Narrative deutsch-griechischer Verflechtungen auf der documenta 14

  • Veröffentlicht 07.09.20

Zum ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahre 1955 fand die documenta, eine der weltweit bedeutendsten periodischen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, im Rahmen ihrer 14. Ausgabe 2017 zu gleichen Teilen an ihrem traditionellen Standort Kassel und in Athen statt. Als vielschichtiger Sachverhalt kultureller Verflechtung, aufgrund der Ausstrahlung ihrer globalen Teilnehmerschaft und ebenso der von ihr gebotenen Inhalte definierte sich die Ausstellung u.a. „als jüngstes Kapitel in der langen Geschichte deutsch-griechischer Beziehungen“ (Roelstrate, 2016). Der vorliegende Essay macht sich die mikrohistorische (d.h. das historische Einzelereignis fokussierende) Herangehensweise der Ausstellung zu eigen, indem er auf den von der documenta 14 erstellten Narrativen rund um die deutsch-griechischen Beziehungen aufbaut. Mit welchem kuratorischen und diskursiven Instrumentarium wurde das überraschende Zusammengehen Kassel-Athen umgesetzt? Und inwieweit gründete diese gegenseitige Verschränkung auf der Geschichte der deutsch-griechischen Verflechtungen selbst?

Inhalt

    Die documenta 14 als Universum von Mikrogeschichten

    Die 14. Ausgabe der documenta 14 wurde unter der künstlerischen Leitung des polnischen Ausstellungskurators Adam Szymczyk in Zusammenarbeit mit einem internationalen Team realisiert, dem Pierre Bal-Blanc, Hendrik Folkerts, Candice Hopkins, Hila Peleg, Dieter Roelstraete, Monika Szewczyk und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung angehörten. Zum engen Mitarbeiterkreis zählten überdies die Kuratorinnen Katerina Tselou und Marina Fokidi mit Sitz in Athen, die auch kuratorisch als Beraterinnen und Hauptvermittlerinnen zwischen dem Team und der griechischen Kunstszene fungierten.

    Unter dem Arbeitstitel „Von Athen lernen“ öffnete die Ausstellung in der griechischen Hauptstadt ihre Pforten am 8. April 2017, um dann in Kassel fortgesetzt zu werden (von 10. Juni bis 17. September 2017). In Kassel verteilte sich die Ausstellung auf 35, in Athen auf 47 Präsentationsorte, unter denen eine ganze Reihe erstmalig für künstlerische Aktivitäten zur Verfügung standen. Während die Disposition der Ausstellungsorte in Kassel ein bereits bekanntes, allerdings um eine beachtliche Anzahl neuer Elemente erweitertes Repertoire variierte, bereicherte die Gesamtheit der Athener Ausstellungsstätten auf bisher nicht gekannte Weise die Topographie der documenta1Als Antwort auf die Forderung, den westlichen Kanon kritisch neu zu verhandeln und sich aus der bevormundenden Umklammerung der Kunstzentren Westeuropas zu lösen, hatten frühere documenta-Ausstellungen – den Anfang machte die documenta 11 (2002) unter Leitung von Okwui Enwezor – mit einer Überschreitung der althergebrachten geographischen Grenzen experimentiert und Aktionen, Manifestationsplattformen bzw. Ausstellungsorte in Städten wie Neu Delhi, Lagos oder dem damals vom Krieg betroffenen Kabul miteinbezogen (entsprechend s. Gardner/Green, 2017). Die Ausstellung in diese Genealogie (vornehmlich außereuropäischer) Dezentralisation einzubinden, hatte Adam Szymczyk für die documenta 14 im Zusammenhang mit deren Verlegung nach Athen gefordert (s. Szymczyk, 2017, 27). und bot dabei ein Rezeptionsgefüge zur Geschichte und Geographie der Stadt an, wie es bislang ambitionierter noch nicht konzipiert worden war.

    Aus dem Athener Zweig der documenta wurde so „die bestbesuchte Ausstellung zeitgenössischer Kunst an mehreren Ausstellungsorten in der Geschichte Griechenlands“ (documenta 14, 19.09.2017). Sie präsentierte das Schaffen 149 lebender Künstler*innen, die sich in der Regel mit unterschiedlichen Werken/Projekten für beide Städte einbrachten, bot aber zugleich ein beträchtliches Korpus an nicht eigens für die Ausstellung geschaffener historischer Kunst2Dieses Korpus reichte von buddhistischer Plastik des 2. Jahrhunderts bis hin zu Malerei aus Albanien der Vor- und Nachkriegszeit. Die betreffende Website verzeichnet Werke von 104 nicht mehr lebenden Künstlerinnen und Künstlern, die nicht mehr am Leben sind: https://www.documenta14.de/gr/public-exhibition/#artists. – was den ausgesprochen reflexiven Charakter des kuratorischen Konzepts und die besondere Rolle belegt, die dem Historischen darin zugewiesen war.

    Die documenta 14 vertritt bei der Untersuchung der deutsch-griechischen Verflechtungen ebenso als Teil der gemeinsamen Geschichte ausstellerischer Zusammenarbeit und musealen Austausches zwischen beiden Ländern wie als spezifisches, mikrohistorisches Einzelereignis eine gleichermaßen wichtige Position. Bedenkt man die Breite des jeweiligen Zusammenwirkens und die kaum noch überschaubaren Verbindungen, die sich zwischen den involvierten Akteur*innen und Institutionen ergaben, bedenkt man dazu die umfassende Zirkulation der Diskurse, Kunstwerke und kuratorischen Praktiken, dann liegt es nahe, dies Großereignis im Bereich der bildenden Künste fast schon als eine Art Universum von Mikrogeschichten wahrzunehmen. Auf dieser Untersuchungsebene interessieren die involvierten historischen Akteur*innen, die Art ihrer Verflechtung und deren jeweilige Dauer,3Als Beispiel sei hier die langfristige bzw. permanente Etablierung führender Mitglieder des kuratorischen Teams in Athen angeführt – im Gegensatz zu Ausstellungsmacher*innen und Kurator*innen, die häufig nur fallweise in Beziehung zu den Ausstellungsorten standen, an die man sie jeweils berufen hatte. ebenso aber auch der Widerhall, den sie innerhalb der Strukturen und dynamischen Prozesse der griechischen Kunstwelt ausgelöst haben – von der Herausbildung symbolischen Kapitals zugunsten der teilnehmenden Künstler*innen bis hin zur Unterstützung öffentlicher Institutionen, mit denen die Ausstellung exklusiv zusammenarbeitete. Zum Gefüge mikrohistorischer Annäherung zählt bei der documenta 14 auch die Untersuchung der Vorstellungen, Stereotype und Deutungsmuster aller Art, die die Rezeption der Ausstellung einer wirkmächtigen deutschen Institution zeitigte, die sich bewusst für eine Verlagerung ins schuldengeplagte Griechenland entschieden hatte, ferner die intensive öffentliche Debatte, die die Ausstellung um Fragen wie die Instrumentalisierung des Ansehens eines in die „Krise“ geratenen Landes auslöste, ebenso der Umgang mit dem Begriff „Verschuldung“, die Art der Bezugnahme auf die griechische Antike, die Aneignung einer lokalen Kultur der Solidarität und des kollektiven Handelns, oder schließlich das Ausmaß, in dem die Ausstellung vor dem Horizont der angespannten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland als eine Art beschwichtigende Kulturdiplomatie fungierte.

    Ιm vorliegenden Text werde ich mich nicht mit der Ausstellung auf der Sachebene pragmatisch-kommunikativer Umsetzung eines kulturellen Austausches beschäftigen bzw. die vielfältigen Resultate des Zusammenwirkens samt den darin involvierten Akteur*innen im Einzelnen überprüfen. Ich übernehme vielmehr eine der zentralen theoretischen Forderungen der histoire croisée (Werner/Zimmerman, 2002, 624–625 und Werner/Zimmerman, 2006, 44–46) und werde meine Aufmerksamkeit eher auf Kategorien des Agierens, des reflektierenden Überdenkens, aber auch der Legitimation der Akteur*innen richten, insbesondere, was die von ihnen selbst entwickelten Begriffs- und Denkmodelle zum Thema Verflechtungen betrifft. Mit welchen Deutungen und Theorien haben die Kurator*innen die Phänomene kultureller Osmose bedacht, zu denen die Ausstellung inspirierte? Welche Diskurse und kuratorischen Strategien wurden entwickelt, als es darum ging, das spezifische Miteinander Kassel-Athen, auf das die Ausstellung abzielte, praktisch wie kommunikativ zu realisieren? Auf welche Weise ging die documenta 14 in diesem Rahmen an die Geschichte der deutsch-griechischen Beziehungen heran?

