Die Verfassungstradition und die Bedeutung der Monarchie
Insofern die griechischen Revolutionäre ihren westlich orientierten «Landsleuten» folgten, die ins revolutionäre Griechenland gekommen waren, um in seine Dienste zu treten, beabsichtigten sie von Anfang an den Erlass einer modernen Verfassung nach dem Vorbild Amerikas und Frankreichs und begründeten so eine starke, wenn auch nicht zur Vollendung gebrachte, konstitutionelle Tradition, die das politische Leben des freien griechischen Staates fortan bestimmen sollte. Allerdings erwiesen sich die Beschränkung der Exekutive und die Stärkung der Legislative, zwei unbedingt notwendige Voraussetzungen der Umsetzung der Verfassung, bald als eine Ursache der Konflikte zwischen den drei Parteien (der Englischen, der Französischen und der Russischen Partei), die sich im Laufe der Revolution und infolge der Suche nach diplomatischer Unterstützung in den Reihen der aufständischen Griechen gebildet hatten. Auch der demokratische Charakter der Verfassungen der Revolutionszeit wurde infrage gestellt, und das nicht nur vom ersten griechischen Staatspräsidenten Ioannis Kapodistrias, der 1828 die Macht übernahm und dann jene ausgesprochen fortschrittliche Verfassung außer Kraft setzte, die nur ein Jahr zuvor durch die Nationalversammlung von Troizen beschlossen worden war, sondern auch von den europäischen Mächten, die die allzu demokratischen Tendenzen der Verfassungen zu «korrigieren» (Driault-Lhéritier, 1925, 5) trachteten und für den neugegründeten griechischen Staat die Monarchie gegenüber der Demokratie bevorzugten, wobei es keineswegs gewiss ist, dass die Republik bei den Griechen breite Zustimmung fand. Im Gegenteil: Von den ersten Jahren der Revolution an gab es Bekundungen royalistischer Gesinnung, ebenso wie erste Rivalitäten zwischen den führenden Gruppen (Papageorgiou, 2004, 304-306; Hering, 2004, 147; Dragoumis, Bd. 1, 1973, 53-54).
Es ist ganz offensichtlich, dass die griechischen Revolutionäre sich der großen Bedeutung bewusst waren, die die Monarchie für die Europäer besaß – in jener Zeit war die Monarchie die Regel, und die Demokratien waren die Ausnahme –, und sie sie als «diplomatische Waffe» benutzten, um Europa zu beruhigen und der Gefahr zu begegnen, als Jakobiner oder Carbonari verschrien zu werden. Darüber hinaus würde ein europäischer König die territorialen Grenzen besser gewährleisten und, was das Wichtigste war, den inneren Frieden sowie die Einheit der verfeindeten Fraktionen garantieren können (Petropulos, Bd. 1, 1985-1986, 63-64).
Bekanntlich war die antike griechische Vergangenheit für den bayerischen König Ludwig der wichtigste Grund, der Krönung seines zweitgeborenen Sohnes Otto zum König von Griechenland zuzustimmen. Nach den auf Kapodistrias‘ Ermordung im Jahr 1831 folgenden bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen hatten die Griechen den jungen Wittelsbacher als die einzige Lösung zur Verhinderung einer durch den mörderischen Bruderkrieg bereits in Gang gesetzten Katastrophe akzeptiert. Obwohl man dem bayerischen König in Griechenland also freundlich gesinnt war, erwiesen sich die Schwierigkeiten, mit denen er sich konfrontiert sah, letztlich als unüberwindbar. Die ihm durch Europa gewährte Garantie, die als ausgesprochen nützliche Stütze seiner Herrschaft erschien, sollte sich in den Zeiten der absoluten Monarchie und entsprechend zu den Widerständen im Inneren als größte Bedrohung seines Thrones erweisen (Petropulos, Bd. 1, 1985-1986, 63-65).
Die von Frankreich, England, Russland und Bayern am 7. Mai (25. April) 1832 unterzeichnete Londoner Konvention, mit der die Griechische Revolution formell für beendet erklärt und die Krone Griechenlands offiziell Otto übertragen wurde, hatte die Frage der Verfassung noch offengelassen. Bei den vor der Unterzeichnung der Übereinkunft in München durchgeführten Verhandlungen zwischen Ludwig I. von Bayern und den Außenministern der drei Mächte hatten diese vorgeschlagen, dass der Regentschaftsrat, der bis zur Volljährigkeit des jungen Königs die Macht für ihn ausüben würde, sich auf in der Verfassungsfrage «gemäßigte Minister» stützen solle. Der Außenminister Bayerns, Friedrich August Theodor Freiherr von Gise, akzeptierte die Vorschläge der europäischen Mächte grundsätzlich und erklärte, dass Bayern bereit sei, Opfer zu bringen. Die einzigen Gegenleistungen, die er verlangte, waren eine Erweiterung der Grenzen des neugegründeten Staates sowie die Garantie eines Kredites. Zugleich aber erklärte er den Wunsch Münchens, dass sich die Griechen vor Ottos Ankunft in Griechenland keine Verfassung geben sollten, um so der Gefahr zu begegnen, dass eine solche Verfassung so demokratisch wäre, dass es dem König unmöglich sei, seine Macht auszuüben. Um des Gleichgewichts willen beruhigte von Gise seinen anglophil und konstitutionalistisch gesinnten griechischen Amtskollegen Spyridon Trikoupis mit dem Versprechen, dass eine Nationalversammlung in naher Zukunft und in Zusammenarbeit mit dem Regentschaftsrat eine Verfassung ausarbeiten werde, die «ohne Zweifel den Bedürfnissen, den Wünschen und den Interessen der Nation entsprechen würde» (Driault-Lhéritier, 1925, 81-87; Petropulos, Bd. 1, 1985-1986, 191-192).
Während von griechischer Seite vorgeschlagen wurde, eine Nationalversammlung solle zumindest für kurze Zeit zusammenkommen, um dem Regentschaftsrat die Macht, die zur Regierung des Landes notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, formell zu übertragen, vertrat die bayerische Seite die Auffassung, es sei «für eine königliche Regierung unangemessen, eine derartige Komödie aufzuführen», und die Einberufung einer solchen Versammlung würde den Regentschaftsrat unter den bestehenden Bedingungen nur daran hindern, seinen Pflichten nachzukommen, und sich letztlich zu Ungunsten der nationalen Interessen auswirken (Maurer, 1976, 444-445). Doch die Unklarheiten des Abkommens vom 7. Mai hinsichtlich der Frage der Religionszugehörigkeit des Königs und der Bestätigung seiner Ernennung durch eine gesetzgebende Körperschaft sowie das Hauptproblem der Verfassungsfrage, de facto also die Gründung der absoluten Monarchie, schufen ganz grundsätzliche politische Probleme und riefen den Widerstand der Parteien hervor. Die Transformation Griechenlands in ein «bayerisches Protektorat unter der übergeordneten Kontrolle, welche die umstrittene ‘Garantie’ der drei Mächte implizierte», erklärt, wie John Petropulos (1985-1986, Bd. 1, 174-176) feststellt, die Empfindlichkeit der Griechen gegenüber jenem Phänomen, das nun «Vavarokratia», «Bayernherrschaft», genannt wurde.
