Quellengattung und historischer Hintergrund
Vertiefende Einsichten in die Strukturen der wittelsbachischen Monarchie in Griechenland eröffnen die Protokolle des Regentschaftsrats. 1833 übernahm dieses ad hoc entstandene Beamten- und Expertengremium die Regierungsgeschäfte für den noch minderjährigen König. Das umfassende handschriftliche Corpus bildet die Grundlage eines Editions- und Forschungsvorhabens im Rahmen der „Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns“, das von der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München getragen wird.1Dabei ist daran gedacht, Erschließung, Transkription und Kommentierung des Quellenbestands mit seiner wissenschaftlichen Auswertung methodisch möglichst eng zu verzahnen. So soll das Vorhaben in eine oder mehrere monographische Darstellungen einmünden. Eine editorische Aufbereitung auf digitaler Basis ist ebenfalls angestrebt. Die originalen Sitzungsniederschriften befinden sich seit ihrem Ankauf aus Privathand während der 1980er Jahre im Griechischen Literatur- und Geschichtsarchiv E.L.I.A. (Ελληνικό Λογοτεχνικό και Ιστορικό Αρχείο) in Athen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden sie erstmals 1999/2000 bekannt, als drei Bände aus dem Bestand in der Ausstellung „Das Neue Hellas“ im Bayerischen Nationalmuseum in München gezeigt wurden.2Vgl. dazu Schegk, 1999, 382f. (Nr. 221). Eine gemeinsame Initiative der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns in München und des Otto König von Griechenland-Museums in Ottobrunn unter Federführung von Hermann Rumschöttel und Jan Murken regte die Digitalisierung des Quellenbestands an. 2010/12 konnte diese digitale Fassung für das Bayerische Hauptstaatsarchiv erworben werden. Sie bildet hier einen neuen Bestand unter der Signatur „Regentschaftsrat des Königreichs Griechenland“.3Für Informationen über die wohl ursprünglich zum Bestand der königlichen Registratur im Athener Schloss gehörenden Protokollserie danken wir Prof. Dr. Hermann Rumschöttel und Gerhard Fürmetz M.A. Weitere Hinweise bei: Kirchner, 2002.
Das Quellenmaterial dokumentiert den Beginn von Ottos Herrschaft bis 1835; es beleuchtet damit die Auftaktphase der sogenannten „Bavarokratie“ im neugriechischen Staat während der Vormundschaftsregierung für den kaum der Kindheit entwachsenen König.
Als Otto, dem zweitgeborenen Sohn König Ludwigs I. von Bayern, 1832 die griechische Königswürde infolge des im Mai des gleichen Jahres zwischen Bayern und den drei griechischen Schutzmächten England, Frankreich und Russland übertragen wurde, fand eine längere Periode tiefer Zerrissenheit ein Ende. Die nach dem Aufstand von 1821 gegen die osmanische Fremdherrschaft gegründete Hellenische Republik war an inneren Parteikämpfen und wirtschaftlicher Zerrüttung zugrunde gegangen. Mehrere Anläufe, eine Monarchie mit Prinzen aus deutschen Dynastien auf der Peloponnes zu installieren, scheiterten an der diplomatischen Delikatesse eben dieser Personalfrage: Philipp von Hessen-Homburg, der von London auserkorene Kandidat, missfiel den Franzosen. Leopold von Sachsen-Coburg und Gotha – 1830 ins Gespräch gebracht – war den drei europäischen Schutzmächten schlicht abhanden gekommen, nachdem er den Thron des 1830 neugegründeten Königreichs Belgien angenommen hatte. In dieser Lage verfiel man auf den Wittelsbacher. Die politische Neutralität des Kandidaten schien auf dem diffizilen europäischen Mächteparkett außer Frage zu stehen. Otto kam aus München, dem Zentrum des deutschen Philhellenismus; hinter ihm stand das nachhaltige Interesse seines Vaters Ludwig.4Dazu in Auswahl für den bayerischen Philhellenismus: Spaenle 1990; Grimm/Nikolau, 1993; Marchand, 1997, 34, 53; Wagner, 2013, allgemein: Maras, 2012. Damit war eine Konstellation gegeben, die der bayerischen Investitur ein solides Fundament verleihen konnte.