    Gastfreundschaft als Modell kultureller Verflechtungen

    Das Kurator*innen-Team rekurrierte bei seiner Wahl Athens als Ausstellungsort natürlich nicht auf die geschichtlichen Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland. Eine solche Emphase auf die spezifische Vergangenheit der beiden Länder zu legen, wäre ja gänzlich unvereinbar mit dem übernationalen Charakter der Ausstellung samt ihrem Bestreben, über die zeitgenössische Situation insgesamt zu sprechen. Dementsprechend legte die documenta 14 das Gewicht auf die Gefährdungen der Gegenwart und fokussierte Athen als „Sinnbild für die heutigen globalen Krisen“ (Szymczyk, 2017, 19), d.h. geeigneten Ort für eine kritische Sichtung und Entwicklung von Strategien des Widerstands zugleich.

    Die Verbindung Kassel-Athen hatte also nicht die Geschichte, sondern eher eine Lebensphilosophie, exakter gesagt die ethische Vorgabe der Gastfreundschaft zum Fundament, wie es etwa die Denker Pierre Klossowski und Jacques Derrida ausformulierten.4Siehe dazu den umfangreichen Abschnitt aus dem Werk De l’hospitalité (1997) von Jacques Derrida und Anne Dufourmantelle, den der Reader, der die Ausstellung mit seiner Zusammenstellung theoretischer Reflexion maßgeblich begleitete, als abschließenden Beitrag aufgenommen hatte.

    Eine fundamentale Geste der Ausstellung war ihr Verzicht auf die Rolle des Kasseler Hausherren zugunsten derjenigen des Gastes in Athen und damit die Etablierung der Möglichkeit eines fortwährenden Wechsels zwischen den beiden Rollen für sämtliche Beteiligte. Im Rahmen des Paradigmas „Gastfreundschaft“, präziser: der Variante einer voraussetzungs- und bedingungslosen Gastfreundschaft, die sich die Ausstellung zu eigen machte, setzt die gastliche Aufnahme des Anderen eine Beziehung gegenseitigen Austausches in Gang, die insofern genuin asymmetrisch gerät, als sie sich nicht Reziprozität, sondern einen alles übertreffenden Aufwand, eine überaus intensive, unteilbare, fast unmögliche Großzügigkeit zur Grundlage nimmt. So wird die Erfahrung der Gastfreundschaft ganz aus sich selbst heraus zu einem Agens des Wandels, fähig, von tradierten Haltungen und eingefleischten Identitäts- bzw. Besitzstandsvorstellungen frei zu machen.5Wie Adam Szymczyk und die Chefredakteurin der Publikationen Quinn Latimer in einer ihrer ersten Bezugnahmen zum kuratorischen Programm hervorgehoben haben: „Die Idee zu einer documenta 14 an zwei Orten, (auf)geteilt zwischen Athen, wo sie als Gast aufgenommen wird, und Kassel, ihrer Geburts- und Heimatstätte seit der Gründung der Ausstellung 1955, entstand aus dem Misstrauen gegenüber allen essenzialisierenden und reduzierenden Konzepten von Identität, Zugehörigkeit, Wurzeln und Eigentum in einer Welt, die sichtlich aus den Fugen geraten ist.“ (Latimer/Szymczyk, 2015) Diese Disposition zu absolutem, osmotischem Wandel aber ist nichts anderes als Verflechtung in ihrer letztgültigen Gestalt. Somit erweist sich das Paradigma „Gastfreundschaft“ im diskursiven Universum der documenta 14 als hermeneutisch-reflexives Modell kultureller Verflechtungen.

    Zur Verwirklichung des auf der Ebene kuratorischen Handelns a priori utopisch herausfordernden Projekts „Gastfreundschaft“ kam es durch die erstmals außerhalb der Grenzen Griechenlands umfassend erfolgende Präsentation der Sammlungen des Athener Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst im Fridericianum Kassel, „dem ältesten von vorneherein als Museum konzipierten Bau auf dem europäischen Kontinent“ (Roelstraete, 2017, 469), zugleich Herz der documenta seit ihrer Gründung und Symbol des nachkriegsdeutschen Wiederaufbaus.6Zur Behandlung der Geschichte des Baus im diskursiven Konzept der documenta 14 s. Latimer, 2015.

    Dem Kurator*innen-Team des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst unter der Leitung von Katerina Koskina stand das Gebäude für sein Vorhaben zur Verfügung, eine an die Verhältnisse adaptierte Version des bereits existierenden und gutgeheißenen Ausstellungskonzepts zu erarbeiten, das in Griechenland selbst – nach langen Jahren des Wartens auf die Eröffnung des Museums – bis heute noch nicht präsentiert worden ist.7Zur offiziellen Haltung der documenta 14 bezüglich der konkreten Zusammenarbeit s. Koskina/Szymczyk, 2017.

    An dieser Stelle darf der Hinweis nicht fehlen, dass der Titel Antidoron/Gegengeschenk, mit dem die Museumsdirektorin die Ausstellung bedachte, dem initiierten Diskurs zum Thema Gastfreundschaft die Gefühlswahrnehmung messbaren Austauschs und reziproker Symmetrie eingeschrieben hat. Die fehlende Zusammenarbeit zwischen den beiden Kurator*innen-Teams des Nationalmuseums und der documenta 14 bei der Präsentation der griechischen Sammlung zeitgenössischer Kunst (wie auch die womöglich ebensowenig erfolgte nachträgliche gemeinsame Erörterung der in diesem Rahmen gebotenen Begrifflichkeiten und Inhalte) ließ das Wagnis der spezifischen „gastfreundlichen Aufnahme des Anderen“ fast risikolos gelingen. Der „Fremde/Gastfreund“ sah sich geladen, ein vom „Hausherrn“ unbewohntes, ganz dem eigenen Belieben überlassenes „Haus“ in Besitz zu nehmen – etwas, das die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Anderen und deren eventuellen transformativen Kraft ausschloss. Auf der Ebene theoretischer Reflexion erweist sich das Ergebnis der hier konkretisierten Form von Zusammenarbeit als charakteristisches Beispiel für die Antinomie zwischen bedingungsloser bzw. Prämissen unterstellter Gastfreundschaft, die aufzuhellen die Ausstellung sich zur Aufgabe gemacht hatte. Sicherlich wäre diese ansonsten sehr sinnträchtige, erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Ausstellungsplanung aufgekommene und von pragmatischen Gegebenheiten nicht unbeinflusste kuratorische Geste auch aus der Perspektive vorherrschender kulturpolitischer Positionen im Bereich der bildenden Künste zu analysieren, die die Umsetzung offizieller Vorgaben und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit betreffen.

