Das Musikleben in Athen am Hof König Ottos I. von Griechenland (1834–1862)

Von Helene Dorfner | Zuletzt bearbeitet 25.05.2022

Während in Athen bis zur Ankunft König Ottos I. nur traditionelle Volksmusik gepflegt worden war, befanden sich die Zentren griechischer Kunstmusik und der an westlichen Vorbildern orientierten Komponisten in Patras und vor allem auf den Ionischen Inseln. In Athen hingegen tat man sich schwer, die oft fremd anmutende westliche bzw. deutsche Musik und vor allem deren Tänze zu akzeptieren. Deshalb blieb die Aufführung westlicher Musik auf den Hof, die Oper sowie auf die Häuser bzw. Biergärten, Vereinslokale und Cafés von europäischen Einwanderern beschränkt. In diesem Essay sollen folgenden Fragen diskutiert werden. Diese Fragen sollen exemplarisch an der Musiksammlung König Ottos, den Hofbällen und der Militärmusik erörtert werden. Unter welchen Voraussetzungen hat sich ein Musikleben am Hof König Ottos in Athen entwickelt? Welche Vorbilder wurden dafür herangezogen? Welche Schwerpunkte wurden gesetzt? Welche Hintergründe hatte die westeuropäische Ausrichtung? Gab es eine Öffnung des Hofes gegenüber griechischer Musik? Welche Berührungs- und Reibungspunkte gab es für die Griechen am Hof in Athen mit der deutschen Musik? Kann man von Kulturtransfer sprechen? Welche Strahlkraft hatte das Musikleben auf das übrige Athen?

Inhalt

Das Musikleben am Hof König Ottos

Mit dem Umzug der Hauptstadt Griechenlands von Nafplio nach Athen im Jahr 1834 begann für die ca. 7.000 Einwohner der Stadt eine neue Zeitrechnung. Die Stadt stand vor der Entwicklung einer Siedlung mit dörflichem Charakter zu einer Hauptstadt europäischen Ranges. Als Hauptstadt sollte Athen nicht nur Regierungssitz werden, sondern auch das Finanz-, Gewerbe-, Verkehrs-, Wissenschafts- und Kulturzentrum des neuen griechischen Staates. Dies brachte in vielen Bereichen große Herausforderungen mit sich, da nicht auf bereits existierende urbane Strukturen zurückgegriffen werden konnte. Auch König Otto I. von Griechenland, der vor der Aufgabe stand, ein höfisches Kulturleben zu entwickeln und zu gestalten, konnte nicht auf ein Netzwerk aus Adeligen zurückgreifen und sich an Vorbildern und bewährten Traditionen orientieren. Das Musikleben am Athener Hof war von denkbar schwierigen Startbedingungen geprägt. Da die westliche Musik in Athen nahezu unbekannt war, fehlte es an allem. Musiker mussten hauptsächlich aus Italien und Bayern angeworben werden, da die Griechen in den westlichen Musiktraditionen nicht ausgebildet waren. Dies betraf sowohl Solomusiker als auch größere Ensembles wie beispielsweise Orchester oder Militärkapellen. Ebenso mussten die Musikinstrumente importiert werden, da es in Griechenland an Instrumentenbauern fehlte. Das Gleiche galt für gedruckte Noten sowie Notenpapier für handschriftliche Kompositionen.

Die Musiksammlung am Hof König Ottos

Als die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion des Musiklebens am Hof in Athen gilt seine Musiksammlung, die sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek befindet. Aus dieser Sammlung lassen sich viele deutsch-griechische Verflechtungen ablesen, sogar die Sammlung selbst wurde von Griechenland nach Bayern verbracht. Die Musikbibliothek wurde seit 1833 aufgebaut und stand seit 1839 vermutlich, genauso wie die Hofbibliothek, unter der Leitung des Universitätsprofessors Philippos Ioannou. Dieser hatte mehrere Jahre in München studiert, bis er 1836 an den Hof in Oldenburg gerufen wurde, um die spätere Königin Amalie von Griechenland in der griechischen Sprache zu unterrichten. 1862 wurde die Musikbibliothek aus dem Athener Palast in die Neue Residenz nach Bamberg verbracht, das spätere Domizil König Ottos in Bayern. Nach seinem Tod ging die Musiksammlung in den Besitz seines Neffen, König Ludwig II. von Bayern, über, der die Sammlung am 18. September 1879 der Bayerischen Hof- und Staatsbibliothek vermachte. „Als Geschenk S.r Maj. König Ludwig II von Bayern (aus der Verlassenschaft des König Otto von Griechenland) wurden brevi manu die ff. Musikalien an die k. Hof- & Staatsbibliothek abgegeben.“1