Die Landung von Otto und seinem bayerischen Gefolge im Februar 1832 in Nauplia, der provisorischen Hauptstadt des neuen Königreichs, vollzog sich als beeindruckendes Ritual. Der Tross bestand aus rund 3.500 Soldaten. Das Expeditionskorps wurde von Fachleuten aller Disziplinen und Sektoren begleitet.5Vgl. dazu jetzt die Monographie von Friedrich, 2015; ferner Koukouraki, 2009, 182-189. An der Ernsthaftigkeit des bayerischen Engagements konnte daher kein Zweifel bestehen. Die energische Dynamik, die man an den Tag legte, zeigt sich vor allem in den administrativen Dispositionen zu Beginn der Regentschaft. Bereits in München hatte Ludwig I. Vorbereitungen zur Einrichtung des Regentschaftsrats getroffen.6Vgl. Dickopf, 1995. Er besetzte den Rat mit Spitzenpersonal aus Bayern. Der Rat rekrutierte sich aus der staatsbayerischen Verwaltung, der Wissenschaft und dem Militär. Nach dem Rücktritt des ursprünglich nominierten Karl von Abel, des späteren Innenministers Ludwigs I. in München7Vgl. Gollwitzer, 1993, 126-152., setzte sich der Kreis aus fünf Beamten zusammen: Joseph Ludwig Graf von Armansperg, einem Finanzexperten, Georg Ludwig von Maurer als Rechtsexperten und Generalmajor Karl Wilhelm von Heideck für militärische Angelegenheiten. Hinzu kamen Ägidius von Kobell und Johann Baptist Greiner.8Vgl. Maras, 2012, 74-88. Die genannten Protagonisten tauchen in den Protokollen an markanter Stelle auf.
Der Quellenbestand umfasst zwölf Bände mit 345 Protokollen. Ein weiterer Band enthält den Entwurf eines Gesetzbuchs für die Kgl. Griechische Landarmee von 1835. Zum Teil handelt es sich bei dem Corpus um einen Blindbestand mit beträchtlichen, eventuell jedoch rekonstruierbaren Lücken. Von den zwölf Protokollbänden sind bis jetzt acht Bände mit rund 265 Textstücken bekannt geworden. Die vorliegenden Protokolle verzeichnen nach einer kursorischen Sichtung von Hermann Rumschöttel rund 10.000 Einzelfallentscheidungen. Die Sprache der in Kurrent geschriebenen Protokolle ist deutsch. Daneben erscheinen auch Schriftstücke in französischer Sprache. Die Akten geben einen intimen Einblick in die Verwaltungsvorgänge der frühen „Bavarokratie“. Sie beleuchten die ganze Bandbreite des administrativen Handelns. Inhaltliche Schwerpunkte sind in folgenden Bereichen zu erkennen: im Innenpolitischen zum Aufbau der Staatsorganisation einschließlich des Gerichtswesens und des Militärs, im Administrativen zur Organisation der öffentlichen Sicherheit, im Fiskalischen zur Sicherstellung eines ordentlichen Staatshaushalts. Weitere Punkte betreffen die Bekämpfung der Piraterie, den Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen, die Etablierung von regionalen Verwaltungsbehörden, den Aufbau einer Kommunalverwaltung und die Gründung von Schulen und Bildungseinrichtungen. Daneben spiegeln sich in den Protokollen die Bemühungen um die Kodifizierung von Zivil- und Strafrecht wider. Die Regulierung des Staat-Kirche-Verhältnisses mit der Errichtung einer vom Patriachat von Konstantinopel unabhängigen Autokephalie der griechisch-orthodoxen Kirche, die Maßnahmen zur Klosteraufhebung nach dem Vorbild der bayerischen Säkularisation von 1803 und die verschiedenen Bauvorhaben in Athen sind ebenso Gegenstand der Überlieferung. Außerdem dokumentieren die Protokolle vielfältige Maßnahmen zur Gesundheitsvor- und Daseinsfürsorge (Rentenzahlungen, Witwenunterstützung) sowie zur Wirtschaftsförderung.
