Die Theorie
Am 15. Mai 1936 reichte der dreiundzwanzigjährige Konstantinos Doxiadis an der Technischen Hochschule Berlin in Charlottenburg seine von Daniel Krencker wissenschaftlich betreute Dissertation unter dem Titel Die Raumgestaltung im griechischen Städtebau ein. Der Originaltext in den Constantinos A. Doxiadis Archives umfasst 225 Seiten, einschließlich Grundrissen, perspektivischen Darstellungen, Tabellen und fotographischen Aufnahmen. Gegenstand der Dissertation von Doxiadis war die griechische Stadtplanung und insbesondere einige bedeutende Gebäudekomplexe, wie die von Tempeln, Heiligtümern und Marktplätzen vom 7. vor- bis zum 2. nachchristlichen Jahrhundert.
Konstantinos Doxiadis zufolge waren die Platzierung der Gebäude und ihre Anordnung als Gebäudekomplexe im antiken Griechenland nicht zufällig, sondern folgten im Grundriss bestimmten strengen geometrischen Regeln, die auf Funktion und Physiologie des menschlichen Auges beruhten. Genauer gesagt definierten die Architekten der Antike die genaue Position von Gebäuden im Raum mithilfe eines fortschrittlichen Polarkoordinatensystems. (Abb. 1) Das basierte auf geometrische Beziehungen von Winkeln, deren Scheitelpunkt sich mit dem menschlichen Auge deckte und deren verlängerte Schenkel bestimmte Punkte wie Seitenflächen und Begrenzungen von Tempeln, Kanten von Altären, Achsen von Statuen usw. tangierten. Die menschliche visuelle Wahrnehmung war in gewisser Weise die Grundlage der architektonischen Gestaltung und das Sichtfeld des Betrachters deckte sich mit dem Bereich der Gebäudekomposition. Es gab immer einen zentralen Punkt, von dem aus das gesamte architektonische Ensemble wahrgenommen werden konnte – das war der Eingang des einzelnen Komplexes. (Abb. 2) Typischerweise betonte das Propylon den Komplexeingang und war gleichzeitig der Punkt, von dem aus der Betrachter zum ersten Mal Ort und Raum überblickte. Mit anderen Worten, Propylon und Eingang waren das Äquivalent zu Iris und Pupille des menschlichen Auges. Laut Doxiadis´ Dissertation waren die Grundprinzipien der Konzeption von Bauwerken im Raum folgende:
- Visuelle Konstruktionsstrahlen definierten die Position von drei Ecken jedes Gebäudes, so dass dieses immer zu drei Vierteln sichtbar war. (Abb. 3) Der ideale Standpunkt (Punkt A auf den Grundrissen) befand sich auf der letzten Stufe des Propylons im jeweiligen Eingangsbereich und in Augenhöhe eines durchschnittlich großen Mannes dieser Zeit.
- Jeder wichtige Bau erschien im Blickfeld immer als Ganzes und nie nur als Fragment.
- Die visuellen Konstruktionsstrahlen standen bei jedem Ensemble in einem bestimmten Winkel zueinander, je nachdem, ob der Architekt a.) das Duodezimalsystem oder b.) das Dezimalsystem anwendete. Bei a.) wurden die Bauten unter einem Blickwinkel von 30°, 60°, 90°, 120° und 150° wahrgenommen, was sich aus der Unterteilung des 360°-Gesichtsfeldes in 12 gleiche Teile ergab. Bei b.) waren die Winkel 36°, 72°, 108° und 144°, was sich aus der Unterteilung des 360°-Gesichtsfeldes in 10 gleiche Teile ergab.
- Die Position der Bauten wurde auch durch den Abstand zwischen dem Betrachter (Punkt A) und dem Objekt in Kreisbögen mit einem Radius von 100, 150 oder 200 antiker Fuß bestimmt.
- In den Heiligtümern war einer der visuellen Konstruktionsstrahlen nicht auf einen Tempel oder einen anderen Bau gerichtet, sondern auf ein natürliches Element der Umgebung, ein lokales Wahrzeichen von besonderer Bedeutung oder stand in Beziehung zu einer lokalen religiösen Tradition.
