1. Einleitend: Vorbehalte im Überblick
Heideggers Philhellenismus galt nicht so sehr den Hellenen selbst, sondern seiner eigenen philosophischen Idee eines Griechentums. Diese Idee war keinesfalls imaginär oder fiktiv; wohl aber unterlag sie gewissen Bedingungen, die durch sein eigenes Denken gesetzt und dieser Idee anschließend auferlegt wurden. Diese Idee, die von einer Vorliebe für das archaische Griechentum und insbesondere für die vorsokratische Philosophie bestimmt war, wurde selektiv durch bestimmte Griechen verkörpert – insbesondere Parmenides und Heraklit. Heidegger verschreibt sich somit der Tradition eines spezifisch „deutschen Philhellenismus“, der einen „welthistorischen Vorrang“ der alten Griechen als selbstverständlich voraussetzt und im Anschluss an Nietzsche sich als eine „Sehnsucht nach Ursprüngen“ kundgibt (Most, 2002, 122).
Heideggers Philosophie entwickelte sich in ihrer Ganzheit als eine stetige Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Trotz einer gewissen Öffnung für ostasiatische Denkformen in seiner Spätphase blieb Philosophie für ihn dabei stets ein westliches Anliegen; ein Ausdruck wie „abendländische Philosophie“ wäre somit im Grunde tautologisch: „Die oft gehörte Redeweise von der ‚abendländisch-europäischen Philosophie‘ ist in Wahrheit eine Tautologie. Warum? Weil die ‚Philosophie‘ in ihrem Wesen griechisch ist“ (GA 11, 9-10).1Heideggers Texte werden in diesem Essay nach der einschlägigen Werkausgabe zitiert: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt a. M., Klostermann, 1975–. Dafür wird im Folgenden die Sigle GA verwendet. Griechische Philosophie wurde bei ihm somit zum Gegenstand einer langwierigen und voraussetzungsreichen Auseinandersetzung, die aber immer wieder mit dem Vorwurf der interpretatorischen Gewalt konfrontiert wurde und in den letzten Jahrzehnten viel Widerspruch erntete. Ein ausgewiesener Philosophiehistoriker wie Jonathan Barnes warnte etwa, dass, wenn Heidegger sich mit der antiken Philosophie beschäftigt, „seine Argumentation nichts als reine Fantasie“ sei; „seine Fehler sind weder interessant noch fruchtbar“, und in seinen Interpretationen „gibt es Verwirrungen; es gibt häufige Fehler; es gibt nichts Interessantes“ (Barnes, 1990, 189-190). Barnes räumte dabei ein, dass er nicht mehr als „um die hundert Seiten“ von Heideggers Werken (ebd., 173) gelesen hatte.
Etwas mehr aus diesen Werken, die sich in der Gesamtausgabe inzwischen auf mehr als 100 Bände erstrecken, hat ein ausgewiesener Kenner der antiken Philosophie wie Werner Beierwaltes gelesen, dem wir die gründlichste, strengste und am besten dokumentierte Kritik verdanken, die je auf die Bedingungen und Methoden von „Heideggers Rückgang zu den Griechen“ (1995) ausgeübt wurde. In einem so betitelten Text identifizierte Beierwaltes (2011, 354-363; vgl. auch Iber, 2003, 238) die Kernpunkte, die diese Rückkehr methodologisch oft so problematisch erscheinen lassen: (1) Heidegger glaubt, dass die semantische Entwicklung und Transformation von Wörtern und Begriffen ihren „ursprünglichen“ Sinngehalt verdecke, und er begibt sich auf dessen Suche in den anfänglichen Bedeutungen, die in Wörterbüchern seiner Zeit angegeben werden.2Beierwaltes nennt das damals wohl schon veraltete Griechisch-Deutsche Handwörterbuch von W. Pape als Heideggers wichtigstes Hilfsmittel: Griechisch-Deutsches Wörterbuch (Braunschweig 1843, 31914). (2) Ausgehend von dieser „ursprünglichen“ Bedeutung, begibt sich dann Heidegger oft auf eine Reihe freier Assoziationen innerhalb der deutschen Sprache, die das semantische Feld des Wortes verwirren, indem sie eine versteckte, aber maßgebliche Beziehung zwischen den „ursprünglichen“ deutschen und griechischen Bedeutungen unterstellen. (3) Die grammatikalischen und syntaktischen Regeln der griechischen Sprache werden mittels einer parataktischen Übersetzung und Interpretation der alten Texte untergraben. (4) Heideggers Wiedergabe dieser Passagen als Reihen von vereinzelten, verbindungslosen Wörtern indiziert eine latente „Phobie vor Syntax“ (Beierwaltes, 2011, 362); auf alle Fälle fördert dies Heideggers allgemeine Strategie der „Verfremdung“, die sich vor allem in seiner Übersetzungspraxis kundtut. (5) Seine Übersetzungen scheinen komplizierter und undurchdringlicher als die griechischen Originale und erwecken oft den Eindruck, dass sie das Verständnis des Lesers eher hindern als erleichtern möchten; und diese Verfremdung lässt eine „Abschreckung“ des Lesers entstehen, die „durch archaisierende Gebärde vielleicht als besondere Tiefe erscheinen möchte“ (ebd., 362). (6) Die interpretative Strategie dieses Versuches eines „Rückgangs zu den Griechen“ mündet somit letztlich nicht bloß in eine „Korrektur“ (ebd., 349) der Exzesse des westlichen ‚Logozentrismus‘, sondern in eine Umgehung der neuzeitlichen Rationalität in toto.
