Die Bayern und die Auflösung der irregulären Verbände
Der Hauptvorwurf, der den Bayern heute noch gemacht wird, betrifft die Auflösung der irregulären Kampfverbände des griechischen Unabhängigkeitskrieges. Diese Maßnahme ist aus Sicht nationalistischer Historiker zu verurteilen, für die der Freiheitskämpfer von 1821 das höchste Symbol des Nationalstolzes ist. Sie ist auch für marxistische Historiker kritikwürdig, für die der Freiheitskämpfer ein Symbol sozialer Konflikte und ein Vorläufer des modernen Partisanen ist. Die von den Kritikern vorgebrachten Gründe sind vielfältig: Unkenntnis der lokalen Verhältnisse, autoritäre und arrogante Haltung der Bayern, Verschwörungstheorien sowie Vergleiche mit späteren dunklen Kapiteln der griechischen Geschichte.1Tsakanika, 2011, 54-55. Betrachten wir zum Beispiel einen gängigen Vergleich von Ottos Herrschaft mit den Jahren 1944-1974, als das Land den Krieg und den langen Widerstandskampf des griechischen Volkes gegen die deutsche Besatzung hinter sich ließ, nur um sich dann in einer neuen Art von US-geführter Fremdherrschaft des Kalten Krieges wiederzufinden, die in Zusammenarbeit mit dem lokalen Establishment alle diejenigen verfolgte, die gekämpft hatten:
Am 21. Juni 1946 kam der britische Generalfeldmarschall Montgomery nach Athen. Ziel seiner Reise war, sich vom griechischen Stabschef General Spiliotopoulos über die Widerstandsnester der verfolgten griechischen Republikaner und Kämpfer des nationalen Widerstands zu informieren, die nach den Dezemberereignissen vom Staat aus ihren Dörfern verjagt und gezwungen worden waren, wie Tiere in Schluchten und auf Bergeshöhen zu vegetieren. Die Reaktion des Briten war: „kill them, kill them“. Genau den gleichen Rat erteilte das griechische Establishment den bayerischen Generälen Heideck und Hahn in Bezug auf die Kämpfer von 1821…2Katsoulis, 1975, 141-143.
Nach diesem Ausflug in historischer Akrobatik zurück zu den Verhältnissen der Regentschaftszeit. Die Auflösung der Irregulären war vor allem den inhärenten Eigenschaften dieser lokalen Soldaten geschuldet, die die Bildung einer disziplinierten modernen nationalen Armee nicht leicht machten. In der jahrhundertealten Tradition ungeordneter Kampfverbände stehend, erkannten diese traditionellen Waffenträger nur ihren „Kapetanios“ als Anführer an und kannten nicht die unpersönliche Art, mit der eine bürokratisch aufgebaute Armee organisiert ist. Die „Kapetanios“ waren „sozial gleichrangige Partner“, deren Rang nicht leicht in die Hierarchie der nationalen Armee übertragen werden konnte.3Theotokas/Kotaridis, 2006, 182-183. Nach dem Freiheitskrieg nutzten sie ihre lokale Macht, um über ihre Integration in die staatlichen Mechanismen zu verhandeln, ohne dass diese Integration jedoch mit ihrer bedingungslosen Treue zur Zentralmacht einherging. Ihre Unterordnung verstand sich als entgeltliche Dienstleistung und nicht als militärische Pflicht gegenüber dem Vaterland oder dem König. Die Auflehnung blieb für sie eine Art und Weise, mit der Staatsmacht umzugehen. Ihre Teilnahme am Freiheitskrieg und an den damit einhergehenden Bürgerkriegen hatte sie darüber hinaus zu einer geschlossenen Einheit geformt, die über ihre Stärke und ihren Beitrag zum politischen Wandel wusste, und hatte sie in die politischen Flügelkämpfe hineingezogen. General Makryjannis hat es so formuliert: „(jetzt) sind wir zum Vogel geworden (und) werden wohl kaum in die Eierschale zurückkehren“.4Theotokas, 2012, 284.
In seinem Buch über das griechische Volk bezeichnet der Regentschaftsrat Georg Ludwig von Maurer (1976, 402-410) die Auflösung der Irregulären als geboten und erinnert an den Bürgerkrieg und die sogenannte Zeit der Anarchie, die auf die Ermordung des ersten Regenten Kapodistrias folgte. Die Bayern, die den minderjährigen König begleiteten, hatten allen Grund besorgt zu sein, als sie erfuhren, dass sogar die auf der Peloponnes stationierten französischen Truppen von Kolokotronis‘ Waffenträgern angegriffen worden waren. Die Auflösung der irregulären bewaffneten Gruppen erschien folglich als die einzig gebotene Maßnahme, während die Entsendung ausländischen Militärs von den internationalen Übereinkünften gefordert und selbst von den Griechen, die ihren Landsleuten nicht trauten, als wünschenswert angesehen wurde.
It was with such boundless joy that the Greeks saw the French army coming across the sea, […] with just as great inner gratitude they accompanied them on their departure for all the benefits they had experienced through their presence. (Chronos, 13.08.1833)
Die Angst vor Anarchie und Zwietracht, die Vision der Europäisierung, die gebotene Dankbarkeit gegenüber den europäischen Mächten für deren militärische und diplomatische Intervention in der Griechischen Frage, alles sprach für die Bayern während der ersten Monate ihrer Regierung. Die Zeitungen der Englischen und der Französischen Partei verteidigten sogar die Notwendigkeit der von den Bayern durchgeführten Militärreform und missbilligten die aufgetretenen Erhebungen als Werke von „Unruhestiftern“, „räuberischen Kapetanios“, „Feinden des Fortschritts“. Betrachten wir beispielweise die Kommentare der Zeitung Athina in Bezug auf den Beschluss der Regierung, die Geschlechtertürme der Mani abzureißen, einer Gegend, die während der osmanischen Zeit einen besonderen Autonomiestatus genoss. Diese Türme wurden häufig zum Schauplatz bewaffneter Unruhen und Akten der Blutrache zwischen den kriegerischen Bewohnern der Halbinsel Mani, die eine Tradition des Staats im Staat fortführten – unvereinbar mit dem Selbstverständnis eines modernen Staates. Die Athina stimmte der Denkweise der Regierung zu und schrieb, dass die Wehrtürme der Mani „Brutstätten für Totschlag“ seien und die Regierung nicht „gerechter und philanthropischer“ handeln könne, als „zu versuchen diese rachsüchtigen Menschen davon abzuhalten, sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig umzubringen“.5Athina, 30.5.1834.
Zu jener Zeit war die Zeitung sogar hinsichtlich der Auflösung der irregulären Verbände selbst positiv eingestellt.