Anhand der in der Sammlung vertretenen Verlage und Erscheinungsorte wird deutlich, dass die Bibliothek hauptsächlich durch Geschenke und Buchkäufe aus dem Ausland, meist aus Bayern, erweitert wurde (Dorfner, 2007, 20). Ihre Zusammenstellung ist also deutlich durch den damaligen deutschen Musikgeschmack geprägt und bildet auch die musikalischen Vorlieben am Hof König Ottos in Athen ab.2 Trotzdem finden sich auch einige Kompositionen griechischer Musiker und auch Musica theoretica von Griechen in der Sammlung.3 Auffallend ist bei dem griechischen Teil der Bibliothek die Dichte an aufwendig gestalteten Prachteinbänden, oft auch mit zusätzlichen Supralibros. Die Supralibros (Wappen oder Monogramme auf dem Bucheinband) sind ein klassisches Widmungssymbol. Die prachtvolle Ausstattung der Bände lässt darauf schließen, dass man dadurch die Aufmerksamkeit des Königs auf diese Schriften lenken wollte. Als Beispiel ist hier der ΄Υμνος εις την Α. Μ. Βασιλέα της Ελλάδος Όθωνα τον Α! [Hymne an seine Majestät den König von Griechenland Otto I.] zu nennen, der in Wien von Alexandros Katakouzinos geschrieben, vertont und gedruckt wurde (vgl. Katakouzinos, 1860, 1–3). Ob er als Vorschlag für eine griechische Nationalhymne gedacht war, lässt sich nicht eindeutig sagen. Allerdings lassen die aufwendige Gestaltung des Einbandes mit Monogramm und das Königswappen auf dem Titelblatt, die Besetzung für vierstimmigen Chor und der Text, der eine fast wörtliche Übersetzung der österreichischen Kaiserhymne darstellt, dies vermuten.4 Es lassen sich also in der Musikbibliothek nicht nur deutsch-griechische Verflechtungen materieller Art in Form von Noten feststellen, sondern auch zahlreiche Beispiele für immateriellen Kulturtransfer finden.

Die Hofbälle in Athen: Gäste und Ablauf

Zu den größten kulturellen Veranstaltungen gehörten Feste zu den Namens- und Geburtstagen von König Otto und Königin Amalie, zum Hochzeitstag des Königspaares, zum griechischen Nationalfeiertag am 25. März5, zu Neujahr, zum 25. Januar (dem Jahrestag der Ankunft König Ottos in Nafplio 1833) und zum Karneval. Höhepunkt der Feierlichkeiten war jeweils ein Hofball, den bis zu 500 Personen besuchten und der bis zu sechs Stunden dauern konnte. Im 19. Jahrhundert wurden in ganz Westeuropa Bälle als organisierte Tanzschulen gegründet. Während bis dahin eine starke Abgrenzung zwischen höfischem Tanz und Volkstanz vorherrschte, gab es zwischen ihnen, z. B. im deutschen, englischen und französischen Raum, ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer stärkere Verflechtungen.6 Ab 1830 wurden die ersten Tanzorchester gegründet, die auf Bällen spielten. In kleineren Palästen, die über kein eigenes Hoforchester bzw. Tanzorchester verfügten, wurde die Tanzmusik oft von Musikern der Militärkapelle gespielt. Das Repertoire bestand aus den Tänzen Walzer, Anglaise, Française, Landler oder Ländler, Mazurka, Polonaise, Schottisch, Quadrille, Rheinländer, Galopp und ab 1840 auch der Polka. Die Hofbälle werden deshalb als Diskussionsgegenstand herangezogen, weil sie als repräsentatives Instrument des Hofes viele Verflechtungen nachweisen und grundsätzlich dazu gedacht waren, Netzwerke zu knüpfen und zu pflegen. Zum einen lassen die Bälle den Versuch erkennen, sich mit anderen europäischen Herrscherhäusern zu vergleichen und zu zeigen, dass man mit anderen europäischen Hauptstädten mithalten konnte. Diese Haltung wurde vor allem gegenüber ausländischen Reisenden, Adeligen und Diplomaten demonstriert. Zum anderen wurde der Ball als Instrument eingesetzt, um den höheren griechischen Schichten den Hof zu präsentieren und ihn aus seiner politisch und kulturell isolierten Position (vgl. Hering, 1994, 255) herauszuholen.