Angesichts dieser vernichtenden Kritik wird wohl die Frage danach unvermeidlich, warum wir uns mit Heideggers Interpretationen auseinandersetzen sollen. Zu den obigen Vorbehalten könnte man nämlich noch weitere hinzuzufügen – etwa die von Michael Theunissen, der beispielsweise Heideggers „Graecomanie“ (2001, 90) diagnostiziert und feststellt, dass Heideggers Rezeption der griechischen Antike auf der einen Seite durch ein „Ideal der Verfremdung“ (ebd., 88) geleitet werde, während sie auf der anderen Seite eine „Nivellierungstendenz“ (Theunissen, 2000, 936) ihres Gegenstands zum Ausdruck bringe. Allerdings wird Theunissen Heideggers „befreiende“ interpretative Erschließung einiger Schlüsselbegriffe der antiken Philosophie (ἀλήθεια, λόγος, φύσις) als wichtigen Beitrag anerkennen und ebenso den Versuch einer umfassenden Emanzipation der antiken Philosophie „von ihrer Überformung durch neuzeitlichen Idealismus“ (2001, 91). Otto Pöggeler, der wohl zu den Sympathisanten des Philosophen aus Freiburg gezählt werden kann, musste seinerseits zugeben, dass er „Heideggers Interpretationen historisch-philologisch für unhaltbar halte“; was sie uns anbieten seien nur „Anstöße“, deren Verwertung voraussetze, dass der Leser dieser Interpretationen schon zuvor seine eigene Auslegung aufgebaut habe (Pöggeler, 1982, 56).
Diese „Anstöße“ sind allerdings weder quantitativ noch qualitativ unbedeutend; sie finden sich reichlich in allen drei Perioden der philosophischen Entwicklung Heideggers. Die erste kreist um das Anliegen der „Destruktion“ der philosophischen Tradition. Die zweite widmet sich dem Projekt einer „Fundamentalontologie“ und befruchtet den imponierenden, aber unvollendet gebliebenen Torso von Sein und Zeit (1927); die dritte, auf seine berühmte „Kehre“ folgend, verschreibt sich dem Denken der „Seynsgeschichte“. In diesen drei Perioden lässt sich seine Auseinandersetzung mit griechischer Philosophie verschiedenartig herausarbeiten und akzentuieren.
2. „Destruktion“ (1919-24): Zurück zu Aristoteles
Trotz der Beteuerung des späten Heidegger, seine philosophische Laufbahn sei durch Franz Brentanos Buch Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles3Brentano (1862). Heideggers Hinweis findet sich in seinem Text „Mein Weg in die Phänomenologie” (GA 14, 93). geformt und gleichsam ontologisch und aristotelisch prädestiniert, müssen wir inzwischen (in Anbetracht der mittlerweile abgeschlossenen Publikation aller Vorlesungen dieser Frühperiode) feststellen, dass diese Selbstbeschreibung irreführend ist. Ganz im Gegenteil: Seine ersten Schritte waren von einer religiös gefärbten Suche nach einem authentischen „Leben“ inspiriert und suchten einen phänomenologischen Zugang zu einer religiösen Originalität, wie sie in den Gemeinden des frühen Christentums gelebt wurde. Schon in seiner allerersten Freiburger Vorlesung (1919) sah Heidegger es als seine zentrale Intention an, den „Primat“ bzw. die „Generalherrschaft des Theoretischen“ in der Philosophie zurückzuweisen (GA 56/57, 84-94) und die Philosophie an das Leben zurückzubinden. Noch im Jahr 1920 betrachtete er die griechische philosophische Tradition als Hindernis auf dem „Weg zu einer ursprünglichen christlichen –griechentumfreien– Theologie“ (GA 59, 91). Erst gegen Ende 1921 wird sich Heidegger Aristoteles zuwenden und bei ihm das suchen, was das religiöse Phänomen nicht zu leisten vermochte: die Klärung und Bestimmung einer authentischen Philosophie.
Die zentrale Stellung des Aristoteles zeigt sich vor allem in einem als ‚Natorp-Bericht‘ berühmt gewordenen, bis 1989 als verschollen geltenden Typoskript aus dem Jahre 1922 mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (GA 62, 343-415). Die von Heidegger „Dasein“ genannte menschliche Existenz wird hier von einer „Verfallstendenz“ beherrscht, die ihre Entsprechung in einer Verfallstendenz der Philosophie selbst habe – wenn etwa Letztere die Tradition unkritisch aufnehme und verwalte oder sich auf eine sterile akademische Tätigkeit beschränke. Die Destruktion soll also gegen diesen doppelten Verfall eingesetzt werden; sie will keine Austilgung tradierter Philosopheme bewerkstelligen, sondern ein methodisch geleitetes, in die Vergangenheit gerichtetes Abschreiten der Tradition initiieren, um so an historische Situationen zu gelangen, wo eine philosophische Begrifflichkeit in engstem Zusammenhang mit jenem Leben steht, das sie beschreiben soll. Als eindeutiges Endziel dieses positiv zu verstehenden ‚destruktiven‘ Verfahrens erweist sich nun die Philosophie des Aristoteles, die als „Vollendung und konkrete Ausformung der vorangegangenen“ griechischen Philosophie (GA 62, 371) immer noch unser Leben und unsere eigene philosophische Begrifflichkeit maßgeblich bestimme.