Die Bayern ihrerseits waren der Überzeugung, die absolute Monarchie sei die geeignetste Lösung, um aus Griechenland einen modernen Staat westlichen Typs zu machen. Sie glaubten – ebenso wie ein kleiner, aber bedeutender Teil des griechischen Volkes –, dass genau dies das Ziel der griechischen Revolutionäre sei. Infolgedessen seien die hinsichtlich der modernen Institutionen über Wissen und Erfahrung verfügenden Bayern die einzigen, die den Griechen beibringen könnten, was sie wissen mussten. Gemäß dieser Logik stellte der Absolutismus also, wie Georg Ludwig von Maurer bemerkt (1976, 445), das unabdingbare Mittel zur Befriedung des Landes dar. Er sollte die Gemüter beruhigen und dafür Sorge tragen, dass der Staatsapparat so organisiert wurde, dass «Wirklichkeit wird, was sich die griechische Nation erträumt hatte, als sie sich erhob, um den türkischen Despotismus zu schlagen». Unter dem Strich sollten die Griechen erst selbst beweisen, «dass sie der konstitutionellen Regierungsform würdig waren». Zur Bekräftigung seiner Worte merkt Maurer sogar noch an, dass es anfangs keinerlei Widerspruch in dieser Frage gegeben hätte, dieser später jedoch «paradoxerweise» gerade von jenen kam, die in der Vergangenheit auf jeden eingedroschen hätten, der für eine Verfassung eintrat (Maurer, 1976, 445). Es ist offensichtlich, dass die Rede hier von der Russischen Partei und ihrer Haltung in der Zeit des auf die Ermordung Kapodistrias‘ folgenden Bürgerkrieges ist. In der ersten Phase der absoluten Monarchie wurde die am besten organisierte Opposition tatsächlich von der Russischen Partei verkörpert – die anti-konstitutionelle Partei schlechthin in den Jahren Kapodistrias‘ und des Bürgerkrieges, die sich jetzt von der Regierung ausgeschlossen sah. Die auf die Verurteilung des Revolutionshelden Theodoros Kolokotronis, welcher der gegen die rechtmäßige politische Macht gerichteten Verschwörung mit Russland beschuldigt und wegen Hochverrats verurteilt worden war, folgenden Aufstände richteten sich gegen die Bayern und zielten vor allem auf die Gewährung einer Verfassung.
Enttäuschte Erwartungen und die Verantwortung der Bayern
Es ist eine Tatsache, dass die konstitutionelle Bewegung, die eine Verfassung als das wichtigste Symbol der politischen und kulturellen Anerkennung des jungen Staates und als Mittel zur Annäherung an die europäischen Staaten betrachtete, in der Zeit der absoluten Monarchie weniger den Geist des modernen Konstitutionalismus als vielmehr die großen Teile der herrschenden Schichten beherrschende Furcht vor einer drohenden Zerschlagung der alten gesellschaftlichen Strukturen durch die Bayern ausdrückte. Bestärkt wurde diese Furcht durch die Verdrängung der griechischen «Warlords» durch den Verwaltungsapparat und durch die absolutistische bayerische Regierung (Tsapogas, 2010, 71-78). Der vor Ort von etablierten lokalen Herrschern, die ihre ureigenen Interessen gefährdet sahen, ausgehende Widerstand fand in der Periode des Regentschaftsrates und der absoluten Monarchie «in der Parole des Konstitutionalismus einen passenden ideologischen Deckmantel seiner Ansprüche» (Kitromilidis, 1984, 43).
Der westlich orientierte Teil der griechischen Gesellschaft, welcher durch die Englische Partei und die anglophile Zeitung Athina repräsentiert wurde, erkannte durchaus Maurers Beitrag zur Schaffung gewisser liberaler Institutionen an, wie zum Beispiel bei der Einrichtung des Systems der Schwurgerichte (Athina, 3.11.1836). Das war es dann aber auch schon an positiven Kommentaren. Der Regentschaftsrat wird der Verkennung «unserer Situation» und des schlechten Wirtschaftens beschuldigt. Unter Verweis auf Montesquieu, der in seinen Persischen Briefen notierte, dass nur die Asiaten der Auffassung seien, dass sich die Verwaltung der Staatseinnahmen in nichts von der Verwaltung der privaten Einkünfte eines Menschen unterscheide, kommt die anglophile Zeitung auf die Verfassungsfrage zurück und schreibt, dass in einem Verfassungsstaat niemand «sagen kann, ‚der Staat bin ich‘ und die Einnahmen der Bürger daher die seinen seien», wie in der Epoche Ludwig XIV. (Athina, 26.8.1836). Die «unerträgliche Fremdherrschaft» war laut der Athina nicht allein für die autoritäre Regierungsweise, sondern auch für die schlechte Finanzwirtschaft verantwortlich, für die Verschwendung des «blutgetränkten Geldes» der Griechen (Athina, 20.1.1837) und für die überhebliche Behandlung des griechischen Volkes durch die Bayern, die damit verglichen wird, wie die Spanier die Einwohner Perus und die Franzosen die Beduinen behandeln, wobei jedoch angemerkt wird, dass die Franzosen das Geld des Staates in Algerien «reichlich und großzügig ausgeben und die Einwohner Algeriens nicht so ausrauben wie die Bayern die Griechen» (Athina, 30.1.1837). Die Verfassungsstaaten England, Amerika und Frankreich werden als Vorbilder genannt, wann immer man Kritik an der autoritären Regierung der Bayern übt (Athina, 28.4.1836). Auch die Selbstkritik, die der französische Staatspräsident Thiers im Juni 1836 in seiner Rede vor dem französischen Parlament übte, als er eingestand, dass es ein Fehler gewesen sei, die durch den Regentschaftsrat ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren, wird von der anglophilen Zeitung sogleich genutzt, um auf die Probleme hinzuweisen, die durch die bayerische Verwaltung entstanden waren, und die Verfassungsfrage zu stellen (Athina, 4.7.1836).
