Finanzielle Netze. Die bayerisch–französische Familienbank von Eichthal und ihre Investitionspläne in Griechenland in den 1830er Jahren

  • Veröffentlicht 29.04.21

Als Griechenland 1830 seine Unabhängigkeit erlangte, war das Land wirtschaftlich wenig entwickelt und von der Industrialisierung noch kaum berührt. Kredite für die Gründung oder den Ausbau von Unternehmen waren auf Grund des Kapitalmangels entweder unmöglich oder extrem teuer – ein für die wirtschaftliche Entwicklung ernst zu nehmendes Hemmnis. Das Land brauchte zur wirtschaftlichen Entwicklung also Investitionen aus dem Ausland. Jedoch hielten sich die europäischen Banken und Anleger mit solchen Investitionen vor den 1870er Jahren zurück. Warum diese Scheu der Kapitalanleger vor Griechenland, obwohl sie anderswo keineswegs vor risikoreichen Investitionen zurückschreckten, wenn nur entsprechend hohe Erträge lockten? Dieser Frage möchte der Beitrag anhand eines Beispiels nachgehen: der bayerisch-französischen Bankiersfamilie von Eichthal, die in den 1830er Jahren enge Geschäftsbeziehungen nach Griechenland aufbaute und zeitweilig sehr interessiert an Investitionen war – bevor das Bankhaus sich von diesen Plänen schließlich unverrichteter Dinge wieder abwandte. Das kulturelle Interesse an Griechenland überdauerte dagegen bis in die 1880er Jahre. Die Eichthals eignen sich hervorragend, um paradigmatisch zu untersuchen, auf welcher Grundlage und wie europäische Bankiers ihre Investitionsentscheidungen für oder gegen Griechenland trafen (Schönhärl, 2017, 111–165; Schönhärl, 2018).

Inhalt

    Forschungsstand

    Der Beitrag stellt eine gekürzte Version eines Kapitels aus der Monographie Finanziers in Sehnsuchtsräumen. Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert dar, die die Investitionen deutscher, französischer, britischer und schweizerischer Banken in Griechenland im Laufe des 19. Jahrhunderts untersucht (Schönhärl, 2017, 111–165). Bisherige Studien nahmen europäische Investitionen in Griechenland vor allem aus griechischer Perspektive in den Blick (z.B. Δερτιλής, 2009; Giannitsis, 1999).

    Insbesondere die Auslandsanleihen wurden schon seit der Wende zum 20. Jahrhundert ausführlich untersucht (Ανδρεάδης, 1904; Levandis, 1944; Wynne, 1951; Kofas, 1981; Ηλιαδάκης, 2011). Viele dieser Texte kritisieren die Auslandsinvestitionen, was aus der marxistischen Tradition der griechischen Historiographie zu verstehen ist (Δραγούμης, 1901; Στεφανίδης, 1930; Μπελογιάννης, 1998). Die Perspektive der ausländischen Unternehmen und die Frage nach den Gründen für ihre Entscheidungsfindung für oder gegen Griechenland wurde dagegen bisher wenig thematisiert. Finanziers in Sehnsuchtsräumen fragt nach den Gründen und Motiven für die Investitionsentscheidungen und bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen Finanz- und Kulturgeschichte: Profitinteressen spielten ebenso eine Rolle wie etablierte Netzwerke, begeisterter Philhellenismus ebenso wie Pfadabhängigkeiten. Um den komplexen Entscheidungssituationen gerecht zu werden, wird eine an die behavioural finance angelehnte Untersuchungsperspektive gewählt (Ricciardi, 2017). Diese wird auch auf die Entscheidungsfindung der Familie Eichthal angewandt, wobei sie auf ausführlichen biographischen Studien aufbauen kann (Le Bret, 2012; Ratcliffe, 1977).