Die Regentschaftsprotokolle stehen in einem größeren Überlieferungszusammenhang, der für ihre historische Analyse unmittelbar relevant ist. Zunächst sind hier die einschlägigen Aktenbestände aus der regierungsamtlichen Nachbarschaft der Protokolle zu nennen. Wegen der engen Vernetzung der in Griechenland wirkenden Expertenregierung mit der Verwaltung in ihrem bayerischen Herkunftsland ist vor allem die Münchner Überlieferung genauer in den Blick zu nehmen. Ergänzende Erkenntnisse lassen sich sowohl aus ministeriellen Akten (Ministerium des kgl. Hauses und des Äußern), als auch aus den diplomatischen Berichten der bayerischen Gesandtschaft in Athen schöpfen. Ebenso sollte die Korrespondenz führender Akteure im transnationalen bayerisch-griechischen Beziehungsgeflecht der Epoche berücksichtigt werden. Das gilt insbesondere für den mittlerweile editorisch umfassend erschlossenen Briefwechsel Leos von Klenze mit König Ludwig I. Der bayerische König verfolgte Klenzes Beteiligung am Hauptstadtausbau von Athen ab 1834 nicht nur mit großem Interesse, sondern förderte die griechischen Projekte seines Hofbauintendanten nachdrücklich.9Vgl. Glaser, 2004-2011; Papageorgiou-Venetas, 2006. Das in den Protokollen vorhandene prosopographische Datenmaterial liefert neue Hinweise auf das griechische Personal, das mit dem Regentschaftsrat in Verbindung stand oder in dessen Auftrag agierte. Die Dokumentationstiefe erreicht die untersten Ebenen und Peripherien der sich nach und nach etablierenden Verwaltungshierarchie. Diese Daten lassen sich nur im Abgleich mit griechischer Parallelüberlieferung sowie im Rückgriff auf biographische Referenzwerke entschlüsseln.10Auch die sozialgeschichtliche Forschung zur griechischen Diaspora in Bayern als Personalreservoir für die Elitenrekrutierung im neugriechischen Königreich ist hier zu beachten, etwa von Kotsowilis, 1990 über die griechischen Studenten an der Münchner Universität während des Vormärz.
Die griechische Wittelsbacher-Monarchie im europäischen Systemtransfer
Bisher hat man sich nur beiläufig mit verwaltungsgeschichtlichen Quellen zur bayerischen Herrschaft in Griechenland befasst. Die Untersuchungen konzentrierten sich auf biographische Einzelstudien zu den Hauptprotagonisten des bayerischen Regiments. In besonderem Maß trifft das auf Maurer11Dazu: Pantasopoulos, 1991; Dickopf, 1993; Dickopf, 2002. und Heideck12Vgl. Seewald 1994. zu; sie haben im biographischen Rahmen breite Beachtung gefunden. Diese Fokussierung auf einzelne Hauptprotagonisten hat indes zu höchst selektiven Ergebnissen geführt. Das Zerrbild von der bayerischen Fremdherrschaft, verkörpert von idealistisch überhöhten, gleichwohl willkürlich auftretenden Funktionären, beherrscht immer noch die (populäre) Wahrnehmung. Nach wie vor äußert sich diese Auffassung in der pejorativen Einschätzung des ottonischen Regiments als „Bavarokratie“ oder „Xenokratie“. Von der analytischen Auswertung der Regentschaftsratsprotokolle sind daher objektivierende Befunde zu erwarten.13Ein Plädoyer für eine positive Neubewertung der „Bavarokratie“ bei Kotsowilis, 2004. Sie bietet die seltene Möglichkeit, die Mechanismen des bayerischen Regierens in Griechenland auf geradezu mikroskopische Weise und aus der Binnensicht der leitenden Akteure zu rekonstruieren.
Das Projekt ist somit in einen breiten Problemhorizont gerückt. Zu den bevorzugten Themenfeldern der bayerisch-griechischen Geschichte der Neuzeit gehören kunst- und kulturhistorische Aspekte, neben dem umfassend erforschten bayerischen Philhellenismus insbesondere der über Leo von Klenze vermittelte Einfluss des ludovizianischen Kunstkönigtums auf Athens Hauptstadtwerdung.14Vgl. den Ausstellungskatalog von Baumstark, 1999; ferner: Dunkel, 2007; Putz, 2013; speziell zu Klenze: Buttlar, 22014.