Zum anderen erregte 1837 die Machtübernahme durch Ignaz von Rudhart, der als Vertreter Wiens und der Heiligen Allianz betrachtet wurde, das Missfallen der englischen Regierung, vor allem von Palmerston, der nun seinerseits damit drohte, dass «an eine nicht nationale und verfassungsfeindliche Regierung» keine weiteren Gelder aus der englischen Schatzkammer fließen würden (Athina, 7.9.1838), womit die Kreditrate gemeint war, die die Garantiemächte sich bei der Ankunft Ottos in Griechenland zu zahlen verpflichtet hatten. Von Anfang an drückte die Athina ihre Ablehnung der Zusammensetzung des ausschließlich von Bayern gebildeten Kronrates aus und erklärte, dass die Griechen nicht wünschten, weiterhin «Fremde» in ihrem Land zu sehen, wobei man Otto von den «fremden Bayern» ausnahm (Athina, 12.2.1837). Doch bestätigte das Handeln des jungen Königs, das nach Rudharts Entfernung zeigte, dass er die Macht allein ausüben werde, die frommen Wünsche der Presse offenbar kaum. Unter Anleitung seines Vaters und des österreichischen Gesandten Prokesch von Osten machte Otto seine Auffassung klar, dass die Parteien nicht mehr repräsentierten als eine kleine oligarchische Minderheit und dass die absolute Monarchie – und nicht das Zugeständnis einer Verfassung – das griechische Volk von der «Tyrannei» der herrschenden Gruppen befreien würde. Jetzt war es offensichtlich, dass Otto selbst gegen das Zugeständnis einer Verfassung war, weil ihm dies von seiner Bildung und von seinen politischen Überzeugungen so diktiert wurde, und nicht etwa, weil der Regentschaftsrat es ihm gebot (Petropoulos/Koumarianou, 1982, 171-183).
Die Angriffe und Seitenhiebe gegen den Absolutismus wurden nun immer heftiger, während man zugleich das Loblied auf das konstitutionelle und liberale Europa sang, das den griechischen Kampf unterstützte und den Griechen eine Verfassung versprach. Laut der Athina waren für die Enttäuschung ihrer Erwartungen jedoch allein «die fremden, eigennützigen Regenten, die Erzkanzler und Ministerpräsidenten» verantwortlich, während man es wortgewandt vermied, Ottos Verantwortung für das Weiterbestehen der absolutistischen Regierungsweise anzusprechen (Athina, 19.3.1838).
Bemühungen um eine «temperierte Monarchie» und die Unreife der Griechen für eine Verfassung
England wiederum hörte nicht auf, auf das Zugeständnis einer Verfassung zu drängen, blieb entgegen aller Erwartungen dabei jedoch ohne Einfluss auf Otto, der sich inzwischen auf die Spiele der Parteien eingelassen und Russland zugewandt hatte. Der Unterstützung durch das Volk gewiss, widerstand Otto weiterhin dem Druck Englands (Petropoulos/Koumarianou, 1982, 193-201), der jedoch auch bei dem gemäßigten Führer der Englischen Partei, Alexandros Mavrokordatos, keine Zustimmung fand. In der Überzeugung, dass man hinsichtlich einer funktionierenden Verfassung zunächst einmal die entsprechenden Voraussetzungen schaffen müsse, schlug Mavrokordatos Otto Reformen wie die Reorganisation der Gemeinden, die Einrichtung einer unabhängigen Justiz und die Verkündung der Pressefreiheit vor, Maßnahmen, deren Umsetzung er als unabdingbar betrachtete, damit das Volk vor der Verabschiedung einer Verfassung erst einmal lerne, das Gesetz zu respektieren. Sein maßvoll-liberaler Begriff der «temperierten Monarchie», wie er es nannte, blieb weit hinter den Auffassungen des englischen Gesandten Edmund Lyons zurück, der auf jede nur erdenkliche Weise auf die Gewährung einer Verfassung hinarbeitete (Petropoulos/Koumarianou, 1982, 531-532).
Bei den Auseinandersetzungen zwischen den beiden innerhalb der Englischen Partei verbreiteten Auffassungen wird die Athina die gemäßigte Position von Mavrokordatos und die «gerechten Institutionen» unterstützen. Sorgsam vermeidet sie es, die Verfassungsfrage zu stellen, und konzentriert sich stattdessen ganz auf die Institutionen, wobei sie feststellt, dass diese freien Institutionen auch dem Wunsche der drei Großmächte entsprechen, die die Staatsgründung vorangebracht hatten (Athina, 5.5.1841). Später, in der Zeit der türkisch-ägyptischen Krise von 1839–1841, wird Otto Mavrokοrdatos dann zum Außenminister ernennen (1841), um England zu besänftigen. Dies war inzwischen notwendig geworden, weil England wegen der Verstrickung Griechenlands (das auf die Erfüllung seiner irredentistischen Träume hoffte) in die Orientkrise zutiefst beunruhigt war. Nachdem Mavrokordatos sich aber über Ottos Unnachgiebigkeit selbst seinen maßvollsten Vorschlägen gegenüber klar geworden war, sah er sich gezwungen, zurückzutreten. In der Athina wurde die «Fremdherrschaft» als ein gefräßiger, aber «nicht ewig bleibender Geier» charakterisiert, der die Eingeweide der Griechen verschlinge und den man möglichst schnell wieder «in sein Nest zurückstecken» müsse. Die Zeitung schrieb die Verantwortung für die politische Entwicklung den «selbstsüchtigen oder hinterlistigen» bayerischen Beratern des Königs zu und unterstützte die von Mavrokordatos gestellten Forderungen. Besonders hervorgehoben wurde, was mit einer Entfernung der Bayern von der Macht zu tun hatte, wobei man die Gefahren unterstrich, die die Fremdherrschaft in sich barg: «Welche Nation hat jemals klaglos die Fremdherrschaft ertragen, ohne dass nicht schließlich doch Revolutionen ausgebrochen wären, denen als Erstes jene fremden Satelliten zum Opfer fielen. […] Die Nationen sind alle von gleicher Individualität, welche jedwede Einmischung einer anderen Nation verbietet» (Athina, 21.6.1841).
Obwohl Otto in Anbetracht der Gefahr eines Aufstandes, die die Anwesenheit von Tausenden von Freiwilligen bedeutete, welche sich in der Hauptstadt aufhielten, um nach Kreta überzusetzen, wo sie sich an der Erhebung gegen die Pforte beteiligen wollten, dazu gezwungen war, sich zu fügen und die meisten der Forderungen von Mavrokordatos zu akzeptieren, schien er zu wirklichen Zugeständnissen nicht bereit. Als Vorsitzender des Ministerialrates stand der Führer der Englischen Partei im Juni 1841 einer Dreiparteienregierung vor und versuchte, das labile Gleichgewicht zwischen den drei Parteien aufrechtzuerhalten, die im Wesentlichen allein durch ihre «gemeinsame Feindschaft» dem bayerischen Absolutismus gegenüber geeint waren (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 538-539). Das in der Verfassungsfrage ebenfalls mehr der gemäßigten Auffassung von Mavrokordatos zugeneigte Oberhaupt der französischen Regierung, François Guizot, versandte im März 1841 ein an den englischen, russischen, österreichischen und den preußischen Hof gerichtetes Rundschreiben, in welchem er unter anderem seine Ansicht zum Ausdruck brachte, dass Griechenland noch nicht reif genug für eine Verfassung sei. Im Prinzip wollte Guizot mit seinem Rundschreiben im Rahmen des während der Orientkrise wieder akut werdenden französisch-englischen Antagonismus das Interesse Frankreichs an Griechenland bekunden, wobei seine Ratschläge an den bayerischen König damals jedoch als eher «aufdringlich» wahrgenommen wurden (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 541-543; Driault-Lhéritier, 1925, 207-208).