Die Reorganisation der regulären und irregulären Verbände hat offensichtlich viele nicht befriedigt, aber die Ressourcen der Nation erlaubten es sicher nicht, die Sache anders zu lösen; wir müssen zur Decke greifen, damit unsere Füße nicht erfrieren. […] Und wäre es nicht eine große Schande für uns, dass die Türken und die Araber ihre Armee reformieren, während wir irregulär sind und nicht an der Kriegswissenschaft teilnehmen? […] Es ist auch für unsere tapferen Kameraden an der Zeit, die Annehmlichkeiten eines friedlichen Lebens zu genießen. (Athina, 01.04.1833)
Zahlreich waren auch die Stimmen, die die zu Beginn der bayerischen Regentschaft aufgetretenen Unruhen verurteilten. Jene, die den Anführern der Aufstände Eigensucht vorwarfen, waren mit der Mentalität der traditionellen Gesellschaft vertraut genug, um zu begreifen, dass die Aufstände weitgehend Manifestationen dessen waren, was man traditionelle Revolution nennt, obwohl sie im Namen der Nation stattfanden, wie es die moderne nationale Ideologie gebot.6Zur traditionellen Revolution vgl. Kotaridis, 1993, 133. Das heißt Erhebungen der archaischen Art, die darauf abzielten, die Verhandlungsposition der Aufständischen zu stärken, ohne die staatliche Macht der Bayern infrage zu stellen. Das Mitglied des Regentschaftsrates von Maurer (1976, 738) beschreibt beeindruckt, wie leicht es für die Bayern war, frühere Aufständische zu amnestieren und zu rekrutieren, damit sie andere Aufständische verfolgten. Und General Makryjannis kommentiert in seinen Memoiren (1977, 362) bitter diesen Mangel an Solidarität zwischen den Freiheitskämpfern und tadelt die Amnestierten, die sich stolz die bayerischen Orden um den Hals hängten. So eigennützig verschiedene Handlungen der arbeitslosen Freiheitskämpfer auch erscheinen mochten, war ihre Unzufriedenheit andererseits auch allgemein verständlich. Wie die Zeitung I Epochi (09.12.1834) erläutert, waren generell alle einheimischen Griechen vierzehn Jahre lang „Soldaten gewesen“. Es war hart für sie zuzusehen, wie andere, die aus einem friedlichen und „industrialisierten“ Land kamen, das den Soldatenberuf „als den allerletzten Beruf“ ansah, üppig für ihre Soldatendienste entlohnt wurden. Als Freiheitskämpfer werden folglich nicht nur die Militärs angesehen. Freiheitskämpfer waren im weiteren Sinne „generell sämtliche autochthonen Griechen“, die eine Belohnung für ihre Opfer erwarteten. Das „Recht der Freiheitskämpfer“ wurde bald zu einer umfassenden und dringenden Forderung zum Abzug der Bayern und führte schließlich zur Verfassungsrevolution vom 3. September 1843.
Wir haben auf den Leichen tausender Helden unseres Kampfes einen Thron errichtet, und auf diesen Thron, der beneidenswert ist, da er auf wundersame Weise von den Nachkommen großer Vorfahren errichtet wurde, haben wir deinen Sohn von Bayern gesetzt, obwohl du weder nachbarschaftliche noch historische oder religiöse Rechte auf unseren Thron hattest und das griechische Volk dich lediglich vom Hörensagen kannte. […] Ihr habt ihn und uns getäuscht und eure Vormundschaft benutzt, um Geld zu erpressen. […] Haben Eure Repräsentanten in Griechenland keine Verbrechen begangen? […] Haben sie nicht unsere siegreichen Verbände aufgelöst, die […] selbst den Mangel an Brot, die rote Fahne, die Guillotine gesehen haben? Sind sie es nicht, die 15 Millionen vergeudet haben, damit Eure Landratte Heideck das Segeln lernt […]?7Elpis, 19.12.1843.
Diese Worte richtete die Zeitung Elpis kurz nach der Revolution vom 3. September an das „griechenhassende Bayern“. In noch aggressiverem Ton ermunterte die Zeitung Ethniki das griechische Volk, „zu fordern, dass die Meere durchpflügt und die steilen Berge überwunden werden, um sich am allesfressenden Bayern zu rächen, das es in Lumpen gehen ließ“.8Ethniki, 13.03.1844.
Es handelt sich dabei nicht um isolierte Beispiele. Nahezu dasselbe würde man selbst in Zeitungen lesen, die zu Beginn die militärischen Reformen unterstützt hatten. Weiter unten werden wir auf die Gründe für diese eindrucksvolle Kehrtwendung zurückkommen. Halten wir vorläufig fest, dass die Gesellschaft in Griechenland die Bayern weder selbstverständlich und von Anfang an als fremde Besatzung betrachtete, noch dass sie sich in toto an die Seite der Aufständischen stellte. Aber nach dem 3. September 1843 wurden alle Aufstände, die sich während dieser ersten Dekade ereignet hatten, nachträglich als Momentaufnahmen „nationalen Widerstands“ gegen eine ungerechte fremde Besatzung dargestellt. Die nachkommenden Historiker haben sicher aus diesem Umstand viel Material geschöpft, um ihre These über die „Bayernherrschaft“ zu bekräftigen.
Die Bayern und der Kolokotronis-Prozess
Im Gegensatz zu dem, was nach Ottos Vertreibung vorherrschte, bezog sich der aufgeladene Begriff „Bayern“ während seiner Regierungszeit nicht auf den König. Nach den Bürgerkriegskonflikten der vergangenen Dekade und angesichts der Gefahr für die territoriale Integrität Griechenlands, erschien der fremde König als einzig gangbare Lösung, selbst für die kleine Gruppe der Republikaner.9Delveroudi, 1977, 96. Und selbst die bayerischen Mitglieder des Regentschaftsrates, die in Ottos Namen regierten, wurden zunächst als Regulierer akzeptiert, denen die verschiedenen Faktionen ihre Ausarbeitungen und Anliegen darlegten und gleichzeitig ein negatives Profil ihrer Gegner zeichneten. Erhellend in dieser Hinsicht ist der Fall des Theodoros Kolokotronis, den wir nachfolgend untersuchen. Der Kolokotronis-Prozess ist jenes Kapitel der ottonischen Geschichte, das vor allem diejenigen heranziehen, die versuchen die tyrannische Natur der sogenannten Bayernherrschaft („Bavarokratie“) zu belegen.10Tsakanika, 2019, 99-116. In ihrem Narrativ erscheint Kolokotronis als das Sprachrohr der Wünsche der unterdrückten Griechen, der sich gegen das die Nation zersetzende Regime verschwört. Anschließend bestraft die Fremdherrschaft in seiner Person den „Geist von 1821“, während die griechische Gesellschaft und allen voran die Freiheitskämpfer dem verfolgten Helden beistehen. Wenn wir jedoch den Prozess in seinem zeitlichen Zusammenhang sehen, finden wir viele Beweisstücke, die für eine andere, sehr viel komplexere Geschichte sprechen.
