Einleitung: Rassenanthropologische Begegnungen im Kontext
Dieser Essay handelt von den griechisch-deutschen anthropologischen Verflechtungen im Kontext des Transfers von anthropologischen Ideen und Wissenschaftler*innen. Die Konturen des gewählten Zeitraums werden von folgenden Entwicklungen in den akademisch-anthropologischen Institutionen in Griechenland gezeichnet: Beginnend bei der Etablierung des anthropologischen Museums an der Athener Universität (1886) und gefolgt von der Gründung der Hellenischen Anthropologischen Gesellschaft (1924) sowie der Errichtung eines Lehrstuhls für Physische Anthropologie an der Athener Universität (1925), erstreckt sich der Zeitraum bis zur Abschaffung des Lehrstuhls im Jahr 1950. Diese Begegnungen werden zunächst in einem breiteren europäischen Kontext eingeordnet und dabei unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: vor dem Hintergrund eines konstitutiven Aspekts moderner europäischer Wissenschaft, nämlich des Transfers von wissenschaftlichen Ideen und professionellen Wissenschaftler*innen; und unter Berücksichtigung der Paradigmenwechsel in der anthropologischen Wissenschaft in diesem Zeitraum.
Der Transfer von Wissenschaftler*innen und wissenschaftlichen Ideen wurde durch die Etablierung von kompatiblen akademischen Umfeldern und Hochschulsystemen begünstigt. Bestandteil derselben Entwicklung ist die Professionalisierung der Universitätspositionen, wobei der bezahlte Universitätsprofessor die Figur der modernen Wissenschaftler*innen verkörpert (Sigrist, 2009; Sigrist und Widmer, 2011). Diese beiden Bedingungen haben die wissenschaftliche Vernetzung über staatliche Grenzen hinweg erleichtert, zumal, weil die Mobilität und Beteiligung an grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Gemeinschaften (wie wissenschaftlichen Gesellschaften) konstitutiv für die moderne Wissenschaft und das Profil der modernen Wissenschaftler*innen waren – und nicht zuletzt prestigeverleihend wirkten.
Im Laufe dieser Entwicklungen etablierte sich auch die Anthropologie als akademische Disziplin. Es ist eine Zeit, in welcher in den Fokus der anthropologischen Erkenntnisinteressen und Forschung zunehmend die europäische Bevölkerung und ihre rassenanthropologische Zusammensetzung rückten. Dies geschah insbesondere, nachdem die Idee einer homogenen europäischen Bevölkerung (des „Homo Europeaus“) im 19. Jahrhundert revidiert wurde. Die Annahmen, dass die europäische Bevölkerung aus Mischungen mit asiatischen oder afrikanischen Völkern entstanden sei und aus hybriden Rassentypen bestehe, setzte einen neuen Diskussionsrahmen für die Frage der Abstammung europäischer Völker und (werdender) Nationen. Auf dieser Grundlage werden nationale Antagonismen in anthropologischen- und Rassenbegriffen umgedeutet (Trubeta, 2020). Der Hybriditätsansatz steht der nationalen Homogenitätsprämisse gegenüber und dieser Gegensatz bestimmt eine Aporie, die die anthropologische Forschung und Wissenschaft weitestgehend beschäftigte: Wie kann die Kontinuität und Homogenität eines Volkes, einer Nation, trotz Hybridisierung, nachgewiesen werden? Die Anthropologie – vielleicht mehr als andere moderne Wissenschaften – machte die Nation zu einem Modus, um über die Menschheit nachzudenken, und dieser Denkmodus verlieh den wissenschaftlichen Kategorien Gestalt, mithilfe derer universelles Wissen kodifiziert wurde (Brinton, 1894). Der in diesem Essay berücksichtigte Zeitraum wird durch die Kontroverse über die Ideologie einer, den anderen europäischen Rassen gegenüber, überlegenen arischen bzw. nordisch-germanischen Rasse geprägt.
Wie lassen sich die griechisch-deutschen anthropologischen Begegnungen in diesem Spannungsfeld einordnen und inwiefern bringen sie dessen Ambivalenzen zum Vorschein? Als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dieser Leitfrage dient die Gründung der ersten anthropologischen Institution an der Athener Universität im Jahr 1886 unter der Leitung von Clon Stéphanos (1854–1915). Das ist eine Zeit, in der das Land noch einen Schauplatz anthropologischer Aktivitäten darstellte, die zum großen Teil von Wissenschaftlern getragen wurden, die ursprünglich in den Diensten von König Otto standen und nach seinem Sturz im Lande blieben. Wie beeinflusst die institutionelle Etablierung der Anthropologie in Griechenland diese anthropologischen Aktivitäten und die wissenschaftlichen Netzwerke mit dem deutschen Kaiserreich? Was ändert sich in diesem Verhältnis mit der Nachfolgerschaft der Museumsleitung und der Gründung der zwei anderen anthropologischen Institutionen in Griechenland: der Hellenischen Anthropologischen Gesellschaft (im Folgenden HGA) und des Lehrstuhls für Physische Anthropologie, die alle von einer Person geleitet wurden, nämlich Ioannis Koumaris (1879–1970)?
Hierbei handelt es sich nicht schlicht um einen Personenwechsel, sondern vielmehr um einen Paradigmenwechsel beim Anthropologiekonzept, der vom neuen Museumsleiter – und bald Inhaber aller anthropologischen Ämter – getragen wurde. In diesem Essay zeige ich, dass dieser Paradigmenwechsel sowohl das Anthropologiekonzept betraf als auch die Erweiterung und Intensivierung der wissenschaftlichen Vernetzung mit der europäischen Anthropologie bewirkte. Vor allem aber hatte er die Annäherung an die deutsche Anthropologie (und die Anthropologen) zur Folge, zumal die nationalsozialistische Rassenwissenschaft zur Staatsideologie des Dritten Reichs wurde. Wie kommt diese Annährung zum Vorschein? Wie handhabte der leitende griechische Anthropologe – während einer Zeit, in welcher die NS-Rassenwissenschaft die gegenwärtigen Griechen als eine kulturell und rassisch minderwertige Bevölkerung betrachtet – als Verehrer der deutschen Rassenwissenschaft seine mehrfachen und ambivalenten Loyalitäten und seinen griechischen Patriotismus? Und welche Reichweite erlangt diese Ambivalenz während des Zweiten Weltkriegs und der Besatzung Griechenlands durch die Wehrmacht?
Es liegt in der Eigenart der Thematik, dass der Versuch, eine „Makrogeschichte“ der griechisch-deutschen anthropologischen Verflechtungen zu schreiben und dabei die Institutionen als Referenzpunkt in den Blick zu nehmen, (was die Intention dieses Essays ist), eine „Mikrogeschichte“ zu werden droht. Das geschieht, weil die griechisch-akademische Anthropologie in diesem Zeitraum mit der Wirkung der zwei Leiter der anthropologischen Institutionen eng verflochten ist, denn keiner von beiden konnte Nachwuchsanthropologen ausbilden; der Lehrstuhlinhaber wurde wegen seiner Affinität zur nationalsozialistischen Rassenwissenschaft allmählich isoliert.
