Inhalte der Wiener Ordnung
Die Wiener Ordnung war das Ergebnis von Verhandlungen über die politische Gestalt Europas nach der Kriegsperiode, die mit kurzen Unterbrechungen von 1792 bis 1815 gedauert hatte. Seit 1813 hatten Allianzverträge und Friedensschlüsse allgemeine Grundzüge und einige Festlegungen in Details formuliert, welche die Grundlage der Verhandlungen des Friedenskongresses in Wien vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 bildeten (Vick, 2014; Stauber, 2014). Die Schlussakte des Wiener Kongresses vom 9. Juni 1815 und die ihr angehängten weiteren Verträge umfassten 1) die Festlegung von Grenzen, vor allem in Mitteleuropa und Italien; 2) eine Übereinkunft über das diplomatische Protokoll, die in wesentlichen Teilen noch heute Gültigkeit besitzt; 3) allgemeine Absichtserklärungen, beispielsweise über die Abschaffung des Sklavenhandels; sowie 4) Praktiken zur Konfliktlösung. Kern dieser Praktiken, die den Kongress prägten, war es, strittige Fragen durch Verhandlungen zwischen den fünf großen Mächten Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland zu lösen, und zwar zunächst im Rahmen zeitlich eng getakteter internationaler Kongresse. Das Osmanische Reich hatte an den Wiener Verhandlungen nicht teilgenommen, und der östliche Mittelmeerraum wurde in diesem Rahmen nur durch den erst am 5. November 1815 unterzeichneten Vertrag über die Unabhängigkeit der Ionischen Inseln unter britischem Schutz unmittelbar tangiert. Allerdings war, wie auf den folgenden Konferenzen von Laibach/Ljubljana (Januar-Mai 1821) und Verona (November-Dezember 1822) deutlich wurde, auch das Osmanische Reich in den Grundkonsens der Wiener Ordnung eingeschlossen. Dieser sah – zumindest nach Ansicht der Mehrheit der Großmächte – eine Bewahrung der europäischen Grenzen und eine Sicherung der monarchischen Herrschaft gegen revolutionäre Herausforderungen vor, beides Prinzipien, die durch die Anerkennung der Unabhängigkeit Griechenlands in Frage gestellt wurden. Die strukturellen Gründe für den Erfolg der Wiener Ordnung bei der Sicherung eines weitgehend stabilen Friedens zwischen den Großmächten werden in unterschiedlichen Dimensionen dieser Ordnung vermutet, wobei sich die verschiedenen Erklärungen selbstverständlich nicht ausschließen. Ein Element war die Balance zwischen zwei dominanten Mächten, die ein besonderes Interesse an der Erhaltung der Ordnung hatten, in die sie nur teilweise eingebunden waren, nämlich Großbritannien und Russland, die beide über erhebliche militärische Machtmittel verfügten, aber selbst kaum durch andere Mächte bedroht werden konnten – wobei sich der Abstand der beiden untereinander im Laufe des 19. Jahrhunderts zugunsten Großbritanniens vergrößerte. Ein weiteres Element war die Erfahrung, dass militärische Konflikte das Potential hatten, die monarchische politische Ordnung insgesamt zu unterwandern und daher eingehegt werden mussten, um den Bestand der Monarchien zu sichern. Damit verband sich eine Konvention außenpolitischen Handelns, die zumindest Strukturen einer internationalen governance sehr nahe kamen (Kissinger, 1962; Schroeder, 1994; Schulz, 2009).