Zunächst gingen der Verschwörung, an der Kolokotronis angeblich teilnahm, seine vergeblichen Versuche voraus, sich selbst mit den Bayern zu verbinden, bevor dies seine Gegner in der Verfassungsfrage schafften. Denn die Freiheitskämpfer mögen Verschwörungen und Aufstände angezettelt haben, gleichzeitig jedoch wetteiferten sie um das Wohlwollen der Bayern. In seinen Memoiren zählt Kolokotronis (ebd., 255-257) auf, was er alles unternahm, um sich das Wohlwollen der Regentschaft zu sichern. Er löste seine Leibgarde auf und bot zum Zeichen seiner Unterwerfung unter das neue Regime seine Burg an. Er bat um eine Audienz beim König und speiste mit bayerischen Würdenträgern, denen er seine Dienste für das Vaterland darlegte. Er wiederholte seine Unterwerfungserklärung, als er Ottos Bruder, Maximilian, seinen Säbel offerierte.11Fotiadis, 1987, 117. Gleichwohl war es den Siegern des jüngsten Bürgerkriegs gelungen, Kolokotronis und seine russlandfreundlichen Kapodistrias-Anhänger bei den Bayern zu diffamieren, bevor letztere überhaupt in Griechenland angekommen waren.12Dragoumis, 1925, 239 und Neeser, 2003,12. Auch Kolokotronis (257-258) selbst stellt die Feindseligkeit der Regentschaft ihm gegenüber als Werk seiner politischen Gegner dar, die alles unternahmen, um ihm „den Einfluss vorzuenthalten“, den er sich wünschte und anstrebte. So interpretiert er auch seine Verfolgung: als eine Intrige seiner griechischen Feinde, um ihn als Bedrohung für den Thron darzustellen.
In der zersplitterten Gesellschaft jener Zeit wunderte es niemanden, dass die Presse der englischen und französischen Parteien sich nicht auf die Seite von Kolokotronis und den anderen Verhafteten stellte und ihre Verschwörung nicht als einen Akt des „nationalen Widerstands“ interpretierte, sondern sie als „Unruhestifter“, „Anarchisten“, „Untertanen“ und „Zerstörer der Nation“ bezeichnete.13Tsakanika, 2019, 85-92 In der zersplitterten Gesellschaft jener Zeit wunderte es niemanden, dass die Presse der englischen und französischen Parteien sich nicht auf die Seite von Kolokotronis und den anderen Verhafteten stellte und ihre Verschwörung nicht als einen Akt des „nationalen Widerstands“ interpretierte, sondern sie als „Unruhestifter“, „Anarchisten“, „Untertanen“ und „Zerstörer der Nation“ bezeichnete. Kolokotronis‘ Zeitgenossen sahen in ihm nicht nur einen von Ausländern verfolgten Freiheitskämpfer, sondern auch einen Russlandfreund, einen Kapodistrias-Anhänger, einen Verfassungsgegner, einen Peloponnesier, einen ehemaligen Bandenführer (d.h. ein Mitglied einer Gruppe bewaffneter Männer, die vor dem Freiheitskampf den Honoratioren des Peloponnes als Söldner dienten und durch ihre Teilnahme am Freiheitskampf in ihrem Status aufgewertet wurden), einen Neureichen und einen persönlichen Feind wichtiger politischer und militärischer Persönlichkeiten. Die öffentliche Meinung zur Zeit des Prozesses war also nicht unbedingt auf der Seite des Freiheitskämpfers Kolokotronis und gegen die Bayern, ebenso wenig wie der Freiheitskämpfer die Bayern notwendigerweise als fremde Besatzungsmacht ansah, gegen die jeder Patriot Widerstand leisten musste. Auch nach seiner Amnestie forderte Kolokotronis nicht den Titel eines Kämpfers gegen die „Fremdherrschaft“. Er wurde mit Beförderungen und Titeln geehrt und starb nach einem Tanz im Königspalast an einem Schlaganfall. Sein Sohn Jenneos, inzwischen Ottos Adjutant, erhob sich gegen die Revolution vom 3. September, die Verfassungsänderung, die der „Bayernherrschaft“ ein Ende setzte. In der Welt vor dem Freiheitskampf waren solche Kompromisse mit der Staatsmacht nicht ungewöhnlich. In der traditionellen Gesellschaft war die Revolte nie ein Weg ohne Rückkehr. Der gute Klephte wurde zum Armatolen, die Aufständischen verhandelten über den Schutz der Gemeinschaft (d.h. sie vereinbarten mit den Osmanen, dass sie in den Status eines Raya, eines steuerzahlenden Untertanen, zurückkehren würden, um weitere Gewaltakte zu vermeiden), denn jede weltliche Macht galt als Werk der Vorsehung. Somit bedeutete Gehorsam letztlich Unterwerfung unter den Plan der Vorsehung.14Theotokas/Kotaridis, 2006, 29.
Die Teilnahme am nationalen Freiheitskampf änderte die Mentalität der Menschen und machte sie mit dem vertraut, was Weber die „Gesinnungsethik“ nannte, eine sehr viel weniger elastische und nachgiebige Ethik als die alte „Verantwortungsethik“.15Lekkas, 2012, 18. Jetzt waren die Menschen geneigt, ihre Existenz für die eine oder andere weltliche Utopie aufs Spiel zu setzen. Fremde Besatzung, Kollaboration mit dem Feind, nationaler Verrat, nationaler Widerstand, all diese Begriffe der „ideologischen Politik“16Ebd. formten nun unwiderruflich die Einschätzungen in Bezug auf Personen und Verhaltensweisen. Die Freiheitskämpfer Karaiskakis und Androutsos wurden des nationalen Verrats bezichtigt, weil sie das Gespräch mit dem osmanischen Lager fortsetzten.17Kotaridis, 1993, 239. Die Bayern waren jedoch keine Osmanen, und der Widerstand gegen sie war kein notwendiges Zeichen von Nationalgefühl. Außerdem ist keineswegs sicher, dass Jenneos Kolokotronis‘ Loyalität gegenüber seinem König und dem Gesetz vor der Revolution vom 3. September nicht auch von einer Art „Überzeugungsethik“ geprägt war, so wie es bei seinen Anklägern, den Gegnern der „Bayernherrschaft“, der Fall war. Es war eine Gesellschaft im Umbruch, und die Freiheitskämpfer, die mittlerweile aus ihren „Eierschalen geschlüpft waren“, waren von diesen ideologischen Entwicklungen keineswegs ausgenommen. Kurz nach dem 3. September 1843 wurden die Memoiren von Theodoros Kolokotronis veröffentlicht. Im Vorwort (286) stellt Jeorjios Tertsetis, der Richter, der zum Nationalhelden wurde, weil er sich weigerte, das Urteil gegen den General zu unterschreiben, Kolokotronis als Opfer lokaler Faktionen und die Bayern als Menschen mit reinen Absichten gegenüber Griechenland dar.