Heideggers Beschäftigung mit Aristoteles lässt sich an einer langen Reihe von Schriften und Vorlesungen dokumentieren und umfasst alle wichtigen Aspekte der Philosophie des Stagiriten. Im Natorp-Bericht erkennt man eine Emphase auf das Verhältnis zwischen den „dianoetischen Tugenden“ der theoretisch ausgerichteten sophia und der praktisch ausgerichteten phronesis. In und hinter beiden sucht Heidegger nach einer Bestimmung von Wahrheit, die nicht abstrakt bzw. vorwiegend theoretisch bleibt. Von eminenter Bedeutung für seine eigene philosophische Entwicklung sind zwei weitere Marburger Vorlesungen. Die erste (Sommersemester 1924) trug den Titel Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie (GA 18) und behandelte im Wesentlichen die Aristotelische Rhetorik – die von Heidegger als eine „Auslegung des Daseins hinsichtlich der Grundmöglichkeit des Miteinandersprechens“ (GA 18, 39) gesehen wurde. Heidegger stellte dort logos primär als eine Sphäre der „Alltäglichkeit“ dar, womit ein wesentlicher Schritt in die Richtung der „existentialen Analytik“ des Daseins in Sein und Zeit geleistet werden konnte. Eine zweite Vorlesung im folgenden Wintersemester 1924/25 hatte den platonischen Sophistes zum ausdrücklichen Thema (GA 19), wobei aber ihr erster Teil erneut (im Sinne einer Einleitung) die aristotelische Nikomachische Ethik behandelte. Diese Vorlesung demonstriert zugleich eine Verlagerung des Interesses von Aristoteles auf Platon, und diese Verlagerung fällt zugleich mit dem Übergang zum Projekt der Fundamentalontologie zusammen.
3. „Fundamentalontologie“ (1925-29): Rückgriff auf Platon
Im platonischen Sophistes sah Heidegger vorwiegend einen Anlass, um sich der „Fundamentalfrage der griechischen philosophischen Forschung“ zu stellen: das ist „die Frage nach dem Sein, nach dem Sinn des Seins und charakteristischerweise die Frage nach der Wahrheit“ (GA 19, 190). Heidegger übernimmt jetzt einen „transitorischen Platonismus“ (Figal, 2009, 108) als Ergebnis der Spannungen seiner Beziehung zu Aristoteles sowie auch als Einsicht in die Grenzen der historischen Destruktion schlechthin. Platons Werk gilt ihm jetzt als Wiege der griechischen Ontologie und als Vorbild der eigenen ‚Fundamentalontologie‘: der Ausarbeitung und Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein, wie sie in Sein und Zeit (1927) ihren Niederschlag finden wird.
Das Motto, das Heidegger diesem Werk voranstellt, ist alles andere als zufällig:
Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck „seiend“ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen (GA 2, 1).
Mit diesen Sätzen aus dem platonischen Sophistes knüpft Heidegger sein eigenes ontologisches Projekt an die antike philosophische Tradition und stellt die Frage nach dem Sein und dessen Sinn als eine alte Fragestellung dar, die es jetzt zu beleben und zu beantworten gelte. Mit einem Platon-Zitat wird allerdings Heidegger ein paar Jahre später auch seine berüchtigte Rektoratsrede (1933) abschließen: Jene Rede, die er aus Anlass der Übernahme des Freiburger Rektorats hält, und die seine damals vorbehaltlose Identifizierung mit dem Nationalsozialismus markieren wird. Das Zitat aus der Politeia, «τὰ … μεγάλα πάντα ἐπισφαλῆ» (497d), lautete dort in Heideggers expressionistischer Übersetzung: „Alles Große steht im Sturm…“ (GA 16, 117).
Aristoteles blieb auch in Sein und Zeit ein wichtiger Gesprächspartner; Heideggers Begrifflichkeit, die aus diesem Gespräch entstanden war, hatte sich aber inzwischen emanzipiert und verselbständigt. Angesichts der gewichtigen begrifflichen „Umformungen“, die sich abgespielt haben, muss schließlich der Aufweis von begrifflichen „Homologien“ (vgl. Volpi, 1989; 2003, 28-35) ein eher oberflächliches Unternehmen bleiben. Wichtiger ist in Sein und Zeit vor allem die direkte Auseinandersetzung Heideggers mit Aristoteles, die sich vor allem auf zwei Themen konzentriert: Erstens, die „ursprüngliche Zeitlichkeit“, die Heidegger der aristotelischen Bestimmung der Zeit als „Zahl der Bewegung nach dem Vorher und Nachher“ (Physik 219b1-2) als einer philosophischen Begründung des „alltäglich-vulgären Zeitverständnisses“ entgegenstellt (GA 2, 312). Und zweitens, das zentrale Thema der Wahrheitsproblematik; obwohl Aristoteles das Urteil bzw. die Aussage als Ort der Wahrheit bestimmte, sei sein Aufweis einer Bedeutung von „wahr“ als dem Seienden selbst zugehörig offen für eine ursprüngliche Auffassung von Wahrheit als privativer ἀ-λήθεια („Unverborgenheit“): als ein Verhältnis, das stets der Möglichkeit der Verbergung ausgesetzt sei und diese Möglichkeit in sich einschließe. Das emphatische Verständnis von Wahrheit als aletheia im Sinne der „Unverborgenheit“ erscheint an zwei entscheidenden Stellen in Sein und Zeit (GA 2, 44; 290-291) und wird auch nach der „Kehre“ ein fester Topos Heidegger’schen Denkens bleiben.