Die Athener Hofbälle fanden nicht nur im Rahmen großer Feste statt, auch kleinere Bälle mit 50 bis 150 Teilnehmenden konnten sogar mehrmals in der Woche veranstaltet werden, da Königin Amalie eine passionierte Tänzerin war. Die größeren Bälle hatten allerdings einen festen Ablauf. Die Festivitäten wurden am Vortag mit Böllerschüssen und Glockenläuten eingeleitet. Am Festtag selbst folgte morgens ein feierlicher Gottesdienst (vgl. Lüth, 2013, 39) und eine öffentliche Anhörung für Diplomaten und Politiker. Tagsüber spielte die Militärkapelle vor dem Palast westliche Tanzmusik und Melodien aus italienischen Opern für das Volk. Diese seltene Gelegenheit zu Tanz und Unterhaltung wurde von der griechischen Stadtbevölkerung gerne angenommen. Dies kann auch als Versuch des Hofes gewertet werden, die westliche Tanzmusik in das griechisch geprägte städtische Leben Athens hineinzutragen. Der Hofball selbst begann um 20:45 Uhr und war nur für geladene Gäste zugänglich (vgl. About, 1970, 241). [Abb. 1] Die Gästelisten wurden für die Diplomaten und Konsuln auf Französisch, für die weiteren Gäste auf Griechisch geführt. Es wurden Vertreter folgender Stellen eingeladen: Konsulate und Gesandtschaften, Angehörige des Palastes (z. B. Hofpriester und Leibärzte), Minister, Senat, Parlament, Ministerialbeamte und weitere hohe Beamte, Professoren und Angehörige der Universität, Garnison, Militärschule, Berufungsgericht, Amtsgericht, Nationalbank, Präfektur Athen, Verwaltung der Region Attika, Polizeidirektion, Postdirektion und Würdenträger ausländischer Nationen. Zusätzlich wurden weitere Personen ohne Amtszugehörigkeit eingeladen, die in engem Kontakt zum Hof standen, etwa der Historiker und Philhellene George Finlay.7

Vor Beginn der Veranstaltung wurden Männer und Frauen getrennt und sollten sich auf Stühle setzen, die an den Wänden des Saales aufgereiht waren. Um Punkt 21 Uhr betraten das Königspaar und die höheren Würdenträger des Hofes den Saal mit einer festgelegten Schrittfolge. Daraufhin mussten die Gäste einen Kreis um das Königspaar bilden und solange stehen bleiben, bis die Vertreter aller Gesandtschaften und Diplomaten einzeln begrüßt worden waren.8 Bei dieser Gelegenheit wurden aber auch neue Mitglieder des Hofes vorgestellt, wie z. B. die Gattin des Hofpfarrers Lüth. „Meine Vorstellung geschah unter dem großen Lüster, und alle Gäste standen herum und starrten mich, das kürzlich eingetroffene Geschöpf, an, das bis dahin niemand kannte. In solchen Fällen kann man nicht über vieles sprechen.“ (Lüth, 2013, 39) Eine genaue Darstellung des weiteren Ablaufes eines Hofballes gibt Edmond About (About, 1970, 241–244). Einen großen Stellenwert nimmt hier die Beschreibung der Kleidung ein. Für die Herren galt eine, in der Einladung nicht ausgesprochene, Uniformpflicht. Für die Damen gab es unterschiedliche Vorgaben. Die Griechinnen sollten auf Wunsch der Königin Amalie in ihren traditionellen, für die europäischen Gäste eher exotischen, Festtagstrachten erscheinen, während sich die Europäerinnen an der aktuellen Pariser Mode orientierten. Der Hofball begann mit einer Promenade, ein Tanz in offener Tanzhaltung, bei dem beide Partner sich an der Hand nehmen und vorwärts in die gleiche Richtung blicken. Diesem Tanz folgten Walzer, Quadrillen, Françaisen, Mazurkas, Polonaisen, Polkas und Contredances. Hierzu bemerkt About: „Gegen Mitte des Balles wird eine einzige Polka getanzt. Die Polka ist der Lieblingstanz des Königs. Aber die Königin kann sie nicht leiden.“9 Die Polka ist ein lebhafter Rundtanz, der eher gehüpft, als getanzt wird. Er steht damit im Widerspruch zum eher ruhigen Walzer, der als Lieblingstanz der Königin Amalie galt. Dies lässt sich durch die statistische Auswertung der Musiksammlung König Ottos I. von Griechenland bestätigen, wenn man annimmt, dass bei Musikstücken, die Widmungen an das Königspaar enthalten, den Komponisten die musikalischen Vorlieben des Königspaares bekannt waren. „Unter den 57 Musikstücken, die König Otto gewidmet sind, findet sich sechsmal eine Polka, allerdings nur zweimal ein Walzer. Unter den vier Stücken mit Amalie als Widmungsträgerin befinden sich zwei Walzer und keine einzige Polka.“ (Dorfner, 2007, 26) [Abb. 2]