Was, schreibt Tertsetis, war die Aufgabe der Regentschaft? Eine Regierung zu errichten, die Monarchie zu begründen. In den Herzen der Mitglieder des Regentschaftsrates hat das weise Deutschland sanft die Saite berührt, um das alte, weise Hellas aufzurichten, es wieder aufleben zu lassen. Wenn Sie nichts gegen meine Interpretation der Regentschaft einzuwenden haben, dann halten wir den Schlüssel zum Prozess gegen den unglücklichen General und seine Verurteilung als Verräter in unseren Händen. In den Augen der Regentschaft mit der Galle der Faktionen gezeichnet, wurde der Mann verzerrt gesehen […] er wurde missverstanden, man unterstellte ihm eine Macht gegeben, die er nicht besaß.
Obwohl dieser Text veröffentlicht wurde, als sich alle mit antibayerischen Äußerungen überboten, um ihre Vaterlandsliebe unter Beweis zu stellen, bewahrt er etwas Wichtiges vom Klima jener nicht allzu fernen Zeit, als es noch kein Einverständnis rund um das Jahr 1821 gab und die heftigen Konflikte unter den Freiheitskämpfern die Bildung zweier deutlich unterscheidbarer Lager nicht zuließen: die „Patrioten“ und die „Fremdherrschaft“. In den Worten von Tertsetis sind die „Patrioten“ aufgespalten in sich gegenseitig vernichtende Faktionen, während die „Fremdherrschaft“ in Wirklichkeit ein gutes Ziel hat: die Auferstehung der antiken griechischen Glorie. Die folgende Generation, aufgewachsen mit den Prinzipien des 3. Septembers, hat das antibayerische Narrativ vollends konsolidiert, in dem kein Platz mehr war für das „weise Deutschland“ mit den guten Vorsätzen. Die Zeit vor 1843 war mittlerweile zweifellos zu einer Epoche der Besatzung geworden, in der die Menschen aufgeteilt wurden in Widerstandskämpfer und Kollaborateure. Folglich war es für Panajiotis Synodinos völlig normal, die folgenden schneidenden Verse über den Konterrevolutionär Jenneos zu schreiben:
Und du, im Triumph
Jennaios getauft ,
ein mutiger Ephialtes
von Bayern gekauft!18Anm. d. Ü.: Jennaios = Mutig. Ephialtes = Name des Verräters, der die Spartaner bei den Thermopylen an die Perser verriet. Die Zeilen stammen aus einem Gedicht des Romantikers Panagiotis Synodinos (Συνοδινός, 2005, 239).
Seither sind viele anachronistische Erzählungen rund um den Kolokotronis-Prozess entstanden, nicht nur durch die offizielle Geschichtsschreibung, sondern auch im Journalismus, in der Politik und der Kunst. Εin bezeichnendes Beispiel ist das Theaterstück von Iakovos Kampanellis Unser großer Zirkus, in dem die Statue von Theodoros Kolokotronis während der Militärdiktatur zu Leben erwacht und eine Rede auf den 3. September hält.19Kambanellis, 2010, 86-95. Auch in dem neueren [griechischsprachigen] Buch Vom minderjährigen Otto zur Kanzlerin Merkel, in dem die „Bayernherrschaft“ untersucht wird, um die Probleme Griechenlands zu Zeit der Memoranden [Anm. d. Ü.: Memoranden = Abkommen zwischen den Gläubigern und Griechenland über Sparauflagen nach Ausbruch der griechischen Finanzkrise 2010] zu beleuchten, schließt der kurze Bezug auf den Kolokotronis-Prozess mit dem bekannten Refrain, dass Kolokotronis „nicht lang genug gelebt hat, um die Revolution vom 3. September ‘43 zu erleben“ – eine Bemerkung, die darauf anspielt, dass der 3. September selbstverständlich zu seinen Absichten gehört habe.20Romaios, 2012, 22-23.
Fremdherrschaft und Schützer des Vaterlands
Es gab kein einzelnes entscheidendes Ereignis, das den Übergang von der Gnadenfrist zum starken antibayerischen Ressentiment markiert, das zur Zeit der September-Revolution alle erfasste. Die Auflösung der Irregulären und der Klöster, die verhasste Guillotine, die Besetzung wichtiger Stellen durch Fremde, alles geschah in einem sehr kurzen Zeitraum und bestätigte, dass die Regentschaft die vertraute Welt der Freiheitskämpfer einriss und eine unwirtliche Welt schuf, in der die Einheimischen und die Teilnahme am Freiheitskampf nicht zählten. Der Staat wurde nicht zur „Kriegsbeute“ oder zumindest waren es nicht die Freiheitskämpfer, denen sie zufiel. Nach den ersten Bemühungen, sich den Bayern anzuschließen, haben sich letztendlich alle Faktionen ausnahmslos gegen die „Fremdherrschaft“ gewandt, die gewiss nicht ausschließlich von den Bayern repräsentiert wurde. Sie wurde auch von den Griechen von außerhalb des Staatsgebiets repräsentiert, die die Bayern bei der Besetzung von Stellen bevorzugten, entweder weil sie gebildeter waren, oder weil sie wegen fehlender lokaler Abstützung folgsamer waren. Makryjannis (1977 [1907], 380) vermittelt ein sehr düsteres Bild von der Ungerechtigkeit und Ungleichheit zwischen Fremden und Autochthonen:
Konstantinopels Unrat und europäische Karossen, Bälle, Luxus, jede Menge Tollheiten. Die sind unsere Herren und wir deren Heloten. […] Beim geringsten Vergehen des Freiheitskämpfers, […] Kopf ab durch die Guillotine.
Selbst die osmanische Vergangenheit erschien vertrauter als diese abgehobenen Bürokraten. Wie sich die Zeitung Aion (06.09.1839) mit einer Prise Nostalgie erinnert, war damals der Austausch mit der Staatsmacht einfacher, die „Tür zur Anhörung“ stand immer offen. Jetzt hingegen:
Der Bayer […], kaum nach Griechenland gekommen, als habe er es erobert, ergreift die nächstbeste Sense und erntet gnadenlos von den Menschen der obersten bis zu denen der letzten Klasse, stößt die zurück, die Griechenland während der schlimmsten Umständen gerettet haben, weist den verwundeten und verhungernden Freiheitskämpfer nach reichlich Unbill in einem zehnjährigen Krieg ab und zerstört ihn mit dem abscheulichen Ausdruck ‚Pitsch puff‘, hat ihn aus allen ministerialen Stufen hinausgeworfen auf eine Art, dass er sich glücklich dünkt, wenn er einen Ministerrock aus der Ferne zu sehen bekommt.21Ethniki, 06.02.1844.