Das Aufkommen einer Nationalwissenschaft
Die Anthropologie etablierte sich im 19. Jahrhundert als akademische Disziplin an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Disziplinen der Humanwissenschaften und doch war sie weitestgehend in der Medizin verankert (Brabrook, 1898). Die zunehmende Spezialisierung innerhalb der akademischen Disziplinen bewirkte die Emanzipation der Anthropologie zu einer eigenständigen Fachdisziplin. Dieser Stand der Dinge spiegelte sich auch im Aufkommen der Anthropologie als akademische Disziplin in Griechenland wider, die mit der Gründung des Anthropologischen Museums an der Medizinischen Fakultät der Athener Universität im Jahr 1886 einsetzte. Die Etablierung des Museums ist mit dem Namen seines ersten Direktors, Clon Stéphanos, eng verflochten. Stéphanos qualifizierte sich für diese Stellung durch seine Monografie La Grèce au Point de Vue Naturel, Ethnologique, Anthropoloque, Démographique et Médical, die 1884 (zwei Jahre vor der Gründung des Museums) in Paris erschien. Diese Abhandlung war der medizinischen Geografie zugeordnet und zugleich spiegelte sie die Verankerung der Anthropologie in den Humanwissenschaften wider. Stéphanos systematisierte frühere und rezente Studien zu Griechenland aus unterschiedlichen Disziplinen, wie Geografie, Ethnologie, Anthropologie und Hygiene und versuchte, die griechische Nationalidee durch „harte Daten“ zu untermauern. Seine Abhandlung wurde zum Handbuch nicht nur für Geografen, sondern auch für renommierte Anthropologen wie Eugen Petersen (1836–1919) und Felix von Luschan (1854–1924), die in ihrer einflussreichen Publikation Reisen in Lykien, Milyas und Kibyratis (1889) Bezug darauf nahmen.
Mit diesem Museum wurde nicht nur die erste anthropologische Institution in Griechenland gegründet, sondern auch eines der ersten anthropologischen Museen weltweit, das an einer Universität angesiedelt war. Trotz ihrer offiziellen Bezeichnung als ‚Museum’ war diese anthropologische Institution unter Stéphanos’ Leitung (1886–1915) kein öffentlicher Ort der Repräsentation materieller Kultur, sondern ein Forschungsinstitut,1Dieser Umstand war jedenfalls der Mittelknappheit geschuldet, denn Stéphanos wandte sich wiederholt an den Universitätssenat und klagte diese Missstände. Diese Situation hat sich nicht in der darauffolgenden Zeit gebessert, sodass die Erschaffung eines Museumsgebäudes auch ein Ziel seines Nachfolgers darstellte. in dem Primärmaterial von archäologischen Ausgrabungen und anthropologischen Vermessungen an lebenden Individuen und Gebeinen gesammelt wurde.
Eine besondere Relevanz dieses Museums lag darin, dass es sich größtenteils zu einem Sammelort für Objekte anthropologischer Bedeutung entwickelte, die zuvor häufig in europäische wissenschaftliche Institutionen exportiert wurden. Einige dieser Objekte landeten im Deutschen Kaiserreich, und zwar an der renommierten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, die 1869 auf Initiative des Arztes, Anthropologen und Politikers Rudolf Virchow (1821-1902) ins Leben gerufen wurde. So hatte beispielsweise der Kurator des Königlichen Botanischen Gartens in Athen, Theodor Heinrich Hermann von Heldreich (1822 in Dresden – 1902 in Athen), der Berliner Gesellschaft archäologische Artefakte wie Schädel und Skelette geschenkt.2Mitteilung auf der Sitzung vom 20 Februar 1875; Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 7 (1875): 26. Theodor von Heldreich war ein korrespondierendes Mitglied dieser Gesellschaft,3Theodor von Heldreich war korrespondierendes Mitglied auch der Wiener Anthropologischen Gesellschaft; siehe Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft (Wien), 11 [new series 1 (1)] (1882): 211. genauso wie der Mediziner Bernhard Ornstein (Salomon Bernhard Georg Ornstein; 1809 in Schöningen – 1896 in Athen),4Jutta Stroszeck (2018) zufolge, war Ornstein auch korrespondierendes Mitglied des Thüringisch-Sächsischen Vereins für Erdkunde und der Wiener Akademie „Leopoldina“. der anthropologische Untersuchungen in Griechenland durchführte. Ornsteins briefliche Berichte erschienen in den Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft (z. B. 1875, 1879).
Ornstein stand ursprünglich als Militärarzt in den Diensten des Königs Otto und gilt als Gründer des griechischen Militärgesundheitswesens. Nach Ottos Absetzung blieb er im Lande und trug zusehends zum Aufbau des griechischen Gesundheitswesens bei. Im Rahmen aller seiner Ämter in Griechenland führte Ornstein Studien zur Anthropologie und Humangeografie durch und veröffentlichte seine Ergebnisse in der deutschen Presse und in den Schriftenreihen der wissenschaftlichen Institutionen, deren Mitglied er war (z. B. Ornstein, 1881,5Stéphanos’ Monografie (1884) beinhaltet eine umfassende Liste von deutschsprachigen anthropologischen, geografischen u. a. Studien zu Griechenland und seiner Bevölkerung. Stroszeck, 2018). Besonders berühmt wurde seine Korrespondenz mit Virchow über „eine ungewöhnliche Haarbildung an der Sacralgegend“ eines griechischen Rekruten, die Ornstein für Atavismus hielt, also für „einen Rückschlag auf die thierische Abstammung des Menschen vom Affen vor seiner Enthaarungsperiode“ (nach Zürcher, 2004 219ff; vgl. Zimmermann, 2001).
Wenn diese anthropologischen Aktivitäten das Land bisher als Feld anthropologischer Untersuchungen behandelt haben, wurde mit dem Anthropologischen Museum ein lokaler Referenzort für anthropologische Forschung erschaffen, der den Export von Artefakten zumindest hemmen könnte. Es war ein Ort, an dem es materielle Kultur von nationaler Bedeutung zu beherbergen galt.6Ausführliche Informationen über die Aktivitäten des Anthropologischen Museums sind in den Berichten enthalten, die Stéphanos regelmäßig dem Universitätsrektor vorlegte und ihm den Stand seiner Untersuchungen mitteilte. Ιστορικό Αρχείο του Πανεπιστημίου Αθηνών, Φάκελος 3/5–21, Ανθρωπολογικό Μουσείο. Stéphanos’ Anthropologie war eine nationale Wissenschaft, die auf internationalen Standards beruhte und mit den aktuellsten Fragen der Rassenanthropologie korrespondierte, zumindest, was die Frage der rassischen Zusammensetzung der griechischen Bevölkerung anbelangte. Im Mittelpunkt seiner Forschung stand eine Frage, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die europäischen Rassendiskurse prägte und die anthropologischen Untersuchungen im griechisch-nationalstaatlichem Territorium anleitete:7Zu früheren anthropologischen Studien des Obermedizinalrats Dr. Bernhard Jacob von Röser (1806-1868), unter Ottos Königsherrschaft, siehe Stroszeck (2018). Ist die gegenwärtige griechische Bevölkerung Nachfolgerin der Hellenen der Antike oder eine durch Rassenmischungen geprägte osmanische Bevölkerung?8Vgl. Thumb 1915 [1967]. In dieser Abhandlung argumentiert der Professor für indogermanische Philologie Albert Thumb (1865–1915) gegen den slawischen Einfluss auf die Griechen und stattdessen behauptet er deren rassische und historische Kontinuität. Als Direktor des Museums richtete Stéphanos den inhaltlichen Fokus seiner Arbeit darauf, Nachweise für die Beständigkeit und Kontinuität des Hellenentums seit der Antike bis zur Gegenwart zu erbringen. Er versuchte, den zur Nationalideologie werdenden Antike-Kult durch „harte, anthropologische Daten“ zu untermauern. Zeugnisse suchte er in den Knochen und den phänotypischen, rassischen Merkmalen der griechischen Bevölkerung (Stéphanos, 1911).