    Die internationale Familienbank von Eichthal und Griechenland

    Was hatten die Eichthals mit Griechenland zu tun? Der jüdische Bankier Aaron Seeligmann war während der napoleonischen Kriege zum Hoffaktor der Münchner Wittelsbacher aufgestiegen. 1814 erhielt er in Anerkennung seiner Verdienste den Adelstitel, nahm den Namen „von Eichthal“ an und konvertierte fünf Jahre später mit der gesamten Familie zum Katholizismus. Seine fünf Söhne (und über Heiratsbeziehungen auch die fünf Töchter) begründeten eine Bankdynastie, die sich von München über Augsburg und Karlsruhe bis nach Frankreich ausdehnte. In München übernahm der jüngste Sohn Simon das väterliche Geschäft; der dritte der Brüder, Ludwig oder Louis, übersiedelte nach Nancy und später Paris (Le Bret, 2012), wo er ein eigenes Bankhaus gründete. Er hatte zwei Söhne, Gustave (1804-1886) und Adolphe (1805-1895), die nach dem Willen des Vaters in die väterliche Bank eintreten sollten (Hummert, 1927). Der Kontakt der Familie zu Griechenland kam zunächst über Simon zu Stande. In München, wo der Philhellenismus keineswegs eine revolutionäre Strömung, sondern vielmehr das persönliche Interesse von Kronprinz Ludwig (ab 1825 König Ludwig I. von Bayern) war, schloss der Bankier sich dem Philhellenischen Verein an (Spaenle, 1990). Er organisierte die Überweisung der Münchner Spenden nach Griechenland und korrespondierte intensiv mit General Heideck während dessen Einsatz zur Unterstützung des Freiheitskampfes 1826-29, wobei er detaillierte Informationen über Land und Leute erhielt.1Korrespondenz von Heideck – von Eichthal in Staatsbibliothek München, Abteilung Handschriften und alte Drucke, Heydeckiana II. 2b. Als 1832 der zweitgeborene Sohn Ludwigs I. zum König Otto I. von Griechenland ernannt wurde, wurde Simon dessen Hoffaktor, d.h. er sollte sich von München aus um die Finanzen des Königshofes in Griechenland kümmern. Insbesondere hatte er sich um die Abwicklung einer Anleihe in Höhe von 60 Millionen Francs zu kümmern, die das Haus Rothschild unter Garantie der Großmächte Großbritannien, Frankreich und Russland für Griechenland emittieren sollte (Schönhärl, 2019). Die Familie Eichthal nahm dies zum Anlass, sich im Hinblick auf Griechenland breit aufzustellen. Der Augsburger Zweig entsandte den jungen Wilhelm (geb. 1805) nach Nafplio, wo er zum (auf Kosten der Familie bestallten) Legationsrat ernannt wurde (Hohenlohe-Schillingsfürst, 1953, 117); für einen weiteren Cousin Rudolf erwog man ebenfalls die Entsendung nach Griechenland (Le Bret, 2012, 218); Adolphe d´Eichthal bemühte sich gleichzeitig um das Amt des griechischen Generalkonsuls in Paris. Ein starkes Interesse der Familie für den griechischen Markt, der ganz offensichtlich als aufstrebend und vielversprechend betrachtet wurde, ist also unbestreitbar.