Die Auswahl der Tänze für den Hofball folgte also der aktuellen europäischer Mode und räumte der griechischen Musiktradition wenig Platz ein. Die vereinzelten Darbietungen griechischer Tänze, bei denen sich z. B. der Freiheitskämpfer Ioannis Makryjannis sehr hervortat, fanden eher als unterhaltsames Schauspiel für die ausländischen Gäste des Hofes statt (vgl. Dragoumis, 1986, 94-95). Die Festlegung auf europäische Tänze wurde auch von den Griechen nicht immer befürwortet. Vor allem die Griechinnen taten sich mit der engen Paartanzhaltung schwer. Im Vergleich zu den griechischen Volkstänzen, die meist in einer offenen Tanzhaltung in der Gruppe ausgeführt werden, war z. B. beim Walzer, ein verhältnismäßig enger Körperkontakt gefordert. Dies galt als unschicklich, besonders weil es sich um gemischtgeschlechtliche Paartänze handelte (vgl. Dragoumis, 1986, 94). Diese Ablehnung gegenüber den westeuropäischen Tänzen schwächte sich allerdings mehr und mehr ab. 1871, nur wenige Jahre nach dem Ende der Regierungszeit König Ottos, gab es in Athen bereits sechs Tanzschulen, an welchen die westlichen Paartänze unterrichtet wurden (vgl. Dragoumis, 1986, 94).

Zusammenfassend kann man sagen, dass bei den Hofbällen die deutsch-griechischen Verflechtungen immer in einen „westeuropäischen“ Rahmen eingebettet waren. Die kulturellen Vorbilder für die Ausgestaltung der Hofbälle sind weniger als „deutsch“, sondern vielmehr als „westeuropäisch“ anzusehen, da sich der Hof durch die Veranstaltung von Bällen nicht gezielt den deutschen Landsleuten, sondern allgemeiner den europäischen Einwanderern und Gästen präsentierte. Natürlich wollte man durch die Bälle auch den Griechen die westeuropäischen Musiktraditionen nahebringen. In ihrer Ausrichtung können die Bälle als Veranstaltungen gesehen werden, um mit ausländischen Gesandten, aber auch griechischen Amtsträgern ins Gespräch zu kommen. Die politische Funktion der Bälle wird auch daran deutlich, dass es als Affront galt, wenn von der strengen, protokollarisch festgelegten Reihenfolge, wer mit wem den nächsten Tanz auszuführen hatte, abgewichen wurde. Bekannt wurde ein Vorfall im Jahr 1845. Königin Amalie hatte den Ball mit dem Premierminister Ioannis Kolettis eröffnet. Dies stand aber gemäß Protokoll dem Präsidenten der Nationalversammlung, Kanellos Delijannis, zu.10

Deligiannis verweigerte daraufhin der Königin den anschließenden Tanz. Nach einer Parlamentsdebatte über den unerhörten Vorfall entsandte die Kammer eine Delegation zum Hof, die sich bei Otto für die Brüskierung seiner Gemahlin (unbeschadet des Anspruchs auf die Präzedenz) entschuldigte. (Hering, 1994, 279)

Der musikalische Rahmen spielt hier eher eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz sind die Musiker des Hofes ein Beispiel für deutsch-griechische Verflechtungen. In Athen gab es lange kein eigenes Hoforchester. Wurde bei großen Veranstaltungen ein Orchester benötigt, so war es durchaus üblich, auch an anderen europäischen Höfen, auf die Militärkapelle zurückzugreifen (vgl. Rüstow, 1859, 259). Auch durch den Teil der Musiksammlung König Ottos, der sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek befindet, wird das belegt. Die Sammlung mit dem Stempel der Musikbibliothek enthält für größere Besetzungen nur vier Orchesterstücke und neun Werke für Militärkapelle. An den vergebenen Signaturen lässt sich ablesen, dass die ersten Orchesterstücke der Sammlung erst nach 1850 in die Hofbibliothek eingearbeitet worden sind. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Musiker der Tanzorchester für die Hofbälle in Athen aus der Militärkapelle rekrutiert worden sind und auch die Musikalien aus deren Fundus verwendet wurden.

