadt in Betracht gezogen werden. Das Gründungstreffen der Epistrati in Patras geschah am 19 Juni 1916, und die Teilnehmer werden auf 1400 geschätzt. Zur gleichen Zeit bildeten sich die Epistrati-Verbände in Ejio und Achaia (Kalpodimou/Kondis, 2005, 157).6https://argolikoslibrary.files.wordpress.com/2018/07/cebf-ceb1cebdcf84ceafcebacf84cf85cf80cebfcf82-cf84cebfcf85-ceb5ceb8cebdceb9cebacebfcf8d-ceb4ceb9cf87ceb1cf83cebccebfcf8d-1915-1917-cf83.pdf (eingesehen am 01.11.2020).
Trotz des politischen Wechsel in Athen und Venizelos‘ Vorherrschaft im Juni 1917 zeigen sich die britischen Diplomaten im November desselben Jahres überzeugt, dass die antivenizelistische und gegen die Entente gerichtete Stimmung in Patras und großen Teilen der Peloponnes unverändert stark geblieben sei. Daher halten sie es für möglich, dass bedeutende Teile der lokalen Bevölkerung bereit seien, „den Feind auf mehr als eine Art und Weise zu unterstützen“.7TNA/FO/286/665/327 (26.11.1917). Betont werden muss, dass die britische Seite lebhaftes Interesse am Ausmaß der Deutschfreundlichkeit in den griechischen Regionen zeigte und die Auswirkungen existierender kultureller und wirtschaftlicher Faktoren in der jeweiligen Situation erforschte. Ein solches Beispiel außerhalb Patras war die Stadt Agrinio wegen der Bedeutung des deutschen Marktes für die lokale Tabakproduktion.8TNA/FO/268/546/3 (26.11.1917). Am stärksten besorgt waren die britischen Stellen über vermutete Netzwerke von Griechen und Ausländern (hauptsächlich Deutschen, aber nicht nur), die deutsche Propaganda fördern mochten. Dabei beschäftigte sie die Ausstattung der Konsulate neutraler Länder mit deutschen Funktionsträgern oder ihnen freundlich gesinnten Personen (aus Österreich-Ungarn, Bulgarien oder dem Osmanischen Reich).9TNA/FO/286/672/529 (06.06.1917); TNA/FO/286/672/529 (05.07.1917); TNA/FO/286/672/529 (14.07.1917). Die Festnahme zweier Deutscher in Patras im März 1916 durch alliierte Kommandos unter dem Vorwurf der Spionage führte zu flammenden Artikeln über das „Recht des Stärkeren“ und die Verletzung der griechischen Souveränität auf den Titelseiten der antivenizelischen Presse.10Sfera, 14.03.1916, 1 „Schmerzhafte Prüfungen für Griechenland“, 15.03.1916, 1.
Im April des folgenden Jahres merkte die Londoner Times kritisch an, dass die griechische Regierung die Umsetzung britischer Forderungen verzögere, „als seien die Entente und Griechenland zwei Vertragspartner, die über die Klauseln irgendeines Vertrages verhandelten“. „Vor allem“, fährt der der Korrespondent der Times fort, „hat die Regierung noch nicht den letzten Schritt in Bezug auf die Deutschen und die Deutschfreundlichen in Griechenland vollzogen. Ihnen wurde Zeit eingeräumt, ab dem ersten Dezember [1916] den Augiasstall auszumisten“.11„Greece still defying the Allies“, The Times, 23.04.1917, 7.