Guizots Einmischung provozierte entsprechende Reaktionen der russo- wie auch der anglophilen Kräfte. Ohne Umschweife warf die russophile, die Orthodoxie unterstützende Zeitung Aion dem «aufgeklärten Europa» vor, es untergrabe jeden Fortschritt im griechischen Königreich. Mit seiner Toleranz erlaube Europa es den Bayern nur, ihre absolute Macht auszuüben. Sie stützten sich auf und versteckten sich hinter den neu eingeführten Institutionen westlichen Typs, die ihnen das Recht gäben, alle Andersdenkenden zu verfolgen und einzusperren – eine Anspielung auf die Inhaftierung Kolokotronis‘ (Aion, 27.7.1841).
Europa bewahrt Griechenland vor dem «Bavarismus» und rettet den bayerischen König
Ottos mangelnde Bereitschaft, die Forderungen von Mavrokordatos zu akzeptieren, führten in Verbindung mit den Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung im August 1841 zum Rücktritt des Vorsitzenden des Ministerialrates, gerade einmal sechs Wochen nach seinem Amtsantritt. Die «Mavrokordatos-Episode» belegte die Unnachgiebigkeit des Königs, wenn es darum ging, auch nur ein wenig seiner Macht abzugeben, und sie sorgte dafür, dass der Protest gegen ihn noch lauter und der Weg zur Revolution vom 3. September 1843 eröffnet wurde (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 543-546). Zum anderen begeisterten die im August 1843 im englischen Parlament ausgetragene Debatte über die Griechische Frage* und die dort artikulierte Position, dass Griechenland eine Konstitution gewährt werden müsse, die für eine Verfassung eintretenden Zeitungen. In der Debatte wurden die Fehler oder, vorsichtiger gesagt: die Versäumnisse der Bayern bei ihrem Umgang mit der Verfassungsfrage betont, wobei Großbritanniens konsequentes Eintreten für eine Konstitution hervorgehoben wurde. Man ließ nicht unerwähnt, dass Otto, als er sein Amt antrat, wusste, dass er verpflichtet sei, auf der Grundlage einer Verfassung zu regieren. Den Bayern wurde unterstellt, sie behandelten die Griechen nicht so, wie sie sollten. Die Verantwortung dafür sah man sogar bei England selbst, da es die «Bavarisierung» Griechenlands zugelassen und Otto zum König gemacht habe. Von konservativen Abgeordneten wurde geltend gemacht, dass am Elend in Griechenland nicht Otto schuld sei, sondern der Regentschaftsrat, wohingegen Außenminister Palmerston behauptete, dass der Regentschaftsrat in Griechenland viele politische Institutionen geschaffen habe, die der Einführung einer Verfassung entsprächen, und Otto sowie sein Vater Ludwig I. als alleinverantwortlich für die Nichtgewährung einer Verfassung zu betrachten seien. Zudem beschuldigte er Otto, seine Regierungsweise sei durch «Verschwendung und Zügellosigkeit» gekennzeichnet, die die Griechen mit neuen Krediten belasteten (Aion, 28.8.1843).
Europa hatte sich für die Parteien, die auf die Presse gestützt «die öffentliche Meinung monopolisierten» (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 573-575), so sehr zu einem Hoffnungsträger und zu einer Stütze der Forderungen der Griechen nach einer Verfassung entwickelt, dass man sogar auf eine Intervention hoffte, die das «um sein Leben kämpfende» Griechenland vor dem «bayerischen System» retten würde. Die prowestliche Athina wies auf die Übereinstimmung der europäischen und der griechischen Ziele hin und schrieb, Europa würde nur zu gerne sehen, wie «die Griechen auf rechtmäßige und vernunftgemäße Weise die durch ihr Blut und ihre Opfer erworbenen Rechte den Händen des abscheulichen Bavarismus entwinden» (Athina, 1.9.1843).
Falls die europäischen Mächte von dem, was geschehen würde, gewusst und indirekt zu der von den drei Parteien ausgeheckten Verschwörung gegen den König beigetragen haben sollten (Makrygiannis, 428; Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 580; Kaltchas, 2010, 102-107), scheint es doch nicht so, dass sie – zumindest direkt – an den Ereignissen beteiligt waren. Sie waren vielmehr bemüht, das Gleichgewicht zwischen dem gefährdeten König und den Aufständischen aufrechtzuerhalten. Die britische Regierung, die vorab darüber informiert worden war, was in etwa passieren würde, hatte ihrem Gesandten in Athen, Edmund Lyons, sogar mitgeteilt, dass man zwar die Einrichtung freier Institutionen erlaube, die «Vertreibung des Königs aber als eine russische Intrige betrachtet werde, die auf jede Art und Weise abgewehrt und verhindert werden müsse». Lyons überbrachte die Botschaft des englischen Außenministers George Hamilton-Gordon Earl of Aberdeen, und er merkte an, die griechische Regierung solle «gut aufpassen, dem König kein Haar zu krümmen, da zu seiner Sicherheit eine ganze Flotte mit drei- bis viertausend Soldaten», die nur darauf warteten, von Bord zu gehen, bereitstehe (Dragoumis, Bd. 2, 1973,72-73). Es war ein offenes Geheimnis, dass der russische Gesandte Gavriil Antonovich Katakazi mehr als jeder andere in die Verschwörung verstrickt war, weil er nichts mehr wünschte als den Rücktritt Ottos und seine Ersetzung durch einen orthodoxen Prinzen (Driault-Lhéritier, 1925, 239-240; Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 580, 694-696). Die höfische Umgebung Ottos zeigte jedoch, dass man sich der Lage und der wahren Absichten der Mächte bewusst war. Man wusste, dass die englischen und französischen Gesandten die Ereignisse billigten, meinte aber, dass sie sie nicht auf die Spitze treiben würden, wobei außer Frage stand, dass es Russlands Ziel war, den nicht orthodoxen König loszuwerden (Busse/Busse, 2011, 429-439). Dieses Mal diente die Verfassungsfrage dem Vertreter Russlands und den philorthodoxen Kräften also als ideologischer Deckmantel im Kampf gegen Otto, während es für die «aufgeklärten Nationen» einfach darum ging, ihn «zur Vernunft zu bringen».