Stéphanos starb überraschend im Jahr 1915, ohne die für ihn errichtete Professur für Physische Anthropologie an der Athener Universität antreten zu können und ohne anthropologischen Nachwuchs ausgebildet zu haben. Mit seinem Nachfolger wurde eine neue Ära eingeleitet: Es vollzogen sich ein Paradigmenwechsel im Verständnis von Anthropologie und Rasse sowie die Erweiterung der wissenschaftlichen Netzwerke mit europäischen anthropologischen Institutionen. Vor allem aber betraf die Wende die Orientierung des Nachfolgers in der deutschen Rassenwissenschaft und den Rassenwissenschaftlern.
Wendemarken: die Rasse im Blickfeld am Vorabend des Nationalsozialismus
Angesichts des Fehlens von ausgebildeten Anthropologen war die Anstellung eines in Anatomie promovierten Mediziners,9Koumaris erhielt seinen Doktortitel in 1901 und veröffentlichte eine deutsche Zusammenfassung, gemeinsam mit seinem Doktorvater, den Anatom Jeorjios Sklavounos/Sclavunos (1869–1954). Siehe Kumaris und Sclavunos, 1903. wie Ioannis Koumaris einer war, in der Museumsleitung zunächst eine Notlösung. Der Bedarf an nachholender Qualifizierung in Anthropologie führte den neuen Museumsdirektor nach Paris, Brüssel, Wien, München, Berlin und Rom. Dort besuchte er (laut seiner dreibändigen Autobiografie) Universitätsvorlesungen, Ausgrabungen und Laboratorien, Institute und Museen für Physische Anthropologie, Prähistorische Anthropologie und Ethnologie (Koumaris, 1951, 11–12; Koumaris, 1961a, 1970; vgl. Agelakis, 1997).
Innerhalb von zehn Jahren nach der Übernahme der Museumsleitung erschuf Koumaris ein institutionelles anthropologisches Umfeld in Griechenland, das mit europäischen Entwicklungen in Anthropologie Schritt hielt und auch einen Referenzort für europäische anthropologische Akteure darstellte. Im Jahr 1924 rief er die Hellenische Anthropologische Gesellschaft (HAG) ins Leben und blieb ihr Präsident auf Lebenszeit. Durch die Präsidentschaft der anthropologischen Gesellschaft und das Direktorat des Museums qualifizierte er sich für den erneut geschaffenen Lehrstuhl für Physische Anthropologie, welchen er von 1925 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1950 innehatte. Er prägte dieses akademische Umfeld durch seine Rassenideen und sein Verständnis von Anthropologie als Kolonialwissenschaft und Rassenwissenschaft.
Anders als unter Stéphanos’ Museumsleitung ging es in seiner Ära nicht ausschließlich um archäologische bzw. anthropologische Artefakte aus der hellenischen Antike. Vom Charme der Kolonialreiche geleitet, verfolgte Koumaris eine andere Vision, und zwar an dem Athener anthropologischen Museum einen Ort für die Repräsentation europäischen Kolonialerbes zu schaffen. Obwohl Griechenland keine Kolonialmacht war, hielt er die Gründung eines Rassenmuseums in Athen für eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung, und dafür hat er sich eingesetzt. Die Sammlungen des Museums wurden erheblich bereichert und dies war auf seine lange und beharrliche Kampagne zurückzuführen. Andere Museen, staatliche Institutionen in Griechenland und diplomatische Vertretungsbehörden im Ausland, Privatpersonen und internationale wissenschaftliche Einrichtungen beschenkten das griechische anthropologische Museum mit Artefakten (Koumaris, 1951, 25). Eine bedeutende Sammlung paläontologischer Objekte wurde vom Höhlenforscher und zeitweiligen Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Höhlenforschung, Adalbert Markovits (1897–1941), gestiftet. Markovits wirkte in Griechenland von 1927 bis zu seinem Tod beim Absturz seines Privatflugzeugs in Nordgriechenland am 28. Oktober 1941. Einige Monate davor (im März 1941) hatte er seine gesamte Sammlung dem Anthropologischen Museum vermacht. Wegen der erheblichen Bedeutung dieser Schenkung genießt er heute noch den Ehrenstatus des Mitgründers des Anthropologischen Museums, neben Stéphanos und Koumaris.10Siehe die offizielle Webseite des Anthropologischen Museums: http://www.anthropologymuseum.med.uoa.gr/to-moyseio.html (Letzter Zugang: 07.01.2020).
Das Museum fungierte zwar immer noch nicht als öffentlicher Repräsentationsort materieller Kultur, hatte aber gelegentlich ausländische Forschende zu Gast, wie beispielweise die deutsche Anthropologin Ilse Schwidetzky (1907–1997), die anlässlich ihres Forschungsaufenthalts (1937) als Mitglied der anthropologischen Gesellschaft aufgenommen wurde.11Mitteilung des HAG’ Präsidenten in Ελληνική Ανθρωπολογική Εταιρεία, Πρακτικά Συνεδριών (7.4.1937), 2. Über die Studentin von Egon von Eickstedt, Ilse Schwidezky und ihre ambivalente Rolle während der NS-Zeit, siehe Lüddecke (2000). Ehrenmitgliedschaft in der HAG genossen auch die Museums-Spender. Schließlich sollten das Museum und die HAG komplementär arbeiten, wie in der Satzung der HAG festgeschrieben war.
Die neugegründete HAG verstand sich als nationales Büro des Institut International d’Anthropologie, das im Jahr 1920 auf Initiative französischer Anthropologen und zwecks der Vernetzung europäischer Anthropologen gegründet worden war. Aufschlussreich für den Beifall, mit welchem die neugegründete anthropologische Gesellschaft in Griechenland begrüßt wurde, ist die Tatsache, dass der damalige Ministerpräsident und Soziologe Alexandros Papanastassiou (1876–1936) den Vorsitz der Gründungsversammlung führte. In seiner Eröffnungsrede erinnerte sich Papanastassiou an die Vorlesungen des Anthropologen Felix Ritter von Luschan (1854–1924), die er während seiner Studienzeit in Berlin besuchte und den Wunsch in ihm weckten, durch systematische anthropologische Untersuchungen die Kontinuität der „gegenwärtigen griechischen Völker“, trotz sämtlicher Mischungen, nachzuweisen. Darin sah er die Mission der anthropologischen Gesellschaft.
Der Plan des Präsidenten der HAG sah aber anders aus. Im Unterschied zu einer Anthropologie, deren Interessenbereich auf die physischen Dimensionen des Menschen begrenzt bleibt (wie in der „sterilen Periode“ der Anthropologie, laut Wilhelm Mühlmann 1986/1948: 110), schloss sich Koumaris den Verfechtern einer „allumfassenden“ Anthropologie an.12Dies ist bei der Ankündigung der programmatischen Ziele der HAG zunächst angedeutet und wird in seiner Antrittsvorlesung als Lehrstuhlinhaber für Physische Anthropologie ein Jahr später deutlicher. Koumaris 1925. Damit ist eine Fachdisziplin gemeint, die sich mit allen Dimensionen menschlichen Seins befasst, Eugenik in ihren Fokus rückt und einen Anspruch auf politische und gesellschaftliche Mitbestimmungsmacht hat. Dieser Ansatz gewann unter deutschen Anthropologen nach dem Ersten Weltkrieg an Boden und fand im Jahr 1927 ein institutionelles Dach mit der Gründung des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ (Schmuhl 2005 und 2003).