    Das vorgegebene Modell einer Gastfreundschaft als genuin asymmetrische kulturelle Verflechtung reflektierte im Prisma der Bezüge griechisch-deutscher Geschichte auch die Klanginstallation The Welcoming Gate (2017) von Zafos Xagoraris, die an einem Kern- und Knotenpunkt des Kasseler Ausstellungsparcours präsentiert wurde. Das Werk lenkt den Blick auf einen besonderen Moment deutsch-griechischer Verflechtung während des Ersten Weltkriegs, als nämlich in der Atmosphäre der Wirren, die das Nationale Schisma in der Frage ausgelöst hatte, welche Haltung das Land in dem internationalen Konflikt einnehmen sollte, ungefähr 7.000 griechische Soldaten in die deutsche Stadt Görlitz verbracht worden waren. Dort „fanden sich die Soldaten in einer seltsamen Doppelrolle wieder: Einerseits Gefangene, waren sie andererseits Gäste“ (Tselou, 2017). Wiewohl interniert in einem Lager, hatten die Griechen von Görlitz die Möglichkeit, Verbindung zur einheimischen Bevölkerung aufzunehmen, Ehen einzugehen, Zeitungen zu veröffentlichen, in Fabriken zu arbeiten oder an nahegelegenen Universitäten zu studieren, während sie ihrerseits zu Studienobjekten deutscher Volkskundler und Sprachwissenschaftler wurden, die ihre Überlieferungen, ihre Dialekte und ihre Musik dokumentierten. Aus dem Lautsprecher der Installation von Xagoraris erklang in diesem Zusammenhang erstelltes, unschätzbar wertvolles Tonarchivmaterial mit Aufnahmen traditioneller bzw. rebetikogeprägter Lieder aus Kleinasien. Aus dieser außergewöhnlich vielschichtigen Konstellation des Austausches im Rahmen so ungleichgewichtiger Machtverhältnisse ergaben sich gegenseitige Lernprozesse, gegenseitige Nutzung, aber auch Emanzipation. Am Ausgang des Kulturbahnhofs, dem erstem Präsentationsort des von der Ausstellung vorgegebenen Parcours platziert, vermittelte sich die Installation hier als „seuil/Schwelle“ zur documenta 14 im Sinne Genettes.8s. Genette, 1987.

    Über sie wurde der Besucher nun seinerseits wie ein „Gefangener und Gast zugleich“ in das auf Partizipation und Wissensproduktion abzielende Unterfangen hineingenommen, dem die Ausstellung nachging, um auf der Grundlage eines durchgängigen Austausches und gleichzeitigen Rollenwechsels zwischen Ausstellungsmitwirkenden und Publikum „ein Kontinuum ästhetischer, ökonomischer, politischer und sozialer Experimente“ zu entwickeln (Szymczyk, 2017, 22).9Ich gehe hier insbesondere von der Art und Weise aus, mit der sich die documenta 14 ihre Beziehung zum „Publikum“ und dessen Rolle/Funktion in der Ausstellung angelegen sein ließ: „Wir interessieren uns für das Wissen, das unser Publikum mitbringt – und das sich als Werkzeug für weiteres Verstehen begreifen lässt. Statt das Publikum zu infantilisieren und zu quantifizieren, hofft die documenta 14, die Besucher_innen zu wahren Besitzer_innen der documenta zu ermächtigen, wobei ein jeder eine Rolle in dem gemeinsamen Unterfangen spielt, gemeinsam mit den Macher_innen, den Organisator_innen der documenta 14, und neben den Künstler_innen und den anderen Teilnehmer_innen. Nur auf diese Weise kann die documenta 14 danach streben, eine partizipatorische Erfahrung und eine Übung in präsentischer Demokratie (nach lsabell Lorey) zu werden“ (Szymczyk, 2017, 37).

    Vermittelt über Xagoraris‘ Installation, fungierte die deutsch-griechische Symbiose in Görlitz in ihrer spezifischen Eigenart quasi als spielerische Metonymie des Ausstellungskonzepts.

    Deutsch-griechische Beziehungen

    Wiewohl die Ausstellung bei der Inszenierung der verschränkenden Begegnung Athen-Kassel ihre primäre Grundlage nicht im Geschichtlichen erblickte, kam es durch die ausdrücklich gestellte Frage nach den Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland doch eindeutig zur Entstehung historischer Postnarrative: „Wann und wo beginnen die deutsch-griechischen Beziehungen? 1764 in Rom, könnte eine Antwort sein – Ort und Jahr, in dem der deutsche Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) sein bahnbrechendes Werk Geschichte der Kunst des Alterthums veröffentliche“ (Roelstrate, 2017, 469).10Die Ausstellung beschäftigte sich darüber hinaus auch mit einseitigen Rezeptionen neuerer griechischer Kultur, die im Einzelnen zu analysieren es mir hier an Raum fehlt. Wie Theofilos Tramboulis treffend beobachtet, „entwickelte [die Ausstellung] ein Narrativ zeitgenössischer griechischer Kultur, die vom in sich Brüchigen, Unabgeschlossenen, Fließenden, poetisch Gedachten und von dem ausging, was sich in der jüngsten Geschichte an den Rändern offizieller Kulturpflege bewegt hat. Sie wirkte insofern destabilisierend auf die Wahrnehmung des Zeitgenössischen ein, als sie nicht das Schwächere, Geringwertigere untersuchte, sondern die gar nicht wahrgenommenen zersetzenden Kräfte aufzeigte, über die das Stärkere, Höherwertige verfügt. Aus dieser Perspektive gesehen ist die Art und Weise bestimmend und prägend, mit der sie ihr Augenmerk auf bedeutende Gestalten der gegenwärtigen griechischen Kultur wie Jannis Tsarouchis, Ilias Petropoulos, Jannis Christou und Ioannis Despotopoulos lenkte und diese in eine neue, gleichermaßen in Frage stellende wie in Frage zu stellende genealogische Reihenfolge einordnete“ (Tramboulis, 17.07.2017). Innerhalb dieses Rahmens kam es zu einer anders als sonst gelesenen Nationalgeschichte und einem das Archiv nationaler Erinnerung neu ordnenden „Besuch von auswärts“ – beides wäre näherer Untersuchung wert. Als Begründer der Altertumswissenschaften und insbesondere der Kunstgeschichte, als Initiator des Neoklassizismus und „Vater […] des modernen Philhellenismus“ (Roelstraete, 2016)11Dazu auch documenta 14: Winckelmann [2017]. machte sich der in Rom ansässige Altertumsforscher zum Ausgangspunkt vielsträhniger kultureller Prozesse, die in die Ausformung einer idealisierten Sicht auf die Antike als Herkunftsmythos westlicher Kultur mündeten.

    Winckelmanns Kunstgeschichte, aber auch der Idealismus der Jenaer Romantiker mitsamt ihrer „Speerspitze“, der Zeitschrift Athenaeum, wurden als theoretisches Fundament für die Wiederentdeckung der Antike und die Schöpfung des modernen Griechenland wahrgenommen. Das Narrativ, das die Ausstellung entwickelte, beschäftigte sich vor allem mit der dialektischen Spannung zwischen einem aus der Fantasie der Altertumsforscher und dem klassischen Mythos hervorgegangenen Hellas einerseits und einem realen, modernen Griechenland andererseits, das sich zur selben Zeit unter der Herrschaft eines bayerischen Monarchen als erster Nationalstaat aus dem unermesslichen Territorium des Osmanischen Reichs herauslöste. Die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland wurden davon abgesehen als stets über das symbolträchtige Kapitel Antike vermittelt wahrgenommen. Innerhalb des Dreieckgefüges Deutschland – antikes Griechenland – modernes Griechenland legte die Ausstellung den Schwerpunkt ihres Interesses darauf, wie sich Deutschland und (in geringerem Grade) das neue Griechenland das klassische Erbe der griechischen Antike aneigneten, nicht aber auf die direkte Beziehung der beiden Länder zueinander. In diesem Sinne verharrte die Annäherung an das Thema eher beim Gängigen, indem sie sich an die fest etablierten Hierarchien aus west- und zentraleuropäischer Sicht hielt. Dürftige Versuche, die Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen modernem Griechenland und Deutschland zu reflektieren (nicht zufällig wurden sie als deutsch-griechisch charakterisiert), fielen eher enttäuschend aus. Ein Beispiel: Nachdem der niederländische Kurator Dieter Roelstraete in seinem knappgefassten Text im Folio des Readers vorzugsweise Momente der deutschen Rezeption des „klassischen Mythos“ von Winckelmann bis Arnold Bode beleuchtet hat, verkündet er abschließend die Gegenseitigkeit der Beziehungen, indem er sich ganz unpassend auf die Teilnahme von Stephen Antonakos an der documenta 1977 beruft, der als Konzeptkünstler griechischer Abkunft fast ausschließlich in New York gewirkt hat.12„Eine Einbahnstraße war es keine, wie Stephen Antonakos mit seinem Incomplete Neon Square (1977) für die documenta 6 belegt ─ Vorbote einer umfassenderen ‚Rückkehr‘ all der Dinge und Menschen, die im Rahmen der documenta 14 griechisch sind“ (Roelstraete, 2017, 469).