Ottos «Besonnenheit» und die «abenteuerlustigen» Bayern
Um der Billigung Europas willen wurde nach der erfolgreichen Revolution vom 3. September von den Zeitungen deren friedlicher Charakter und die kultivierte Weise betont, auf die die Griechen ihre Rechte eingefordert hatten. Auf die Ängste der Bayern bezüglich der «wilden und dunklen Leidenschaften» der Griechen, die eine Wiederholung der «Sizilianischen Vesper» denkbar erschienen ließen, antwortete man, man hoffe nunmehr, dass akzeptiert werde, dass «die Griechische Vesper das genaue Gegenteil der Sizilianischen sei, denn statt Mord bedeutet sie Rettung, statt Rache Vergebung und statt Fanatismus die erhabene Umsicht des Fortschritts» (Athina, 8.9.1843). Im gleichen Geist wie die Athina fordert auch der Aion nach den Ereignissen vom 3. September die Anerkennung Europas ein. Nachdem er festgestellt hat, dass Griechenland nunmehr zum Kreis «der doch wohl gut regierten europäischen Nationen» zu zählen sei, drückt er seine Hoffnung aus, dass diese dem Land in Zukunft beistehen werden. Um Europa hinsichtlich erneuter Unruhen zu beruhigen, verbürgt man sich für die Zurückhaltung der Griechen und für «Ruhe» und «Ordnung» (Aion, 11.9.1843).
Griechenlands Ansehen scheint tatsächlich gerettet, wenn man nach den Kommentaren der französischen Zeitung Journal des Débats geht, die die Revolution in einem Artikel auf ihrer Titelseite als «vernünftig» charakterisiert und von den Griechen schreibt, sie hätten die Sympathie und Achtung ganz Europas verdient (Journal des Débats, 27.9.1843). Die Athina übernahm den Artikel der französischen Zeitung und hob deren lobende Anerkennung für Otto hervor, für «sein anständiges Verhalten und seinen generösen Charakter […], die Besonnenheit, die er an jenem kritischen Tage, dem 3. September, zeigte, seine wahrhaft königliche Tugend und seine unverbrüchliche Liebe zur griechischen Nation». Um etwaige Befürchtungen der Mächte auszuräumen, versicherte man den Europäern die «von ganzem Herzen kommende Hingabe» der Griechen «an Ottos Thron und die freiheitliche und vernünftige Gesinnung unserer Nation, durch die allein wir, die wir Otto zum König haben und unter dem Schutz und in der Gunst der größten Weltmächte stehen, unser Ziel zu erreichen trachten» (Athina, 2.10.1843). Der Aion seinerseits merkte an, dass «sich allein die deutschen Zeitungen lästerlich über die Vorstellungen unserer nationalen Bewegung auslassen», und er übernimmt die lobenden Kommentare über die Griechen, die die englische Presse macht. In einem Artikel bringt man dann gezielt alles vor, was die Londoner Times der bayerischen Politik so unterstellt. Man teilt die Charakterisierungen und Kommentare der englischen Zeitung über die Bayern mit, die als «unbedeutende Ausländer» und «Horde von Abenteurern» bezeichnet werden, die die griechische Nation ihrer durch Opfer ganzer «Flüsse von Blut errungenen Freiheit» beraubten, sie beleidigten und «schamlos» ohrfeigten. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich die englische Zeitung noch zurückhielt und sie das Prestige des Monarchen respektierte. Den Griechen wird geraten, sich mit ihrem werten Herrscher «zu identifizieren», um ihre nationale Bestimmung zu verwirklichen (Aion, 24.10.1843). Es ist offensichtlich, dass sich die Stimmung nach dem Erfolg der Revolution vom 3. September zugunsten des besonnenen bayerischen Königs zu ändern beginnt.
Die Gewährung und die Grenzen der Verfassung und die neue Parteienlandschaft
Bei dieser Wendung wie auch bei allen Verfassungsänderungen spielten England und Frankreich eine entscheidende Rolle. Zusammen mit Österreich übernahmen sie es nun, die Grenzen der neuen Verfassung festzulegen: Die Macht des Monarchen musste erhalten bleiben, wollte man keine, wie Amalie fürchtete, «Monstrositäten» (Busse/Busse, 2011, 439) gebären. In Anbetracht der Haltung Ludwigs I. von Bayern konnte man somit nicht mehr unternehmen, als zum Entwurf einer sehr gemäßigten Verfassung beizutragen. Trotz aller Versicherungen Guizots, dass die Verfassung die grundsätzliche Macht des Monarchen nicht infrage stellen würde, sandte Ludwig den Fürsten zu Oettingen-Wallerstein nach London und Paris, um die Unterstützung Englands und Frankreichs beim Entwurf einer die Zuständigkeiten Ottos nicht antastenden Konstitution sicherzustellen. Überrascht von der günstigen Art und Weise, mit der beide Mächte auf den Wandel in Griechenland reagierten, schlug der bayerische Fürst ihnen vor, eine Flotte nach Piräus zu entsenden, um den Beschluss einer gemäßigten Verfassung sicherzustellen. Der Vorschlag wurde von Guizot nicht angenommen, mit dem Argument, dass er nur zu entgegengesetzten Ergebnissen führen und das demokratische Empfinden der Griechen noch bestärken würde (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 587-589; Driault-Lhéritier, 1925, 246-248).
Im Geiste herzlichen Einverständnisses bemühten sich Aberdeen und Guizot sowie die Gesandten Lyons und Théobald Piscatory nunmehr in Zusammenarbeit mit Ludwig von Bayern, die Grundlagen zu schaffen, auf denen eine starke Königsmacht fortan würde aufbauen können. Die drei Garantiemächte (inklusive Russland, dessen Vertreter keine andere Wahl hatte, als zu unterschreiben) erklärten in dem im November 1843 in London unterzeichneten Protokoll, man wünsche die «Festigung des Thrones und der durch den Vertrag vom 7. Mai 1832 begründeten Dynastie in Griechenland». Man erkannte die Septemberrevolution nun auch formell an, war sich gleichzeitig jedoch einig, dass jede politische oder territoriale «extravagance» (Driault-Lhéritier, 1925, 246-248) zu unterlassen sei. Der nach der Revolution eingesetzte «inoffizielle» Ministerialrat ist ein klarer Hinweis darauf, dass die politische Führung in Griechenland den Ruf Europas nach einer gemäßigten Verfassung vernommen hatte. Gebildet wurde er von Kolletis und Mavrokordatos (die beide gerade erst aus Paris bzw. aus Konstantinopel nach Griechenland zurückgekehrt waren, es also nicht mehr rechtzeitig geschafft hatten, an der Revolution teilzunehmen) sowie dem Führer der Russischen Partei, Andreas Metaxas. Er übernahm die Aufgabe, eine ebenso «vernünftige wie praktikable Verfassung» einzuführen, die dem Monarchen «die größtmögliche Teilhabe» an der Macht zugestand. So vertraute es Mavrokordatos dem österreichischen Gesandten Prokesch von Osten an (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 591-592; Loukos, 2010, 74-76), dem es anscheinend wieder gelungen war, Ottos Vertrauen zu gewinnen, und der es persönlich übernahm, den König zu beruhigen und zur Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung einer Verfassung zu bringen (Busse/Busse, 2011, 461).