Ein charakteristisches Beispiel ist in diesem Zeitraum der Fall des Herman Stoltenhoff, der deutscher Herkunft und als Vizekonsul für Norwegen tätig war und gemäß den britischen Stellen an der Spitze eines gut organisierten Netzwerkes für „österreichisch-deutsche Propaganda“ stand.12TNA/FO/286/672/529 (27.07.1917). Der Genannte stand mit der Firma „Stoltenhoff and Lucas“ in Verbindung, die auf die britische schwarze Liste für Handel (Statutory Black List) gesetzt worden war. Er war von den Ausweisungen deutscher und österreichischer Bürger aus Patras ausgenommen, da er die griechische Staatsangehörigkeit besaß. Das britische Konsulat berichtete gleichwohl an seine vorgesetzten Stellen, dass Stoltenhoff zu jener Zeit „der gefährlichste Mensch in Patras“ wäre – Koordinator sämtlicher „deutscher Propaganda“ – und betonte, es müsste ein Weg gefunden werden, dass er die Stadt so schnell wie möglich verlasse. Darüber hinaus wurde angenommen, dass Stoltenhoff Informationen über die Bewegungen der französischen Flotte sammelte und dass er über Kommunikationskanäle zu den deutschen U-Booten verfügte.13Ebd. Daneben richtete das Schreiben die Aufmerksamkeit auf den Schweizer Konsul Carl Müller, ebenfalls deutscher Herkunft. Es stellte fest, dass Müller mittlerweile griechischer Staatsbürger sei, bezweifelte aber die Rechtswirksamkeit einer Verleihung der Staatsbürgerschaft in Kriegszeiten. Obgleich die Briten in Bezug auf ihn persönlich über keine Informationen verfügten, dass er an irgendeiner gegen die Entente gerichteten Handlung beteiligt wäre, vermerkten sie, dass seine Tochter Emma den Eindruck einer „sehr gefährlichen und ehrlosen Person“ vermitteln würde.14Ebd.
Worin bestand aber die Tätigkeit dieses deutschen Propagandanetzwerkes laut der britischen Analyse, wonach die deutschfreundliche Propaganda in Patras in eine neue Phase eingetreten sei? „Die Verbreitung falscher Nachrichten“ und „von Gerüchten“ in Bezug auf den Ausgang des Krieges, und zwar „auf die raffinierteste Art und Weise“, die die Identifizierung ihrer Herkunft unmöglich machte, wurde von den Briten als Haupttätigkeit der deutschen Propaganda in der Region beschrieben.15Ebd.
Im November 1917 stellte die Analyse der britischen Botschaft erneut fest, dass „Patras zweifelsohne eines der Zentren der [deutschfreundlichen] Propaganda auf der Peloponnes wenn nicht der feindlichen Aktivitäten entlang der Küstenzone“ sei.16TNA/FO/286/665/327 (26.11.1917). Die Briten maßen einen großen Anteil an der Verantwortung für die Verbreitung falscher Informationen auch der griechischen Seite zu, und konkret der „Unfähigkeit der Polizeibehörden, der großen Bewegungsfreiheit, die ausländische Staatsbürger im griechischen Staatsgebiet genossen, sowie dem Fehlen eines strengen gesetzlichen Rahmens für Zensur und Kontrolle der zu veröffentlichenden Informationen nach dem Vorbild des „Gesetzes zum Schutz des Staates“ (Defence oft the Realm Act),17Ebd. das in Großbritannien bei Kriegserklärung in Kraft getreten war (Sanders/Taylor, 1982, 9). Sie merkten sogar an, dass all dies von umso größerer Bedeutung sei, als das „Regime des Landes selbst nicht als stabilisiert bezeichnet werden könne“.18TNA/FO/286/665/327 (26.11.1917). Als zufriedenstellend bewerteten sie den Beitrag der Truppen der Nationalen Verteidigung [Anm. d. Üb.: Bezeichnung der von Venizelos geleiteten militärisch-politischen Bewegung] zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf der Peloponnes, äußerten aber Besorgnis, dass gezielte propagandistische Aktivitäten unternommen würden mit dem Ziel, die Loyalität dieser Truppe zu unterminieren.19Ebd. Jedenfalls waren die Briten überzeugt, dass die griechischen Behörden nicht in der Lage wären, der deutschen Propaganda effektiv entgegenzutreten – da sie „schlicht Amateure“ seien – es sei denn, sie würden von ihnen systematisch angeleitet.20Ebd. Die Briten waren insbesondere wegen des deutschen kulturellen Einflusses auf die lokale Bevölkerung beunruhigt. Die gesamten Vorteile der deutschen Propaganda einschätzend meinten sie, dass „Hunderte von Griechen, die durch die verhängnisvollen Aktivitäten der deutschen