    Griechenland-Narrative in der Familie

    Dieses Interesse wird aber noch an einem weiteren Punkt deutlich: Auch der Pariser Zweig der Familie entsandte ein Mitglied nach Griechenland. Es handelte sich um den erstgeborenen Gustave d´Eichthal, der, im Gegensatz zu seinem Bruder, wenig Interesse für die Laufbahn eines Bankiers zeigte. Nach ausgedehnten Reisen in Deutschland und Großbritannien, die ihn auf diesen Beruf vorbereiten sollten, schloss er sich der Sekte der Saint-Simonisten an, die nach einer Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft im Geist von Gleichheit und Effizienz strebten und großen Zulauf bei den Sprösslingen der Pariser Finanz- und Wirtschaftselite hatten (Ratcliffe, 1976). Als die Sekte 1832, nach der Juli-Revolution, wegen Aufhetzung der Massen angeklagt und schließlich aufgelöst wurde, gingen zahlreiche Mitglieder zunächst ins Ausland, z.B. nach Ägypten oder Algerien, um für eine Weile der Aufmerksamkeit der französischen Behörden entzogen zu sein; Gustave wurde von der Familie nach Griechenland entsandt. Dabei war der Wunsch, dem „schwarzen Schaf“ der Familie ein vielversprechendes Betätigungsfeld zu bieten, mindestens ebenso ausschlaggebend wie die Hoffnung, in Griechenland ökonomisch Fuß zu fassen und diesen neuen Markt damit nicht der Konkurrenz zu überlassen. Die Korrespondenz innerhalb der Familie zeigt allerdings, dass Griechenland durchaus nicht von allen Familienmitgliedern gleichermaßen als vielversprechendes Investitionsfeld wahrgenommen wurde. So schrieb Gustaves Onkel Arnold aus Augsburg dem Bruder Louis in Paris:

    Was nun lieber Freund deinen Sohn betrifft, so glaube ich, daß keine Kur für ihn so zweckmäßig sein könne, als gerade die Reisekur die er jetzt unternimmt. Ich zweifle fast nicht, daß nachdem er in Constantinopel einige Bäcker, wegen zu leichtem Brod, wird an den Ohren annageln haben u[nd] auf dem klassischen griechischen Boden die Bekanntschaft seiner jetzigen Bewohner wird gemacht haben, die so nackt und schmutzig wie ihre Hunde, nur mit mehr Flöhen bedeckt, umherlaufen, so wird er auch ohne die Erfahrungen, die ihn in Egypten erwarten in Anschlag zu bringen, zu der Überzeugung gelangen, daß Frankreich dennoch ein Land ist, allwo ein freygesinnter Mann leben kann, ohne gerade die Pflicht auf sich zu haben, sich todtschießen zu müßen.2Arnold von Eichthal an Louis d´Eichthal, 19.8.1833, Bibliothèque de l´Arsenal (BDA), Paris, MS 13747, 100.

    Es lassen sich also zwei konkurrierende Griechenland-Bilder in der Familie Eichthal ausmachen: Zum einen wurde Griechenland als aufstrebender und vielversprechender emerging market angesehen, auf dem man dringend Fuß fassen wollte; zum anderen gab es insbesondere in der älteren Generation, auch die Vorstellung des Griechen als „unzivilisiert, primitiv, roh, grausam und ohne Ausnahme zerzaust“, wie Marija Todorova das als typisch für die Balkanvorstellungen in Westeuropa beschreibt (Todorova, 1997, 32). Welches der beiden Griechenlandnarrative würde sich durchsetzen?

    Gustave d´Eichthal in Griechenland

    Im Oktober 1833 kam Gustave hochgestimmt und mit großen Erwartungen in Griechenland an und begann, Familie und Freunde zu Hause in vielen Briefen mit Informationen zu versorgen. Insbesondere der Vater mahnte Gustave in seinen Antworten zur Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen und verbat sich Briefe, die nur von antiken Säulen handelten. Dennoch neigte Gustave zum Schwärmen: „Je länger man sich auf dieser Erde bewegt, desto mehr bewundert man sie, desto stärker verliebt man sich in sie; dieses Wort ist das einzig passende.”3Gustave an die Familie, 7.2.1834, in: D´Eichthal (1887), 19–24). Übersetzung K.S. Die Daheimgebliebenen legten dem Reisenden ganz unterschiedliche Projekte ans Herz: So interessierte sich Adolphe als (immer noch nicht offiziell ernannter) Generalkonsul insbesondere für eine Schifffahrtslinie von Marseille über Athen nach Konstantinopel, die aber nicht das Interesse der bayerischen Regentschaft in Nafplion wecken konnte;4Adolphe an Gustave, 6.10.1833, BDA MS 13748, 40. und er wies den Bruder auf die guten Erfolgschancen einer Bankgründung in Griechenland hin, der er große Profite prognostizierte. Vater Louis dagegen wünschte sich Informationen über die Möglichkeiten, den korinthischen Isthmus mit einem Kanal zu durchstechen, um der Schifffahrt die Umrundung des Peloponnes zu ersparen5Louis an Gustave, 3.12.1833, BDA MS 13748, 4. – ein Projekt, das bei Gustave auf wenig Interesse stieß. Der junge Reisende selbst dagegen träumte in saint-simonistischer Manier von der Gründung einer Kolonie in Griechenland, die fähige Siedler und Know-How vor Ort bringen sollte:

    Du kannst Deinen Freunden, die eine Kolonie gründen wollen, einen blauen Himmel und eine liberale Regierung versprechen; die griechischen Bürgerrechte; vollständige Religionsfreiheit; eine Gesellschaft ohne Adelstitel, einen gesetzlichen Rahmen, ein exzellentes Brauchtum, eine außergewöhnlich fruchtbare Erde, usw.6Gustave an Duveyrier am 17.3.1834, in: Queux Saint-Hilaire (1887), 24–28. Übersetzung K.S.

    Dies wiederum hielt die Pariser Verwandtschaft für illusorisch und realitätsfern.7Adolphe an Gustave, 28.1.1834, BDA MS 13748, 47. Das einzige Interesse, das alle drei Eichthals gemeinsam pflegten, war die Spekulation mit Grund und Boden, vor allem in der Gegend von Athen, wo französische Investoren, aber auch das Londoner Bankhaus Baring große Summen in Grundbesitz anlegten. Nach Gustaves Berichten rechnete man mit hohen Wertsteigerungen, wenn erst die provisorische Hauptstadt Nafplio nach Athen verlegt sein würde (Schönhärl, 2017, 137–139). Gustave konnte zunächst Erfolge vorweisen: Im Frühjahr 1834 initiierte er zusammen mit zwei Griechen die Gründung eines statistischen Büros unter dem Dach des von Ioannis Kolettis gegründeten Innenministeriums (Schönhärl, 2017, 128f.). Ziele der Institution waren die statistische Erfassung des Landes, die Einrichtung eines Katasters, das die property rights, also die Besitztitel in ihren unterschiedlichen Formen in ganz Griechenland, schriftlich festhalten sollte, und die Planung und Gründung einer Kolonie.

    Gustave macht sich im Rahmen seiner neuen Tätigkeit mit Eifer an die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes zur Verteilung der Nationalgüter an die Veteranen der Freiheitskämpfe, die zur Schaffung eines selbständigen Bauernstandes überall im Land beitragen sollte und die er als Voraussetzung für die Gründung einer Kolonie betrachtete.8Gustave an unbekannt, 29.6.1834, in: Queux Saint-Hilaire (1887), 30f. Die Verteilung der Nationalgüter lag jedoch weder im Sinne der Regentschaft noch im Interesse der Großmächte, die die Nationalgüter als Garantie für die 60 Millionen-Anleihe erhalten hatten. Gustave wagte sich mit seinem Projekt also auf unsicheres Terrain vor und konnte eine Umsetzung zunächst nicht erreichen.