Die Militärmusik

Als Militärmusiker hatte man kein leichtes Leben in Griechenland. Die Musiker waren zwar längst nicht mehr aktiv an Kampfhandlungen beteiligt und mussten somit nicht direkt um ihr Leben fürchten. Sie hatten eine repräsentative Aufgabe. König Otto ließ die Musikkapelle zweimal wöchentlich in einer Parade durch Athen ziehen. Sie spielten Märsche, Tänze und Arrangements beliebter Opernmelodien. Besonders sonntags war ganz Athen auf den Beinen. Die griechische Bevölkerung kam bei diesen Gelegenheiten erstmalig mit westeuropäischer Musik in Kontakt (vgl. Synadinos, 1919, 81). Allerdings wurden die Militärmusiker so schlecht bezahlt, dass sie ihren Lebensunterhalt durch Privatunterricht aufbessern mussten. Zudem mussten sich bis zu fünf Musiker nicht nur eine Stelle, sondern auch ein Instrument teilen (vgl. Motsenigos, 1958, 358). In Zeiten von Tuberkulose, Diphtherie, Cholera und Pest konnte es durchaus lebensgefährlich sein, zu fünft ein und dasselbe Mundstück zu benutzen. Die Hoboisten11 wurden entsprechend ihrer instrumentalen Fähigkeiten in vier Klassen unterteilt und begannen ihre Karriere mit der vierten Klasse. In einem Dokument12 aus dem Nachlass des Militärmusikers Christian Welker13, wird das Verhältnis zwischen griechischen und deutschen Musikern deutlich. In der höchsten Klasse, in der meistens Solisten spielten, lag der Anteil griechischer Musiker bei 30 %, die übrigen Namen sind hier deutsch. In der zweiten Klasse lag das Verhältnis bei 50 %, und in der dritten Klasse waren Griechen mit 70 % vertreten. In der untersten Klasse schließlich, der z. B. die Trommler zugeordnet waren, spielten nur Griechen. Dies ist verständlich, da in den höheren Klassen der Militärkapelle Instrumente gespielt wurden für die eine mehrjährige musikalische Ausbildung nötig war. Zusätzlich waren den meisten Griechen die westlichen Harmonien und das Repertoire fremd, weshalb sie meist als Trommler in die Militärkapelle einstiegen und nur langsam in die höheren Klassen aufstiegen.

Christian Welker, der 1834 mit nur 13 Jahren aus der Pfalz nach Nafplio kam, kehrte nach vier Jahren verpflichtender Dienstzeit in Athen auf eigenen Wunsch wieder nach Bayern zurück. Er ging nicht mehr in seine eigentliche Heimat, die bayerische Rheinpfalz, sondern verpflichtete sich beim königlichen Infanterie-Regiment „Kronprinz“, das an der österreichischen Grenze stationiert war. Hier lernte er wohl auch seine spätere Gattin, Therese Grubmüller14, kennen, die aus Passau stammte. Er war mittlerweile weiter aufgestiegen und als Solist, also als Hoboist erster Klasse, tätig. Nach fünf Jahren in Bayern erreichte ihn ein Ruf aus Athen. Als Assistent des Musikmeisters Michael Mangel sollte er eine Militärmusikschule aufbauen. Er beantragte seine Entlassung beim bayerischen Militär, um abermals nach Griechenland aufzubrechen. An der Biografie Christian Welkers wird deutlich, wie eng die deutsch-griechischen Verflechtungen waren und dass gezielt deutsche Musiker für die höheren Positionen im griechischen Musikleben angeworben wurden. Ernsthafte Planungen für eine Militärmusikschule in Griechenland gab es schon seit 1837. Man hatte das ehrgeizige Ziel, innerhalb weniger Jahre so viele griechische Musiker und Musiklehrer auszubilden, um die Militärmusik vollständig in griechische Hände übergeben zu können. Allerdings verzögerte sich die Umsetzung, da man keinen geeigneten Leiter für die Musikschule und nicht genügend Lehrer finden konnte (vgl. Motsenigos, 1958, 225). 1843 wurde die Militärmusikschule in Athen gegründet. An der Militärmusikschule wurden durchschnittlich zehn Schüler gleichzeitig ausgebildet. Da der Beruf des Militärmusikers finanziell wenig attraktiv war, hatte die Schule ständig mit Nachwuchssorgen zu kämpfen. Die Schüler waren verpflichtet, zwei Instrumente zu lernen: ein Blasinstrument für die Militärkapelle und ein Streichinstrument. Als Streicher konnten sie sich als „Springer“ für das Hoforchester in Athen und bei Opernaufführungen die ein oder andere Drachme dazuverdienen. Der Sold allein reichte nicht aus, um den Lebensunterhalt davon zu bestreiten oder gar eine Familie zu ernähren. Bereits zwölf Jahre nach ihrer Gründung wurde die Militärmusikschule 1855 wieder geschlossen, da sie nicht die gewünschten Erfolge brachte (vgl. Synadinos, 1919, 71).

Nach Schließung der Schule ging man wieder dazu über, die Musiker nicht mehr selbst auszubilden, sondern aus Deutschland anzuwerben. 1861 erhielt der charakterisierte15 Musikmeister Christian Welker vom griechischen Kriegsministerium den Auftrag, nach München zu reisen.