- Die Gebäude wurden so positioniert, dass die dazwischenliegenden Räume Sicht auf die natürliche Umgebung ermöglichten, wodurch eine visuelle Komposition entstand, die natürliche und bauliche Elemente umfasste.
Nach Ansicht des Autors war dieses System der Raumkomposition, dessen Ausgangspunkt die menschliche visuelle Wahrnehmung war, älter als das Hippodamische System.1Doxiadis ist der Ansicht, dass sich auch Aristoteles auf diese Unterscheidung bezieht, wenn er über den „αρχαιότερον τρόπον“ (archaioteron tropon – die ältere Weise) schreibt. Heute wissen wir natürlich, dass die griechischen Kolonien des 7. vorchristlichen Jahrhunderts wie Megara Hyblaia von Anfang an nach dem Hippodamischen System errichtet worden waren. Doxiadis wies jedoch darauf hin, dass es eine fortlaufende Entwicklung dieses Systems gegeben habe – ab den ersten philosophischen Ansätzen im 7. vorchristlichen Jahrhundert über die Blütezeit im 5. Jahrhundert bis hin zum allmählichen Untergang im Hellenismus, als sich die Stadtplanung mit vertikalen und horizontalen Achsen durchsetzte, das Hippodamische System. Aus der Dissertation von Doxiadis entstand das Buch Raumordnung im Griechischen Städtebau, das 1937 in Heidelberg veröffentlicht wurde. In der Einleitung hielt Doxiadis fest, dass die von ihm angewandte Herangehensweise sicherlich eigen war, somit eher den Charakter einer Hypothese innehatte und daher mehr einer persönlichen interpretativen Sicht entsprach denn einer fundierten Theorie. Außerdem, schrieb er, war die Anzahl der Städte, die er studiert hatte, relativ gering und sicherlich nicht ausreichend, um diese Theorie lückenlos zu untermauern. Doxiadis gab somit zu, dass es sich nicht um eine auf soliden Daten basierende Studie handelte. Die Angaben seien vage, unvollständig und sicherlich nicht unumstößlich. Dennoch sei für den Forscher der „allgemeine Beitrag zur Wissenschaft“ wichtiger als die Festlegung auf einige „Einzelheiten“, wie er schrieb. Doxiadis räumte auch ein, dass die einschlägige Literatur zu Fragen der Raumordnung in der Antike für ihn, insbesondere das Werk zur antiken griechischen Architektur von Armin von Gerkan (1924), wenig hilfreich gewesen war. Wenn man die Literatur zu Doxiadis΄ Dissertation zusammenfasst, ohne nachzufragen, ob und inwieweit sie ihm bei der Ausarbeitung seiner Theorie geholfen hat, kommt man auf etwa fünfzig Bücher und Artikel. In den Constantinos A. Doxiadis Archives befinden sich 19 Arbeitsordner zu seiner Dissertation, sie entsprechen 19 antiken Städten (Ägina, Assos, Athen, Kos, Delphi, Delos, Ephesos, Magnesia, Megalopolis, Milet, Olympia, Palmyra, Pergamon, Priene, Samos, Selinunt, Sounio, Tegea, Lykosoura). Die Ordner umfassen Material von 1896 bis 1936 und enthalten Notizen, Skizzen sowie Postkarten, Faltblätter und Broschüren zu den archäologischen Stätten. In einigen Fällen hat Doxiadis neben den Grundrissen auch Panoramafotos angefertigt.