    Rückschläge und Hemmnisse

    Herbe Rückschläge ließen in der Folge nicht auf sich warten. Bereits im August 1834 geriet Gustave, der von Anfang an auch über die problematische Regierungsführung der bayerischen Regentschaft berichtet hatte, zwischen die Fronten am Hof von Nafplio. Unter dem Vorwand, er fördere und organisiere saint-simonistische Umtriebe in Griechenland, verlangte der Leiter der Regentschaft von Armansperg von Kolettis Eichthals Entlassung.9Bayerische Regentschaft Armansperg, Kobel, Heideck an Kolettis, 19.9./1.10.1834 und 26.9.1834, in: D´Eichthal (1974), 104, 107. Dieser widersetzte sich zunächst vehement, konnte den jungen Franzosen aber nicht im statistischen Büro halten. Er schlug ihm also eine Reise durch die Provinzen Livadia und Fthiotida in Mittelgriechenland vor, wo er Informationen für das Ministerium sammeln sollte. Gustave brach Anfang November 1834 zu dieser Reise auf, zu einer höchst ungünstigen Jahreszeit also. Seine Tagebuchaufzeichnungen geben genauen Aufschluss über seine Beobachtungen auf der Reise. (Queux Saint-Hilaire, 1887). Obwohl er die Arbeiterviertel von Manchester und London kannte, war er von der drückenden Armut entsetzt, die z.B. durch den gänzlichen Mangel ärztlicher Versorgung und die extrem hohe Kindersterblichkeit gekennzeichnet war. Die Behörden beschrieb er vielerorts als korrupt, die Infrastruktur, z.B. die Straßen, als in katastrophalem Zustand. Insbesondere interessierte Gustave sich, ganz im Sinne seiner bisherigen Aktivitäten, für Arten und Verteilung der Besitztitel in den Gebieten, die er durchreiste. Er fand sie in den einzelnen Eparchien und Gemeinden völlig unterschiedlich. Mancherorts, z.B. in Theben, war unter der Türkenherrschaft jedwede Form von Privateigentum abgeschafft und der Besitz in Nationaleigentum umgewandelt worden, was seine effektive Nutzung sehr erschwerte. Andernorts, etwa in der Umgebung des Kopais-Sees, gab es zwar Privateigentum, aber der Besitz war durch die Erbteilung stark zersplittert. An wieder anderen Orten seien während der Revolution die Besitztitel völlig in Unordnung geraten und die Gemeinden hätten ihre dringend notwendigen Allmenden verloren. Auch die Besitzverhältnisse der Klöster fand er vielerorts unklar. Die Gründung einer Hypothekenbank, wie die Familie sie zeitweilig ins Auge gefasst hatte, schien bei derart unklaren Besitztiteln völlig illusorisch. Und auch die Ansiedlung von Kolonisten, die ihm so sehr am Herzen lag, erschien Gustave vor diesem Hintergrund immer schwieriger: „Was diesen letzten Punkt angeht, spüre ich für meinen Teil keinen Mut, auch nur einen einzigen Siedler nach Griechenland zu rufen, bis es eine Nationalversammlung geben wird.“10Gustave an Roujoux, 1.1.35, in: D´Eichthal (1887) 66. Übersetzung K.S. Gustave schlug also andere Maßnahmen zur Verbesserung der Lage vor, z.B. eine Reform des Steuersystems, das momentan die Viehzucht vor dem Landbau zu stark bevorzugen würde, oder die Verwendung von Dünger und die Durchführung eines konsequenten Fruchtwechsels. Ebenso wie beim Kataster zeigte sich Gustave auch in Fragen der Landwirtschaft auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand seiner Zeit (Schönhärl, 2017, 131–133). Im Juni 1835 fand Gustave sich in Athen ein, das inzwischen Hauptstadt geworden war, wo Otto I. nun die Leitung der Regierung übernommen hatte. Zur Enttäuschung des jungen Franzosen hatte dieser jedoch von Armansperg zu seinem Kanzler ernannt, was einen Sieg der Britischen und Russischen Partei über die Französische bedeutete (Petropulos, 1968, 232). Deren Repräsentant Kolettis, der Gustaves Patron gewesen war, wurde als Botschafter nach Paris abgeschoben. So blieb Gustave nichts anderes übrig, als die Rückreise nach Frankreich anzutreten, ohne französisches Kapital nach Griechenland gelockt zu haben.

    Investieren oder nicht?