Bewertungen der Ordnung
Details wie Grundprinzipien der Wiener Ordnung waren bereits unter Zeitgenossen umstritten, und dieser Dissens setzt sich fort. Thesenhaft zugespitzt lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden. Die positive Sicht auf die Wiener Ordnung macht geltend, dass sie den Beginn einer langen Zeit fast ohne Kriege in Europa markierte, was im Vergleich zum vorangegangenen Bellizismus und zum nachfolgenden „Zeitalter der Extreme“ besonders bemerkenswert ist (Hobsbawm, 1995). Dabei wird die Leistung, die es darstellte, den permanenten Konflikt durch ein stabiles, periodisch nachjustiertes Gleichgewicht beziehungsweise ein europäisches „Konzert“ zu ersetzen, besonders hervorgehoben (Kissinger, 1962; Schulz, 2009; Siemann, 2016). Die kritische Sicht betont, dass sich die Wiener Ordnung innenpolitisch durch einen Verlust von Freiheitsrechten auszeichnete und daher massiven Widerstand provozierte, weil der Fokus auf eine monarchische Ordnung in vorgegebenen Grenzen sowohl demokratische als auch nationale Impulse unterdrückte. Die Zensurmaßnahmen und die polizeiliche Unterdrückung, die im Rahmen der Suche nach vielfach imaginären internationalen jakobinischen Verschwörungen viele Unschuldige betraf, führten zur Steigerung politischer Spannungen, die sich zunächst in Revolutionsversuchen und begrenzten Kriegen entluden, bis sie in den Krisen und Kriegen des frühen 20. Jahrhunderts kulminierten (Zamoyski, 2014; Zamoyski, 2016). Die Unterschiede zwischen den Perspektiven sind klar: Die erste konzentriert sich stärker auf außenpolitische Fragen und die Verhinderung großer Kriege, die zweite auf innenpolitische Entwicklungen und die Möglichkeit demokratischer Selbstbestimmung in potentiell flexiblen Grenzen. Sie unterscheiden sich auch darin, ob sie primär Nationalstaaten oder ein vereintes Europa als Fluchtpunkt der Geschichte sehen. Für beide Interpretationen spielen die Revolutionen der 1820er Jahre eine wichtige Rolle, und sie werden entsprechend unterschiedlich bewertet. In der positiven Sicht markiert die Reaktion auf sie die erste Hochzeit der Wiener Konferenzdiplomatie, in der es gelang, die zahlreichen Konflikte über politische Ordnungen, regierende Monarchen und Grenzziehungen, die sich nach 1815 ergaben, in internationalen Kongressen zu bewältigen. Diese Lösungen zielten in aller Regel darauf, Revolutionen zu verhindern oder Regimewechsel durch militärische Interventionen rückgängig zu machen. So sei es gelungen, zu verhindern, dass Forderungen nach revolutionärem Wandel einen neuen großen Krieg auslösten, was angesichts der Maximalziele nationalistischer Bewegungen eine realistische Bedrohung war (Behringer, 2015, 219-225). In der kritischen Sicht belegen die Revolutionen der 1820er Jahre dagegen das Ausmaß des Widerstands gegen die in Wien festgeschriebene konservative monarchische Ordnung und die verpasste Chance, konstitutionelle Regierungsformen zu etablieren (Späth, 2012).
Erklärungen der Revolutionen im Mittelmeerraum
Alle europäischen Gesellschaften waren nach 1815 von den Folgen der Kriegserfahrungen sowie der klimatischen Krise nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora 1816 geprägt. Dazu kam der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, in vielen Ländern der Wechsel der Herrschaftsordnung und damit der einflussreichen (und einflusslosen) politischen Parteien oder Netzwerke, der legitimen und illegitimen Verhaltensweisen und die öffentliche Stellung von Religion. Jedoch stellt sich die Frage, warum es um 1820 mancherorts zu Revolutionen, andernorts zu oppositionellen Festen, einzelnen Attentaten, Attentatsversuchen oder Demonstrationen kam, die zwar eine Oppositionsbereitschaft belegten, aber nicht das Potential hatten, Herrschaftsordnungen zu verändern.
Geographie
Der geographische Kontext bietet eine mögliche Erklärung. Die Revolutionen in Spanien und italienischen Staaten um 1820 waren mediterrane Revolutionen. Sie hatten von Land zu Land unterschiedliche Ursachen und Ziele, und sie spielten sich in unterschiedlichen Strukturen ab, aber sie waren durch analoge Erfahrungen in den napoleonischen Kriegen ebenso verbunden wie durch die strukturellen Veränderungen, denen sich die Mittelmeerwelt in jenen Jahrzehnten ausgesetzt sah. Dazu kamen intensive Verkehrsverbindungen zwischen den Häfen, die aus den Handelsrouten im Mittelmeer folgten, die von globalem Interesse waren. In der napoleonischen Epoche hatten diese Handelsrouten (weiter) an Bedeutung verloren; zudem hatten sich die regionalen Gewichte verschoben – die Relevanz Neapels ging relativ gesehen zurück, die von Odessa stieg deutlich an. Allerdings blieb die Bedeutung der Region hoch. Das eindrücklichste Beispiel dafür ist der Krieg, den die US-amerikanische Flotte nach dem Ende des Kriegs gegen Großbritannien 1815 gegen die als „Piratenstaaten“ klassifizierten Territorien an der Südküste des Mittelmeers führte, um die Sicherheit der amerikanischen Schifffahrt zu gewährleisten und den außenpolitischen Großmacht-Anspruch der USA zu untermauern, der 1823 in der Monroe-Doktrin gipfelte (Kempe 2010, 278-288). Das Interesse am Mittelmeerhandel und der Verlauf der napoleonischen Kriege hatten dazu geführt, dass die Grenze zwischen dem kontinentalen, französisch dominierten Machtbereich und der maritimen, britisch dominierten Einflusszone entlang der mediterranen Küsten verlief. Inseln, einige Hafenstädte, Küstenregionen und Portugal gehörten entweder durchgehend oder meist zum britischen Einflussbereich. Das führte dazu, dass sich die Verbindungen zwischen Metropole und Kolonien lockerten, so dass sich das spanische Kolonialreich in großen Teilen nach 1815 von der Metropole lossagte (Rinke 2010). In Europa wurden dagegen Landesteile, die in Teilen eine konstitutionelle Erfahrung gemacht hatten (wie Sizilien, Sardinien oder Cádiz) in restaurierten absoluten Monarchien mit Regionen zusammengeführt, in denen vorher das napoleonische System bestanden hatte.