Im Gegensatz zum Freiheitskämpfer war der Bayer fremd und unkriegerisch. Das wurde durch das Knowhow oder die Bildung, die er haben mochte, nicht aufgewogen. Dass die Freiheitskämpfer ungebildet waren, war im Übrigen ein „ehrenhafter Schicksalsschlag“,22Anexartitos, 29.01.1844.da die Beschäftigung mit dem Krieg der Grund war, der sie gehindert hatte, selbst weise und raffiniert zu werden wie die „bayerischen Bürokratenschlaumeier“ oder die nicht einheimischen Griechen, die sich dem Kriegsdienst entzogen hatten. Um einen Vergleich von Makryjannis zu benutzen, waren die Freiheitskämpfer die „Fastenden“, die Bayern und die Auslandsgriechen die „nicht Fastenden“, die kein Anrecht auf die „heilige Kommunion“ nach dem Krieg hatten, nämlich die öffentlichen Stellen.
Die Vorherrschaft dieser Sichtweise bedeutete den Rückzug derer, die die Politik der Bayern als positiven Versuch ansahen, westliche Vorbilder anzuwenden und Institutionen und Mentalitäten der osmanischen Vergangenheit auszumerzen. Der traumatische Umgang mit den Bayern führte dazu, dass die Bedeutung der Modernisierung infrage gestellt und die lokale Tradition wieder geschätzt wurde. So etablierte sich das Stereotyp des überbewerteten Bayern, der trotz seiner verfeinerten Sitten und seiner westlichen Angewohnheiten eine „Drohne“ sei, ein „unbekümmert sich Kümmernder“,23Aion, 20.09.1839. ein „kartoffelfressender Biertrinker“,24Proinus Cyrix, 19.10.1843. der glaubt, dass Gott „am Jüngsten Gericht die Völker auf Deutsch richten wird“.25Das Zitat stammt aus dem (griechischen) Gedicht Die Ankündigung (1858) des Romantikers Alexandros Soutsos. Zitiert nach Delveroudi, 1977, 80.
In seiner Komödie O Tychodioktis (Der Glücksritter) hebt M. Chourmouzis diese Stereotype bei seinem Hauptcharakter hervor, einem ignoranten Deutschen mit zahlreichen Ämtern, der mit Hilfe eines Kürbisses lernt, mit dem Säbel umzugehen, und versucht, seinen Bruder zum Admiral zu ernennen auf dem großen See, den man Meer nennt, da er als Müller wisse, woher der Wind blase.26Chourmouzis, 1978 [1835], 96. Die Lebensweise des Glücksritters ist voller Affektiertheit. Bei den Essen, die er gibt, bietet er die angeblichen Spezialitäten seiner Heimat an wie „Stockfisch mit Milch und Honig“, ungekochte Zucchini und gekochte Gurken.27Ebd., 86-87. Diese komischen Details des Stücks verstärken den kulturellen Graben, der den bayerischen Glücksritter von den arbeitslosen verfolgten Freiheitskämpfern trennt, aber auch das Gefühl des Unrechts, das das Stück ausstrahlt. Der Glücksritter brüstet sich, dass er den arbeitslosen, in der Hauptstadt bettelnden Freiheitskämpfern Almosen spendet.
Erst gestern gab ich einem von ihnen fünf Lepta, weil er mir sagte, er habe fünf Wunden am Körper; hätte er mir gesagt, er habe zehn Wunden, hätte ich ihm auch zehn Lepta gegeben. Und doch schreien sie, dass ich ihren Schweiß und ihr Blut unverdienterweise verzehre, als ob überhaupt jemand von Schweiß und Blut leben könnte.28Ebd., 24.
Im Kampf gegen die Fremdherrschaft erschienen die Freiheitskämpfer als gleichgesinnte, solidarische „Schützer des Vaterlandes“. Nach dem 3. September wurden die Kämpfe gegen die „Bayernherrschaft“ in den Lebenslauf eines jeden Freiheitskämpfers aufgenommen, neben den Kämpfen gegen die Osmanen. Wer aus welchem Grund auch immer in Konflikt mit den Bayern gekommen war, wurde zum Helden erklärt, und die Streitigkeiten zwischen den Freiheitskämpfern – die in verschiedenen Zusammenhängen virulent blieben – wurden herabgestuft. Sie alle waren „unerschrockene Männer des 25. März und des 3. Septembers“ (Atithassos, 10.04.1844).
Bayernfeindlichkeit und Nationalismus
Durch ihren Zusammenstoß mit den irregulären Kämpfern spielten die Bayern ungewollt die Rolle des semantisch „Anderen“, der es der Nation ermöglichte, ihre Identität negativ zu bestimmen.29Lekkas, 1996, 150-151. Der Diskurs zur Unterstützung der Freiheitskämpfer befriedigte zugleich den Drang der Nation, ihre Einzigartigkeit den Fremden gegenüber zu unterstreichen. „Äffische Nachahmung von Sitten und Institutionen greifen in diesem Land nicht Platz, und sollte mit Gewalt versucht werden, dies durchzusetzen, wäre dies fruchtlos und von kurzer Dauer“, schrieb die Zeitung Elpis etwa einen Monat nach der Vertreibung der Bayern (09.10.1843).
Der antibayerische Diskurs unterstützte den arroganten antiwestlichen Nationalismus, der sich in den folgenden Jahren entwickeln sollte. „Es kamen ruhmlose Goten, Völker einer verschneiten Erde, um den Raureif aus ihrem vandalischen Soldatenrock zu schütteln …“ , schrieb der fanariotische Gelehrte Alexandros Soutsos,30Alexandros Soutsos: O Atithassos Poiitis (Der widerspenstige Dichter). Die Verse werden zitiert bei Delveroudi, 1977, 64. der trotz seiner zahlreichen Meinungsverschiedenheiten mit den ungebildeten Autochthonen nicht ertragen konnte, dass der König von Griechenland „von den einsilbigen Graf, Spitz, Hetz, Hitz umgeben war“.31Alexandros Soutsos: I Metavoli tis Tritis Septemvriou (Die Wende vom 3. September). Zitiert bei Fotiadis, 1988, 508.