Von nun an näherte sich Koumaris’ anthropologisches Konzept immer mehr der deutschen Rassenwissenschaft an; auch seine Kontakte zu deutschen Anthropologen intensivierten sich. Dies führte wiederum dazu, dass er, insbesondere während des Nationalsozialismus, vor der Herausforderung einer gespaltenen Loyalität stand: Er verstand sich als Verfechter (und Verehrer) der deutschen Rassenwissenschaft, die jedoch seinen patriotischen Gefühlen entgegenstand, indem sie den heutigen Griechen rassische Inferiorität zuschrieb. Die Bewältigung dieser Ambivalenz prägte seine Rassentheorie, die wiederum tonangebend nicht nur für seine Publikationen, sondern auch für den Inhalt der anthropologischen Gesellschaft war.
Rassenanthropologische Verflechtungen im Geist des Nationalsozialismus
Das Jahr 1938 scheint einen Markstein im Verständnis von Anthropologie und Rasse des Inhabers aller anthropologischen Institutionen in Griechenland darzustellen. Von diesem Jahr an, und bis zu den 1950er Jahren, verdichten sich seine Publikationen zur Rassenthematik, in deren Mittelpunkt die „hellenische Rasse“ stand. Dieser Wendepunkt dürfte nicht unabhängig von seinem jüngsten Aufenthalt im Dritten Reich sein, auf welchen er in einem griechischen Fortsetzungszeitungsartikel „Rasse–Gesundheit“ (Koumaris, 1938a) hinweist. Auch in der gekürzten deutschen Fassung in „Ziel und Weg – Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes“ berichtet er über diesen Aufenthalt und seine Eindrücke:
Soeben erst haben wir die deutsche Atmosphäre nach unserem diesjährigen längeren Aufenthalt in Deutschland verlassen. Und es hat uns bei diesen nochmaligen Ausführungen der Wunsch geleitet, die Aufmerksamkeit unseres Volkes und der für die Gesundheit unserer Rasse verantwortlichen Stellen auf diese wichtige Frage zu lenken“ (Ioannis Koumaris, 1939a, 12).13Siehe auch (Φυλή-Υγεία 1938, Βραδυνή, letzte Folge); Μόλις εξελθόντες από του γερμανικού περιβάλλοντος, μετά την μακράν εφετεινήν μας διαμονήν…
Mit besonderer Begeisterung schildert er in diesen zwei Publikationen die öffentliche Propaganda und die Ausstellungen zur Rassenhygiene, die er in Wien miterleben durfte. Auf dieser Reise stellte er fest, dass der Nationalsozialismus (genauso wie der italienische Faschismus) die Wichtigkeit der Rassenthematik erkannt und offenlegt habe. Zur selben Zeit erschienen zwei andere Beiträge von ihm in dem italienisch-faschistischen Blatt La Difesa della razza (Koumaris, 1938b; 1939b) und ein weiterer im Blatt Quadrivio (Κουαδρίβιο)14Das Blatt Quadrivio (Κουαδρίβιο) erschien zu Beginn der italienischen Besatzung in Griechenland und wurde auf Italienisch und Griechisch gedruckt.(Koumaris, 1941). Hierbei berichtet Koumaris über bevölkerungspolitische Gesetzgebungen in Griechenland, die er als eine der deutschen und italienischen äquivalente „griechische Rassenpolitik“ beschreibt.
Trotz seiner Bewunderung für die nationalsozialistische Rassenanthropologie und -politik erwähnt er zwei Fragen, die für Unbehagen gesorgt haben: die Behauptung der Überlegenheit einer Rasse (der nordischen) sowie „die Art und die Intensität, mit der die jüdische Rasse behandelt wird“ (Koumaris, 1939c, 19).15το γεγονός εγέννησεν αντιπαθείας εκ της ιδέας της ανωτερότητος μιας φυλής, εξέπληξεν δε όχι κυρίως ως τοιούτον, αλλά μάλλον εκ του τρόπου και της εντάσεως απέναντι ωρισμένης φυλής, της Εβραϊκής. Während letzterer Aspekt schließlich eine randständige Rolle (wenn überhaupt) in seinen Konzepten spielt, rückt ersterer in deren Mittelpunkt, zumal, weil die behauptete Überlegenheit der nordischen Rasse mit der Abwertung der gegenwärtigen Griechen einherging. Von diesem Zeitpunkt an scheint Koumaris’ Hauptanliegen die Verteidigung der „hellenischen Rasse“ zu sein, zunächst einmal vor der durch die Nationalsozialisten zugeschriebenen Inferiorität.
Die nationalsozialistischen Anthropologen leugneten die Rassenreinheit der gegenwärtigen Griechen und deren Verwandtschaft mit den Hellenen der klassischen Antike; zudem schrieben sie ihnen eine mit Zivilisationsdefiziten behaftete orientalische Abstammung zu. Der Theoretiker der nordischen Rasse, Alfred Ernst Rosenberg (1893–1946), behauptete, dass die antiken Hellenen in Rassenverfall gerieten und dass die gegenwärtigen Griechen „Levantiner“ seien. Mit dem in diesem Kontext negativ konnotierten Begriff „Levantiner“ waren die Nachfolgerstaaten des Osmanischen Reichs im Mittelmeerraum gemeint. Populistische Zeitschriften wie Volk und Rasse (1926–1944) oder Volkstum im Südosten (1939–1944) veröffentlichten Beiträge zur Rassenfrage der Balkanländer und wiesen explizit auf die rassisch gemischte griechische Bevölkerung hin (z. B. Hampe, 1941; Rübel, 1942). Der Eugeniker und Rassenanthropologe Walter Scheidt (1895–1976) ordnete die gegenwärtigen Griechen (oder Levantiner) der orientalischen und minderwertigen „vorderasiatischen Rasse“ zu (Scheidt, 1939). Dennoch blieb eine solche Ansicht nicht unumstritten, selbst unter Nationalsozialisten, wie die Einwände des österreichischen Rassenanthropologen Friedrich Keiter (1906–1967) gegen Scheidt offenbaren. Keiter (1941) zufolge vereinfache ein solches Modell die Realität, zumindest was die Gleichsetzung der hellenischen Antike-Kultur mit dem Orient anbelangt.
Die „Vorderasiaten“ waren ein Sammelbegriff für die kaukasischen Völker, die im Zuge von Völkerwanderungen Europa erreichten und daraufhin die moderne europäische Bevölkerung konstituierten (Petersen und Luschan, 1889; vgl. Laukötter, 2007; Fuchs, 2003, 232). Zu diesen Völkern gehörten die Semiten, Arier, Hamiten und viele andere, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Brennpunkt der europäischen Rassenkontroversen standen. Nach ihrer Verankerung in der Ideologie der nordischen Rasse, und insbesondere während des Nationalsozialismus, fungierte der Begriff vorderasiatische Rasse als Gegenpol zur nordischen Rasse und vermittelte die behauptete Dichotomie zwischen dem „progressiven Okzident“ und dem „rückständigen Orient“ (Günther, 1929 und andere Auflagen; vgl. Fuchs, 2003, 248–50).