4. „Seynsgeschichte“ (1935–): Zum „ersten Anfang“ der Vorsokratiker
Im Jahre 1930 hatte Heidegger endgültig eingesehen, dass Sein und Zeit (und somit das gesamte Projekt der Fundamentalontologie) nicht mehr zum Abschluss kommen konnte. Es folgten die bewegten Jahre 1933-34: die NSDAP-Mitgliedschaft, das Rektorat, die aktive Teilnahme an den nationalsozialistischen Plänen einer Umgestaltung der Universitäten und an der Verfolgung jüdischer Wissenschaftler. Danach eine gewisse Distanzierung, die eher als Ergebnis persönlicher Enttäuschung zu bewerten ist, weil das Regime sich vom ‚wahren‘ Nationalsozialismus entfernt habe und der „inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung“ nicht mehr entspreche (GA 40, 208).
Die Vorlesung von 1935 Einführung in die Metaphysik darf wohl als erstes ausdrückliche Zeugnis einer neuen Ausrichtung der Heidegger‘schen Philosophie nach der sogenannten „Kehre“ verstanden werden. Diese Kehre ließe sich schematisch folgendermaßen beschreiben: Während die Fundamentalontologie von Sein und Zeit die Frage nach dem Sein im menschlichen Dasein und in dessen Suche nach Sinngehalt fundierte, wird nach der Kehre der Mensch aufgerufen, den Winken und Weisungen eines „Seins“ zu gehorchen, das menschliches Verstehen transzendiert und sich grundsätzlich als das „Unverfügbare“ manifestiert und entzieht. Geboten scheint jetzt eine „Bestimmung des Wesens des Menschen aus dem Wesen des Seins selbst“ (GA 40, 152). Die Kehre ist somit eine Wendung von einer Ontologie traditioneller Prägung zu einer Geschichtsphilosophie, welche im historischen Ablauf Zeichen eines Wahrheitsgeschehens sucht, das über das Menschenwesen hinausgeht und dieses gelegentlich zu einem vielfältig gearteten Verhältnis aufruft.
Auch diese neue Phase im Denken Heideggers vollzieht sich in ständigem Rückbezug auf griechische Philosophie. Die Akzente haben sich aber eindeutig verschoben. Trotz einiger plakativer Formulierungen wie der Auszeichnung der Physik als „Grundbuch der abendländischen Philosophie“ (GA 9, 242) verliert die Auseinandersetzung mit Aristoteles insgesamt an Bedeutung. Platon wird seinerseits immer kritischer betrachtet, mit dem 1942 erschienenen Aufsatz über „Platons Lehre von der Wahrheit“ als wichtigstem Zeugnis; der Text verortet in Platons Philosophie den Vollzug der metaphysischen Ablösung des ursprünglichen Wesens der Wahrheit als „Unverborgenheit“ durch eine von den platonischen Ideen oktroyierte bloße „Richtigkeit [ὀρθότης] des Vernehmens und Aussagens“ (GA 9, 231). Damit vollzieht sich auch die Wandlung des philosophischen Denkens zur Metaphysik, die sich als Platonismus etabliert und im Großen und Ganzen mit diesem zusammenfällt. Heidegger bestimmt die Metaphysik als die Einebnung der grundlegenden Differenz von Sein und Seiendem (die sogenannte „ontologische Differenz“); die Metaphysik entwickelt sich somit als eine „Seinsvergessenheit“, die sich umso schwerwiegender auswirkt, als Metaphysik in der falschen Annahme lebe, sie denke doch noch über das Sein.
Zur nacharistotelischen philosophischen Entwicklung kann Heidegger sich mit einem plakativen Hinweis begnügen: „So ist es mit der Philosophie der Griechen. Sie ging mit Aristoteles groß zu Ende“ (GA 40, 18). Seine Akzentverschiebung wendet sich also vor allem in die Richtung der sogenannten Vorsokratiker, der frühgriechischen Denker, die er zum ersten Mal in einer Vorlesung aus dem Jahre 1926 über Die Grundbegriffe der antiken Philosophie behandelt hatte (GA 22). Im Zentrum seines Interesses bleibt dabei immer die Trias ‚Anaximander-Parmenides-Heraklit‘.4Unberechtigt scheint mir allerdings dabei die Vermutung, dass „Heidegger eindeutig Heraklit […] favorisiert“ (Most 2002, 119); wenn schon, dann eher Parmenides, wie etwa auch Theunissen treffend feststellt (2000, 934, 936). – Ein längeres Manuskript zu Empedokles ist nie erschienen; es wurde wohl von Heidegger selbst vernichtet (vgl. GA 75, 404, im „Nachwort des Herausgebers“ C. Ochwadt). Die beiden Ersten werden ausführlich in einer bedeutenden Vorlesung von 1932 behandelt (GA 35). Wichtig ist auch die Veröffentlichung Der Spruch des Anaximander (1946, GA 5, 321-373); das einzige von Anaximander selbst überlieferte Fragment wird dort als erstes Zeugnis eines Denkens aufgefasst, das sich bald als metaphysisch ausformen wird. Berühmt wurde aus dieser Auslegung die Übersetzung des für Anaximander zentralen Begriffes τὸ χρεών (üblicherweise als „das Notwendige“ wiedergegeben) mit „Brauch“ (GA 5, 366).