Verfassung
Die Revolutionen um 1820 im westlichen Mittelmeerraum waren nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung darüber geprägt, welches dieser drei Modelle – konstitutionelle Monarchie, absolute Monarchie oder Bonapartismus – künftig gelten sollte. Zur Verflechtung der Revolutionen trug bei, dass die Verfassung von Cádiz aus dem Jahr 1812 als Ziel der revolutionären Bewegungen galt. Sie übte, ebenso wie überhaupt die in Spanien geprägte politische Sprache für Parteiungen, einen breiten Einfluss aus (Leonhard, 2001, 234-238). Das ist insofern bemerkenswert, als sich die spanische Konstellation – schließlich ging es darum, eine Verfassung für ein weltumspannendes Territorium zu formulieren – nicht unmittelbar auf die Lage anderer Länder übertragen ließ, die keine kolonialen Besitzungen besaßen. Die Verfassung von 1812 sah die in spanischen Territorien geborenen freien Personen, die von den Cortez naturalisierten ebenso wie die seit zehn Jahren im Lande Ansässigen, die nicht vorbestraft waren, als Angehörige der „freien und unabhängigen“ spanischen Nation. Zentrales Band war darüber hinaus die Religion: Die katholische Religion war der Verfassung zufolge der alleinige legitime Kultus. Inhaltlich entwarf die mit ihren fast 400 Artikeln überaus detaillierte Verfassung das Bild einer Monarchie, in der zwar der Monarch erheblichen tagespolitischen Spielraum und die Hoheit über fast alle wichtigen Personalentscheidungen haben sollte, in der er aber einer engmaschigen Kontrolle der parlamentarischen Versammlung unterlag, und zwar im Rahmen einer Herrschaftsordnung, die zahlreiche absolut formulierte Grenzen staatlichen Handelns kennen sollte. In vielem – bis 1826 galt das auch für die Vorstellung, konfessionelle Homogenität unter den politisch handlungsberechtigten Personen sei die Grundlage einer erfolgreichen Monarchie – war dieser Verfassungstext auch mit den Erfahrungen der britischen Monarchie vereinbar. Dieses Verfassungsmodell war innerhalb der Region umstritten. Daher konnten Interventionen von außen die Machtbalance in den betroffenen Regionen relativ rasch verschieben; allerdings folgte daraus vor allem in Spanien keine dauerhafte Lösung im konservativen Sinne, sondern ein lang andauernder Konflikt. In den Interventionen kam allerdings ein Aspekt zum Tragen, der für die konkrete Ausgestaltung der Wiener Ordnung – und auch für die unterschiedlichen Ergebnisse der Revolutionen im westlichen Mittelmeerraum und der griechischen Unabhängigkeitsbewegung – von Bedeutung war, nämlich die Überführung der Logik des europäischen Konzerts in konkrete Einflusszonen, wie sie in der französischen Intervention in Spanien, der habsburgischen Intervention in Italien und der großen Bedeutung der russischen Politik für Griechenland zum Ausdruck kamen.