Das griechische Königspaar blieb von der romantischen, ideologischen Wendung, die ihre Untertanen dazu anregte, nach ihrer einzigartigen nationalen Wahrheit zu suchen, nicht unberührt. Seitdem die deutschen Fürsten zu griechischen Königen geworden waren, betrachteten sie ihr Königreich nicht mehr als bayerisches Protektorat, sondern als Vorläufer eines orientalischen Reiches. Die herablassende Haltung der Großmächte ihnen gegenüber, die antigriechischen Veröffentlichungen der westeuropäischen Zeitungen und auch die überhebliche Haltung, die die Mitglieder des Regentschaftsrates und andere Beamte gegenüber ihrer neuen Heimat zeigten, trugen dazu bei, dass sie das Unbehagen ihrer Untertanen gegenüber dem Westen weitgehend teilten. In Briefen an ihren Vater schreibt Königin Amalie:
Was hier passiert, ist unglaublich. Für alles beziehen sie sich auf Bayern und jedes zweite Gespräch dieser Herren ist: „in Bayern macht man das so und so“. Aber sie haben keine Ahnung, und gewiss hatten sie auch in Bayern keine bedeutende Stelle, denn sie waren Oberleutnante und Hauptleute, als sie hier ankamen.32Busse (Hrsg.), 2011, Bd. 1, 78.
Im Rahmen der Nationalstaatsbildung wurde der Diskurs zu Gunsten der Freiheitskämpfer zum Diskurs zur Verteidigung des nationalen Freiheitskampfes und des Staates, der durch ihn entstanden war, gegen die böswilligen Kommentare jener, die vom Räuberwesen, von mangelnder ethnischer und kultureller Homogenität der griechischen Nation redeten, von lückenhaft assimilierten Ideen, von der Kluft zwischen den Gelehrten und dem Volk.33Tsakanika, 2019, 272-283. Die Freiheitskämpfer verkörperten das Griechentum ebenso als Bürger in Waffen, die den nationalen Freiheitskampf durchgeführt hatten, wie auch gemäß dem deutschen romantischen Begriff als Sprachrohr des unverfälschten Volkstums, der Seele des griechischen Volks. Im Übrigen hatten die Griechen auf eben diese Freiheitskämpfer ihre Hoffnungen zur Umsetzung der Megali Idea gesetzt, der Befreiung ihrer Landsleute, die weiterhin Untertanen des Sultans waren.
Die Fustanella! Warum sollen wir uns davor grausen? War nicht die weiße Fustanella die Windel, in der sich unsere junge Nation zuallererst zeigte? Ist nicht die weiße Fustanella noch heute der weiße Kokon, aus dem die heute noch kriechende Raupe des Griechentums in Kürze geflügelt hervorschlüpfen wird? Sind wir nicht mit den dreißig tausend Fustanella-Trägern der Schatten, der die Interventionen der Fremden abschreckt? (Synenosis, 31.03.1845)
Selbst die Intellektuellen, mehrheitlich europäisierte Auslandsgriechen, die von den Freiheitskämpfern als Organe der „Bayernherrschaft“ beschuldigt wurden, begannen sehr bald, die Freiheitskämpfer als natürliche Vertreter der Nation und als Gegengewicht zu den Bayern darzustellen. „Jeder Bayer, soweit er schreibt, befürchtet, dass bloß nicht bewaffnete Griechen aus dem Boden sprießen“, schrieb Alexandros Soutsos.34Alexandros Soutsos, Der widerspenstige Dichter. Die Verse sind wiedergegeben bei Delveroudi, 1977, 64.
In diesem Kontext vollzog sich die bemerkenswerte Wende der Zeitung Athina, die bereits 1835 ihre Vorstellungen von der Modernisierung der Armee und der Rückkehr der Freiheitskämpfer ins zivile Leben aufgegeben hatte und die Freiheitskämpfer unterstützte, die in den beiden vorangegangenen Jahren auf Abwege geraten waren. Im Jahr 1837 ging sie sogar so weit, die Aufstände in der Mani, die sie einige Jahre zuvor unmissverständlich verurteilt hatte, als natürliche und erwartete „Demonstrationen bewaffneter Opposition, die immer und überall in Ländern unter fremder Herrschaft entstehen“ zu bezeichnen. Nach dem 3. September sahen sich die Zeitungen der englischen und französischen Parteien, die die Verhaftung von Kolokotronis und den anderen Freiheitskämpfern bejubelt hatten, dazu verpflichtet, der Öffentlichkeit zu versichern, dass „wir, die wir von Anfang an die Absichten der Fremdherrschaft durchschaut hatten, die Verteidiger der Unabhängigkeit des Vaterlandes ohne Zögern unterstützen“.35O Filos tou Laou, June 16, 1846.
Das Argument der guten Absichten, das Kolokotronis‘ Richter Tertsetis benutzt hatte, um die Bayern zu verteidigen, war im Rahmen des ständig an Boden gewinnenden romantischen Nationalismus nicht mehr akzeptiert. In der Folge sind die Wahrheiten nicht mehr ökumenisch, sie werden national.36Berlin, 2015 (1990), 341, 353. Die Fremden sind Fremde, und von daher ungerecht. Im Kinofilm des Jahres 1974 Der Prozess der Richter fasst Anastasios Polyzoidis, der zweite „heldenhafte Richter“ im Kolokotronis-Prozess, das Wesen dieser romantischen Anti-Bayernhaltung in zwei Sätzen zusammen: „Weil Du ein Fremder bist, kannst Du nicht gerecht sein. Um Recht zu werden, braucht das Recht Staatsbürgerschaft, Nationalität.“ Und er fährt fort: „Früher oder später wird Griechenland all diese fremden Gremien, die sich ihm aufdrängen, hinauswerfen, selbst wenn sie die besten Absichten haben.“37The Trial of the Judges (in Greek), 1974, Finos Film, Director: P. Glykofrydis. For the excerpt of Polyzoidis‘ defense speech, see https://www.youtube.com/watch?v=QaXXOgN9Bf0.
Es ist weder von Belang, dass Polyzoidis ein politischer Gegner von Kolokotronis war, noch dass er ihn einige Jahre zuvor in den Spalten seiner Zeitung als „teuer Eingekauften“ der Kapodistrias-Regierung bezeichnet hatte und die Grausamkeiten aufzählte, die er und seine Anhänger zu Lasten der Verfassungsfreunde begangen hatten.38Apollon, 01.07.1831, 05.08.1831, 15.08.1831, 19.08.1831.