Zu Parmenides pflegt Heidegger eine durchaus ambivalente bzw. unentschlossene Haltung. Während etwa 1932 die parmenideische Fragestellung mit der von ihm selbst in Sein und Zeit entworfenen nach dem Sein „sich deckt“ (GA 35, 106), merkt Heidegger später kritisch an: „Parmenides denkt noch nicht die Zwiefalt [zwischen Sein und Seiendem] als solche; er denkt vollends nicht die Entfaltung der Zwiefalt“ (1954; GA 7, 250). Zentrale Passagen des parmenideischen Gedichtes bleiben dabei Gegenstand vielfacher langwieriger Auseinandersetzung, in Texten wie „Moira“ (GA 7, 235-261), Was heißt Denken? (GA 8), Identität und Differenz (GA 11), Zur Sache des Denkens (GA 14), bis in die späten Vier Seminare hinein (GA 15). Unter vielen einprägenden Auslegungen darf vielleicht diejenige der berühmten Identifizierung von Denken und Sein im dritten parmenideischen Fragment herausgestellt werden, wie sie von Heidegger als „Zusammengehörigkeit“ interpretiert wird – eine Auslegung, die in den letzten Jahrzehnten auch aus philologischer Sicht bestätigt wurde.5Vgl. etwa Wiesner 1996, 148. Heraklit wird seinerseits ebenso Gegenstand langer Beschäftigung, die sich auf den Begriff des Logos konzentriert, der als die „lesende Lege“ verstanden werden soll (GA 7, 221). Somit unterscheidet sich dieser Logos vom sterblichen λέγειν und wird zu einem Analogon der Wahrheit als Unverborgenheit.
Heideggers spätes Denken konzentriert sich im einschlägigen, zwischen 1936-38 notizenhaft niedergeschriebenen Werk Beiträge zur Philosophie (GA 65) auf den Grundgedanken einer Geschichte des Seyns [sic], wobei Letzteres „die Wahrnis der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein“ (GA 97, 186) nennen soll. Die Geschichte verläuft im Wesentlichen zwischen dem „ersten Anfang“ der frühgriechischen Philosophie und dem in einer unbestimmten Zukunft zu erwartenden „neuen Anfang“, der in einer Umkehrung im Verhältnis des Seins zum Menschen besteht und keinesfalls aktiv herbeigeführt, wohl aber nur in einer Besinnung auf den ersten Anfang vorbereitet werden kann.
Es gibt eine weit verbreitete Meinung, wonach Heidegger in der Vorsokratik das Andere der Metaphysik sieht: eine vormetaphysische Denkweise, deren Wiederherstellung oder Erneuerung er dann zu unternehmen trachtet. Die Texte enthalten aber genügend Beweise, um dieses weit verbreitete Missverständnis zu widerlegen. So teilt Heidegger etwa nicht den von Karl Popper formulierten Appell „Back to the Pre-Socratics“ (Popper, 1959). Die Erwartung einer Renaissance der vorsokratischen Philosophie wäre nicht nur in sich unmöglich; sie würde auch Heideggers tiefe Einsicht in die Geschichtlichkeit des Denkens widersprechen. Heideggers „Wiederholung“ jenes „ersten Anfangs“ ist also keine Nachahmung oder Imitation, sondern die Forderung, gewisse Fragen erneut auf sich zu nehmen – d.h., sie wieder zu stellen, mit einem Schwerpunkt auf alternative Antworten, die bis heute nicht erwogen wurden. Und der „erste Anfang“ ist von großem Interesse, weil er, als erster Markstein unserer metaphysischen Gegenwart, selbst metaphysisch ist und einen integralen Bestandteil der Bestimmung dieser Gegenwart enthält.
In seiner Methodik einer gezielten Verfremdung entwirft Heidegger die Vorsokratik als Gegenbild zur klassischen Antike, nicht aber als nicht- bzw. gegenmetaphysisch; in den Vorsokratikern sucht er nicht seine eigenen philosophischen Idole, sondern die ersten Spuren jener „Seinsvergessenheit“ (der „Vergessenheit des Unterschieds des Seins zum Seienden„; GA 5, 364), ebenso wie der Art und Weise, wie diese sich bereits am „ersten Anfang“ durchsetzt. Die frühgriechische Oszillation zwischen denkerischer Ursprünglichkeit und metaphysischer Verhärtung zeigt aber zugleich, dass jene Vergessenheit keinesfalls notwendig bzw. unabwendbar war. Und doch verlief die Geschichte des Denkens so, dass dies schon in seinem Anfang in die Metaphysik überging: „Die Geschichte des Seins beginnt mit der Seinsvergessenheit, damit, dass das Sein mit seinem Wesen, mit seinem Unterschied zum Seienden, an sich hält“ (GA 5, 364).