Der junge Architekt informierte von Anfang an Kollegen und Freunde, ehemaligen Professoren, namhafte Architekten in Griechenland und im Ausland über seine Dissertation.2Die Korrespondenz mit den Verlagen Wilhelm Ernst & Sohn und Alfred Megner befindet sich in den Constantinos A. Doxiadis Archives (DA18507). Jeder, der sich potentiell für die Raumordnung der Antike interessierte, war auch ein potenzieller Empfänger. Der Brief, den Doxiadis an Le Corbusier schrieb, macht deutlich, dass der junge Architekt seine Arbeit für sehr bedeutend hielt, und ließ gleichzeitig den Wunsch erkennen, sich dynamisch an einem internationalen Architekturdialog zu beteiligen.3Cher Monsieur, Lorsque j’étais encore étudiant, il y a quelques années, j’ai beaucoup lu vos ouvrages concernant l’architecture moderne et j’y ai remarqué avec plaisir que la question de l’esthétique de l’Acropole d’Athènes vous a beaucoup occupé. C’est ainsi que je me permets de vous remetre ci-joint une étude faite par moi-même au sujet de l’esthétique des villes anciennes en générale, laquelle a fait l’ object de ma Thèse pour le Doctorat lorsque je comletais mes études à Berlin. Ce travail a aussi été etudé en brochure spéciale, et je regrette de ne pouvoir bientôt le publier aussi en Français. Je vous prie de bien vouloir l’examiner en maître et me donner votre opinion laquelle jouit de monter mon estime et due je désirerais beaucoup connaître. C’est en vous remerciant très sincèrement que je vous prie d’agréer Monsieur, l’assurance de ma considération la plus distinguée. Dr. C. A. Doxiadis[Brief von K. A. Doxiadis an Le Corbusier vom 8.1.1938. Ich folge der Syntax, Grammatik und Rechtschreibung des Originals.].
Der Erfolg
Der Weg der Dissertation nach der Disputation war wirklich beeindruckend. Es folgten sofort Dutzende Präsentationen und Buchbesprechungen in Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften innerhalb und außerhalb Deutschlands sowie Einladungen von Doxiadis zu Vorträgen vor wissenschaftlichen Gesellschaften. Die meisten Kommentare bekannter Architekten, Archäologen, Mathematiker und anderer Wissenschaftler zu Doxiadis‘ „Entdeckung“ – wie man seine Theorie meistens bezeichnete – waren positiv bis enthusiastisch. Titel wie „Antike Stadtplanung“, „Die Ausgrabungen von Samos profitieren von der Entdeckung von Doxiadis“, „Die Entdeckung der Raumordnung“ veranschaulichen die Begeisterung der Kritiker für ein Geheimnis der Antike, das nun endlich gelüftet worden war. 1936 bereitete Doxiadis einen Vortrag für das Komitee der Olympischen Spiele in Berlin vor, der, wie immer, mit seiner Dissertation zu tun hatte. Das Referat war ein Resultat seiner Teilnahme an einem Kunstwettbewerb4Doxiadis nahm im Wettbewerb der Abteilung Architektur-Stadtplanung teil, erhielt jedoch keinerlei Auszeichnung. Der erste Preis ging an die Brüder Werner und Walter March. http://www.olympedia.org/results/920044. im Rahmen der Olympiade. Er präsentierte großformatige Pläne antiker Bauensembles Griechenlands, die er untersucht hatte.5Das Interesse an der Präsentation von Doxiadis‘ Plänen dürfte bei einer Olympiade nicht paradox erscheinen, die sich in jeder Hinsicht auf das antike Griechenland bezog, was auch der erstmalig ausgetragene Fackellauf mit der olympischen Flamme von Olympia nach Berlin belegt. (Abb. 4)
Natürlich waren nicht alle gleichermaßen begeistert von Doxiadis‘ neuer Theorie. Armin von Gerkan zeigte sich in einem Artikel im Magazin Gnomon (von Gerkan, 1938, 529–534) besonders zurückhaltend. Er merkte an, dass die alten Griechen solche Fluchtlinien nicht benutzt hätten, und wies darauf hin, dass jeder, der es unbedingt wolle, an jedem Gebäude den Beweis erbringen könne, dass es harmonischen, geometrischen Fluchten folge.6Damals habe ich den Autor von gewissen Übertreibungen warnen müssen, die perspektivische Wirkungen betrafen, leider ohne Erfolg: ich werde sie hier darlegen müssen […]. Wir sehen jedoch, wie nachsichtig Doxiadis sein System anwendet: schwankend, ungenau und inconsequent. Darin unterscheidet die vorliegende Theorie sich in keiner Weise von den älteren. […] dazu reicht das Material nicht aus, und wir finden nur eine unbewiesene These […]. Die philosophische Unterbauung der Theorie ist schwerlich überzeugend, sondern vielfach willkürlich-mystisch, manchmal sophistisch.