In unverkennbarer Korrespondenz mit diesem Diskurs entwickelte Ioannis Koumaris seine Rassentheorie, mithilfe derer er Gegenargumente für die zugeschriebene Inferiorität vorzubringen suchte. In seinem Rassennarrativ sind die gegenwärtigen Griechen Vertreter der „hellenischen Rasse“, die Kontinuität und Beständigkeit über die Zeit aufweise; sie habe teil an der abendländischen Zivilisation und sei verwandt mit den überlegenen europäischen Rassen. Er stellt die Annahme auf, dass die hellenische Rasse aus drei Rassentypen besteht, die ursprünglich aus Asien kamen und sich über die Euphrat-Region in Südeuropa ausgebreitet haben. Diese Rassentypen seien sowohl in der klassischen hellenischen Antike als auch im heutigen Griechenland nachweisbar: der Mittelmeertypus, der vorderasiatische und der nordische Rassentypus (Koumaris, 1942 und 1948).
Der Hybriditätsdiskurs kommt hierbei der Beweisführung zu Hilfe. Obwohl die anthropologischen Rassentaxonomien die europäische Bevölkerung in hybride Rassentypen segmentierten, verlor die Idee der reinen Rasse nicht an Bedeutung, denn es wurde angenommen, dass hybride Rassentypen „die ursprünglichen ‚reinen Rassen’, aus deren Mischung moderne Bevölkerungsgruppen hervorgingen“, verkörperten (Trubeta, 2020, 63). In Konsistenz mit dem Hybriditätsdiskurs entwickelte Koumaris den Ansatz über den „starken Rassenkern“ (φυλετικός πυρήνας), der für die „fließende Beständigkeit“ (ρέουσα σταθερότητα) einer Rasse, und zwar der „hellenischen Rasse“ bürge. Rassenmischungen, hieß es, haben stattgefunden, aber nur mit rassisch verwandten Völkern.16Koumaris, 1939c. Für eine umfassende Darstellung seines Rassenansatzes, siehe Koumaris (1942). Weitere Versionen erschienen in der darauffolgenden Zeit auf Englisch, Französisch und Griechisch: Koumaris, 1948, 1949a, 1949b, 1959, 1961b.
Daraus entstand ein Rassentypus, der alle ursprünglichen hellenischen Elemente in sich trage. Der hellenische Kern bliebe unverändert, dank seiner Fähigkeit, andere Rassen und Völker zu assimilieren und dabei seine Eigenart aufzubewahren.17Siehe Trubeta (2013, 152f) über die Ursprünge dieser Idee bei dem deutschen Historiker Johann Gustav Droysen (1808–84) und seinem Hellenismus-Konzept: Droysen, 1833; 1836; 1843. Über spätere Rezeptionen, vgl. Sigalas (2000) und (2001).
Dieser Ansatz bildete die Grundlage für Koumaris’ Versuch, die Rassenhomogenität und Kontinuität des Hellenentums sowie dessen Autochthone im europäischen und griechisch-staatlichen Territorium zu untermauern. Alle Rassenmerkmale der hellenischen Rasse seien im Ägäischen Archipel bezeugt, also dort, wo die Hellenen einheimisch und Teil der Mittelmeerrasse seien (Koumaris, 1942 und 1948). In diesem Narrativ fungiert die Ägäis als eine Brücke, die Europa und Asien verbindet, und als solche stellt sie die natürliche Umgebung dar, in der die hellenische Zivilisation im südlichen Teil Europas entstehen konnte. Es ist bemerkenswert, dass diese Annahmen eine auffallende Ähnlichkeit mit dem „Mediterranismus“ aufweisen; das ist die Ideologie, durch welche der italienische Anthropologe Giuseppe Sergi (1841–1936) die italienische Vorherrschaft im breiten Mittelmeerraum zu begründen suchte (Trubeta, 2020). Die Ähnlichkeit ist nicht zufällig.
In der Zeit erfuhr Sergis Idee einen Aufschwung in Italien als Reaktion auf die Ideologie der überlegenen nordisch-germanischen Rasse und deren zeitgenössische Vertreter, die der Mittelmeerrasse Inferiorität zuschrieben. Mit seiner Theorie suchte Koumaris das beschädigte Prestige der Mittelmeerrasse zu reparieren – jedenfalls insofern, als die Griechen davon betroffen waren. Dabei stellte er die Annahme auf, dass prähellenische Völker, und zwar die Pelasger, die Urheber des mediterranen Rassentypus seien. In gleicher Weise hat er das „orientalische Rassenglied“ (die Verwandtschaft mit dem vorderasiatischen Rassentypus) nicht geleugnet, sondern von den negativen Konnotationen befreit. Auch in diesem Fall hat er das Argument der prähellenischen Völker aufgegriffen: Es seien die aus Asien stammenden Leleger und Karer, die während der Völkerwanderung Europa erreichten und sich in der ägäischen Region sowie in Kleinasien ansiedelten (Koumaris, 1942). Und mehr als das: Der Einfluss der gleichen prähellenischen Völker scheint in Koumaris’ Narrativ auch der Existenz blonder Individuen im Mittelmeerraum und in Griechenland Rechnung zu tragen, und dies wiederum bezeuge die Verwandtschaft der Griechen mit dem nordischen Rassentypus. In diesem Modell ließe sich die nordische Rasse auch unter den Griechen beobachten.
Bei der Entwicklung dieser Assoziationen führte Koumaris keinen Monolog, sondern bezog sich auf einen zu seiner Zeit weitverbreiteten Diskurs. Der nordische Einfluss auf das Mittelmeer beschäftigte auch kritische Anthropologen, wie z. B. den Wiener Victor Lebzelter (1889–1936), der ein Gegner der nordischen Rassentheorie war. Lebzelter zweifelte an der Erklärung der Existenz von blonden Personen in Südosteuropa durch einen möglichen „nordischen Einfluss“; stattdessen führte er die Erscheinung von blonden Individuen in Südeuropa auf einen Rassentypus sui generis zurück (Lebzelter, 1929, 63). Ähnliche anthropologische Argumente lieferte auch der Harvard-Professor für Physische Anthropologie Carleton Stevens Coon (1904–1981), der in seinem Buch Races of Europe (1939) die Ideologie der überlegenen nordischen Rasse zu widerlegen versuchte (vgl. Trubeta, 2020). Unter anderem behauptet Coon, dass das nordische Element, obwohl schwach, doch vertreten in Griechenland sei – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart (Coon, 1939, 607).
Der griechische Anthropologe schöpfte Argumente aus den Gegnern der nordischen Idee und dennoch blieb er ein Anhänger der deutschen Rassentheorie und Rassenpolitik und, nach wie vor, ein glühender Verfechter der Rassenreinheit, wie er schon in der NS-Zeitschrift unzweideutig erklärte: „Wir sind gegen die Geschlechtsverbindung zwischen andersrassigen Menschen” (Koumaris, 1939a, 386).