Sondierungen zur administrativen und bürokratischen Fundierung der griechischen Monarchie beschränken sich auf Einzelphänomene, wie etwa den Aufbau einer flächendeckenden medizinischen Versorgung oder modernen Bildungsinfrastruktur.15Vgl. Murken, 2002; Scholler, 2002. Mit der geplanten Edition werden entscheidende Erweiterungen des Forschungsszenarios möglich sein. Neue Zugänge ergeben sich vor allem in politik- und systemgeschichtlicher Richtung: Der Griff nach dem griechischen Thron verhalf den Wittelsbachern nicht nur zu dynastischem Prestige; er gab Bayern nicht nur neue außenpolitische Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand. Er bot die Chance, Programme und Praktiken im Sinne eines Nation Building paradigmatisch umzusetzen. Es stellt sich die Frage, ob das griechische „Abenteuer“ als Laboratorium für weitreichende staatliche Reforminitiativen unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts gesehen werden kann. Damit sind aktuelle Forschungsfelder der Governance angeschnitten. Es geht um die historischen Voraussetzungen von internationalem Politikexport, interkulturellem Expertenaustausch und transregionalem Systemtransfer.
Bekanntlich stand die ottonische Monarchie unter dem Eindruck der Verwaltungsreformen, die zuvor bereits im bayerischen „Mutterland“ erprobt worden waren. So lassen sich klare Parallelen zwischen dem Neubayern der Montgelas-Ära und dem bayerischen Griechenland der Otto-Zeit erkennen – sowohl hinsichtlich der Reformkonzeption als auch im Hinblick auf deren Wirkungen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit den kirchlichen Institutionen. Die Anwendung strikt staatskirchlicher Maßstäbe – verbunden mit dem massiven Eingriff in das Kirchengut (Säkularisation) – führte in Bayern wie in Griechenland zu massiver Unruhe auf Seiten des betroffenen Volks. In Griechenland ist im Versuch, die kirchlichen Angelegenheiten nach bayerischem Muster zu ordnen, eine Ursache für das Scheitern der „Bavarokratie“ zu sehen.16Vgl. Evans, 2018, 628; Gallant, 2015, 127.
Man kann den bayerischen Fall als Auftakt einer Reihe von Neustaatsgründungen im 19. Jahrhundert betrachten: Kurz vor der wittelsbachischen Thronbesteigung in Athen stand die belgische Staatsgründung (unter Beiziehung des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha). Auf dem Balkan kam es zu weiteren Monarchiegründungen – meist unter Beteiligung deutscher Adelshäuser, so in Serbien, Bulgarien und Rumänien.17Vgl. Langewiesche, 2013. Der bislang eher Befremden weckende Fall einer bayerischen Monarchie im Méditerranée kann dann nicht mehr als exotische Singularität abgetan werden, sondern würde als exemplarischer Fall europäischer Staatsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert markanter als bisher hervortreten.
Regieren und Verwalten
Der Regentschaftsrat übernahm, wie die Eintragungen in den Protokollen zeigen, nicht nur die wichtigsten Aufgaben beim Aufbau des Staates in seine Verantwortung, sondern kümmerte sich auch um weniger „zentrale“ Angelegenheiten, teilweise auch zu Einzelfällen und Detailfragen. Die Erledigung solcher Aufgaben wurde zwar meistens an die zuständigen Ministerien weiterdelegiert, jedoch scheint der Regentschaftsrat darum bemüht gewesen zu sein, die Organisation von Staatsverwaltung, Militär, Infrastruktur und unterschiedlichen Feldern des gesellschaftlichen Zusammenlebens auch im Kleinen, nach Möglichkeit unter eigener Kontrolle, zu behalten und bis hin zur untersten Verwaltungsebene selbst zu gestalten. So wurden nicht nur Anträge der verschiedenen Ministerien bearbeitet und die Besetzung wichtiger Posten in der Verwaltung vorgenommen, sondern auch Bestimmungen in Angelegenheiten singulärer Natur getroffen: Dies betraf beispielsweise den Einsatz bestimmter Schiffe aus staatlichem Besitz bei außerordentlichen Angelegenheiten, in einem noch konkreteren Fall die Bezahlung und Aufbewahrung einer aus München importierten Münzmaschine;18Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Protokoll des Regentschaftsrats des Königreichs Griechenland (im Folgenden: RP), Bd. 5, Nr. 154, 10/22. Sept. 1834, Nr. 16-17, fol. 15r. in einem weiteren Fall wurden Anweisungen erteilt, die den Umgang mit obdachlosen Familien betrafen, welche sich in einer ehemaligen Moschee in Nauplia wohnlich eingerichtet hatten.19RP Bd. 5, Nr. 159, 15./27. Sept. 1834, Nr. 15, fol. 49r. Weitere Beispiele dieser Art machen einen beträchtlichen Anteil unter den dokumentierten Entscheidungen aus.