Grundlegende Einwände hatte auch Hans Schleif (1938, 1658–1660), der die rhetorische Frage stellte, ob ein solches vereinfachendes System, das nur auf wenige geometrische Punkte im Raum basierte, die gesamte antike Stadtplanung erklären könne.
Ähnliche Einwände hatte auch Rudolf Naumann (1938, 1230–1236). Nachdem er die vielen erfolglosen Versuche kommentierte, Architektur durch geometrische Grundlagen zu interpretieren, wies er auf die Gefahr hin, einen dreidimensionalen Raum auf zwei Dimensionen zu reduzieren und betonte dazu auch das Fehlen genauer archäologischer Aufnahmen bei den meisten der von Doxiadis präsentierten Beispiele. Die griechischen Zeitungen dieser Zeit hoben die Doxiadis-Theorie erwartungsgemäß als einen einzigartigen Erfolg hervor, der neues Licht ins Dunkel bringe und ein für alle Mal die grundlegenden Fragen der Archäologie auf eine Weise beantworte, auf die bislang noch niemand gekommen war. Die Zeitung Elefthero Vima betonte im Artikel „Bauen im antiken Griechenland: Entdeckung eines Griechen“ (24.11.1936), wie wohlwollend die Annahme der Theorie von den deutschen Archäologen angenommen worden sei, die Zeitung Kathimerini bezog sich im Artikel „Ein Beitrag des Architekten K. Doxiadis“ (23.11.1936) auf den Vortrag von Doxiadis vor dem Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin und die Zeitung Estia kommentierte im Artikel „Die Entdeckung von Herrn K. Doxiadis in Berlin“ (20.11.1936) denselben Vortrag als eine wahre Entdeckung, die vielleicht wie keine zweite die Welt der antiken griechischen Schönheit erklärte. Zehn Tage später folgte eine zweite Lobeshymne unter dem Titel „Das Geheimnis der alten Griechen“ (30.11.1936).
Weitere populärwissenschaftliche Präsentationen der Doxiadis-Theorie wie auch Buchbesprechungen in den 1940er Jahren und, in kleinerem Maßstab, auch in den 1950er Jahren. Ab 1936 erschienen auch andere Studien zu Fragen der visuellen Wahrnehmung antiker Architektur. Zum Beispiel sprach sich G. P. Stevens (1936, 443–520) für die Existenz privilegierter Aussichtspunkte im Heiligen Bezirk der Artemis Brauronia aus, von dem aus die Besucher einen Überblick über den Athener Parthenon gewinnen konnten. 1954 legte Stillwell (1954, 3–8) in seinem Artikel „The sitting of classical Greek Temples“ seine eigene Studie zur Raumplanung der klassischen Architektur mit ähnlichen Schlussfolgerungen wie Doxiadis vor. Auch R. D. Martienssen (1958) maß dem „Betrachter“ (spectator) und seiner Rolle bei der Ausrichtung der Gebäude eine besondere Bedeutung bei. Roland Martin (1966) äußerte sich erst ausführlich zur Perspektive antiker Maler wie Agatharchos aus Samos, Polygnotos aus Thasos, Mikon dem Älteren usw., um sich dann den Ansichten von Stevens zu privilegierten Aussichtspunkten von Gebäuden anzuschließen. 1962 rückte die Doxiadis-Theorie wieder in den Vordergrund, als der amerikanische Kunsthistoriker und Professor an der Yale University Vincent Scully in seinem Standardwerk The Earth, the Temple, and the Gods: Greek Sacred Architecture darauf Bezug nahm. Obwohl Scully von der Doxiadis-Theorie nicht gänzlich überzeugt war, stimmte er der zentralen Bedeutung der Umgebung als Kompositionsfaktor der architektonischen Raumordnung zu. Er befürwortete auch den Gedanken einer allmählichen Entwicklung von einer primären, „freien“ Raumkomposition zu einem späteren geometrischen und schließlich dem Hippodamischen System zu. 1963 zeigte der Verlag The MIT Press Interesse an der Neuveröffentlichung einiger Bücher von Doxiadis, unter anderem der Dissertation des damals bereits weltberühmten griechischen Stadtplaners.7Die Korrespondenz zwischen Doxiadis, Tyrwhitt und dem Verlag befindet sich in den Constantinos A. Doxiadis Archives (Ordner 22677). Der Text wurde von der Harvard-Professorin und Doxiadis-Kollegin Jacqueline Tyrwhitt ins Englische übertragen. Das Buch kam 1972 unter dem Titel Architectural Space in Ancient Greece bei The MIT Press heraus.