    Diese ungeschickte Bezugnahme auf eine vormalige „griechische“ Mitwirkung an der documenta ist bezeichnend für die Ratlosigkeit, mit der man die so unerwartet auf Griechenland gelegte Emphase der documenta 14 historisch zu legitimieren versuchte.

    Die „Aneignung Athens und Griechenlands als konstitutiver Symbole für die deutsche und westeuropäische Kunst und Kultur“ wurde einer kritischen Betrachtung unterzogen und mit dem „sich im neunzehnten Jahrhundert entwickelnden Nationalismus und Imperialismus“ (beide Zitate: documenta 14: Winckelmann [2017]) sowie daran anknüpfend mit der ideologischen Ausformung des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund wurde die kolonialistische Einfärbung des Verhältnisses Westeuropas und insbesondere Deutschlands zu Griechenland akzentuiert. In der Neuen Galerie, dem so zentral bedeutenden Ausstellungsort Kassels, welcher der Ausstellung als Forum der Erinnerung und des historischen Bewusstseins diente, war das Narrativ deutsch-griechischer kultureller Interaktion in ein dichtes Gewebe weiterer Hegemonie, Unterwerfung und Widerstand thematisierender Narrative eingebettet, die darauf abzielten, die Zusammenhänge zwischen den Zeitaltern der Aufklärung und der kolonialen Expansion Europas eingehender zu untersuchen.13Dies narrative Geflecht ging auch auf die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ein, ebenso auf die Entstehung der Institution documenta vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung der Nachkriegswelt.

    In den Sälen des Obergeschosses lenkte die Ausstellung im Rahmen eines Mosaiks aus historischen Fragmenten, das die mehrfache (Wieder-)Entdeckung und Assimilation Athens belegte, den Blick auch auf die leidenschaftliche Antikenjägerei Lord Elgins, indem sie den Bericht präsentierte, mit welchem der britische Reisende Edward Dodwell als Augenzeuge die Entfernung des Reliefschmucks am Parthenon im Jahre 1801 durch Mitarbeiter des englischen Botschafters an der Hohen Pforte verurteilte. Der entsprechende, als Exponat einsehbare Abschnitt aus Dodwells Werk Classical und Topographical Tour through Greece (1819) ist einer der in der Reiseliteratur äußerst seltenen Berichte darüber, wie heftig die lokale Bevölkerung – ganz gleich, ob Griechen, Türken, Christen oder Muslime – auf die Entfernung der Skulpturen reagierte. Die Präsentation der Zyklen von Hegemonie und Beraubung, deren Narrative die Ausstellung durchzogen, wurden immer wieder von solchen Momenten des Widerstands unterbrochen.14Über dies akzentuierende Vorgehen im kuratorischen Programm s. Latimer/Szymczyk, 2018a, 9– 13. Dieser Athener Fall kolonialistischen Raubs von Kulturgütern korrespondierte mit den gleichfalls auf der Ausstellung gezeigten Bronzen aus Benin, die während der britischen Militärexpedition von 1897 als Beutekunst verschleppt worden waren.15Zur Art der Präsentation insbesondere dieser Exponate s. Vratskidou, 2018a, 9–13. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Dodwells Reisebericht rief der Reiseführer des bayerischen Militärs und satirischen Theaterautors Adolph von Schaden (1791–1840) Der Bayer in Griechenland: ein Handbuch für Alle, welche nach Hellas zu ziehen gedenken (1833) Erinnerungen an mannigfaltige Pläne aus den ersten Jahren der Bayernherrschaft wach, in Griechenland Kolonien zu gründen, und sprach damit die kryptokolonialen Verstrickungen der bayerischen Elite bei der Gründung des griechischen Staats an.16Dazu s. Mitsou, 2009.

    Gleichzeitig wurde das Narrativ der deutsch-griechischen Beziehungen mit spezifisch auf die Achse Athen–Kassel fokussiertem Blick angegangen. Bei der Erkundung des jeweiligen Kulturtransfers und der gemeinsamen Kräfte, die die Umgestaltung der beiden Städte vorantrieben – die Ausstellung setzte hier zwei einander überschneidende Vorgänge in Szene –, erwies sich der Fall des Architekten Leo von Klenze (1784–1864) als emblematisch. Er begann seine Karriere zunächst in Kassel, spielte aber dann aber eine Schlüsselrolle bei der Ausgestaltung des städtebaulichen Konzepts für das moderne Athen, nachdem dieses zur Hauptstadt des neuerrichteten Königreichs Griechenland ausgerufen worden war. Die Wahl der Ausstellungsobjekte verband Kassel und Athen ebenso miteinander wie es sie einander gegenüberstellte: das Kassel und das Athen von Klenze, das Kassel und Athen des Landschaftsmalers Louis Gurlitt (1812–1897) aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und schließlich das Kassel und Athen des Malers, Pädagogen, Ausstellungsmachers und Gründers der documenta Arnold Bode (1900–1977) aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Analog wurde das Aufkommen des Klassizismus anhand der Architektur des Fridericianums verhandelt (Roelstraete, 2017, 469). Mochte diese Form der Annäherung zuweilen etwas beliebig und gezwungen wirken, so brachte die Fokussierung auf die Beziehung Athen–Kassel doch ein transkulturelles historisches Geschehen aufs Tapet, das mit seinem lokalen, sub-nationalen und regionalen Charakter Verallgemeinerungen auf nationaler Ebene ausglich, aber auch der gängigen Hervorhebung der Zentren München und Berlin aus dem Wege ging.

    Geschichte als kuratorische Praxis

    Im Folgenden möchte ich versuchen, ein Segment der Ausstellung in der Neuen Galerie näher in Augenschein zu nehmen, das sich gezielt der Entstehung des deutschen Hellas-Mythos mit J. J. Winckelmann als Protagonisten widmete. Mein Ziel ist hier, die spezifischen Vorgehensweisen zu beschreiben, mit denen Geschichtliches kuratorisch verhandelt wurde. Die hier räumliche Gestalt annehmende Entfaltung des deutsch-griechischen Narrativs konterkarierte, prinzipiell gesehen, die historische Linearität, die die Frage „Wann und wo beginnen die deutsch-griechischen Beziehungen?“ als Ausgangspunkt des Reader-Texts vorgibt (Roelstraete, 2017, 469).

    Abgesehen von den Erstausgaben seiner Werke war Winckelmann auf der Ausstellung mit einem höchst rätselhaften, selten zu sehenden Porträt präsent (Abb. 1). Das im Museum des Warschauer Königsschlosses verwahrte Bild von der Hand eines unbekannten Malers wird auf den Anfang des 19. Jahrhunderts datiert und bietet innerhalb der ansonsten gleichförmigen Ikonographie des preußischen Klassizisten – in der Regel wird er mit allen Kennzeichen eines hochangesehenen Antikekenners wiedergegeben – eine charakteristische Ausnahme. Vermutlich unter Rückgriff auf das bekannte Porträt „Goethe in der Campagna“ von Heinrich Tischbein (1787) zeigt das Werk Winckelmann entsprechend vor einem idealisierenden Landschaftshintergrund, in der Hand ein aufgeschlagenes Buch. Er ist in Begleitung eines Affen, der einen Spiegel mit sich trägt – offenbar eine Bezugnahme auf das der Renaissance entstammende Gedankenbild Ars simia naturae (das als solches allerdings unvereinbar mit Winckelmanns Kunstauffassung ist) – und weiterhin in Begleitung eines gehörnten, bocksfüßigen Dämonen vor dem Eingang eines Bauwerks, der an ein antikes Grab denken lässt. Winckelmann, der „unter Wahrung der Tradition echter Idealisten nie einen Fuß an die Küsten Griechenlands gesetzt hat“ (Roelstraete, 2016), interessierte die Ausstellungskuratoren als Initiator eines idealisierenden Griechenlandbilds. „Sein Griechenland“, so der Kommentar Dieter Roelstraetes, „blieb immer ein Phantasieprodukt“ (Roelstraete, 2017, 469).