Heideggers philosophischer Philhellenismus gewinnt somit schärfere Konturen. Zum einen verläuft er programmatisch als ein kritisches Unternehmen: „Unserem heutigen Denken ist es aufgegeben, das griechisch Gedachte noch griechischer zu denken. – Und so die Griechen besser zu verstehen, als sie sich selbst verstanden“ (GA 12, 127). Zum anderen befreit er sich von jedem Bedürfnis einer Zugehörigkeit oder Parteinahme für ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Kultur; Griechentum wird somit von seinen spezifischen Zügen abgestreift, gleichsam ent-artet, und allein durch seine anfängliche Position, Stellung und Funktion ausgezeichnet:
Griechisch meint in unserer Redeweise nicht eine völkische oder nationale, keine kulturelle und keine anthropologische Eigenart; griechisch ist die Frühe des Geschickes, als welches das Sein selbst sich im Seienden lichtet und ein Wesen des Menschen in seinen Anspruch nimmt (GA 5, 336).
5. Dichtung, Kunst, Tempel
Heidegger war ein großer Philosoph, der kein opus magnum geschrieben hat. Nach dem unvollendet gebliebenen, von ihm selbst als „Verunglückung“ bezeichneten (Kommerell, 1967, 405) Sein und Zeit beschränkte sich Heidegger auf eine lange Reihe von kleinen Aufsätzen und Vorlesungen, die eine große Vielfalt von Themen behandelten und sich als Wegmarken, gelegentlich sogar als Holzwege verstanden (so die Titel der zwei wichtigsten Aufsatzsammlungen: GA 9 und GA 5). Dazu gehörten auch die Themenbereiche der Dichtung und überhaupt der Kunst; und Griechenland machte auch hierin einen festen Bezugspunkt aus.
Dabei bleibt Heideggers Beschäftigung auch hier durchaus selektiv: Die Dichter, die seine Aufmerksamkeit genießen, sind Homer, Pindar und Sophokles. Im „Spruch des Anaximander“ behandelt Heidegger die berühmte Passage aus der Ilias, der gemäß der Seher Kalchas die Fähigkeit besäße, was war, was ist und was sein wird zu erkennen («ᾔδη τά τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα», A 70). Heidegger liest daraus eine temporale Struktur der ἐόντα, der gemäß im gegenwärtig Anwesenden auch das als vergangen oder zukünftig Abwesende präsent bleibt (GA 5, 345-351).6Zu weiteren Aspekten von Heideggers Deutung vgl. Theunissen (2000, 939-41); zu weiteren Passagen der Auseinandersetzung Heideggers mit Homer vgl. Naas (1999). Eine nicht vorgetragene Vorlesung aus dem Jahre 1942 enthält eine ausführliche Behandlung einer Passage aus Pindars 5. Isthmischer Ode (GA 78, 65-98). In einer kurz danach gehaltenen Vorlesung, die nominell Parmenides zum Thema hat, behandelt Heidegger unter anderem eine pindarische Äußerung zur lethe (GA 54, 109-112). In Sophokles, wiederum, ist es vor allem das berühmte erste Chorlied aus der Antigone (332-375), das Heideggers Interesse in einer langen Passage der Einführung in die Metaphysik anzieht (GA 40, 155-173), wo das „Unheimliche“ (δεινόν) am Menschen im Zentrum steht. Es bleibt aber bezeichnend, dass diese Ausführungen zu Sophokles zentrale Passagen des parmenideischen Gedichtes beleuchten sollen, indem Letzteres „im Lichte“ von jenen (GA 40, 174) gelesen werden soll.
Diese vielfältige, aber durchaus selektive Beschäftigung Heideggers mit ausgewählten Passagen griechischer Dichtung verläuft in engster Parallele mit seiner ebenso langwierigen und intensiven Beschäftigung mit Hölderlin – und nährt sich zugleich aus dieser. Heideggers Verherrlichung des antiken Griechentums, und vor allem seiner frühesten Phase, bleibt in mehrfacher Hinsicht von Hölderlin inspiriert.7So wird etwa das Chorlied aus der Antigone auch im Zusammenhang einer Vorlesung über Hölderlins Hymne „Der Ister“ (GA 53) behandelt, mit dem erklärten Ziel, eine „Zwiesprache zwischen Hölderlin und Sophokles“ zu ermöglichen (GA 53, 69). Die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (11944, 21951; jetzt vermehrt als GA 4) und die Hölderlin gewidmeten Vorlesungen aus der Zeit des Nationalsozialismus (jetzt als GA 39, 52 und 53 erschienen) zeugen von mehreren gespannten Verschränkungen, die sich auf Heideggers eigenes Werk gleichsam verlagern: zwischen Griechentum und Deutschtum; zwischen Hölderlin und griechischer Dichtung; und zwischen einer politischen Bemühung Hölderlins und einem ebenso von ihm inspirierten Rückzug in die „Gelassenheit“. So kann Heidegger in einer Vorlesung von 1934 beteuern: „Unser Verfahren im allgemeinen steht also ganz unter dem einmaligen Gesetz des Hölderlinschen Werkes“ (GA 39, 6). In derselben Vorlesung begegnet auch die Rede von einem „Wesensgegensatz“ des „griechischen Daseins“ zum „Dasein der Deutschen“ (GA 39, 291). Anders als die schon früh veröffentlichten Erläuterungen sind es vor allem die Vorlesungen, die den Eindruck nahelegen, dass Heidegger zu jener Zeit das mit Hölderlin zusammen beschworene „dichterische Dasein“ als ein solches verstand, „in dem die Erde Deutschland ist und das Dasein (das Wohnen) ein deutsches Dasein“ (Wright, 2003, 215). Hölderlin wird somit Zeuge einer Zäsur in der Geschichte des Abendlandes, die jetzt von der „Bewegung“ vollzogen werden soll.