Interessant ist es zu beobachten, dass Doxiadis seine Theorie in den eigenen Projekten sehr selten selbst angewendet hat (teilweise bei der Planung der Siedlung Apollonio in Porto Rafti bei Athen und beim Entwurf der Salvatorkirche am zentralen Athener Stadtberg Lykabettus), aber immer daran festgehalten hat. Deshalb nahm er seine Theorie auch in späteren Werken über die antike griechische Stadt auf, wie in der bekannten Studie Η αρχαία ελληνική και η σημερινή πόλις [Die altgriechische und die heutige Polis/Stadt] (1964, 46–59). So wurde 1974 die Doxiadis-Theorie in die Encyclopedia of Urban Planning (New York, McGraw-Hill) aufgenommen, während, anlässlich jüngerer Artikel von Doxiadis, der namhafte Architekt, Bauforscher und Archäologe Anastasios Orlandos in seinem 1978 veröffentlichten Werk zum Parthenon eine umfassende Kritik dieser Theorie veröffentlichte. Darin versuchte Orlandos, die Doxiadis-Theorie durch archäologische Gegebenheiten zu widerlegen, und präsentierte gleichzeitig seine eigene Sicht auf die Ästhetik der antiken Architektur.
Die moderne Sicht
Die Studienjahre am Polytechnio, der Technischen Universität Athen, gaben Konstantinos Doxiadis die Gelegenheit, die architektonischen Mittel in ihrer Beziehung zur visuellen Form wahrzunehmen und zu studieren. Visualisierung war ein Basiskurs im ersten Studienjahr an der Architekturfakultät. Darin wurde das Licht als physikalische Welle untersucht, der Aufbau des menschlichen Auges, die Entstehung des umgekehrten Bildes auf der Netzhaut, optische Linsen, Spiegelungen usw. Ebenso wurden Gustav Fechners psychophysische Studien und die Experimente von Ludwig Boltzmann und Max Planck vorgestellt. Schließlich bezog sich Choisy, dessen Histoire Doxiadis in den Vorlesungen am Polytechnio von Anastasios Orlandos8In den Vorlesungen des zweiten Studienjahrs zu Architekturkomposition sprach Anastasios Orlandos zum Thema Symmetrie die Ausgewogenheit des Ensembles Propyläen/Tempel der Athena Nike an und war der Ansicht, dass es sich dabei um ein „natürliches“ Gleichgewicht handelt; dabei erwähnte er das bekannte Beispiel von Baum und Zweigen von Choisy. Siehe studentische Aufzeichnungen von Doxiadis (Constantinos A. Doxiadis Archives, Ordner 18614). kennengelernt hatte, mit dem Begriff „pittoresque“ auf das visuelle Gleichgewicht der Akropolis-Bauten, die Übersichtspunkte des Bereichs und die sukzessive Wahrnehmung des Raums durch einen sich bewegenden Betrachter. Wahrscheinlich veranlasste diese Suche nach der visuellen Dimension des Raumes den Studenten Doxiadis, das gesamte Buch von Le Corbusier Précisions sur un état présent de l’architecture et de l’urbanisme9Das Manuskript der griechischen Übersetzung des Werkes von Le Corbusier befindet sich in den Constantinos A. Doxiadis Archives (Ordner 18645). Die französische Ausgabe von 1930, die wahrscheinlich Doxiadis selbst übersetzt hat, befindet sich in der Doxiadis-Bibliothek der NTUA. ins Griechische zu übertragen.