Diese alten Streitigkeiten, dieser alte Hass bestanden zwischen Griechen, und wie Polyzoidis im Film nachdrücklich erklärte, „ist jeder Streit zwischen Griechen ein Streit zwischen Helden“. Diese Sichtweise, die den Bayern jegliche mildernden Umstände verweigert, weil sie als „Fremdkörper“ in der griechischen Gesellschaft wahrgenommen werden, wurde sowohl von der nationalistischen als auch von der marxistischen Geschichtsschreibung übernommen. Betrachten wir einen bedeutenden Ausschnitt, der zur ersten Kategorie gehört:
Jene Epoche war keine Zeit der nationalen Regierung, sondern wir betrachten sie als Zeit der äußerst raffinierten Fremdherrschaft, da geschickter, schlimmer als die türkische. Diese unglückselige Zeit diente zu nichts anderem als lediglich zur Erschöpfung unserer moralischen und materiellen Kräfte. […] Griechenland war nicht mehr Griechenland, sondern Bayern im Orient. (Chalkiopoulos, 1890)
In der Einführung zur griechischen Ausgabe des Buches Das griechische Volk in öffentlicher, kirchlicher und privatrechtlicher Beziehung (1976 [1835], 18) des Regentschaftsmitglieds Maurer zieht der linke Historiker Tassos Vournas die Anklage im Prozess gegen Kolokotronis heran als ein „Monument der Willkür eines tyrannischen Staates unter fremder Herrschaft, als Verfolger griechischer Patrioten“. Er lässt sich nicht darauf ein, die Vorwürfe zu Lasten von Kolokotronis und der anderen verfolgten Freiheitskämpfer zu kommentieren, da er als gegeben ansieht, dass „die griechischen Patrioten“ mehr Legalität aus ihrer Teilnahme am Freiheitskampf zogen, als die Regentschaft aus ihren Gesetzen und ihren neu errichteten Institutionen ziehen konnte. Seine Position im Hinblick auf Maurer ist, dass dessen Beteiligung am Prozess gegen Kolokotronis auf ewig jede weitere Leistung überschattete, die dieses Mitglied des Regentschaftsrates für die griechische Nation erbracht hatte. Gemäß Vournas stellt diese Beteiligung nicht lediglich eine falsche Handhabung eines Politikers dar, sondern läuft auf einen unwiderlegbaren Beweis für die Ungerechtigkeit des Regimes des bayerischen Absolutismus hinaus, des tyrannischen Staates unter Fremdherrschaft, der sich gegen die „Kämpfer für die Freiheit“ richtete.
Bayern und Zugereiste
Solange die sogenannte Bayernherrschaft andauerte, verteilte sich die Antipathie der Autochthonen, die sich den Titel des Freiheitskämpfers zu eigen gemacht hatten, auf die Bayern und die Auslandsgriechen. Vor der staatsrechtlichen Wende von 1843 waren die „Bayernherrschaft und die Zugereisten“ für alle Übel verantwortlich.39I Ethniki, 09.02.1844.
Nach der Vertreibung der Bayern wandte sich die Wut der Autochthonen erwartungsgemäß gegen den verbliebenen Feind. Wie Andreas Zaimis 1840 vorhersagte: „Verständlich ist die Vertreibung der Bayern, aber einmal erledigt, werden anschließend auch die Fanarioten rausgeschmissen und mit ihnen auch wir, die übrigen Auslandsgriechen.40Petropoulos, 1977, 611. Zaimis sollte Recht behalten. Nach dem Abzug der Bayern folgte tatsächlich die Vertreibung der Auslandsgriechen, nicht aus dem Land, aber aus der staatlichen Maschinerie. Der aufsehenerregende „Zweite Beschluss über die Auslandsgriechen“ sah die Entfernung sämtlicher Auslandsgriechen aus der öffentlichen Verwaltung vor, die sich nicht am Freiheitskampf von 1821 beteiligt hatten. Die ersten, die als angebliche Kumpane der Bayern geschmäht wurden, waren die Fanarioten, die als gefährlichste Elite die Autochthonen bevormundeten und die öffentlichen Posten innehatten. „Bayern und Fanarioten, des Vaterlands Verräter“, lautete ein beliebter Zweizeiler.41Angelos, 21.11.1843.
Da die Fanarioten für die Einheimischen eine Art „Fremdherrschaft“ repräsentierten, von der sie sich nicht hatten befreien können, fiel die Kritik an ihnen schärfer aus als den zurückhaltenden Bayern:
„Die Bayern waren nichts als eine Last für Griechenland, nutzlose Schmarotzer. Die eigentliche Fremdherrschaft war jedoch eine andere, mit dem bayerischen Räubernest verbundene“, und er empfahl, „die Guillotine gegen die Freiheitskämpfer einzusetzen.“42I Ethniki, 06.02.1844.
„Die Fanarioten sind viel schlimmer als die Bayern. Unter den Bayern fand man Elemente der Moral, doch für die Fanarioten ist nichts heilig, nichts gesegnet…“ Daher empfinden [die Griechen] “eine so große Abneigung gegen sie, wie sie sie nie gegen die Bayern empfanden.“43O Argos, 20.10.1844, I Ethniki, 16.02.1844, Thriamvos tou Syntagmatos, 13.05.1845.
Das schrieben die antifanariotischen Zeitungen in den ersten Jahren nach dem Verfassungswandel. Die Bayern wurden sehr bald zu Gegnern herabgestuft. Sie waren „unersättlich“, aber „arm“ und „arglos“ (I Ethniki, 20.02.1844).
Im Prolog zu seiner Komödie O Ypallilos (Der Beamte), die 1836 erschien, räumte M. Chourmouzis ein, in seinem früheren Stück Der Glücksritter allzu einseitig über die Bayern hergezogen zu sein. Um das auszugleichen, beschloss er, sich auch mit dem anderen Pol der Fremdherrschaft zu beschäftigen, mit „denen, die ständig von Gott weiß woher erscheinen mit einem Empfehlungsschreiben oder einem verrosteten Recht, wonach der Cousin dritten Grades der Cousine ihrer Frau in der Walachei ermordet worden sei, um auch irgendeinen Knochen zu erwischen, den sie vor so vielen zu Unrecht leidenden Griechen abschlecken können“. (Chourmouzis, 1836, 5)
Die Auslandsgriechen ihrerseits akzeptierten nicht, dass das Stigma der Kollaboration mit der Fremdherrschaft ausschließlich sie belastete. Die den Auslandsgriechen zugeneigte Zeitung Elpis (02.02.1844) erinnerte die sich ihres Widerstands gegen die Bayern rühmenden Autochthonen daran, dass sie selbst von den Bayern angestellt worden waren, um Aufstände anderer Landsleute zu unterdrücken. Sie griff auch auf den Prozess gegen Kolokotronis zurück, um die finstere Rolle der Autochthonen aufzuzeigen, die der „Bayernherrschaft“ bei der Verfolgung des ruhmreichen Generals beigestanden hatten.