Propagandisten ausgiebig infiziert wurden, heute glühende Freunde Deutschlands seien“.21Ebd. Die Angst vor dem zersetzenden Einfluss der deutschen Kultur wird auch wegen der „übermäßigen Freiheit“ geäußert, die nach Ansicht der Briten die deutschen, österreichischen und osmanischen Soldaten in Tripolis genossen, mit dem Ergebnis, dass „die gebildetsten unter ihnen vielen Griechen Unterricht erteilen und sie zweifellos mit den Theorien über die Kultur ihres Vaterlands [Fatherland] berieselten. Die beste Lösung wäre für die Briten, wenn die griechischen Behörden sie den Briten oder Franzosen auslieferten oder sie auf eine Insel verbannten „weit weg von der Region, die sie vergiftet haben“.22Ebd. Im britischen Bereich war die Praxis verbreitet, Deutsche, österreich-ungarische Staatsangehörige, Türken und Bulgaren als feindliche Ausländer [enemy aliens] in abgelegene Lager einzuweisen. Diese Maßnahmen führten dazu, dass die deutsche Kolonie in Großbritannien um ein Drittel vermindert wurde (Pannavi/Manz, 2020).
Die Wortwahl der britischen Diplomaten scheint von den Grundlinien der antideutschen Propaganda in Großbritannien beeinflusst zu sein. In relativ kurzer Zeit fand sich Deutschland in der Situation wieder, sämtliche negativen Charakteristika des Nationalismus zu verkörpern: Expansionismus, Militarismus, Absolutismus. Selbst britische Intellektuelle deutscher Herkunft und Propagandisten an vorderster Front des patriotischen Kampfes gegen die Mittelmächte äußerten privat ihr Unbehagen über die Verpflichtung, die diabolischen „Tugenden“ der Deutschen zu verbreiten.23Vgl. z.B. Seton-Watson/Wilson/Zimmern/Greenwood, 1914; Messinger, 1992; Monger, 2012; Wallace, 1988; Giannakopoulos, 2015, Kap. 4; Holthaus, 2020. Interessant ist auch, dass eine der üblichen Metaphern, die eingesetzt wurden, um die kulturelle Bedrohung durch den deutschen Feind zu beschreiben, die einer infektiösen Krankheit war. Der britische Kriegseinsatz zielt danach darauf ab, dem Körper Europas die Antikörper zu verabreichen, die er braucht, um „das Gift“ des deutschen Nationalismus abzuweisen.
Deutsche Propaganda und lokale Presse
Im Rahmen der Nationalen Spaltung spielte die überregionale wie die lokale Presse eine zentrale Rolle, was die Vermittlung des politischen Konflikts und die Verstetigung der Polarisierung angeht (Papadimitriou, 1990). In der öffentlichen Diskussion über die politischen Lager und die Anliegen im Ersten Weltkrieg ist der Diskurs der Presse von ausschlaggebender Bedeutung, wenn es darum geht, die Identitäten der politischen Lager im Zusammenhang der nationalen Stereotypen in Bezug auf feindliche und befreundete Länder und das nationale Selbstbild auszuhandeln (Lialiouti, 2020, 245-264). Die Rolle der Presse in der öffentlichen Sphäre jener Zeit hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass sich die griechische Presse im Zentrum der Propagandaschlacht zwischen Großbritannien und Deutschland befand. Die historische Recherche hat die systematischen Bemühungen der beiden widerstreitenden Lager ans Licht gebracht, Einfluss auf den Inhalt der griechischen Presse auszuüben.24Zu den britischen Propagandabemühungen in die griechische Presse vgl. Sanders/Taylor, 1982, 117-118; Maiolo/Insall, 2012, 819-839; Rizas, 2019, 78-79. Zu den deutschen Propagandabemühungen in der griechischen Presse vgl. Leontaritis, 72-73; Mavrogordatos, 2015, 39; Kalpodimou/Kondis, 2015, 155-156. Im untersuchten Zeitraum waren die Briten der Ansicht, dass die lokale Presse in Patras ein fruchtbares Terrain für die Verbreitung deutschfreundlicher Propaganda abgäbe. Besonders erwähnt wurde die Zeitung Ethniki und insbesondere die Artikel von Aristidis Stavropoulos, eines Schiffsagenten im Raum Aigio, der als „Spion“ der Deutschen und als „schlimmster Feind“ der Briten bezeichnet wurde. Für ihn wie auch für einen weiteren Händler und „fanatischen Gounaris-Anhänger“ wurde folgender Vorschlag formuliert: „Im Namen Gottes, Herr, lass es, falls möglich, geschehen, dass man die beiden, DIMOPOULOS & STAVROPOULOS aufhängt, da beide keine Griechen sind, sondern wahre Deutsche“.25TNA/FO/286/665/1 (21.12.1917).