Vermutlich beeinflusst durch die Erfahrung der Anwesenheit des berühmten Architekten im Jahr 1933 am Polytechnio im Rahmen des CIAM 4, aber auch durch die Verweise von Le Corbusier (1924) auf die Athener Akropolis und die Übernahme der Interpretation ihrer visuellen Symmetrie durch Choisy, verspürte Doxiadis den Wunsch, die Avantgarde des architektonischen Denkens zu studieren, zu verstehen und sich ihr anzunähern. Das ist ein Denkmodell, nach dem Architektur gemäß dem Leitsatz „das Auge sieht und der Geist berechnet“ auf die abstrakte Geometrie zurückzuführen und die Stadt nichts weiter ist als ein „Kreis“ visueller Eindrücke und Reize sei. In den Büchern aus der Doxiadis-Bibliothek der NTUA, die vor 1936 veröffentlicht wurden, findet man mehrere weitere Studien, die sich mit der Raumordnung der Antike und ihrer Beziehung zur visuellen Wahrnehmung befassen. Dies führt uns zu dem Schluss, dass Doxiadis bereits als Student am Polytechnio über eine Fülle von Material zu seinen Studien in den 1930er Jahren verfügte. Da theoretisches Material und Methodik bereits vorhanden waren, können wir davon ausgehen, dass sich seine Forschung in Berlin auf das Studium und die geometrische Analyse einiger Grundrisse aus bekannten archäologischen Büchern beschränkten.10Doxiadis hatte in Berlin auch Vorlesungen von Hans Poelzig besucht: „Ich habe an Gebäudelehre-Übungen im Atelier von Professor Poelzig an der Staatliche Kunstschule zu Berlin teilgenommen“ (Constantinos A. Doxiadis Archives, Ordner 6641). Es wäre interessant zu herauszufinden, ob und inwieweit sie sein Werk beeinflusst haben. Dieses Studium von Plänen in Kombination mit ein bis zwei Reisen nach Griechenland und Ionien waren für Doxiadis wohl ausreichend, um das Material zu sammeln, das er zum Aufstellen seiner Theorie benötigte. Die Fertigstellung der Dissertation innerhalb eines Jahres erscheint demnach durchaus plausibel. Trotz positiver Erwähnungen findet die Doxiadis-Theorie unter den heutigen Archäologen keine Akzeptanz mehr. Auch wenn sie heute noch international an Architektur-, Stadtplanungs-, Archäologieinstituten und ähnlichen Einrichtungen als eine sehr interessante Planungstheorie vorgestellt wird, hat sie ihre Gültigkeit als antike Kompositionsweise des architektonisch gestalteten Raums verloren (Korres, 1996). Alexandros Tzonis und Lian Lefaivre haben es treffend auf den Punkt gebracht: „Doxiadis´ schema was more ingenious than correct“. Schließlich kann niemand behaupten, dass die Doxiadis-Theorie aus einer ernsthaften archäologischen Forschung hervorgegangen sei. Es ist charakteristisch, dass Doxiadis die archäologischen Stätten seiner Studien gar nicht persönlich besucht hatte, um seine Theorie zu formulieren. Er besuchte die Orte, über die er geforscht hatte, erst, als seine Dissertation abgeschlossen war. Tatsächlich hatte der junge Architekt erst im Juni 1936 – nach Einreichung seiner Dissertation – das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) erhalten, was ihm die Gelegenheit gab, nach Ionien/Kleinasien zu reisen und einige der archäologischen Stätten zu besuchen, die er bereits geometrisch interpretiert hatte. Die Reise nach Ionien hatte also auf seine Dissertation keinerlei Einfluss mehr. Die Beobachtungen in situ waren für ihn also nichts weiter als die Bestätigung seiner bereits abgeschlossenen Studie.
Es ist naheliegend, dass Doxiadis die Optik von Euklid als theoretische Grundlage seiner Theorie betrachtete. Diese hatte durch Vitruv, insbesondere ab der Renaissance, einen zentralen Platz in der Architekturtheorie eingenommen. Das von Doxiadis eingeführte Subjekt „Betrachter“ oder „Beobachter“ setzt jedoch eine klare Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt voraus, die, wie Gerard Simon (1988, 32) betont, in der Antike nicht vorhanden war; sie wurde erst durch die Schrift La dioptrique von Descartes eingeführt. Wenn wir also die Grundlagen der Doxiadis-Theorie ausfindig machen möchten, müssen wir aufhören, uns mit der Antike zu befassen und uns der Moderne zuwenden, insbesondere den Errungenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Kunstphilosophie dazu überging, ein Kunstwerk als eigenständiges ästhetisches Objekt zu betrachten; Vorreiter waren deutsche Kunsttheoretiker wie Vischer, Fiedler, Göller, Schmarsow, Riegl, Wölfflin u.a. Sie unternahmen den Versuch, den philosophischen Kontext eines natürlichen Prozesses zu beschreiben, bei dem sich die durch den Sehsinn sich auf der Netzhaut abzeichnenden Bilder zu einer universellen ästhetische Erfahrung in Geist und Psyche des Betrachters wandeln (Ikonomou, 1992).