Nach allgemeinen Wahlen bevollmächtigter Vertreter im Oktober (Alivizatos, 2011, 86) kam am 8. November 1843 eine Nationalversammlung zusammen, in der sich entsprechend der Haltung gegenüber der Revolution und der Konstitution drei Gruppierungen herausbildeten. Die Gruppierung der «extremen» Monarchisten stand der Revolution feindlich gegenüber und betrachtete Griechenland als nicht reif für eine Verfassung. Die zweite Gruppierung bestand aus «extremen» Anhängern der Orthodoxie, die den Sturz der bayerischen Dynastie ersehnten, ohne sich jedoch große Hoffnungen auf die Verwirklichung ihrer Träume zu machen. Die Vorherrschaft der von den drei politischen Hegemonen angeführten dritten Gruppierung der Gemäßigten sollte die entscheidende Rolle bei der Arbeit der Nationalversammlung spielen, so dass alles auf eine konservative Verfassung hinauslief, ein Produkt des Konsens, welches das Gleichgewicht zwischen der Monarchie und den Zielen der Septemberrevolution wahrte (Papageorgiou, 2004, 409-413; Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 590-597; Hering, 2004, 252-254).
Die neue Opposition, die damit auch geschaffen worden war, besaß nunmehr die Freiheit, die Wünsche ihrer Wähler zu artikulieren und eine Front zu bilden, auf deren einer Seite jetzt die westlich geprägten Griechen und auf der anderen die Verteidiger der traditionellen Werte der Nation standen (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 585-624). Die neue Opposition gegen die vereinigten politischen Kräfte trat für eine liberalere Verfassung ein, die die Macht des Monarchen beschränken und die des Volkes stärken sollte. Da man die Vermittlung der Führer der drei Parteien als «Ausverkauf» der Interessen der Nation an Otto betrachtete, übernahm man nun selbst die Rolle des Verteidigers dieser Interessen, vor allem in Fragen, die nahezu sämtliche Griechen bewegten, wie etwa die Frage der Konfession eines königlichen Nachfolgers. Auch das Verhältnis der «Autochthonen» zu den westlich geprägten Griechen, zu den Bayern, den ausländischen Interessen und zu dem fremden König gehört in diesen Kontext (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 602-604).
Es ist offensichtlich, dass die durch die Nationalversammlung geschaffenen neuen Korrelationen aller Mächte und die sich mit den Interessen der Bayern deckenden Interessen der westeuropäischen Mächte, die auf den Erhalt von Ottos Machtfülle und eine Begrenzung des Einflusses der oppositionellen Kräfte abzielten, zu einer Neubestimmung der Beziehungen des «Westens» zu den Bayern führten: Für die Opposition waren die Bayern nun keine Gegenspieler der «aufgeklärten» Nationen mehr. An die Stelle der alten Dichotomie «Westen» – Bayern, die vor und während der Zeit der revolutionären Kämpfe für eine Verfassung bestanden hatte, trat der Gegensatz zwischen den Unterstützern der «eigenen» Nation und denen der «Fremden», zu denen jetzt, wie gesagt, ausnahmslos auch die westlichen Mächte, die Bayern usw. gezählt wurden.
Die Wahl von Kolettis, Mavrokordatos und Metaxas zu stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalversammlung provozierte nun die negativen Kommentare vonseiten der Opposition, der sich inzwischen sowohl die Athina wie auch der Aion angeschlossen hatten. Die um das neue Stadium, in das Griechenland nach dem 3. September eingetreten war, besorgte anglophile Zeitung hatte vor den Wahlen zur Nationalversammlung mit einer Reihe von Artikeln die Diskussion über die Prinzipien eröffnet, «welche als feste Grundlage unserer zukünftigen politischen Architektur festgelegt werden müssen». Zwar machte sie ihre Ablehnung des Systems der erblichen Monarchie deutlich, sah diese jedoch als «rettende» Regierungsform an, solange sie nicht so verstanden werde, dass «die Nation als Eigentum einer Familie ausgegeben wird». Die Freiheit der Nation müsse durch das Wirken grundlegender Institutionen gewährleistet sein (Athina, 18.9.1843). Die Athina behauptete, dass das griechische Volk in der Verfassungsfrage keineswegs so unerfahren sei, wie es die ausländischen Zeitungen unterstellten (Athina, 18.11.1844). Und in Reaktion auf die abfälligen Kommentare der Augsburger Allgemeinen Zeitung, aber auch auf jene «Bayernfreunde», die beweisen wollten, dass die griechische Nation «einer Verfassung nicht wert» sei, betonte sie, dass das einzige, was man tun müsse, sei, «Griechenland weniger bayerisch» zu machen (Athina, 2.12.1844).
Die Vorherrschaft der gemäßigten Kräfte wird auch durch die Einrichtung des Senates bestätigt, dessen Mitglieder auf Lebenszeit ernannt wurden. Die Existenz einer zweiten gesetzgebenden Körperschaft führte in der Nationalversammlung zu einer Grundsatzdebatte mit heftigen Kontroversen, in deren Mittelpunkt zwar der westliche Ursprung dieser Institution und die Nichtexistenz einer Aristokratie in Griechenland standen, die aber vor allem die Stärkung der Macht des Monarchen betrafen. Um das Gleichgewicht zwischen dem König und der Versammlung nicht zu gefährden, erklärte die Gruppe der Gemäßigten und ihr Hauptredner, der anglophile Spyridon Trikoupis, dass der Senat das wichtigste Element der politischen Stabilität darstelle. Die Opposition, deren Argumentation vor allem auf das Recht des Königs, die Senatoren zu ernennen, abzielte, brachte vor, dass die Institution des Senats ständige Eingriffe des Hofes in die Politik bedeute. Schließlich stimmte die Nationalversammlung für einen Senat und für die Ernennung seiner Mitglieder auf Lebenszeit. Der König hatte außerdem das Privileg, Minister und andere öffentliche Amtsträger zu bestimmen und zu entlassen, Offiziere zu ernennen und das Parlament aufzulösen (Athina, 12.2.1844; Hering, 2004, 259-264). Trotz ihrer Einwände gegen die Institution des Senats und ihrer ursprünglichen Unterstützung der Opposition erkannte die Athina letztlich an, dass eine Stärkung der Königsmacht nationale Stabilität bedeute, und sie betont, dass das wahre Wesen des Senats sich «in aller Deutlichkeit» zeigen werde, wenn die Unabhängigkeit des königlichen Herrschers nicht gewährleistet sei oder falls der Monarch von seinem Vetorecht Gebrauch mache. So deutet die Zeitung vorsichtig ihre Unterstützung für die Gruppe der Gemäßigten an (Athina, 29.9.1843).