In vielen Fällen wird dabei das ernsthafte Selbstverständnis des Regentschaftsrats als Hauptträger direkter staatlicher Fürsorge für die griechische Bevölkerung deutlich. Die folgenden Beispiele geben eine Ahnung von dem hohen – mitunter idealistisch anmutenden – Verantwortungsbewusstsein, mit dem der Regentschaftsrat an seine ihm eben zuteil gewordene Aufgabe des Staatsaufbaus und der Herstellung eines stabilen gesellschaftlichen Zusammenlebens heranging.
Unwetterregulierung, Katastrophenmanagement
Im November und Dezember 1833 richteten schwere Unwetter in mehreren Gebieten des Landes – auf der Peloponnes, in Phokis und Lokris sowie auf einigen ägäischen Inseln – zum Teil schwere Schäden an. Die Regentschaft gab den Ministerien hierzu die nötigen Anweisungen zur Behebung der Schäden und zur Unterstützung der Betroffenen. Man betonte explizit, nicht zuletzt allen Behörden deutlich machen zu wollen, dass die Regentschaft „bei dergleichen unglüklichen Ereignissen die thätigste und schleunigste Hilfeleistung […] als eine ihrer wichtigsten Pflichten betrachte“. Die darauffolgenden Anweisungen betreffen einzelne Personen und Lokalitäten, deren Auswahl zum Teil willkürlich anmutet – wahrscheinlich handelt es sich dabei um einige besonders drastische Fälle. Dem Nomarchen der Kykladen wird besondere Anerkennung für sein außerordentlich vorbildliches „Krisenmanagement“ gezollt; der Nomarch von Lakonien hingegen wird für die verspätete Anzeige der Unwetterschäden zur Rechenschaft gezogen.
Eigens hervorgehoben wird schließlich die Hilfeleistung für einige Grundbesitzer bei Monemvasia, deren Saaten durch das Unwetter vernichtet worden waren: Denjenigen, die nicht über die Mittel zum Neuanbau verfügen, soll finanzielle Unterstützung vonseiten des Staates zuteilwerden; jedoch wird angeordnet, dass sie die Darlehen nach der nächsten Ernte zurückerstatten müssen.20RP Bd. 2, Nr. 71, 20. Dez. 1833/1. Jan. 1834 – 26. Dez. 1833/7. Jan. 1834, Nr. 6, fol. 1v-2v.
Witwen- und Waisenunterstützung, Geiselfreikauf
Ein anderer Aspekt, der hier beispielhaft aufgeführt werden soll, betrifft die staatliche Unterstützung besonders solcher Untertanen, die im Zuge des Befreiungskampfes der 1820er Jahre ihre Angehörigen verloren hatten und sich nun in einer finanziell prekären Lage befanden.