In der Absicht dem charakterisierten Musikmeister Ch. Welker behilflich zu seyn, damit er sich nach Bayern begeben könne, um dort Musikalien zu sammeln, und in der Nähe von den Veränderungen und Verbesserungen Einsicht zu nehmen, welche in der Militärmusik statt gefunden haben, ertheilen wir ihm zur Reise dafür einen Urlaub von zwey Monaten mit vollen Bezügen und 720 Drachmen Reisekosten baar vorausbezahlt unter der Bedingung, daß er sich verbindlich macht, wie folgt: […].16

Er sollte hier Solisten für die griechische Militärkapelle anwerben und sich über die neuesten Entwicklungen in der Militärmusik informieren. Zudem musste er Musiknoten beschaffen und sich bei den Instrumentenfabriken nach dem Grund für ausstehende Lieferungen erkundigen.17 Die griechischen Regimentsmusiken waren seit der Schließung der Militärmusikschule im Jahr 1855 wieder sehr von Bayern abhängig. Nach der Vertreibung König Ottos aus Griechenland im Jahr 1862 blieb Christian Welker in Athen, obwohl die meisten seiner Landsleute nach Deutschland zurückkehrten. Bereits 1853 (vgl.: Grieser, 2002, 144) war er zum Musikmeister ernannt worden. Dies bedeutete, dass er als Kapellmeister die Musik eines Bataillons dirigierte, arrangierte und auch komponierte. 1862 wurde er zum Musikdirektor befördert. Höhepunkt seiner Karriere war der Titel des Armee-Musik-Inspizienten, den er seit 1877 führte (vgl. Althoff, 1969, 99). Er hatte nun das höchste musikalische Amt Griechenlands inne und konnte die Militärmusik mitgestalten. Christian Welker starb am 21. März 190818 mit 88 Jahren an Altersschwäche. Seine Grabstelle befand sich auf dem Allgemeinen Friedhof in Athen und wurde noch einige Jahre nach seinem Tod vom deutschen Konsulat finanziert. Sie ist heute nicht mehr auffindbar. Den Einfluss der bayerischen Militärmusik auf die griechische kann man bis heute deutlich hören, da die Besetzung den westeuropäischen Militärkapellen angeglichen wurde. Aber auch das Repertoire ist kaum zu unterscheiden. Der bekannte griechische Marsch „Μαύρη είναι η νύχτα στα βουνά [Schwarz ist die Nacht in den Bergen]“ soll nach einer bayerischen Melodie vertont sein.

One of the most widely used both by the Army (where it is still performed) and civilians was the march “the Night is Dark on the Mountains”, which poetically (in lines by Alexandros Rizos Rangavis) hails the klefts (an emblematic militia group of the 1821 Revolution), while musically it uses a Bavarian tune (Kardamis, 2019, 72).

Zusammenfassung

Die als Bavarokratie bezeichnete Bayernherrschaft hat nicht nur im bildungspolitischen Bereich großen Einfluss auf Griechenland genommen. König Otto konnte für die Entwicklung und die Gestaltung des höfischen Musiklebens nicht auf Kontinuitäten, wie z. B. ein Netzwerk aus Adeligen oder ein bestehendes urbanes Kulturleben, zurückgreifen, was den Aufbau grundlegender Strukturen erschwerte. Der damit verbundene Rückzug auf bekanntes Terrain macht den westeuropäischen und auch deutschen Einfluss besonders spürbar. Bis auf wenige Ausnahmen, in denen sich das Zeremoniell für griechische Traditionen öffnete, wurde ein höfisches Musikleben westlicher Prägung aufgebaut. Generell ist die Abgrenzung einer „deutschen Musik“ im höfischen Umfeld schwierig, da bei repräsentativen Anlässen die westeuropäische Kunstmusik im Vordergrund stand. Die Militärmusik war fast gänzlich in deutscher Hand, und der Großteil der höfischen Musikkultur bestand aus westlichen Tänzen und der Darbietung deutscher, französischer oder italienischer Musikstücke. Dadurch konnten sich Verflechtungen zwischen westeuropäischer und griechischer Musik nur zögerlich entwickeln. Die Pflege von deutscher Volksmusik nahm am Hof eher einen kleinen Raum ein und diente fast ausschließlich zur privaten Unterhaltung der Palastangehörigen. Unbestritten ist auch der Einfluss des Hofes auf die Hörgewohnheiten der Griechen, unter denen viele über die öffentlichen Konzerte der Militärkapelle oder über die Hofbälle erstmals mit westlicher Musik in Kontakt kamen. Als ein klassisches Beispiel für den Kulturtransfer kann hier die Akzeptanz von Tänzen in einer Paartanzhaltung gelten. Die Kunstmusik in Griechenland orientiert sich heute stark an europäischen Formen und Gattungen. Für Athen ergaben sich die ersten Berührungspunkte zwischen europäischer Kunstmusik und griechischer Volksmusik unter König Otto, führten aber noch nicht zu kompositorischen Verflechtungen. Das europaweite Phänomen der nationalen Schule in der Musik, nach der seit Beginn des 19. Jahrhunderts europäische Gattungen und Formen der Kunstmusik mit Melodien und Rhythmen der nationalen Volksmusik verbunden wurden, ließ in Griechenland lange auf sich warten. Die Verflechtungen in Musikstücken am Hof König Ottos beschränkten sich auf die Kombination einzelner Teile eines Werkes, z. B. von westlicher Satztechnik mit griechischem Text, entwickelten aber noch keine neue musikalische Identität. Der Beginn einer griechischen nationalen Schule ist 1888 mit der ersten griechischsprachigen Oper von Spyridon Xyndas anzusetzen, also erst lange nach der Regierungszeit König Ottos.