    Möglicherweise sollte die Auswahl des Porträts mit seiner dunklen und in gewisser Weise doppeldeutigen Ikonographie diese Dimension hervorheben. An der gegenüberliegenden Wand des Raums hielt eine Reihe von Fotos diverse Konstruktionsphasen der Wege- und Landschaftsgestaltung auf der Akropolis und dem Philopappos-Hügel fest, welches der an der Moderne orientierte Architekt Dimitris Pikionis (1887–1968) entworfen hatte (Abb. 2). Auf diese Weise einander direkt gegenübergestellt, repräsentierten Winckelmann und Pikionis die beiden Schwingungspole zwischen fantasiegetragener bzw. pragmatisch orientierter Aneignung der klassischen Vergangenheit. Indem Pikionis „das einzige städtebauliche Projekt, das jemals an den Hängen rings um die Akropolis Gestalt angenommen hat“ in die Tat umsetzte (documenta 14: Pikionis [2017]), konnte er in Gegensatz zu Winckelmann die Erfahrung größtmöglicher Nähe und schöpferischen Gebens und Nehmens mit den klassischen Monumenten machen.

    Pikionis‘ gestalterischer Eingriff in das Akropolis-Gelände wiederum wurde im selben Saal in dialogischen Bezug zu den rechts neben dem Winckelmann-Porträt ausgestellten „Landschaftstheoretischen Aquarellen“ von Lucius Burckhardt (1925–2003) gesetzt (Abb. 3). Dieser Bezug Pikionis–Burckhardt siedelte im Rahmen jener Logik, von der schon weiter oben die Rede war, nämlich die spezifische Achse Athen–Kassel aufzuzeigen. Burckhardt, der über zwei Jahrzehnte als Soziologe und Landschaftstheoretiker an der Kasseler Kunsthochschule lehrte, war „bei seinen Entwürfen ein Verfechter kleinstmöglicher Eingriffe in die Umwelt“ (Roelstraete, 2017, 489) – ein theoretisches Prinzip, das in Pikionis‘ Intervention auf ideale Weise zur Anwendung kommt: „Letztlich bescheiden und tief am Ort verwurzelt“, so der Begleittext, eine „Architektur, die aus ihrem Kontext lernt“ (documenta 14: Pikionis [2017]).

    Pikionis und Burckhardt stellte man in ihrer Einmütigkeit nicht allein dem Idealisten Winckelmann, sondern auch Leo von Klenze kontrastierend gegenüber. Eingeschoben zwischen die Fotografien der Landschaftspfade von Pikionis einerseits und die Aquarelle Burckhardts andererseits war das Ölgemälde des Architekten Blick auf die Walhalla von 1839 zu sehen (Abb. 4). Die in der Umgebung von Regensburg gelegene Walhalla, eine Gedenkstätte für herausragende Gestalten der deutschen Geschichte, die Klenze als getreuliche Kopie des Parthenon konzipiert hatte, bezeichneten die Aussteller als „seinen pompösesten Zierbau“ (documenta 14: Klenze [2017]) bzw. apostrophierten sie als „die völlig abwegige Kuriosität namens Walhalla“ (Roelstraete, 2016). Mit diesem in unmittelbarer Nachbarschaft zu Pikionis und Burckhardt präsentierten Werk stand Klenze, was sein Eingreifen in die landschaftlichen Gegebenheiten und seinen Umgang mit der Beziehung zwischen Gedenkstätte und umgebendem Raum betraf, als Antipode zu deren Vorgehen da. Für die Errichtung der Walhalla wurde die naturgegebene Donaulandschaft ästhetisch dazu in Anspruch genommen, sie mit Rodungen und neuen Baumanpflanzungen, aber auch mit Eingriffen in die umliegenden Gebäude dem Charakter des Baus anzupassen, so z.B. im Fall der auf den westlichen Ausläufern des Bräubergs gelegenen Salvatorkirche, eines mittelalterlichen Baudenkmals, das im 17. und nochmals Mitte des 18. Jahrhunderts im Barockstil erneuert worden war. Kurz vor der Einweihung der Walhalla im Jahre 1842 versetzte Klenze die Kirche in ihre ursprüngliche, seiner Definition nach „byzantinische“, soll heißen vorgotische Gestalt zurück. So zeigt sie besagtes Ölgemälde Klenzes, das er für seinen Auftraggeber Ludwig von Bayern anfertigte, um die Gesamtheit seiner Eingriffe in die Umgebung des Monuments zu veranschaulichen. Ziel des Architekten war, mit der von ihm selbst erneuerten Salvatorkirche in unmittelbarer Nähe zum antikisierenden Walhalla-Bau die Bewahrung und historische Fortsetzung der Regeln antiker Kunst im (deutschen) Mittelalter augenfällig zu machen.17Dazu s. Loers, 1978, 155–167, Traeger, 1980 und Pfäfflin, 2010.

    Als Klenze 1839 erneut an die Gestaltung des die Walhalla umgebenden Geländes ging, lag seine Griechenlandreise von 1834 bereits hinter ihm, auf der er die Umwandlung der Athener Akropolis aus einer militärischen Festungsanlage in eine schlüssig durchorganisierte archäologische Stätte konzipiert hatte. Der vom neugegründeten Archäologischen Dienst des griechischen Königreichs zügig umgesetzte Plan sah vor, schrittweise alle Überreste der nachklassischen Zeit zu entfernen,18S. dazu die Analyse von Yannis Hamilakis (Hamilakis, 2007, 59–64 und 87–93) und Papageorgiou-Venetas ,1994. was den niederländischen Kurator Roelstraete dazu veranlasste, umgehend daran zu erinnern, dass damit die lange Geschichte des Parthenon als Moschee ein für alle Mal ausgelöscht worden sei. Bei seiner Behandlung der aufeinanderfolgenden Umwidmungen des Monuments hob Roelstraete im Zusammenhang mit dem Wiedererstehen neoklassischer Ästhetik in der Zeit des Nationalsozialismus nicht ohne Ironie hervor, das „der Parthenon einen Großteil der Zeit seines Bestehens eigentlich eine Moschee und kein Denkmal der griechischen Aufklärung war“ (Roelstraete, 2017, 469).

    Diese provokatorische Anmerkung zielte eher darauf ab, die kritische Distanz des kuratorischen Diskurses zur blinden Antike-Verehrung der Deutschen zu unterstreichen, als auf systematische Weise den vielfach hybriden Charakter der griechischen Vergangenheit aufzuzeigen und sich damit eine konsequent transkulturelle und antiessentialistische Annäherung an die Geschichte zu eigen zu machen.19Das Interesse des Kurator*innen-Teams an solchen Formen der Annäherung belegt auch die Einbeziehung von Seiten einer illustrierten Handschrift mit Gedichten des Iraners Amir Khursau Dhilavi (1253–1325) über die Taten Alexanders des Großen, die den makedonischen Feldherrn mit allen Attributen eines persischen Großkönigs abbilden. Sie sind in die entsprechende Bildbeilage des Readers aufgenommen. Die „Landschaftstheoretischen Aquarelle“ von Lucius Burckhardt – Fortsetzung seiner theoretischen Überlegungen mit den Mitteln bildlicher Veranschaulichung – kommentieren auf charmant spielerische Weise die Vielfalt der Konzepte, die unser Verhältnis zum Landschaftlichen konditionieren, insbesondere aber, wie das Genre Landschaftsmalerei unsere Naturwahrnehmung bestimmt. Eines dieser neben Klenzes Walhalla-Ansicht ausgestellten Aquarelle zitiert das Werk The Fighting Temeraire (1838) des englischen Malers William Turner (1775–1851), das genau zur selben Zeit wie das Ölgemälde des deutschen Architekten entstanden ist. Turner bildet das legendäre Kriegsschiff Temeraire, das die Briten wegen seines herausragenden Einsatzes bei der Seeschlacht von Trafalgar 1805 gegen die Franzosen besonders in ihr Herz geschlossen hatten, in dem Augenblick ab, als es von einem kleinen Dampfschiff zum Abwracken transportiert wird – ein Symbol für die rasanten Veränderungen, die das aufkommende Industriezeitalter nach sich zog. Auf vergleichbarer Weise zeigt Burckhardts Aquarell, wie ein antikisierendes Rundtempelchen samt Zypresse „entsorgt“ wird: Es taugt nicht mehr dazu, den symbolischen Anforderungen des sich gleichermaßen rasant entwickelnden postindustriellen Zeitalters zu entsprechen. Burckhardts kritischer, gegen ein beharrliches Festhalten an klassischer Vergangenheit abzielender Blick kommt hier in erster Linie als Kommentar gegen die gleich daneben hängende Walhalla Klenzes mit ihrer spektakulären Wiedererstehung des Parthenon an den Ufern der Donau zum Einsatz. Dabei gilt es, nicht zu übersehen, dass sich die kritisch-analytische Absicht des kuratorischen Diskurses nicht allein darin erschöpft, die gegensätzlichen, den Bedeutungsgehalt der Werke betreffenden Spannungen zu behandeln, sondern auch die verwendeten Ausdrucksmittel (Ölmalerei vs. Aquarellmalerei) und deren jeweilige Materialität absichtsvoll einander gegenüberstellt.