Vertuschte Knoten: Rassenanthropologische Aporien während der Judenverfolgung
Das ambivalente Verhältnis zur nationalsozialistischen Rassenpolitik stellte den Leiter aller anthropologischen Institutionen in Griechenland vor eine andere Herausforderung, und zwar die Verfolgung der Juden, die aus seiner Sicht, „mitsamt der arroganten“ Theorie der nordischen Rasse, „das Rassenideal getrübt“ habe (Koumaris, 1939c). Nach seiner Rückkehr aus dem Dritten Reich im Jahr 1938 gab er seine Stellungnahmen ab und dabei blieb sein Fokus auf die Frage nach den möglichen Rassenbeziehungen zwischen Juden und Griechen gerichtet. Ist es bisher zu Rassenmischungen zwischen Juden und Griechen gekommen? Besteht eine „Rassenmischungsgefahr“, die die Verfolgung der Juden Griechenlands nach dem nationalsozialistischen Vorbild rechtfertigen würde? Der Präsident der HAG selbst stand der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten zunächst kritisch gegenüber, seine Einstellung war jedoch ambivalent. Einerseits billigte er grundsätzlich alle Versuche, die Reinheit einer Rasse aufrechtzuerhalten, andererseits drückte er sein Mitgefühl für das „Schicksal der Juden“ aus, die „stets und überall unerwünscht“ seien. Das überraschende Ereignis war in seinen Augen weniger, dass die Juden unerwünscht waren, denn dies sei eine übliche Praxis in verschiedenen historischen Perioden; vielmehr überraschte ihn die „Intensität“ der zeitgenössischen Maßnahmen gegen die Juden, die mit dem „mittelalterlichen religiösen Fanatismus“ vergleichbar seien.
Und, seiner Ansicht nach, dürfte „der Religionsfanatismus […] auf keinen Fall durch einen Rassenfanatismus ersetzt werden“ (Koumaris, 1939c, 24).18„Εν ουδεμία περιπτώσει τον θρησκευτικόν φανατισμόν δικαιολογείται να αντικαταστήσει σήμερον ο φυλετικός φανατισμός» (Πρακτικά ΑΕ, 1939, Το πρόβλημα της Φυλής, σ. 24). In seinem Artikel im italienischen faschistischen Blatt La Difesa della Razza behauptete er, dass in Griechenland keine radikalen Mittel für die „Regulierung der Rassenfrage“, wie in Deutschland, benötigt werden, da die religiösen Bindungen unter den Griechen sehr eng seien und keine Eheschließungen mit Juden erlauben (Koumaris, 1938b).
Die Ähnlichkeit dieser Argumentation mit den Ansichten des deutschen Archäologen und Philhellenen Roland Hampe (1908–81) ist deutlich. Hampe behauptete in der populistischen NS-Zeitschrift Volk und Rasse, dass die Griechen durch traditionelle und religiöse Bindungen so eng miteinander verbunden seien, dass eine Mischung mit Nichtchristen, vor allem Juden, undenkbar sei (Hampe, 1941). Er behauptete auch, dass Juden in Griechenland nicht wie in anderen Balkanstaaten (wie z. B. in Rumänien) behandelt werden sollten, da Griechenland – im Unterschied zu jenen Ländern – die Rassentrennung durch entsprechende Rassengesetze eingeführt habe (vgl. Koumaris, 1938b und 1939b). Einen weiteren Grund für die Verschonung der Juden Griechenlands vor der Verfolgung sah Hampe darin, dass sie unpopulär, verachtet und arm seien und daher keinerlei Gefahr für die Wirtschaft und die Gesellschaft darstellen.
Als der Historiker Nikos Bees im Oktober 1943 einen Vortrag zu historischen Zeugnissen über die jüdische Gemeinde in Tripolis (Peloponnes) an der HAG hielt, löste sich eine Debatte über mögliche Rassenmischungen zwischen Griechen und Juden aus (Bees, 1943; anschließende Diskussion, S. 59-65). Auch bei dieser Gelegenheit behauptete der Präsident der HAG, dass das Judentum die Eheschließung außerhalb der Gemeinschaft verbiete. Die Juden selbst haben sich stets bemüht, ihre Reinheit zu bewahren, indem sie in geschlossenen Gemeinschaften leben, die nach strengen Regeln der Endogamie organisiert seien. Dadurch haben sie ihre Rassenreinheit und besondere rassische Merkmale bewahren können. Als Einziger unter den Beteiligten in den anthropologischen Debatten vertrat der emeritierte Anatom und Lehrer vieler Mitglieder der HAG, Jeorjios Sklavounos, die Ansicht, dass Rassenmischungen zwischen Griechen und Juden durchaus möglich und nicht unbedingt verwerflich seien,19Sklavounos’ Diskussionsbeitrag zu Bees’ Vortrag: Πρακτικά Ανθρωπολογικής Εταιρείας (8.10.1943), 63–65. denn Griechenland habe gelegentlich von dieser Rassenmischung profitiert. Zeugnisse für den jüdischen Einfluss auf das Griechentum sah Sklavounos in „typisch-griechischen Eigenschaften“, wie die „angeborene Neigung zum Merkantilismus“ und „Spekulation“ sowie die Tatsache, dass die Griechen stets in der Diaspora gelebt haben.20Original: [η επιμειξία] ηύξησε την εις το εμπόριον και την κερδοσκοπίαν έμφυτον ροπήν του Έλληνος, αλλά και την εκ τούτων επακολουθήσασαν αποδημίαν και διασποράν ακραιφνών ελληνικών στοιχείων εις όλην την υφήλιον. σ. 64. Solche Mischungen haben nie eine Gefahr für die Griechen dargestellt; im Gegenteil, sie wirkten eher stärkend als beschädigend. Und ganz im Geist der Idee des „starken Rassenkerns“ untermauert Sklavounos seine Ansicht mit Bezug auf die Fähigkeit der griechischen Rasse, schwächere Rassenelemente zu assimilieren und dabei ihre eigenen vitalen Eigenschaften aufrechtzuerhalten.
Diese Debatte erfolgte während der Zeit, in welcher sich die Vernichtung der Juden in Europa, und auch in Griechenland, ihrem grauenhaften Höhepunkt näherte: Die besagte Sitzung der HAG fand im Oktober 1943 statt, also nur wenige Monate, nachdem die Deportationen griechischer Juden aus Thessaloniki in die nationalsozialistischen Vernichtungslager, im März 1943, begonnen hatten. Die Hellenische Anthropologische Gesellschaft, ihr Präsident und die Diskussionsteilnehmer schwiegen zu diesen Ereignissen genauso wie zu den darauffolgenden Deportationen. Weder auf dieser Sitzung noch bei einer anderen Gelegenheit wurde die Judenvernichtung zum Thema der anthropologischen Debatten. Die in dem anthropologischen Diskurs Involvierten schwiegen dazu – sowohl, während sich der Holocaust ereignete, als auch nach dem Krieg.
Als der Kritiker Jeorjios Sklavounos das Thema erneut im Jahr 1948 aufgriff, tat er das, um seine frühere Ansicht, dass bei den Mischungen zwischen Griechen und Juden der griechische harte Kern schließlich dominierte, mit zusätzlichen historischen Quellen zu versehen (Sklavounos, 1948). Anscheinend sollte das Schweigen zur Judenvernichtung der Neutralität der Wissenschaft dienen. Die Rassensäuberung sei ein Thema der Rassenpolitik und somit eine „rein soziologische Frage“, die den Rahmen einer anthropologischen Diskussion sprenge, so Koumaris (1939c, 24).21Αλλά ο τρόπος της εφαρμογής της φυλετικής καθάρσεως αποτελεί ζήτημα και πρόβλημα καθαρώς κοινωνιολογικόν. αποτελεί την ‘φυλετικήν πολιτικήν’ περί ης δεν δύναται να γίνη λόγος παρ’ ημών ενταύθα (Πρακτικά ΑΕ, 1939, Το πρόβλημα της Φυλής, σ. 24).