Einzelnachweise

  1. Zugangsbuch der Bayerischen Staatsbibliothek 1832–1887, 184.
  2. Ein Katalog aller Musikalien aus der Musiksammlung König Ottos findet sich in Dorfner, 2007, 34–279.
  3. Eine detaillierte Beschreibung der griechischen Musikhandschriften und Drucke der Musiksammlung König Ottos in der Bayerischen Staatsbibliothek findet sich in Themelis, 1979.
  4. Bei Katakuzinos heißt es: Τον Βασιλέα Όθωνα τον Πρώτον φρούριε Θεέ! [Gott bewahre Otto I den König!]. Im Vergleich dazu heißt es in der österreichischen Kaiserhymne bis 1836 Gott erhalte Franz den Kaiser (Flortzinger, 24.07.2002) und ab 1854 Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser (Flortzinger, 24.07.2002)
  5. Der griechische Nationalfeiertag wurde 1838 von der Regierung König Ottos eingeführt.
  6. Ein Beispiel ist der Deutsche Tanz, der sich aus höfischen Tanz Allemande zum Volkstanz entwickelte und sich im 19. Jahrhundert zum Walzer ausbildete und dadurch wieder in die höfische Tanzkultur aufgenommen wurde. Er wurde auch auf Hofbällen in Athen gerne getanzt. Vgl. hierzu About, 1970, 243.
  7. Γενικά Αρχεία του Κράτους: Αρχείο Ανακτορικών (περιόδου Όθωνος) [1833-1862], φακ. 351, «Κατάλογος των εις τον χορόν των 10/22 Νοεμβρ. 1844 προσκληθέντων», 9.
  8. Auch an der Gästeliste zum Hofball anlässlich des 8. Hochzeitstages von König Otto und Königin Amalie von Griechenland lässt sich die hervorgehobene Position der Diplomaten ablesen. Unter den geladenen Gästen stehen sie an erster Stelle. Γενικά Αρχεία του Κράτους: Αρχείο Ανακτορικών (περιόδου Όθωνος) [1833–1862], φακ. 351, «Κατάλογος των εις τον χορόν των 10/22 Νοεμβρ. 1844 προσκληθέντων», 1–2.
  9. Eigene Übersetzung. Original: Κατά το μέσο του χορού χορεύεται μια μοναδική πόλκα. Η πόλκα είναι ο αγαπημένος χορός του βασιλιά. Αλλά η βασίλισσα δεν μπορεί να την υποφέρει (About, 1970, 243–244).
  10. Christiane Lüth schreibt in Ihrem Tagebuch, dass ihr diese Begebenheit von ihrem Ehemann, dem Hofprediger erzählt worden ist. Vgl. hierzu: Lüth, 2013, 160–161. Gunnar Hering hingegen schreibt, Königin Amalie habe mit dem Senatspräsidenten Jeorjios Kountouriotis getanzt und dadurch Delijannis verärgert. Zudem soll die anschließende Zurückweisung der Königin durch Delijannis so beleidigend gewesen sein, dass einige Generäle Delijannis zum Duell fordern wollten. Vgl. hierzu Hering, 1994, 279.
  11. Anm.: Hoboisten wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts alle Mitglieder einer Militärkapelle genannt, unabhängig davon, welches Instrument sie tatsächlich spielten. Diese Bezeichnung war in der Infanterie des deutschen Heeres bis zum ersten Weltkrieg gebräuchlich.
  12. Vgl.: Ergänzung, Formation und Bekleidung der Musikbatallions, Nauplia, 27. Oktober/ 8. November 1834, Aktenzeichen: Nr. 14909.
  13. Christian Welker kam 1834 nach Athen und verstarb dort 1908. Eine ausführliche Biografie findet sich in Dorfner, 2014.
  14. Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde zu Athen, Eintrag unter 07.10.1849, S. 205. Anm.: Bei allen Daten des evangelischen Kirchenbuches handelt es sich um das griechische Datum nach dem julianischen Kalender.
  15. Als „charakterisiert“ wird ein Offizier bezeichnet, (…) der einen bestimmten Grad bekleidet, ohne doch mit den übrigen Offizieren dieses Grades zu rangiren und das Gehalt desselben zu genießen (…). (Rüstow, 1858, 145).
  16. Schreiben des griechischen Kriegsministeriums an das 3. Infanterie-Bataillon vom 14. Juli 1861, 1.
  17. Vgl.: Schreiben des griechischen Kriegsministeriums an das 3. Infanterie-Bataillon vom 14. Juli 1861.
  18. Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde zu Athen, Eintrag unter 03.04.1908, S. 370.