Obgleich die Zeitungsarchive in Bezug auf die bewegte Zeit der Nationalen Spaltung bedeutende Lücken aufweisen, mag der Fall der Zeitung Neologos Patron26Die Zeitung startet 1894 und stellt ihr Erscheinen 1972 ein. Wegen ihrer pro-Venizelos-Ausrichtung wurden ihre Büros im September 1916 von einer Gruppe von <i>Epistratoi</i> angegriffen (vgl. Kalpodimou/Kondis, 2015, 162).als Beispiel für einen neutralitätsfreundlichen27Die Interpretationsschemata, auf die man im breiten ideologischen Denken jener Zeit trifft, sprechen für die These, dass die Neutralitätspolitik ab 1915 zugleich eine Option eines Teils der griechischen Eliten aber auch eines beträchtlichen Anteils der öffentlichen Meinung war (vgl. hierzu Rizas, 2019, 55). Vgl. auch die Einschätzungen des deutschen Militärs Falkenhausen zu den neutralitätsfreundlichen Tendenzen der griechischen öffentlichen Meinung (Dordanas/Kalogrias, 2020). und häufig gegen die Entente gerichteten Diskurs dienen. Wenn das Blatt auch keine deutlich deutschfreundliche Haltung einnimmt, so reproduziert es doch zwei Grundthesen der deutschen Propaganda: a) das Argument der deutschen Stärke, die den deutschen Sieg im Krieg außerordentlich wahrscheinlich mache, b) das Argument hinsichtlich der fehlenden moralischen Grundlage der Entente (Welch, 2000, 58–64; 127–134). Das letzte Argument stellte die zentrale These der britischen Propaganda infrage, nach der die Auseinandersetzung mit Deutschland – mit dem deutschen Militarismus gemäß der stereotypen Formulierung – auf der Grundlage der demokratischen Werte der (christlichen) Zivilisation und der Freiheit im Gegensatz zur Barbarei der deutschen Kultur geführt würde. Um dieses Interpretationsmuster voranzutreiben, stützten sich die britischen Propagandisten hauptsächlich auf die deutschen Kriegsverbrechen zu Lasten der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern, vor allem in Frankreich und Belgien.28Bryce, 1915; Toynbee, The German Terror in Belgium, 1917; Toynbee, The German Terror in France, 1917; Sanders/Taylor, 1982, 148-158. Zur Darstellung der deutschen Gräuel im besetzten Belgien in der griechischen Presse vgl. Dordanas/Kalogrias, 2020.
Die deutsche Propaganda bemühte sich ihrerseits, die Grundlage dieser Behauptungen infrage zu stellen und Fälle von grausamer Behandlung von Deutschen durch die Kräfte der Entente zu veröffentlichen (Welch, 2000, 62-64). Wie wichtig beide Positionen im Propagandakrieg der gegnerischen Seiten waren, ergibt sich aus folgenden Veröffentlichungen, die von den Briten im März 1918 beschlagnahmt wurden. Die erste trägt den Titel „Γερμανικά κακουργήματα; Απάντησις εις τον λίβελλον του Joseph Βédier βασιζόμενη επί γαλλικών εγγράφων“ (Deutsche Verbrechen? Wider Joseph Bédier. Zugleich eine Antwort aus französischen Dokumenten), verfasst von Dr. Maximilian Kuttner, Lehrer am Augusta-Gymnasium Berlin. Die griechische Übersetzung ist in Athen im Jahr 1916 erschienen. Der zweite Propagandatext trägt den Titel „Η Νίκη της Γερμανίας (Deutschlands Sieg)“, ebenfalls eine Übersetzung aus dem Deutschen durch Aristotelis P., erschienen in Leipzig 1915.29TNA/FO/268/674/567 (01.03.1918).