    So wird erkennbar, wie die Durchsichtigkeit, die Leichtigkeit und der satirische Ton von Burckhardts Aquarell geradezu unterminierend auf die opake Farbgebung und dräuende Monumentalität des Klenzeschen Ölgemäldes wirkt, das sich mit seinem Oberflächenglanz so unzugänglich gebärdet. Diese indirekte, über die Verbindung des Burckhardtschen Aquarells mit Klenzes Walhalla-Ansicht verlaufende Bezugnahme auf Turner ruft eine zweite Arbeit des englischen Malers ins Gedächtnis, die die Einweihung des Denkmals im Jahre 1842 zum Thema hat (The Opening oft the Walhalla, 1843, London, Tate Britain). Turner behandelt dort die Beziehung zwischen dem Monument und seiner landschaftlichen Umgebung vollkommen anders als sein deutscher Malerkollege, indem er kompositorisch anstelle der Präponderanz des Bauwerks, wie sie Klenze vorschwebte, auf eine Osmose zwischen Denkmal und umgebender Natur abzielt. Auch hier scheint das Vorgehen der Kurator*innen auf konträr-antithetische Berührungspunkte zwischen den Ausstellungsobjekten (bzw. auf Elemente, die diese assoziativ auslösen) ausgerichtet zu sein, auf denen Kritik dann aufbauen kann. Wenngleich auf der Ausstellung selbst nicht präsent, hat Roelstraete das Werk Turners in die Illustrationen seines Essays „Ein fester Wald“ aufgenommen (Roelstraete, 2016), welcher diesen Teil der Ausstellung dezent apostrophiert. Das Beispiel ist typisch für die Art und Weise, mit der die Exponate nicht allein innerhalb der Ausstellung den Dialog miteinander aufnehmen, sondern ebenso über die Texte, die die kuratorische Arbeit innerhalb des multimedialen Gefüges ergänzen, das die Ausstellung geschaffen hat.

    An der letzten Wand des Raums rahmten Winckelmanns Porträt Zeugnisse aus jüngerer Zeit, die noch einmal für „Besucher eines aus deutscher Fantasie und Sehnsucht geborenen Griechenlands“ stehen (Roelstraete, 2017, 469). Gezeigt wurden Zeichnungen archaischer Kouroi aus dem Archäologischen Museum Athen von der Hand Arnold Bodes, dazu eine Skizze der Akropolis von Theodor Heuss (1884–1963), erstem Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland (Abb. 5). Zugleich wurde Bode zum „Gründungsvater der documenta (und deshalb auch, mit Werner Haftmann, der deutschen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit)“ erhoben (Roelstraete, 2017, 469), ein Hinweis, der die räumliche Nachbarschaft zu seinem Vorgänger Winckelmann als „Vater der Kunstgeschichte“ plausibel werden ließ. Wie der Wandtext informierte, entstand die auf das Jahr 1931 datierte Skizze von Theodor Heuss während seiner ersten Griechenlandreise als „Teilnehmer einer Tagung geistesverwandter demokratischer Aktivist_innen und liberaler Politiker_innen“ (documenta 14: Heuss [2017]). Gleichzeitig ließ der Text einen zweiten historischen Augenblick aufleben: die Athenreise des Bundespräsidenten von 1956, als er in programmatischer Absicht Griechenland zum ersten Ziel seiner offiziellen Staatsbesuche bestimmte. Die Zeichnung von Heuss begleitete ein Jugendporträt, das Albert Weisgerber (1878–1915) von ihm geschaffen hatte. Weisgerbers Werke wurden während der nationalsozialistischen Zeit als entartet gebrandmarkt, beschlagnahmt und öffentlich versteigert – ein Vorgang, in den auch der offizielle Kunsthändler des Naziregimes Hildebrand Gurlitt (1895–1956) involviert war. Gurlitt ist einer der Protagonisten des Ausstellungsnarrativs der Neuen Galerie,20S. dazu Vratskidou, 2018a, 1–7. das wenige Ausstellungsräume weiter diese illegale Vermarktung anhand der Befunde des Kunstforschungsprojekts von Maria Eichhorn (Rose Valland-Institut, 2017) belegt.

    Durch die Zeugnisse ihrer Athenbesuche fungierten Bode und Heuss als Mittler, die zwei Ausstellungsnarrative miteinander verknüpft haben: zum einen das Narrativ von der (Wieder-)Entdeckung des antiken wie modernen Griechenlands, zum anderen das Narrativ von der Neuformierung Deutschlands seit dem Sturz des Nationalsozialismus, insbesondere seit der Rückkehr und Neuerstehung moderner Kunst nach dem katastrophalen, von der Politik des Dritten Reichs bewirkten Bruch. Zum Erfolg dieses Unterfangens trugen sowohl die planvolle von Heuss entwickelte Kulturpolitik als auch Bodes engagiertes Handeln bei der Gründung der documenta entscheidend bei.21Zur konstitutiven Programmatik der Institution s. vor allem Grasskamp, 1989, Grasskamp, 2017 und Wallace, 2011. Auf diese Weise verflochten sich in den Sälen der Neuen Galerie mit Arnold Bode und Dimitris Pikionis als jeweiligen Protagonisten die Neuerstehung Nachkriegsdeutschlands und seine Wiederaneignung der historischen Moderne unmittelbar mit der Wiedergeburt Griechenlands und seinem spezifischem Umgang mit der antiken Vergangenheit.

    Der Entstehungsgeschichte der documenta war der Nachbarraum gewidmet, dessen eine tragende Wand auf der Rückseite die Zeichnungen von Bode und Heuss gezeigt hatte. Vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Bündnisse während des Kalten Kriegs untersuchte diese Ausstellungseinheit die politischen und kulturellen Kontexte in Kassel vor, aber auch nach dem Krieg. Eine Reihe von Plakaten zum Thema Marshall-Plan verwies auf den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Europas, insbesondere Deutschlands im Rahmen der amerikanischen Wirtschaftshilfe. Das Archivmaterial in der Mitte des Raums dokumentierte politische Transformationen bzw. Revisionsprozesse wie z.B. das Godesberger Programm der Sozialdemokraten von 1959, die Einführung der D-Mark betreffende Wirtschaftsunterlagen und das vornehmlich für Deutschland günstige Londoner Abkommen von 1953 über die deutschen Auslandsschulden. Das Ganze rekonstruierte eine historische Konstellation, in der nicht Griechenland, sondern Deutschland der große Schuldner des europäischen Kontinents gewesen war. Das Interesse an den deutsch-griechischen Verflechtungen im Rahmen dieser internationalen Nachkriegsgegebenheiten unterstrich der Verweis auf die Tätigkeit von Vermittlern wie die des Ökonomen Edward Tenenbaum (1921–1975), der im Zuge der nordamerikanischen Intervention der 1950er Jahre in den Wiederaufbau der Wirtschaft Westdeutschlands ebenso wie in den Griechenlands eingebunden war.22Über Edward A. Tenenbaum, einen der beiden Autoren des hier ausgestellten Buchenwald Reports von 1945, ist im Begleittext bezeichnenderweise Folgendes zu lesen: „Im April 1945 betrat Edward A. Tenenbaum, ein junger Wirtschaftswissenschaftler polnisch-jüdischer Herkunft, als erster nicht kriegsgefangener Soldat der Alliierten das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Seine Eindrücke und Erlebnisse hielt er im achtzehnseitigen Buchenwald Report fest. Nach dem Krieg arbeitete Tenenbaum als Wirtschafts- und Finanzberater von Lucius D. Clay, dem Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in  Deutschland. Tenenbaum war maßgeblich für die Planung der Währungsreform von 1948 verantwortlich, die während einer siebenwöchigen Klausur in der Kaserne Rothwesten bei Kassel ausgebrütet und mit der Ausgabe der neuen D-Mark vollzogen wurde. Von 1952 bis 1954 war Tenenbaum als Berater der griechischen Regierung unter Feldmarschall Alexandros Papagos tätig“ (Ausstellungstext, Fotoarchiv Eleonora Vratskidou). Zu Tenenbaums Wirken in Griechenland s. Psalidopoulos, 2013.