Der klar aufseiten der Opposition stehende Aion beschuldigte die «sklavischen Werkzeuge» des «fremden Geistes», sie würden die «Tyrannei» über Griechenland bringen, weil der bayerische Hof dies so beschlossen habe und auch der Westen es wünsche (Aion, 13.2.1844). Die frankophile Zeitung Elpis wiederum warf der Gruppe um Kolettis und Mavrokordatos vor, dass sie nur die Befehle der Bayern ausführen würde. Sie charakterisiert die Gründung des Senates als Import einer «fremden Pflanze» und als Verhöhnung «der Gleichheit in unserer freien Heimat». Die Verantwortung sieht sie beim «Verdammnis über die Nation bringenden» Königreich Bayern, welches sich auf diese Weise an den Griechen für die Revolution vom 3. September rächen wolle. Mavrokordatos und Kolettis werden als mitverantwortlich betrachtet, weil sie sich zu Werkzeugen bayerischer «Intrigen» und «Obszönitäten» machen ließen, obwohl sie «das satanische Agieren Bayerns» begriffen hätten (Elpis, 12.2.1844).
Der «niederträchtige fremde Geist» und die Konfession des Thronfolgers
Die Opposition und vor allem die prorussische Seite hatten nun ihrerseits Grund, die Bayern und die westlichen Mächte zu tadeln, insofern sie die Verfassung auch als eine Gelegenheit für die Wiederaufnahme ihrer Beziehungen zum Ökumenischen Patriarchat und für die Abschaffung der Autokephalie, das heißt der Unabhängigkeit der griechischen Kirche vom Patriarchat von Konstantinopel, betrachteten. Diese Unabhängigkeit war vom Regentschaftsrat unmittelbar nach Ottos Ankunft in Griechenland verfügt worden und hatte den heftigsten Widerstand der aufseiten des Patriarchats stehenden russophilen Griechen provoziert. Doch sollte die Verfassung schließlich ohne jede Berücksichtigung der von den Anhängern des Patriarchats kommenden Änderungsvorschläge beschlossen werden. Voller Verachtung ließ sich der Aion über den «niederträchtigen» Geist aus, der es erlaube, das fremde Dogma in Griechenland an die Macht kommen zu lassen (Aion, 12.1.1844). Die gegen die Bayern gerichteten Anspielungen werden verständlich, wenn man das ein Jahrzehnt zuvor erlassene Autokephalie-Dekret bedenkt, wobei die Verbitterung noch heftiger durchschimmert, wenn angemerkt wird, dass sich auch nach dem Rückzug des Regentschaftsrates, dem Träger des «fremden Geistes» schlechthin, nichts geändert habe, insofern dieser «fremde Geist» lebendig geblieben sei und alles unternehme, das doch zum Osten gehörende Griechenland zu verwestlichen. Die Verantwortung dafür sieht man bei all jenen, die in der Nationalversammlung die Vorschläge der Patriarchalen zum Glaubensbekenntnis nicht verteidigt hatten (Aion, 12.1.1844). Die Ausdifferenzierungen bei der Abstimmung über die die Kirche betreffenden Verfassungsartikel spiegeln nur einmal mehr jene Umgruppierung der Fraktionen in der Konstituierenden Nationalversammlung wider, derer es eben bedurfte, damit die Verfassung ein Ergebnis des Konsens zwischen Otto und den Parteien darstellte. Auch die in der Nationalversammlung aufgeworfene Frage der Konfession des Thronfolgers wurde von den Anhängern der orthodoxen Ostkirche als Kampf zwischen dem «Westen» und dem «Osten» betrachtet. Auf den Vorschlag, dass für den Fall, dass es keinen direkten Thronfolger geben würde, der indirekte Nachfolger Ottos, also sein Bruder Luitpold bzw. dessen Nachkommen, orthodox getauft werden sollten, reagierten die britische wie die französische Regierung ablehnend. Sie waren der Auffassung, dass solch ein Schritt die teilweise Revision der Vereinbarungen von 1832 erfordern würde. Unter dem Druck Bayerns und Österreichs versuchten sie über ihre Gesandten in Athen, Kolettis und Mavrokordatos davon zu überzeugen, standhaft zu bleiben (Aion, 12.1.1844; Frazee, 1987, 206).
„Dieser kleine Artikel der griechischen Verfassung“ scheint einiges Aufsehen in Europa erregt zu haben. Dies zeigt auch die Tatsache, dass selbst Preußen die Gelegenheit nutzte, um sein Unbehagen hinsichtlich der Septemberrevolution wie auch der Rolle, die die beiden westeuropäischen Mächte in diesem Zusammenhang gespielt hatten, auszudrücken. Berlin wagte anlässlich des Missfallens, das die Frage der Konfession des griechischen Thronfolgers hervorrief, sogar auf eine Allianz mit Bayern zu hoffen, der sich in der Zukunft auch Russland anschließen könnte. Es gab Gedankenspiele, in Mittel- und Osteuropa eine Art neue Heilige Allianz zu schaffen, als Gegengewicht zum schlechten Beispiel, das die Griechische Revolution gegeben hatte (Driault-Lhéritier, 1925, 256).
Der Aion bezeichnete die Frage der Konfession des Thronfolgers als den «gordischen Knoten» zwischen «Griechentum und Fremdtümelei». Sie stelle, einem «glühenden Vulkan» gleich, die größte Gefahr für die Existenz Griechenlands dar. Darüber hinaus erklärte man mit Blick auf die ersten beiden Verfassungsartikel über die «herrschende» Religion in Griechenland sogar, dass die «Fremdtümelei» eine Niederlage erlitten habe und man sich nun auf die Frage der Religionszugehörigkeit des Thronfolgers konzentrieren müsse. Die moderate Rede Andreas Metaxas‘ in der Nationalversammlung, in der der Führer der Russischen Partei vorgeschlagen hatte, gründlich über die Angelegenheit nachzudenken, damit ein Beschluss gefasst werde, der einerseits das nationale Ehrgefühl nicht verletzen, zugleich aber Bayern und Otto zufriedenstellen und auch den Beifall Europas finden würde, wurde vom Aion – und das keineswegs zu Unrecht – als Ergebnis des Drucks aufgefasst, den England und Frankreich auf Athen ausgeübt hatten. Die bereits erwähnte diplomatische Mission des bayerischen Fürsten Ludwig zu Oettingen-Wallerstein in Frankreich und England, die dazu diente, die Regierungen der beiden Mächte dazu zu bringen, in der Frage der Konfession des Thronfolgers Druck auf Athen auszuüben (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 616), gab der aufseiten der Orthodoxie stehenden Zeitung die Gelegenheit, den «das Papsttum am Mittelmeer» stärkenden «westlichen Geist» anzuprangern, der die Konfession derer bestimmen wolle, die Griechenland regieren werden. Der Angriff richtete sich gegen den bayerischen König Ludwig I. und dessen Einmischung in die Frage der Religionszugehörigkeit des Thronfolgers. Dabei sah man seinen Wunsch als natürliche Folge der allgemeinen Sehnsucht des westlichen Geistes an, der es grundsätzlich nicht ertragen könne, die östliche Religion auf dem griechischen Throne zu sehen (Aion, 28.1.1844). Zwei Jahre später dann gab die Veröffentlichung des Memorandums, das Wallerstein an den bayerischen König geschickt hatte, dem Aion sogar die Gelegenheit zu triumphieren, da damit «der Verrat [der ausländischen Mächte] an den Interessen und an der Bestimmung der griechischen Nation» bestätigt werde. Auch die Zusammenarbeit der «deutsch-französischen Diplomatie» und die Verletzung der Würde der griechischen Nation sah man als bewiesen an. Man ermutigte die Bevollmächtigten, keinen Thronfolger mit fremder Konfession zu akzeptieren, und betonte, dass Griechenland, solange es «westlich, und nicht östlich […] regiert werde», niemals seinen Traum der Megali Idea verwirklichen und «die ganze griechische Rasse politisch» in einer Nation vereinen werde können (Aion, 6.1.1846).