Diese Distanzierung klang schon in seinem Beitrag in der NS-Zeitschrift Ziel und Weg an:
Die größten Pioniere der anthropologischen Wissenschaft haben den Tempel dieser Wissenschaft verlassen und stehen heute an der Seite der Männer, die die Geschichte der Welt leiten. Die genannten Fragen, in welche sich häufig auch Gefühle und Erwägungen hineinmischen, die der Wissenschaft fremd sind und vielleicht durch das übermäßige Eindringen fremder Elemente in den Bestand einer Rasse gerechtfertigt erscheinen, werden uns hier nicht beschäftigen“ (Koumaris, 1939a, 386).22Ελληνική παραπομπή: «Μόλις εξελθόντες από του γερμανικού περιβάλλοντος, μετά την μακράν εφετεινήν μας διαμονήν…, Φυλή-Υγεία 1938, Βραδυνή, letzte Folge.
Das vermeintliche Neutralitätsgebot der Wissenschaft vertuschte die Verknüpfung der Judenvernichtung mit der Besetzung des Landes durch die Wehrmacht. Im anthropologischen Diskurs wurde der Krieg kaum (wenn überhaupt) thematisiert, geschweige denn die Verantwortung des griechischen Kollaborationsregimes. Auch dieses Schweigen sollte der Neutralität der Wissenschaft dienen. Jedenfalls war das der Fall, solange der Krieg noch nicht entschieden war.
Neutralitätssensible anthropologische Kollegialität in (Post-)Kriegszeiten
Die Hellenische Anthropologische Gesellschaft schließt sich der ganzen Nation an, und feiert die Freiheit! Griechenland wird von der unerwarteten, unverdienten und harten dreifachen Sklaverei befreit!23Koumaris’ Ansprache bei der Eröffnung der Sitzung vom 12. Oktober 1944. Ιn: Ελληνική Ανθρωπολογική Εταιρεία, Πρακτικά Συνεδρίων, (12.10.1944), 54-55. «Η Ελληνική Ανθρωπολογική Εταιρεία μετά του Έθνους ολοκλήρου, πανυγηρίζει την Ελευθερίαν! […] Η Ελλάς ελευθερούται από της απροόπτου, αδικαιολογήτου, αγρίας τριπλής δουλείας!».
Mit dieser festlichen Ansprache eröffnete der Präsident der HAG eine Sitzung an dem Tag, an dem die Wehrmacht Athen verließ (am 12. Oktober 1944). Bei diesem Anlass legte Koumaris seine Bemühungen offen, das griechisch-nationale Interesse während der Kriegsjahre zu vertreten und dabei an die Kollegialität der deutschen Anthropologen appelliert zu haben: Er berichtete über ein Schreiben, das er an „elf der bedeutendsten deutschen Anthropologen“24«ένδεκα των πλέον διακεκριμένων ανθρωπολόγων της Γερμανίας κατά την αύτην εποχήν», Ελληνική Ανθρωπολογική Εταιρεία, Πρακτικά Συνεδρίων, (12.10.1944), 55. adressiert habe, um gegen Italiens Angriff auf Griechenland zu protestieren. Dieser Brief (datiert auf „Dezember 1940“) ist in den Sitzungsprotokollen der HAG in einer deutschen und einer griechischen Fassung abgedruckt und wird an die folgenden deutschen Anthropologen, Rassenhygieniker und Rassenwissenschaftler, die Koumaris persönlich zu kennen angab, adressiert: an die Leiter des Wilhelm-Kaiser-Instituts, Eugen Fischer (1874–1967) und Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969), den Rassentheoretiker Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968), bekannt auch als „Rassen-Günther“, die Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887–1976) und W. Hans Weinert (1887–1967), den Althistoriker Hans Reinerth (1900–1990), die Anthropologen und Rassenkundler Egon von Eickstedt (1892–1965), Otto Reche (1879–1966), Theodor Mollison (1874–1952), Wilhelm Gieseler (1900–1976) sowie Oswald Menghin (1888–1973).25Zur Wirkung dieser Wissenschaftler während des Nationalsozialismus, siehe Klee, 2003.
Wie der Autor des Briefs darlegt, habe er sich an die deutschen Anthropologen in seiner Eigenschaft als ein „alter Verehrer der deutschen Wissenschaft“ gewandt, der gegen den italienischen Angriff auf seine Heimat protestieren wolle und dabei die Hoffnung pflege, bei jedem seiner deutschen Kollegen einen „Dolmetscher und vielleicht ein[en] Verteidiger unseres [des griechischen] Rechtes“ zu finden. Dennoch habe keiner „dieser Kollegen“ sein Schreiben erwidert – im Gegensatz zum „Züricher Professor Schlaginhaufen“, wie er hinzufügt, obwohl der Schweizer Anthropologe und Rassenhygieniker Otto Schlaginhaufen (1879–1973) nicht als Adressat seines Schreibens erscheint.
An jenem Tag der Befreiung Athens von der Wehrmacht bekundete der Präsident der HAG seine Absicht, einen weiteren, offenen Brief an dieselben deutschen Anthropologen zu richten. Dabei sei seine Absicht nicht, die Niederlage Deutschlands zu zelebrieren, erklärte er; sein tiefster Beweggrund sei die „professionelle Pflicht“, aber auch der „Seelenschmerz“, den „die bedauerliche Täuschung der Deutschen Wissenschaft“ in ihm verursacht habe, als „sie sich von der Politik hinreißen ließ“.26Wie oben, S. 57. Auch dieses Schreiben ist in den Sitzungsprotokollen der HAG in deutscher und griechischer Sprache abgedruckt. «Χωρίς να χαιρεκακώμεν λοιπόν επί τη επικειμένη ολοκληρωτική ήττα της Γερμανίας, αλλά εκ καθηκόντος επιβεβλημένου, επιθυμούμεν να εκφράσωμεν άπαξ έτι, προς τους ιδίους εκείνους επιστήμονας, οίτινες δεν μας ηξίωσαν απαντήσεως, τον πόνον όστις πληροί την ψυχήν και της Ελληνικής Επιστήμης δια την λυπηράν παρεξήγησιν της Γερμανικής Επιστήμης κατά τας κοσμοϊστορικάς στιγμάς που εζήσαμεν, παρασυρθείσης υπό της πολιτικής» (σ. 57). Während er in diesem zweiten Schreiben die Besatzung seines Landes durch die Wehrmacht beklagt, verschwendet er keine Worte an das Leid der Bevölkerung; gelitten habe der hellenische Geist; Akropolis – nicht die Menschen.