Für weitere Aspekte der griechischen Dichtung bzw. schriftlicher Produktion hat sich Heidegger kaum interessiert; und dasselbe gilt für die griechische Kunst überhaupt – mit einer bedeutenden Ausnahme: dem prominent gewordenen Hinweis auf den „griechischen Tempel“ in der Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes. Dieser auf Vorträge von 1935 und 1936 zurückgehende und in den Holzwegen (1950; jetzt GA 5, 1-74) erschienene Text unternimmt eine auf das Kunstwerk und dessen Werkcharakter zentrierte Bestimmung der Kunst. Das Wesen der Kunst bestehe in einem „Sich-ins-Werk-Setzten der Wahrheit des Seienden“ (GA 5, 21) bzw. in einer „Stiftung der Wahrheit“, indem die Kunst „Geschichte gründet“ (GA 5, 63; 65). Mit dem Beispiel des griechischen Tempels will Heidegger zunächst eine Nachahmungsästhetik abstreifen; denn „mit welchem Wesen welchen Dinges soll denn ein griechischer Tempel übereinstimmen?“ (GA 5, 22). „Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. […] Durch den Tempel west der Gott im Tempel an“ (GA 5, 27). Genauer besehen eröffnet der Tempel als Kunstwerk die Gegenden von Welt und Erde, deren „Streit“ später im Text als „Wesen der Wahrheit“ bestimmt werden soll (GA 5, 42). Der Tempel erbringt somit die Offenheit jenes „Herauskommen[s] und Aufgehen[s]“, das „die Griechen frühzeitig die φύσις“ nannten (und jetzt auch „Welt“ genannt werden kann); andererseits ermöglicht der Tempel zugleich jenes verschlossene „Bergende“, das jetzt von Heidegger als „Erde“ bezeichnet wird (GA 5, 28): „Im Dastehen des Tempels geschieht die Wahrheit“ (GA 5, 42).
Heidegger zeigt dabei durchaus Gespür für die geschichtlichen Diskontinuitäten und Zäsuren, für die Brechungen von Traditionen. Er bringt dies zum Ausdruck in einer der bekanntesten Passagen seines Gesamtwerkes:
Die „Ägineten“ in der Münchener Sammlung, die „Antigone“ des Sophokles in der besten kritischen Ausgabe, sind als die Werke, die sie sind, aus ihrem eigenen Wesensraum herausgerissen. […] Auch wenn wir uns bemühen, solche Versetzungen der Werke aufzuheben oder zu vermeiden, indem wir z. B. den Tempel in Paestum an seinem Ort und den Bamberger Dom an seinem Platz aufsuchen, die Welt der vorhandenen Werke ist zerfallen. Weltentzug und Weltzerfall sind nie mehr rückgängig zu machen. Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren. Sie selbst sind es zwar, die uns da begegnen, aber sie selbst sind die Gewesenen. Als die Gewesenen stehen sie uns im Bereich der Überlieferung und Aufbewahrung entgegen. (GA 5, 26-27)
Die Überlieferung zeigt sich somit schlechthin als ein Bereich von Brechungen und Verstellungen. Keine „Aufbewahrung“ kann darüber hinwegtäuschen, dass das Aufbewahrte immer auch ein Entrissenes und insofern auch Verstelltes ist. Heideggers Denken nach der Kehre stellt somit auch eine Rückkehr zu seinem frühen Anliegen einer Destruktion der Tradition dar.8So Gadamer (1986, 10; sinngemäß begegnet diese These auch an mehreren anderen Stellen der Schriften Gadamers); ähnlich auch Kisiel (1993, 458). Vgl. auch Thanassas (2009, 269-270).
6. Verlegene Aufenthalte in der Gegenwart
Die erste geplante Reise Heideggers nach Griechenland wurde im Jahre 1955 kurzfristig abgesagt. Wie Heidegger brieflich mitteilte, sei er „in den denkend-dichtenden Zwiesprachen immer dort“ (Heidegger/Kästner, 1986, 22) – bedürfe also wohl nicht einer physischen Anwesenheit auf griechischem Lande. Erst im Jahre 1962 fasste er endlich den Entschluss, das Land zu besuchen, auf dem die von ihm so geschätzten Philosophen und Dichter einst lebten. Sein langes Zögern ist eigentlich nicht verwunderlich: Vor ihm gab es eine lange Reihe ausgewiesener Verehrer Griechenlands, die allesamt als „Nicht-Reisende“ bezeichnet werden dürften; dazu zählen etwa Winckelmann, Hegel, Hölderlin und Nietzsche (Geimer, 2003, 45). Die Gründe der Abstinenz dieser großen Männer von einer echten Berührung des geliebten Ortes waren gewiss verschieden; zwei Faktoren dürften aber eine wichtige Rolle gespielt haben: zum einen die einfache Einsicht, dass die altgriechische Kultur nun vergangen , dass jene Welt (in der Sprache des „Kunstwerk“-Aufsatzes) endgültig „zerfallen“ sei; es also nichts von einem Besuch des Landes zu erwarten gebe; oder aber andererseits das Bestehen einer Erwartung, die aber von der Angst ihrer Enttäuschung überschattet wird. Bei Heidegger traf beides zu.