Was die Presse in Patras angeht, verdient festgehalten zu werden, wie die Zeitung Neologos Patron die bedeutenden Reden des britischen Premierministers, Lloyd George, und des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson, im Januar 1917 aufnahm. Beide Reden stellen Höhepunkte der Propaganda im Ersten Weltkrieg dar, weil sie den ideologischen Inhalt des Konflikts für die nationale und internationale öffentliche Meinung bestimmten. In einem Kommentar zu Lloyd Georges Rede, die das „Kriegsziel“ aus britischer Sicht beschrieb, vertrat die Zeitung Folgendes:
Was wir bereits früher zu Englands geheimen Intentionen und zum Antrieb, in den gegenwärtigen Krieg einzutreten, bemerkt haben, wurde durch die jüngste Rede seines neuen Premierministers auf ganz offizielle Weise bestätigt. Sei es berauscht vom hochgestimmten Ton, der seine Rede auszeichnete, sei es aus arrogantem Egoismus, jedenfalls sprach Lloyd George aus, dass heutzutage nur noch Englands Stern im Lager der Alliierten im Zenit stünde und dass dessen treuherzige, wirtschaftlich – und vielleicht auch moralisch – ruinierten Freunde nicht mehr wären als Schößlinge, die ihre Existenz dem hohen Stamm verdankten, von dem sie das Leben empfangen hätten. So bewahrheitet sich die Voraussage, dass England nicht nur darauf hinarbeitet, Deutschland zu zerschmettern, sondern auch die eigenen Verbündeten zu Vasallen zu machen […].30Neologos Patron, Hauptartikel: „England und die Alliierten“, 05.01.1917, 1.
Einige Tage später begrüßt Neologos die „wichtige Proklamation“ des amerikanischen Präsidenten im Hinblick auf die Prinzipien, die die Nachkriegswelt leiten werden, wenn auch betont wird, dass dies von „übertriebenem Optimismus“ gekennzeichnet sei. Die Zeitung bezweifelt, dass die beiden großen Kriegsparteien, Deutschland und England, sich an den Ankündigungen ausrichten werden. Die Skepsis, mit der die Zeitung der zukünftigen Rolle Großbritanniens in der Nachkriegssituation begegnet, entspricht zweifellos nicht den Erwartungen der britischen Propagandisten. Gemäß der Argumentation von Neologos ist Wilsons Vision dazu verdammt, entweder am deutschen „Militarismus“ oder an den britischen „Seeherrschaftsambitionen“31Der Begriff „Seeherrschaft“ bezieht sich auf die entsprechende Bestrebung Großbritanniens, und im Kontext des Ersten Weltkriegs wird er in Bezug auf den deutschen Militarismus gesetzt. zu zerschellen, denn „die Mächtigen werden die blutige Tragödie fortsetzen, um eben ihre Hegemonie zu sichern“.32Neologos Patron, Hauptartikel: „Wilsons Proklamation“, 12.01.1917, 1.