So wurde im Juni 1833 beschlossen, diejenigen Witwen der Stadt Messolongi, deren Kinder bei der Einnahme der Stadt durch osmanische Truppen 1826 verschleppt worden waren, bei deren Auslösung – wofür die Frauen eigens nach Ägypten reisen mussten – zu unterstützen. Zu diesem Zweck wurden vonseiten der Regentschaft 500 Drachmen zur Verfügung gestellt, wobei jede Witwe maximal 30 Drachmen erhalten sollte; die Überfahrt nach Ägypten wurde von staatlicher Seite organisiert. Die Frauen mussten für die Bereitstellung dieser Hilfeleistungen glaubhaft nachweisen können, dass ihre Kinder verschleppt worden waren und sie selbst finanzielle Unterstützung benötigten, um sie auszulösen.21RP Bd. 1, Nr. 41, 3./9. Juni 1833, Nr. 17, fol. 43r-43v. Dieser Vorgang gibt eine Vorstellung davon, wie auch bei solchen Entscheidungen mehrere Ministerien zusammenwirkten: Das Ministerium des Königlichen Hauses und das Ministerium des Inneren sollten gemeinsam über jeden einzelnen Fall entscheiden; das Außenministerium sollte für die Ausstellung von Empfehlungsschreiben Sorge tragen – wobei nicht erwähnt wird, ob das Ministerium diese selbst ausstellte – und die Überfahrt organisieren.22Ebd., fol. 43v.
Ein anderer Fall betrifft die zwei Töchter des 1827 gefallenen Jeorjios Karaiskakis, der einer der führenden Köpfe des griechischen Befreiungskampfes gegen die Türken gewesen war. Die Mädchen bezogen eine jährliche Pension von insgesamt 2760 Drachmen, deren Anwendung nun genauer geregelt werden sollte: So wurde festgelegt, wieviel genau für Verpflegung, Unterricht und Kleidung aufgewendet, ebenso, wieviel für die spätere Verheiratung der Töchter verzinslich angelegt werden sollte. Auch ein Anteil für eine anscheinend alleinstehende Tante, die im Protokoll erwähnt wird, wurde berücksichtigt.
Zudem sollten die Mädchen die Erziehungsanstalt, in der sie bisher – anscheinend gegen ihren Willen – untergebracht gewesen waren, verlassen.23RP Bd. 5, Nr. 161, 18./20. Sept. 1834, Nr. 14, fol. 69r-69v. Bezüglich dieses Falls geben die Protokolle Einblick in einen Dissens, der in dieser Sache zwischenzeitlich zwischen den Ministern Kobell, Armannsperg und Heideck herrschte: Letzterer brachte als Haupteinwand vor, dass durch diese entgegenkommende Behandlung sich andere Leute eventuell zu einer dreisten Forderungshaltung gegenüber Staat und Behörden ermutigt sehen könnten.24Ebd., fol. 69r-69v. Die beiden Erstgenannten traten allerdings für die erwähnten Änderungen der Modalitäten ein und verwiesen dabei auf eine besondere Bringschuld gegenüber dem gefallenen Freiheitskämpfer Karaiskakis:
„Die dermalige Proposition ist offenbar ein Akt der Gerechtigkeit gegen diese Waisen und den Schatten ihres hochgefeierten Vaters“, merkte Armannsperg an, und von Kobell fügte hinzu: „Nach meinem Gefühle und meiner Ueberzeugung hätte ich für die frühere Verfügung, die Kinder dieses tapferen Griechen gegen ihren Willen in ein Kloster oder eine Erziehungsanstalt zwingen zu wollen, nie stimmen können.25Ebd., fol. 69r.