Heidegger dürfte zwischen 1962 und 1967 insgesamt fünf Reisen nach Griechenland unternommen haben. Die erste fand 1962 statt und wurde in den Reisenotizen festgehalten, die im Jahre 1989 unter dem Titel Aufenthalte gedruckt und inzwischen in GA 75 aufgenommen wurden (213-245). Es folgten zwei weitere Reisen, 1964 und 1966, die aber offenbar keine schriftlichen ‚Spuren‘ hinterlassen haben. Am 4. April 1967 hielt dann Heidegger vor der Athener Akademie einen Vortrag über „Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens“.9Erschienen 1983 in einer Festschrift für Walter Biemel und in Heideggers Sammelband Denkerfahrungen, jetzt in GA 80.2. – Das Datum „4. April“ wird auch in den offiziellen Akten der Akademie Athen festgehalten; im Briefwechsel Heidegger/Kästner (1986, 100; 101; 148) wird hingegen der 3. April als Vortragsdatum angegeben. Und im Mai desselben Jahres unternahm er eine Kreuzfahrt in der Ägäis, ebenso in einer Reihe von Reisenotizen festgehalten, die in GA 75 (247-273) unter dem Titel „Zu den Inseln der Ägäis“ aufgenommen wurden. Es ist sicherlich nicht ohne Bedeutung, dass Band 75 neben diesen kalenderartigen Texten sonst nur unveröffentlichte Abhandlungen zu Hölderlin enthält; der Zusammenhang wird von Heidegger selbst hergestellt und betont: seine Aufzeichnungen wurden „in der Zwiesprache mit Hölderlins Dichtung“ (GA 75, 249) niedergeschrieben. Hölderlin liefert auch das Motto zu den „Aufenthalten“ (GA 75, 215) und bleibt überhaupt ständiger Begleiter auf beiden Reisen.
Heidegger bereist Griechenland in hoher Erwartung: Es geht um die „Prüfung“, ob seine Auslegung der griechischen Philosophie „ihre bewährende Antwort fände aus dem Anblick der alten noch als Natur und Werk waltenden Welt“ (GA 75, 249). Diese Prüfung verläuft vielfältig. In ihrer erklärten Absicht ist sie (a) eine Selbstprüfung: Kann die eigene Auslegung durch die antiken Reste bestätigt werden? Zugleich ist sie aber (b) eine Prüfung der griechischen Gegenwart am Maßstab der Antike. Und sie ist ebenso (c) eine Prüfung eines vielfältigen Griechentums am Maßstab eines deutschen, selektiv philhellenischen Blickes.
Der Philosoph legt viel Wert darauf, dass sein Anliegen kein Touristisches sei, und er bringt dies zum Ausdruck auf eine Weise, die auf der ersten Reise einem „Boykott des vorgesehenen Programms“ gleichkommt (Geimer, 2003, 52). Phaistos und Herakleion, Rhodos und Lindos, Kos und Patmos bleiben Orte, die nur mit einem Blick aus der Ferne (d.h.: aus dem Schiffsdeck) gewürdigt werden. Die durchprogrammierte Verfahrensweise der Reiseindustrie erscheint Heidegger wohl als ein Fall der durchgängigen Auslieferung der modernen Welt an die Technik – ein Phänomen, dass er oft als „Gestell“ beschrieben hatte. Und wenn er sich auf das Reiseprogramm einzulassen versucht, beschwert er sich über die „Unrast der programmmäßigen Busfahrt,“ die es „verwehrte“, seinen dabei entstehenden Gedanken nachzugehen (GA 75, 255). Es ist eigentlich nur Delos, das in Heidegger eine gewisse Aufregung entbrennen lässt:
Im Vergleich mit allem bisher auf der Fahrt Geschauten zeigte die Insel für den ersten Blick eine Öde und Verlassenheit, die allerdings nicht auf einem bloßen Verfall beruhen konnten. Denn alsbald ging von ihr ein einzigartiger, bislang nirgends vernommener Anspruch aus (GA 75, 231).
Das Besondere an Delos ist also, dass die Insel nicht dem allgemeinen Verfall untersteht, dem Heidegger sonst auf dieser Reise begegnete. Die Seinsgeschichte als Verfallsgeschichte lässt sich nicht durchbrechen, sondern nur durchschauen in den wenigen Zusammenhängen, wo jener erste Anfang noch durchleuchtet. Eine ähnliche Erfahrung in Delphi wird einige Tage später durch die „überall photographierende[n] Leute“ gestört: „Sie werfen ihr Gedächtnis weg in das technisch hergestellte Bild. Sie verzichten ahnungslos auf das ungekannte Fest des Denkens“ (GA 75, 244). Und wenn schließlich die Rückfahrt nach Venedig als „Dank für das Geschenk des Aufenthaltes und des Einblickes in sein Eigentum“ bezeichnet wird (GA 75, 245), so bleibt dieser Aufenthalt immer im Vorzeichen des anfangs schon geäußerten Zweifels: „Doch war es schon Griechenland? Das Geahnte und Erwartete erschien nicht“ (GA 75, 218). Diese Feststellung darf nicht überraschen; denn das Erwartete war nichts Anderes als die Bestätigung eines Mitgebrachten. So konnte sich auch Heidegger für die Entscheidung entschuldigen, während seiner ersten Reise (1962) nicht mal die von Hölderlin besungene Insel Patmos besucht zu haben: „Indes war Patmos durch das Andenken von Hölderlins Hymne gegenwärtig“ (GA 75, 230).