    Die eben in Augenschein genommene Abteilung der Neuen Galerie war mit ihrer multimedialen Konstellation aus Bildern, Gegenständen, Textabschnitten und Archivmaterial bestrebt, diverse Aspekte der Geschichte griechisch-deutscher Beziehungen greifbar werden zu lassen. Fernab der textlichen Ausgestaltungen eines historiographischen Diskurses, der sich auf Kausalzusammenhänge, temporale Bezugnahmen oder Konstrukte von Kontinuität stützte, fungierte diese räumlich kuratierte Erstellung von Narrativen auf der Basis beziehungsreicher Zusammenhänge, die sich assoziativ (häufig womöglich auch spontan) zwischen den Exponaten entwickelten und dabei ein großes Ganzes aus Widerhall und Spiegelung schufen. Diese oft antiphonischem Wechselgesang gleichenden Verschränkungen unterlagen keineswegs dem Reglement der Chronologie: Vielmehr brachten die Exponate und kuratorischen Maßnahmen (übrigens ausschließlich als maskulin dominiertes Narrativ) mit einem Klenze, der Pikionis entgegentritt, und einem Arnold Bode, der mit Winckelmann dialogisiert, vielerlei Zeithorizonte zugleich zu sichtbarer Wirkung. Auch wenn das kuratorische Vorgehen sich nicht nennenswert vom Stil einer traditionellen Museumspräsentation entfernte und sich dabei eine Ästhetik aneignete, die der Ästhetik des sogenannten „white cube“ nahekam, wurden die einfarbigen Wände der Neuen Galerie nicht in der Absicht genutzt, eine Betrachtung der Werke als autonome und isolierte Einheiten zu gewährleisten. Im Gegenteil: die Ausstellungsobjekte gewannen Sinn und Bedeutung erst durch die reziproke Wirkung ihrer Nachbarschaft zueinander, mit der sie verschiedene narrative und ästhetische Stränge zu einer Synthese verwoben, die Raum für vielerlei Möglichkeiten der Rezeption bot. Die Auswahl der Exponate trug nicht unbedingt neues Material fürs historische Archiv bei: Vielmehr ging es darum, das Vorhandene auf neuartige Weise zu verarbeiten und stellenweise daranzugehen, Elemente, die bislang noch nicht miteinander in Verbindung gebracht worden waren, als erstmalige Erfahrung gemeinsam an bestimmten Themenachsen anzusiedeln. Trotz des strukturellen Schwachpunkts einer nur einseitigen Beschäftigung mit den griechisch-deutschen Beziehungen (eine Folge des Vorrangs, der der Sicht aus deutscher Perspektive eingeräumt worden war) ist doch z.B. die Gegenüberstellung Dimitris Pikionis – Arnold Bode als Repräsentanten lokal-regionaler Modernismen etwas sehr Bemerkenswertes, das näherer vergleichender Betrachtung zu unterziehen sich verlohnte. Wenn Gastfreundschaft das von der Ausstellung geförderte Modell gegenseitiger kultureller Durchdringung gewesen ist, dann hat dieses Ausstellungsprinzip ein vielfältiges Gefüge aus Gegensatz und Bezugnahme entstehen lassen, das als räumlich entfaltetes Pendant zu einer Verflechtungsgeschichte gelesen werden kann, die auf der Fähigkeit und Bereitschaft zum Dialog, auf stetem Wandel der Maßstäbe und auf der Verschränkung von Narrativen beruht – und die sich auf vielen Zeitebenen zugleich bewegt.

    Zusammenfassung

    Der Essay bietet eine mikrohistorisch dimensionierte Annäherung an die Ausstellung zeitgenössischer Kunst documenta 14 in Athen und Kassel. Als Ausgangspunkt wählt der Text dafür in der Ausstellung etablierte Narrative deutsch-griechischer Verflechtungen und analysiert die kuratorischen und diskursiven Maßnahmen, mit denen sich die Wahl Athens als ein dem traditionellen Ausstellungssitz Kassel ebenbürtiger Veranstaltungsort begründen ließ. Den Begriff der Gastfreundschaft, den die Ausstellung angesichts des unerwarteten Zusammengehens der beiden Städte ausgearbeitet hatte, wird hier als Modell kultureller Verflechtungen interpretiert. Aus diesem Blickwinkel heraus wird die Präsentation der Sammlung des Nationalmuseums für Zeitgenössische Kunst Athen im Fridericianum Kassel, aber auch die Installation The Welcoming Gate (2017) von Zafos Xagoraris untersucht, der die sehr eigentümliche Konstellation von Kriegsgefangenschaft und Gastfreundschaft zugleich in den Vordergrund rückte, die etwa 7.000 griechische Soldaten während des Ersten Weltkriegs in Görlitz erlebten.

    Im zweiten Teil des Essays wird die Art und Weise untersucht, mit der die Ausstellung an die Geschichte der deutsch-griechischen Beziehungen herangegangen ist. Das Narrativ, das die documenta 14 entwickelte, zeigte die kolonialistisch eingefärbte Prägung auf, mit der seit Mitte des 18. Jahrhunderts Deutschland (und Westeuropa generell) in Verbindung mit dem antiken und auch modernen Griechenland trat. Dabei räumte die Ausstellung der deutschen bzw. westeuropäischen Perspektive den Vorrang ein und behielt damit a priori die Asymmetrien und hierarchischen Setzungen einer einseitigen Annäherung bei. Gleichzeitig wurde die Darstellung der deutsch-griechischen Verflechtungen bewusst der Achse Kassel–Athen angepasst und damit eine lokale, subnationale und regionale kulturgeschichtliche Sicht in Vorschlag gebracht, welche die üblicherweise auf die Zentren München und Berlin gelegte Emphase umakzentuierte. Indemeine Sektion der Ausstellung in der Neuen Galerie genauerer Betrachtung unterzogen wurde, wurden schließlich die spezifischen Modalitäten analysiert, mit denen die geschichtlichen Gegebenheiten kuratorisch aufgearbeitet worden sind. Die Erschaffung sich räumlich konkretisierender Narrative, mit denen Bilder, Textausschnitte und Archivmaterial zueinander in Bezug gesetzt wurden, vollzog sich auf der Basis von Konnektionen, die sich nicht zu kausalen und zeitlich-historischen Zusammenhängen fügten, sondern sich assoziativ zwischen den Exponaten ergaben und mehrere Zeithorizonte zugleich eröffneten. Diese Mechanik setzte eine Verflechtungsgeschichte in Szene, die sich am Wandel der Maßstäbe orientierte, auf freier narrativer Verknüpfung aufbaute und sich auf eine Vielzahl zeitlicher Bezugnahmen stützte.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Joachim Winkler