Verwendete Literatur

Bayerisch-griechischer Defiliermarsch. Major Christian Welker
Dietmar Grieser (Autor*in), Stadtverwaltung Zweibrücken (Herausgeber*in)
2002
Christian Welker (1820 – 1908). Vom Pfälzer Pflegekind zum Königlich Griechischen Militärmusikinspizienten
Helene Dorfner (Autor*in)
2014
Christian Welker. 1820 – 1908. Ein Leben im Dienste der griechischen Krone
Karl Althoff (Autor*in), Stadt und Landkreis Zweibrücken (Herausgeber*in)
1970
Der Hof Ottos von Griechenland
Gunnar Hering (Autor*in), Reinhard Lauer (Herausgeber*in), Hans Georg Majer (Herausgeber*in)
1994
Die Musiksammlung König Ottos I von Griechenland in der Bayerischen Staatsbibliothek
Helene Dorfner (Autor*in)
2007
Die Musiksammlung aus der Bibliothek König Ottos von Griechenland
Dimitris Themelis (Autor*in)
1979
Eine Dänin am Hof König Ottos: Ein Zeugnis der Epoche. Notizbuch und Tagebuch
Christiane Lüth (Autor*in)
2013
Militärisches Hand-Wörterbuch. A-L
Wilhelm Rüstow (Autor*in)
1858
Militärisches Hand-Wörterbuch. M bis Z
Wilhelm Rüstow (Autor*in)
1859
Nachlass Christian Welker): Schreiben des griechischen Kriegsministeriums an das 3. Infanterie-Bataillon
14. Juli 1861
Nachlass Christian Welker: Ergänzung, Formation und Bekleidung der Musikbatallions
27. Oktober/ 8. November 1834
Odes, anthems and battle songs: creating citizens through music in Greece during the long nineteenth century
Kostas Kardamis (Autor*in), Polina Tambakaki (Herausgeber*in), Panos Vlagopoulos (Herausgeber*in), Katerina Levidou (Herausgeber*in), Roderick Beaton (Herausgeber*in)
2019
Verzeichniss der im Jahre des Herrn 18[..] in der evangelischen Hof- und Stadtgemeine zu Athen Geborenen und Getauften
1837ff
Volkshymne
Rudolf Flotzinger (Autor*in)
Zugangsbuch der Bayerischen Staatsbibliothek
Joseph Julius Maier (Autor*in)
1832-1887
Η Ελλάδα του Όθωνος: η σύγχρονη Ελλάδα 1854
Edmond About (Autor*in), Απόστολος Σπήλιος (Übersetzer*in)
1970
Η μουσική ζωή στην Αθήνα του 19ου αιώνα
Μ. Φ. Δραγούμης (Autor*in)
1986
Ιστορία της Νεοελληνικής Μουσικής: 1824-1919
Θεόδωρος Ν. Συναδινός (Autor*in)
1919
Κατάλογος των εις τον χορόν των 10/22 Νοεμβρ. 1844 προσκληθέντων
1833-1862
Νεοελληνική μουσική. Συμβολή εις την ιστορίαν της
Σπύρος Γ. Μοτσενίγος (Autor*in)
1958
Υμνος εις την Α. Μ. Βασιλέα της Ελλάδος Όθωνα τον Α΄
Αλέξανδρος Κατακουζηνός (Autor*in)
1860

Galerie

Zitierweise

Helene Dorfner, »Das Musikleben in Athen am Hof König Ottos I. von Griechenland (1834–1862)«, in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 25.05.2022, URI: https://comdeg.eu/compendium/essay/111000/.

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Essaytyp Mikrogeschichte
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