Aufklärerische Regierungspraxis und nationale Traditionsbildung
Anhand solcher und etlicher weiterer Beispiele lassen sich bereits für die ersten zwei Jahre der bayerischen Herrschaft in Griechenland zwei Grundtendenzen konstatieren, die die Arbeit der Regentschaft prägten: Die eine, welche in den Protokollen insgesamt wesentlich stärker zutage tritt, besteht in der Orientierung des politischen und administrativen Alltagsgeschäfts an den Prinzipien des „aufklärerischen“, das heißt rationalisierten, zentral gesteuerten Staatswesens, wie es in Bayern seit den Reformen Montgelas’ zur Entfaltung gebracht worden war. Die andere, in den Protokollen weniger flächendeckend aufscheinende, aber doch immer wieder eindeutig zutage tretende Tendenz, ist die Einreihung des neugriechischen Staates bayerischer Prägung in die noch sehr junge, aber für das neugriechische Nationalbewusstsein bereits fundamentale, identitätsbildende Tradition des griechischen Befreiungskampfes gegen die Osmanen: Auf die Frage, inwieweit philhellenische Denkmuster nicht nur das Projekt des griechischen Staatsaufbaus insgesamt oder das Handeln einzelner maßgeblicher Akteure lenkten, sondern auch das alltägliche politische Geschäft ab 1833 prägten, können die Regentschaftsprotokolle durchaus Antworten geben – denn der aufrichtige Respekt vor den Leistungen der Freiheitskämpfer wurde hier nicht nur vereinzelt formuliert, sondern bestimmte, wie die beiden obigen Beispiele veranschaulichen, auch das Handeln vieler vergleichbarer Fälle. Als besonders repräsentativ für die aktive Förderung der auf dem nationalen Befreiungskampf basierenden Traditionsbildung durch die bayerische Regentschaft erscheint die noch im Jahr 1833 erfolgte Stiftung eines nationalen Verdienstordens.26RP, Bd. 1, königliche Verordnung, Art. 1-12, 20. Mai/1. Juni 1833, fol. 32r-33v. Dieser sollte, wie in den Protokollen festgehalten wurde, „zur Erinnerung an die unter dem Beistande der göttlichen Vorsehung ebenso wunderbar als glücklich vollbrachte Rettung Griechenlands den Namen ‚Der Erlöser‘ tragen.“27Ebd., Art. 1, fol. 32r. In der königlichen Verordnung sind sämtliche Bedingungen und Modalitäten vermerkt, die für die Verleihung des ‚Erlöserordens‘ von Belang waren.
Besonders in folgender Bestimmung kommt der doppelte Anspruch der Regentschaft zum Ausdruck, sowohl dem Befreiungskampf der 1820er Jahre als identitätsstiftendem Moment des neugriechischen Staates gebührende Ehrerbietung zuteilwerden zu lassen, als auch die Untertanen als aktive und loyale Mitgestalter beim an modernen Idealen orientierten Staatsaufbau zu wissen: Verliehen werden sollte der Orden nämlich in der Hauptsache:
an griechische Unterthanen, die entweder während des Befreyungs-Kampfes Griechenland ausgezeichnete Dienste geleistet, und sich um dessen Rettung und Erhaltung besonders verdient gemacht haben; oder die künftig in irgend einem Zweige des öffentlichen Dienstes, im Heere oder der Marine, in der Diplomatie, der Rechts-Pflege oder der öffentlichen Verwaltung auf den angeordneten Stufen der Volks-Vertretung, im Gebiete der Künste und Wissenschaften, des Landbaues, der Gewerbe oder des Handels, oder in irgend einem andern bürgerlichen Verhältniße durch vorzügliche Leistungen, und durch höhere bürgerliche Tugenden sich auszeichnen, und um den Thron, die Ehre des griechischen Namens und das Wohl ihres Vaterlandes sich besonders verdient machen werden.28Ebd., Art. 9, fol. 33r.
Wie oben schlaglichtartig gezeigt werden konnte, geben die Protokolle des Regentschaftsrats Einblick in das tägliche Regierungsgeschäft sowie das Vorgehen bei Aufbau und Gestaltung des neugriechischen Staates, zeichnen aber auch ein deutliches Bild der Ideen und Ideale, die den Tätigkeiten jener zwei Regentschaftsjahre zugrundlagen. Desiderate liegen indes, wie oben schon angedeutet wurde, im Hinblick auf die Erfassung logistischer und vor allem personeller Verhältnisse vor Ort vor: Beispielsweise müsste die Auswahl jener Griechen, die auf Anweisung der Regentschaft Posten in der Administration bekleideten und somit zum Hauptgerüst des Verwaltungsapparates wurden, mithilfe griechischer Archivbestände einer genaueren Untersuchung unterzogen werden; die Regentschaftsprotokolle geben lediglich Aufschluss über Namen und genaue Herkunft, nicht aber über die sozialen Hintergründe und eventuelle frühere Positionen jener Personen – besonders an diesem Beispiel werden die Grenzen offenbar, die dem Informationswert der Protokolle gesetzt sind. Um also ein vollständiges Bild vom Prozedere jenes Staatsaufbaus und den hierbei leitenden Präferenzen und Prämissen zu gewinnen, wird das Projekt zu den Regentschaftsprotokollen in besonders hohem Maße auch eine quellenhermeneutische Synopse verschiedener Aktengroßbestände leisten müssen.