    Einzelnachweise

    • 1
      Als Antwort auf die Forderung, den westlichen Kanon kritisch neu zu verhandeln und sich aus der bevormundenden Umklammerung der Kunstzentren Westeuropas zu lösen, hatten frühere documenta-Ausstellungen – den Anfang machte die documenta 11 (2002) unter Leitung von Okwui Enwezor – mit einer Überschreitung der althergebrachten geographischen Grenzen experimentiert und Aktionen, Manifestationsplattformen bzw. Ausstellungsorte in Städten wie Neu Delhi, Lagos oder dem damals vom Krieg betroffenen Kabul miteinbezogen (entsprechend s. Gardner/Green, 2017). Die Ausstellung in diese Genealogie (vornehmlich außereuropäischer) Dezentralisation einzubinden, hatte Adam Szymczyk für die documenta 14 im Zusammenhang mit deren Verlegung nach Athen gefordert (s. Szymczyk, 2017, 27).
    • 2
      Dieses Korpus reichte von buddhistischer Plastik des 2. Jahrhunderts bis hin zu Malerei aus Albanien der Vor- und Nachkriegszeit. Die betreffende Website verzeichnet Werke von 104 nicht mehr lebenden Künstlerinnen und Künstlern, die nicht mehr am Leben sind: https://www.documenta14.de/gr/public-exhibition/#artists.
    • 3
      Als Beispiel sei hier die langfristige bzw. permanente Etablierung führender Mitglieder des kuratorischen Teams in Athen angeführt – im Gegensatz zu Ausstellungsmacher*innen und Kurator*innen, die häufig nur fallweise in Beziehung zu den Ausstellungsorten standen, an die man sie jeweils berufen hatte.
    • 4
      Siehe dazu den umfangreichen Abschnitt aus dem Werk De l’hospitalité (1997) von Jacques Derrida und Anne Dufourmantelle, den der Reader, der die Ausstellung mit seiner Zusammenstellung theoretischer Reflexion maßgeblich begleitete, als abschließenden Beitrag aufgenommen hatte.
    • 5
      Wie Adam Szymczyk und die Chefredakteurin der Publikationen Quinn Latimer in einer ihrer ersten Bezugnahmen zum kuratorischen Programm hervorgehoben haben: „Die Idee zu einer documenta 14 an zwei Orten, (auf)geteilt zwischen Athen, wo sie als Gast aufgenommen wird, und Kassel, ihrer Geburts- und Heimatstätte seit der Gründung der Ausstellung 1955, entstand aus dem Misstrauen gegenüber allen essenzialisierenden und reduzierenden Konzepten von Identität, Zugehörigkeit, Wurzeln und Eigentum in einer Welt, die sichtlich aus den Fugen geraten ist.“ (Latimer/Szymczyk, 2015)
    • 6
      Zur Behandlung der Geschichte des Baus im diskursiven Konzept der documenta 14 s. Latimer, 2015.
    • 7
      Zur offiziellen Haltung der documenta 14 bezüglich der konkreten Zusammenarbeit s. Koskina/Szymczyk, 2017.
    • 8
      s. Genette, 1987.
    • 9
      Ich gehe hier insbesondere von der Art und Weise aus, mit der sich die documenta 14 ihre Beziehung zum „Publikum“ und dessen Rolle/Funktion in der Ausstellung angelegen sein ließ: „Wir interessieren uns für das Wissen, das unser Publikum mitbringt – und das sich als Werkzeug für weiteres Verstehen begreifen lässt. Statt das Publikum zu infantilisieren und zu quantifizieren, hofft die documenta 14, die Besucher_innen zu wahren Besitzer_innen der documenta zu ermächtigen, wobei ein jeder eine Rolle in dem gemeinsamen Unterfangen spielt, gemeinsam mit den Macher_innen, den Organisator_innen der documenta 14, und neben den Künstler_innen und den anderen Teilnehmer_innen. Nur auf diese Weise kann die documenta 14 danach streben, eine partizipatorische Erfahrung und eine Übung in präsentischer Demokratie (nach lsabell Lorey) zu werden“ (Szymczyk, 2017, 37).
    • 10
      Die Ausstellung beschäftigte sich darüber hinaus auch mit einseitigen Rezeptionen neuerer griechischer Kultur, die im Einzelnen zu analysieren es mir hier an Raum fehlt. Wie Theofilos Tramboulis treffend beobachtet, „entwickelte [die Ausstellung] ein Narrativ zeitgenössischer griechischer Kultur, die vom in sich Brüchigen, Unabgeschlossenen, Fließenden, poetisch Gedachten und von dem ausging, was sich in der jüngsten Geschichte an den Rändern offizieller Kulturpflege bewegt hat. Sie wirkte insofern destabilisierend auf die Wahrnehmung des Zeitgenössischen ein, als sie nicht das Schwächere, Geringwertigere untersuchte, sondern die gar nicht wahrgenommenen zersetzenden Kräfte aufzeigte, über die das Stärkere, Höherwertige verfügt. Aus dieser Perspektive gesehen ist die Art und Weise bestimmend und prägend, mit der sie ihr Augenmerk auf bedeutende Gestalten der gegenwärtigen griechischen Kultur wie Jannis Tsarouchis, Ilias Petropoulos, Jannis Christou und Ioannis Despotopoulos lenkte und diese in eine neue, gleichermaßen in Frage stellende wie in Frage zu stellende genealogische Reihenfolge einordnete“ (Tramboulis, 17.07.2017). Innerhalb dieses Rahmens kam es zu einer anders als sonst gelesenen Nationalgeschichte und einem das Archiv nationaler Erinnerung neu ordnenden „Besuch von auswärts“ – beides wäre näherer Untersuchung wert.
    • 11
      Dazu auch documenta 14: Winckelmann [2017].
    • 12
      „Eine Einbahnstraße war es keine, wie Stephen Antonakos mit seinem Incomplete Neon Square (1977) für die documenta 6 belegt ─ Vorbote einer umfassenderen ‚Rückkehr‘ all der Dinge und Menschen, die im Rahmen der documenta 14 griechisch sind“ (Roelstraete, 2017, 469).
    • 13
      Dies narrative Geflecht ging auch auf die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ein, ebenso auf die Entstehung der Institution documenta vor dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung der Nachkriegswelt.
    • 14
      Über dies akzentuierende Vorgehen im kuratorischen Programm s. Latimer/Szymczyk, 2018a, 9– 13.
    • 15
      Zur Art der Präsentation insbesondere dieser Exponate s. Vratskidou, 2018a, 9–13.
    • 16
      Dazu s. Mitsou, 2009.
    • 17
      Dazu s. Loers, 1978, 155–167, Traeger, 1980 und Pfäfflin, 2010.
    • 18
      S. dazu die Analyse von Yannis Hamilakis (Hamilakis, 2007, 59–64 und 87–93) und Papageorgiou-Venetas ,1994.
    • 19
      Das Interesse des Kurator*innen-Teams an solchen Formen der Annäherung belegt auch die Einbeziehung von Seiten einer illustrierten Handschrift mit Gedichten des Iraners Amir Khursau Dhilavi (1253–1325) über die Taten Alexanders des Großen, die den makedonischen Feldherrn mit allen Attributen eines persischen Großkönigs abbilden. Sie sind in die entsprechende Bildbeilage des Readers aufgenommen.
    • 20
      S. dazu Vratskidou, 2018a, 1–7.
    • 21
      Zur konstitutiven Programmatik der Institution s. vor allem Grasskamp, 1989, Grasskamp, 2017 und Wallace, 2011.
    • 22
      Über Edward A. Tenenbaum, einen der beiden Autoren des hier ausgestellten Buchenwald Reports von 1945, ist im Begleittext bezeichnenderweise Folgendes zu lesen: „Im April 1945 betrat Edward A. Tenenbaum, ein junger Wirtschaftswissenschaftler polnisch-jüdischer Herkunft, als erster nicht kriegsgefangener Soldat der Alliierten das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Seine Eindrücke und Erlebnisse hielt er im achtzehnseitigen Buchenwald Report fest. Nach dem Krieg arbeitete Tenenbaum als Wirtschafts- und Finanzberater von Lucius D. Clay, dem Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in  Deutschland. Tenenbaum war maßgeblich für die Planung der Währungsreform von 1948 verantwortlich, die während einer siebenwöchigen Klausur in der Kaserne Rothwesten bei Kassel ausgebrütet und mit der Ausgabe der neuen D-Mark vollzogen wurde. Von 1952 bis 1954 war Tenenbaum als Berater der griechischen Regierung unter Feldmarschall Alexandros Papagos tätig“ (Ausstellungstext, Fotoarchiv Eleonora Vratskidou). Zu Tenenbaums Wirken in Griechenland s. Psalidopoulos, 2013.

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Eleonora Vratskidou: « Narrative deutsch-griechischer Verflechtungen auf der documenta 14», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 07.09.20, URI : https://comdeg.eu/essay/97490/.