Robert Vischer war zum Beispiel derjenige, der 1870 erstmals das Wort „Einfühlung“ benutzte, um diese Übertragung von Emotionen von einem Kunstwerk auf den Menschen zu beschreiben. 1873 erklärte er in seinem Werk Über das optische Formgefühl, dass Ausgangspunkt der ästhetischen Bildung die Beobachtung sei. Zum Lob des Künstlers erklärte er: „Er macht die Augen auf; das ist seine auffälligste Gewohnheit“ (Vischer, 1994, 116). Im selben Geiste schrieb Göller (1994, 198) dass die Schönheit der sichtbaren Form, die erste und oft einzige Quelle ästhetischen Genusses architektonischer Werke sei. Aber auch für Alois Riegl war die visuelle Wahrnehmung immer zweidimensional – und tatsächlich nahmen die antiken Zivilisationen den Raum als zweidimensionale „Rahmen“ wahr (Ikonomou, 1992, 122). Ähnliches schlug Wölfflin (1994) in „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“ vor, als er meinte, dass Architektur nur durch zweidimensionale Projektionen wahrgenommen werden kann, also mittels Bildern, die auf aufeinanderfolgende Ebenen projiziert werden.
Genau davon handelte der folgende Hinweis aus der Dissertation von Doxiadis: Auf einem für ihn typischen Panoramafoto mit Ruinen einer antiken Stadt in Ionien ist auch Doxiadis zu sehen. (Abb. 6) Er ist gedoppelt, erscheint gleichzeitig links und rechts auf dem Foto. Was ist hier los? Es ist ein Hinweis auf die räumliche und zeitliche Verschiebung, dass Doxiadis an zwei verschiedenen Stellen der archäologischen Stätte gleichzeitig zu sehen ist. Das erinnert an seine visuelle Konstruktion. Das Paradox des doppelten Auftretens derselben Person in einem einzigen Bild kann gut erklärt werden, weil es die moderne Fotokamera gibt: Schwenkt man sie, werden zwei unterschiedliche Momentaufnahmen als Komposition (Montage) zweier aufeinanderfolgender Fotos als eine festgehalten. Diese charakteristische Fotoaufnahme ist der Beweis dafür, dass Doxiadis´ Antike dem 20. nachchristlichen Jahrhundert näher ist als dem 5. vorchristlichen. Was also Doxiadis letztendlich macht, ist eine Kinokamera genau dort aufzustellen, wo in der Antike der imaginäre Beobachter seinen Blick auf die Stadt richten würde; Doxiadis tut ihm das nach, diesmal allerdings durch das moderne technologische Auge seiner Zeit.
In seinem Versuch, eine wissenschaftliche Erklärung aus archäologischer Sicht zu liefern, ging er leichtfertig vom archäologischen zum theoretischen Fund über. Die Suche nach dem Panoramablick war natürlich nicht nur eine Obsession der Architekten. Bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts verwandelte das Panorama, eine großdimensionierte Konstruktion, die aus einem zentralen Turm und einem zylindrischen um ihn herum verlaufenden Segel bestand, Stadtlandschaften in Bilder, wie sie in Kunstgalerien präsentiert wurden (Abb. 7); es waren 360°-Räume, in denen sich auch das Publikum befand (Huhtamo, 2013). Doxiadis konstruierte ebenfalls ein solches modernes dispositif, wenn er den hypothetischen visuellen Eindruck rekonstruierte und darstellte, den ein Betrachter in der Antike gehabt haben könnte, würde er sich in seinem Umfeld umschauen. Anstelle der Panoramen von London, Chicago und Paris rekonstruierte Doxiadis Panoramen der antiken Stätten Athen, Sounion und Olympia.