Parallelen und Unterschiede
Die griechische Revolution fügt sich vor diesem Hintergrund in einen allgemeineren Kontext politischer Verfassungskonflikte im Mittelmeerraum ein. Allerdings gibt es auch offenkundige Unterschiede, nicht zuletzt mit Blick auf die weitaus größere Resonanz in Form der philhellenischen Bewegung, aber auch bezüglich der angestrebten Verfassungsordnung und der zunächst ähnlichen, sich aber sehr bald in unterschiedliche Richtungen entwickelnden Reaktionen im Rahmen der Wiener Ordnung, wo das Projekt eines unabhängigen Griechenland nach anfänglichem Zögern auf Resonanz stieß, im Gegensatz zu den Projekten einer Liberalisierung der politischen Verhältnisse in Spanien oder Italien. Das hing sicher auch mit dem unterschiedlichen Verlauf zusammen; als der Konflikt um die Zukunft Griechenlands seinem Höhepunkt zustrebte, waren die anderen Auseinandersetzungen zumindest scheinbar befriedet, die Interventionstruppen fast auf dem Rückzug. Dazu kam, dass es mit dem Osmanischen Reich um ein Herrschaftsgebiet ging, das nur teilweise in die Wiener Ordnung eingebunden war und für dessen Zukunft zwar in dem Jahrzehnt nach 1800 diverse Szenarien diskutiert worden waren, die aber weder im Rahmen der Wiener Verhandlungen noch im Rahmen der anschließenden Konferenzen einen zentralen Fokus darstellten, so dass sich die Lage im östlichen Mittelmeerraum deutlich offener darstellte als im westlichen.
Einordnung
Welche Folgen ergeben sich aus diesen unterschiedlichen Erfahrungen für die Bewertung der Wiener Ordnung? Eine wichtige Einsicht könnte sein, dass diese in ihren Logiken wie in ihren Folgen regional differenziert werden muss – selbst in einer eng vernetzten Region wie der mediterranen Welt waren die Folgen regional strukturell durchaus unterschiedlich. Allerdings besteht offenbar durchgängig eine strukturelle Ambivalenz: Die philhellenische Bewegung wird einerseits zurecht als Ausdruck des indirekten Protests gegen die Wiener Ordnung gelesen, aber sie wirkte zugleich in Teilen – etwa in Bayern, aber auch darüber hinaus – zumindest mit einem gewissen zeitlichen Abstand indirekt als Bestätigung der von den Großmächten eingeschlagenen Politik (Klein, 2000). Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den aktuellen Interpretationen. Richard Evans betont die Bedeutung, welche die Erfahrungen der napoleonischen Epoche für die europäischen Auseinandersetzungen der 1820er Jahre hatten, vor allem die Konflikte zwischen einer in Strukturen einer napoleonischen Verwaltung sozialisierten Gruppe relativ junger Offiziere und Beamter, die die politischen Säuberungen der Restauration überstanden, aber die Ineffizienz und die drakonischen Maßnahmen restaurierter Regime ablehnten. Diese Deutung verweist auf Unterschiede der Erfahrungen. Das napoleonische Experiment sei zwar im Osmanischen Reich auf Interesse gestoßen, habe aber deutlich weniger praktische Reformen ausgelöst als selbst in Russland. Daher bestand dort eine weitaus geringere Basis für einen restaurativen Kompromiss als in anderen Teilen der Mittelmeerwelt, obgleich die europäischen Großmächte das Osmanische Reich nach der griechischen Unabhängigkeit stabilisierten (Evans, 2016, 53, 62-3). Willibald Steinmetz betont stärker, dass sich die Wiener Ordnung im westlichen Mittelmeer im Wesentlichen bewährte – mit Blick auf die Mäßigung der Teilnehmer, weniger aus der Sicht und für die Einwohner der restaurierten Staaten. Dagegen habe die Wiener Ordnung für das östliche Mittelmeer ursprünglich keine Perspektiven entwickelt. Die Anerkennung der Unabhängigkeit Griechenlands sei daher als verzögerte Integration des Osmanischen Reichs in die Sicherheitsarchitektur Europas zu verstehen, auch wenn diese mit einer territorialen Verkleinerung einherging (Steinmetz, 2019, 271-282). Cemil Aydin sieht dagegen in der Griechischen Unabhängigkeit einen Beleg für die Herausforderung der „antinationalen Grundsätze des Wiener Kongresses“ durch die europäischen Großmächte, was perspektivisch eine grundsätzliche Herausforderung der Wiener Ordnung darstellte (Aydin, 2016, 97). Die Perspektiven auf die Wiener Ordnung in den 1820er Jahren bleiben also vielfältig und belegen weiterhin die Validität der eingangs skizzierten Thesen, die vor allem auf die Komplexität der Situation verweisen: Während der Fokus auf die Nationalisierung unmittelbar auf die Kriege und Krisen des späten 19. Jahrhunderts vorausweist, so betont der Hinweis auf Stabilisierung und Reformfähigkeit eher die kurz- und mittelfristigen Erfolge.