Die Kritik an den führenden Mächten der Entente wird ergänzt durch eine außergewöhnlich bissige Stellungnahme der Zeitung zur Rolle Frankreichs33Zur ablehnenden Haltung hinsichtlich der französischen Militärpräsenz in Griechenland im Zeitraum 1916-1917 vgl. Lialiouti, 2020. gelegentlich einer Rede von Premierminister Briand im Parlament. Im Rahmen einer heftigen Kritik an französischen Pressionen gegen die Athener Regierung kommt Neologos zu dem Schluss, dass die Stellungnahmen des französischen Premierministers „eine Seite in der modernen französischen Geschichte markieren werden, die deren gesamte Vergangenheit leugnet“. Einerseits wirft die Zeitung also der Französischen Republik den Ausverkauf von Prinzipien und Werten vor und andererseits brandmarkt sie die französischen Interventionen in die griechische politische Szene als brutalen Eingriff in die souveränen Rechte eines kleinen Staates durch die „Mächtigen“. Diese Bewertung der französischen Rolle beeinflusst auch die gesamte Auffassung vom Ersten Weltkrieg als Konflikt ohne moralischen Gehalt: „im gegenwärtigen Krieg wird die Missachtung jeglichen Prinzips entschuldigt, dessen sich das Frankreich der früheren Jahre rühmte und auf das es stolz war?“34Neologos Patron, Hauptartikel: „Briands Rede“, 18.01.1917, 1.
Im selben Zeitraum wurden auf den Titelseiten der Zeitung auch Analysen aufgenommen, die die deutsche Macht hervorhoben, insbesondere in Bezug auf den U-Boot-Krieg. Dieser war ebenfalls ein wichtiges Thema für die beiden gegnerischen Propagandaapparate, den britischen und den deutschen, wobei die Briten ihn als Beleg für die mangelnde moralische Zurückhaltung und die Brutalität der Deutschen nutzten.35Zur Darstellung des U-Boot-Kriegs seitens der deutschen Propaganda vgl. Welch, 2000, 129-134. Zur Darstellung desselben Themas von der britischen Propaganda vgl. Sanders/Taylor, 1982, 131-133, 173-177. Auf den Seiten der Zeitung aus Patras werden die Leistungen der Deutschen im U-Boot-Krieg keineswegs mit Kommentaren moralischer Art bedacht, sondern als Ausdruck deutscher Effektivität und Entschlossenheit interpretiert. Bezeichnenderweise heißt es, „die Deutschen reden nicht. Sie handeln“, dabei wird die Frage aufgeworfen, „ob England nach wie vor die Meere beherrscht“.36Neologos Patron, „Torpedierungen“, 11.01.1917, 1.
Aus den obigen Zitaten wird deutlich, dass im Fall der Hauptstadt von Achaia die Interpretationsschemata der britischen Propaganda zum Großen Krieg im öffentlichen Diskurs angezweifelt werden. In die entsprechende Argumentation schleicht sich die Auffassung ein, dass der Krieg eine Art europäischer Bürgerkrieg sei, der die mächtigen Staaten betreffe und nicht die kleineren wie Griechenland (vgl. auch Laliouti, 2020).
Erster Weltkrieg und Propaganda: Ιnternationale und regionale Dimension
Während des Ersten Weltkriegs wurde Griechenland zum Austragungsort antagonistischer propagandistischer Programme seitens der Kriegsgegner. Die grundsätzlichen Faktoren der anglo-französischen und der deutschen Propaganda in Griechenland sowie die Tätigkeit der Hauptakteure auf zentraler politischer Ebene wie Ioannis Jennadios oder von Intellektuellen wie Ronald Burrows sind ausgiebig erforscht worden.37Vgl. u.a. Maiolo/Insall, 2012; Lemonidou, 2007; Lemonidou, 2014, 273-291; Leontaritis, 1980. Die regionale Dimension dieser Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Propaganda kann jedoch weiter aufgeklärt werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf jenen, die die Propaganda durchführen, wie die Konsulate, die Presse und die Netzwerke von Personen, die mit weiteren Tätigkeitsfeldern im Austausch stehen wie dem Handel. Die Fokussierung auf die lokale Ebene erlaubt uns, partielle Dimensionen allgemeinerer Phänomene aufzuzeigen und besser zu begreifen, wie allgemeine politische Ausrichtungen heruntergebrochen und reproduziert werden, insbesondere im Klima intensiver Polarisierung und politischer Instabilität in Griechenland. Die Untersuchung der britischen antideutschen Propaganda in Griechenland erlaubt uns schließlich, eine Gesamtheit von kulturellen Stereotypen, Bildern und Ideen zu rekonstruieren, die die Vorstellungen über den „deutschen Feind“ nähren und die Auffassungen hinsichtlich der griechischen Realität bestimmen.