Letztendlich blieben alle Einmischungen der europäischen Mächte fruchtlos. Die Nationalversammlung fasste einen einstimmigen Beschluss zur Konfession des Thronfolgers, und der Verfassung wurde ein entsprechender Artikel hinzugefügt: «Jeder Thronfolger Griechenlands muss sich zur Religion der Orientalisch-orthodoxen Kirche Christi bekennen» (Frazee, 1987, 206). Der Druck der öffentlichen Meinung und das Empfinden der Bevollmächtigten waren so stark, dass weder der große Einfluss von Kolettis und Mavrokordatos noch der Einfluss Frankreichs und Englands – und erst recht nicht der Bayerns – etwas dagegen ausrichten konnten. Der 40. Artikel der Verfassung war ein Sieg der aufseiten der Orthodoxie stehenden Kräfte, der in diesem Fall ein allgemein verbreitetes Gefühl zum Ausdruck brachte: die Sehnsucht des griechischen Volkes nach einem orthodoxen König (Petropulos, Bd. 2, 1985-1986, 616-617).
Epilog
Obwohl das von 1833 bis 1843 in Griechenland herrschende Regime als eine der strengsten absoluten Monarchien der Zeit betrachtet wird, ließe sich sagen, dass die Griechen in dieser Periode, verglichen mit den anderen Völkern des Balkans, immerhin das Privileg hatten, in ihrem Land mit europäischen Institutionen vertraut gemacht zu werden (Skopetea, 1988,220), insofern die durch das bayerische Modell inspirierte Verwaltungsorganisation des jungen Königreichs sich direkt auf das napoleonische Verwaltungssystem bezog. Diese institutionelle «Erziehung» der Griechen, die nach Ansicht des Regentschaftsrates die erste und absolut notwendige Phase der Etablierung eines konstitutionellen Systems darstellte, vermochte es aber in keiner Weise, die Griechen zu beruhigen. Die Verfassungen der Revolution und die Versprechungen der europäischen Mächte, dass dem neugegründeten Staat eine Verfassung gewährt werden würde, hatten die Erwartung geweckt, dass man eine konstitutionelle Regierung bekommen werde. Als man dann mit dem Ausmaß der von den Bayern vorgeschlagenen Modernisierung der Verwaltung unzufrieden war (oder weil man ihr ablehnend gegenüberstand), ging man zum Regentschaftsrat und zu Ottos absolutistischer Herrschaft in Opposition und forderte die Erfüllung des Versprochenen. Die Bayern ihrerseits vertraten die Auffassung, dass die absolute Monarchie eine Übergangsphase darstelle, die notwendig sei, um die Griechen mit den modernen Institutionen vertraut zu machen, damit sich ihr Land zu einem Staat westlichen Typs entwickeln könne. In diesem Zusammenhang unterschied man dann zwischen den von der Gesellschaftsphilosophie der Aufklärung beeinflussten westlichen Verfassungsstaaten, den «aufgeklärten Nationen», wie man sie nannte, und den autoritären Bayern. Die «aufgeklärten Nationen» sollten zum Vorbild schlechthin der konstitutionellen Ordnung und zum Gegenmodell zur «Bayernherrschaft» werden. In Wirklichkeit hatten jedoch auch die fremden Mächte nur wenig Vertrauen in die Fähigkeit des griechischen Volkes, sich selbst zu regieren, auch wenn man von den bayerischen Herrschern offiziell verlangte, das Versprochene umzusetzen.
Ottos Unwillen, im Rahmen der absoluten Monarchie auch nur die moderatesten Reformen zu akzeptieren, die ein reibungsloses Funktionieren der Institutionen gewährleisten würden, führte zur Vereinigung aller politischen Gruppierungen und zur gegen den Herrscher gerichteten Revolution vom 3. September. Die in der Absicht, Otto zur Vernunft zu bringen, erfolgte indirekte Beteiligung der europäischen Mächte an dieser konstitutionellen Revolution, wurde von den Griechen mit Freude registriert, bestätigte sie doch die Rolle der Mächte als Beschützer und Garant ihrer Unabhängigkeit. Die Untersuchung der Presse belegt eindeutig, dass der Erfolg der Revolution vom 3. September auch den «aufgeklärten Nationen» gutgeschrieben wurde, die den Griechen geholfen hatten, den «abscheulichen Bavarismus» zu überwinden. In der nach der Revolution vom 3. September zusammenkommenden Nationalversammlung präsentierte sich eine neue Parteienlandschaft. Die Übereinstimmung der Interessen und der politischen Anschauungen der westlichen Mächte und der Bayern, die beide Ottos Macht erhalten und die Macht der Oppositionellen begrenzen wollten, führte zu einer Neudefinition der Beziehungen des Westens zu den Bayern: An die Stelle der Dichotomie «Westen» – Bayern, die vor und während der für eine Verfassung kämpfenden Revolution geherrscht hatte, trat nun die Unterscheidung zwischen den gemäßigten Kräften, welche sich dem Wunsch der Mächte nach einer die Machtfülle des Monarchen nicht wirklich infrage stellenden Verfassung anschlossen, und den Befürwortern einer liberalen Verfassung, welche die königliche Macht beschränken würde. Die Vorherrschaft der Gemäßigten kam Otto jedoch nur in eingeschränktem Maße zugute, weil es ihm nicht gelang, den allgemein verbreiteten Widerstand zu schwächen, der schließlich zu seiner Vertreibung führte.