Nach dem Sieg der Autochthonen, der mit dem „Zweiten Beschluss über die Auslandsgriechen“ triumphal bekräftigt wurde, waren es schließlich die Auslandsgriechen, die Grund hatten, die Autochthonen mit den Bayern zu gleichzustellen. Sie warfen ihnen nämlich vor, öffentliche Ämter ausschließlich mit der Qualifikation des Freiheitskämpfers oder des Eingeborenen zu bekleiden in derselben Logik, nach der vor ihnen die Bayern Ämter mit der einzigen Qualifikation besetzt hatten, Bayern zu sein. Festungen belagert zu haben, bedeute nicht, dass man aus eigenem Recht Richter, Städtebauer oder Taxierer von Handelswaren werden müsse, vertrat die Elpis (29.01.1844) und bemerkte ferner (23.04.1844), dass auch viele autochthone Nichtkämpfer, „Jünglinge, die zur Zeit des Kampfes noch säugten“, die Hauptstadt nach dem 3. September überfluteten und verlangten, sich ihr Privileg als Eingeborene versilbern zu lassen.
Diese Kritik schien die heroische Bedeutung der Verfassungsrevolution als einen Akt des nationalen Widerstands gegen eine Fremdherrschaft zu mindern und sie als Plan zur Eroberung öffentlicher Stellen darzustellen. Es war jedoch nicht die Absicht der Auslandsgriechen, den Bayern Argumente zu liefern indem sie die Bedeutung des 3. Septembers herabsetzten. Die Elpis (19.12.1843) selbst benutzte in der Auseinandersetzung zwischen Autochthonen und Auslandsgriechen zwei parallele Diskurse, einen an die Vertreter der Autochthonen und einen an die abziehenden Bayern und den bayerischen Hof. In diesem zweiten Rahmen werden die Griechen als Brüder dargestellt, die das Schlimmste erduldet hätten von Seiten „Bayerns mit seinem Griechenhass“, das wie eine böse Stiefmutter ihre Beziehung zu ihrem väterlichen König vergiftet habe. Bis der 3. September kam, als sich der „treusorgende Vater nach langjähriger und schmerzreicher Trennung in die Arme seiner verwaisten Kinder wirft.“ In diesem Narrativ fehlen die eigennützigen Autochthonen, die auf den Abzug der Bayern warten, um ihre Brüder aus dem Ausland zu vertreiben und die Ministerien zu übernehmen. Jenseits des Rahmens der Auseinandersetzung zwischen Autochthonen und Auslandsgriechen hat der 3. September lediglich die nationale Größe bestätigt:
[…] Wir haben unsere Feinde zu Boden geschmettert, und ich nenne unsere Feinde nur jene Angehörige anderer Nationen, die einen Staat im Staat bilden wollten. […] Unsere Feinde kehren in ihre Heimat zurück. […] Lassen wir sie vor ihre Nation treten, vor ihren König, um ihm zu sagen wir wurden ausgeschickt, um die ruhmreiche griechische Nation zu regieren. Wir haben den Kredit vergeudet, […] wir haben ihre Armee aufgelöst […] wir haben die ruhmreichen Männer ihres heiligen Kampfes verunglimpft […] wir haben uns bemüht, sie zu demütigen […]. Unsere Nation hat sie ungehindert ziehen lassen […], wir bewundern ihre Tugend. (Elpis, Beilage 09.09.1843)
Epilog – Schlussfolgerungen
Das Ziel dieses Aufsatzes war es, aufzuzeigen, wie der Diskurs über die Freiheitskämpfer die öffentliche Geschichtsschreibung und die vorherrschenden Ansichten über die „Bayernherrschaft“ prägte. Die grundlegenden Fragen lauten: Durch welche ideologischen Prozesse bildete sich das Narrativ „Besatzung – Widerstand“ in der Gesellschaft zur Zeit König Ottos heraus? In welchem Maße wurde es akzeptiert und welche Aspekte der Realität mussten verschwiegen werden, damit es sich durchsetzen konnte? Beginnen wir mit der letzten Bedingung, nämlich mit den grundlegenden Aspekten, die von den Anhängern der Gegensatzpaare „Besatzung – Widerstand“ und „Bayern – Freiheitskämpfer“ übersehen werden. Erstens gab es die innerlich gespaltene Gesellschaft zur Zeit König Ottos sowie die unscharfe Bedeutung des Begriffs „Fremdherrschaft“, der auch die Griechen aus dem Ausland einschloss. Zweitens verhinderten antagonistischen Beziehungen unter den Freiheitskämpfern, dass eine gemeinsame antibayerische Front gebildet werden konnte. Drittens muss das Fortleben traditioneller Mentalitäten und Praktiken unter den Freiheitskämpfern betont werden, die nicht unbedingt als Ausdruck des „nationalen Widerstands“ interpretiert werden sollten.
Lassen Sie uns nun die zentralen Ergebnisse der Prozesse zusammenfassen, die zur Festigung dieser bipolaren Schemata geführt haben: Inwiefern herrschte unter den Freiheitskämpfern Einigkeit über den gemeinsamen Feind, die „Bayernherrschaft“? Und inwiefern erkannte die öffentliche Meinung einschließlich der Intellektuellen die Freiheitskämpfer als die wahren Repräsentanten des nationalen Widerstands an? Was die Gründe für die scheinbare Einigkeit der Freiheitskämpfer gegen die „Bayernherrschaft“ betrifft, so haben wir festgestellt, dass die Freiheitskämpfer den Staat als „Kriegsbeute“ betrachteten und öffentliche Ämter als Belohnung für ihre Dienste im Freiheitskampf erwarteten. Die von den Bayern hochgeschätzten formalen Kompetenzen, die Europäisierung und das Bildungsbürgertum wurden daher von den reaktionären Freiheitskämpfern für wertlos erklärt, die lautstark für eine Rückkehr zur Tradition eintraten. Was die Ausrichtung der nationalen Intelligenz auf diese Rhetorik betrifft, sind wir der Meinung, dass jeder Prozess der Nationenbildung von Arroganz und Überlegenheitsgefühl geprägt ist. Der Konflikt zwischen den Freiheitskämpfern und den Bayern spielte genau diese Rolle. Insbesondere nach der Gründung des unabhängigen griechischen Staates wurde die griechische Identität deutlicher im Kontrast zu den westlichen Sitten definiert. Der Idealtypus des „vaterlandsverteidigenden Freiheitskämpfers“ blieb für die Intellektuellen aus verschiedenen Gründen nützlich, sowohl bei der Verteidigung der Nation gegen ihre Kritiker als auch bei der Entwicklung der Vision einer Erweiterung der nationalen Grenzen. Das antibayerische Narrativ war eng verwoben mit dem romantischen Nationalismus der Griechen. Es beruht auf der Logik, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: „Weil du ein Fremder bist, kannst du nicht gerecht sein“. Die Vorherrschaft dieser Logik erstickte jeden Widerspruch, jede Argumentation, die bis dahin zugunsten der Bayern vorgebracht worden war. Gleichzeitig fand das Vorgehen, öffentliche Ämter als Belohnung für den geleisteten Dienst zu vergeben, großen Anklang in einem Land, in dem nahezu jeder als Freiheitskämpfer galt.
Übersetzung aus dem Griechischen: Ulf-Dieter Klemm