Als Zeugnis für seine guten Beziehungen zu den deutschen Anthropologen dürfte (oder sollte) die Antwort auf sein zweites Schreiben fungieren, die Koumaris drei Jahre später (1947) bei der HAG melden konnte:27Ελληνική Ανθρωπολογική Εταιρεία, Πρακτικά Συνεδρίων, (24.12.1947), 9-14, hier 11. Die drei Briefe sind in diesem Sitzungsprotokoll der HAG (S. 11–14) in griechischer Sprache veröffentlicht. Er teilte mit, dass drei von den elf Adressaten seiner Briefe zurückgeschrieben haben, und diese waren gerade die führenden NS-Rassenwissenschaftler Eugen Fischer, Fritz Lenz und Otmar Freiherr von Verschuer. Die Meldung des Präsidenten des HAG war von persönlichen Tönen geprägt.
Er behauptet, in jedem einzelnen der drei Rückschreiben den Charakter des jeweiligen Autors wiedererkennen zu können, denn er kenne persönlich „alle drei großen Wissenschaftler“, deren Vorlesungen er während der Sommersemester besucht habe.28«Προσθέτω δ’ αμέσως ότι, γνωρίζων εκ προσωπικής αντιλήψεως και τους τρεις μεγάλους πράγματι ερευνητάς (παρακολουθήσας επανειλλημένως και παραδόσεις αυτών, κατά θερινά εξάμηνα) και τον χαρακτήρα των», σ. 11. Alle drei behaupteten, dass sie den ersten Brief nie erhalten haben, während der zweite sie erst 1947 erreicht habe. Sie stellen sich als „machtlose Gelehrte“ dar, die keinen Einfluss auf die Politik nehmen wollten und konnten. In seinem Brief scheint Eugen Fischer sein Bedauern zu äußern, weil er nicht antworten konnte. Selbst wenn er den ersten Brief erhalten hätte, würde er es nicht wagen, darauf zu reagieren, denn dies hätte seine Internierung in einem KZ zur Folge.
Zu diesem Zeitpunkt war es ersichtlich, dass diese Rassenwissenschaftler ihre Aktivitäten während des Nationalsozialismus nicht verantworten mussten (Beyler, 2004; Weiss, 2004). Sie blieben von den Nürnberger Prozessen verschont und durften ihre Karriere fortsetzen. Ioannis Koumaris schien eine engere Beziehung zu Eugen Fischer zu pflegen und diese Beziehung setzte sich anscheinend in der Nachkriegszeit fort. Dies lässt sich wenigstens aus seiner Beteiligung an der Festschrift für Eugen Fischer zum 80. Geburtstag (Koumaris, 1954) schlussfolgern, die seinen Status als Verbündeter eines kleinen Kreises von Anthropologen und Rassenwissenschaftlern um Eugen Fischer suggeriert: den sogenannten „Fischerianern“ (Lösch, 1997, 486).
Fazit
Die Errichtung kompatibler akademischer Umfelder in Europa wird in diesem Essay als Ausgangsposition für die Rekonstruktion der griechisch-deutschen anthropologischen Verflechtungen im Zeitraum von den 1880er bis in die 1950er betrachtet. Zugleich aber ist nicht von der Hand zu weisen, dass die modernen wissenschaftlichen Gemeinschaften sowie die individuellen Wissenschaftler*innen – trotz ihrer Verankerung in breiteren europäischen Kontexten – auch in einem Umfeld von Nationalstaaten agieren. Somit werden sie auch von innenpolitischen Entwicklungen weitgehend beeinflusst, zumal die Professionalisierung der Universitätspositionen mit einer Angewiesenheit auf staatliche Ressourcen bzw. einer Absicherung von symbolischem und materiellem Kapital innerhalb der akademischen Institutionen einhergehen. Diese Komplexität zeigte sich besonders anschaulich im Falle der modernen Anthropologie, die universales Wissen vermittelt und zugleich Konflikte zwischen den europäischen (werdenden) Nationalstaaten austragen, während sie die nationale Idee in anthropologische und Rassenbegriffe übersetzte und nationale Doktrinen zu untermauern suchte.
In diesem Spannungsfeld vollzogen sich die griechisch-deutschen anthropologischen Begegnungen. Die Etablierung des anthropologischen Museums in Athen erfolgte im Zuge der Harmonisierung europäischer wissenschaftlicher Umgebungen, und zugleich schaffte sie die Voraussetzungen für die Errichtung eines lokalen (genauer gesagt: nationalen) Referenzorts für die Anthropologie als Fachdisziplin von nationaler Bedeutung. Die Gründung des Museums stellte hierbei eine Wende in den anthropologischen Verstrickungen zwischen Griechenland und dem deutschen Kaiserreich dar, indem in Griechenland wirkende Ärzte und Wissenschaftler anthropologische Berichte und zum Teil Artefakte mit anthropologischer Bedeutung an die deutschen anthropologischen Institutionen sandten.
Einen besonderen Schwerpunkt legte dieser Essay auf die griechisch-deutschen anthropologischen Verflechtungen während der zweiten Ära der griechischen Anthropologie (1924–1950), die zum größten Teil mit den letzten Jahren der Weimarer Republik, dem Aufstieg des NS-Regimes und dem Zweiten Weltkrieg zusammenfiel. Die Kanäle, durch welche diese Verflechtungen zustande kamen, verliefen durch die deutsche Anthropologie bzw. NS-Rassenwissenschaft. Der Verknüpfungspunkt war die Affinität des Inhabers aller akademischen anthropologischen Positionen in Griechenland, Ioannis Koumaris, zur deutschen Rassenwissenschaft. Im Hinblick auf den Versuch, das durch die NS-Rassenideologie beschädigte Prestige der hellenischen Rasse und der gegenwärtigen Griechen wiederherzustellen, offenbart sich eine gewisse Annährung zwischen der Argumentation von Koumaris und den Philhellenen unter NS-Wissenschaftlern. Während des Zweiten Weltkriegs vertuschte der griechische anthropologische Diskurs sowohl die Judenverfolgung als auch die Besetzung Griechenlands.
Die Einordnung der anthropologischen Verflechtungen in multilateralen Interaktionskontexten, wie ich sie in diesem Essay vorschlage, destabilisiert die Wahrnehmung wissenschaftlicher Eliten als undifferenzierte Entitäten, die vermeintlich im Dienste einer nationalen oder nationalstaatlich geprägten Politik stehen – selbst wenn diese Eliten behaupten, im Namen der Nation zu handeln. Im anthropologischen Diskurs vermag der Appell an die nationale Idee als Ressource zur Erreichung professioneller Ziele dienen, er ist aber keine ausreichende Bedingung für die Absicherung akademischen Kapitals. In diesem Essay habe ich gezeigt, dass die Affinität von Ioannis Koumaris — des wichtigsten griechischen Anthropologen in diesem Zeitraum — zur deutschen Rassenanthropologie und seine Fixierung auf die „hellenische Rasse“, die er in deutsch-rassenwissenschaftlichen Begriffen definierte, zu seiner akademischen Marginalisierung beitrugen. Auch die Wirkung der anfangs vielversprechenden anthropologischen Institutionen, wie die HAG und der Universitätslehrstuhl, ist allmählich zurückgegangen.
Die anthropologische Gesellschaft wurde zu einem Forum für wenige Interessierte an der „hellenischen Rasse“ und ab 1939 auch für diejenigen, die gewillt waren, zum Krieg und zur Besetzung des Landes zu schweigen – wenigstens im Rahmen des anthropologischen Diskurses. Aus den Verflechtungen mit der deutschen Anthropologie und Rassenwissenschaft konnte Koumaris kein symbolisches, akademisches Kapital schöpfen – weder für ihn selbst noch für die Institutionen, die er vertrat.