    Warum aber war Gustave als financial broker nicht erfolgreich? Zum einen scheint er nur teilweise auf die Investitionspläne der Familie eingegangen zu sein und nur sehr selektiv die notwendigen Informationen geliefert zu haben, wenn ihn selbst die Ideen nicht interessierten. Zum anderen ging durch sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst des Innenministeriums nicht nur wesentlicher Einfluss, sondern auch der Zugang zu wertvollen Informationen verloren. Dies ist allerdings nicht der alleinige Grund, warum die Familie sich mehr und mehr von ihren Investitionsplänen verabschiedete. Vielmehr kamen verschiedene andere Faktoren hinzu. Zum einen machte Simon von Eichthal in München schlechte Erfahrungen mit der bayerischen Regentschaft in Nafplio, die sich als unzuverlässig erwies. Als Hoffaktor hatte er direkten Einblick in die trotz der 60 Millionen-Anleihe desaströse Finanzlage Griechenlands, die den König sogar zu „Betteltouren“ bei der Verwandtschaft in Deutschland und zum Borgen großer Geldsummen in München zwang.11Adolphe an Gustave, 21.11.1834, BDA MS 13748, 57. Der junge König schien ihm auch charakterlich wenig gefestigt. In Simons unermüdlichen Bemühungen um die 60 Millionen-Anleihe erlebte der Bankier außerdem hautnah mit, wie Griechenland zum Spielball zwischen den europäischen Großmächten wurde (Schönhärl, 2019). All diese Eindrücke trübten seine Einschätzung der Attraktivität Griechenlands sehr rasch, sodass er Gustave schon Ende 1833, also wenige Wochen nach der Ankunft, zu einer schnellen Abreise riet. Höchstens aus Sympathie für seinen Bruder in Paris und seinen Neffen vor Ort war er bereit, sich an einem möglichen Investitionsprojekt mit einer kleinen Summe zu beteiligen.12Louis an Gustave, 3.12.1833, BDA MS 13748, 4. Von größeren Projekten riet er der Verwandtschaft jedoch dringend ab, zumal er Gustave auch nicht zutraute, z.B. den steinigen Weg einer Bankgründung zu bewältigen. Insbesondere Louis ließ sich von diesen Warnungen durchaus beeindrucken und war in seiner Einschätzung sehr wechselhaft: Hatte Simon gerade einmal wieder eine nachdrückliche Warnung ausgesprochen, so wollte auch er sich nicht weiter engagieren; hörte er dagegen von Plänen anderer Bankhäuser oder Investoren für Griechenland, dann wollte er unbedingt dabei sein und das Feld nicht der Konkurrenz überlassen (Schönhärl, 2017, 137f).

    Gustaves Bruder Adolphe war von Anfang an viel enthusiastischer und positiver. Er wies den Bruder immer wieder auf die glänzenden Aussichten und Möglichkeiten hin, mahnte ihn zu intensiver Informationsbeschaffung und Arbeit und beteuerte: „Deine Beschreibungen, dein Enthusiasmus machen auch mich verliebt in Griechenland.“13Adolphe an Gustave, 28.2.1834, in: BDA MS 13748, 47. Allerdings machte Adolphe zunehmend auch selbst schlechte Erfahrungen in seinem Amt als Generalkonsul. Zunächst ließ die beantragte Ernennung in dieses Amt viel zu lange auf sich warten; dann erhielt Gustave auf viele seiner Briefe an die Regentschaft nicht einmal eine Antwort, z.B. im Hinblick auf seinen Vorschlag zur Gründung der oben genannten Schifffahrtslinie. Zudem erwies sich auch ihm gegenüber die Regentschaft als unzuverlässig, z.B. indem sie ihm den Auftrag zum Kauf eines repräsentativen Tafelservices in Paris erteilte, die Rechnung dafür aber niemals beglich (Schönhärl, 2017, 150 ff.). Als dann noch die negativen Berichte von Gustaves Reise bei ihm eintrafen, kippte auch bei Adolphe die Stimmung. In einem langen Brief14Adolphe an Gustave, 10.3.1835, BDA MS 13748, 60. legte er dem Bruder dar, dass sich die Gründung einer Hypothekenbank unter den genannten unsicheren Besitzverhältnissen verbiete, dass nicht einmal der Fortbestand Griechenlands als gesichert gelten könne, und dass unter diesen Umständen das Risiko jeglicher Investitionen zu hoch sei, als dass man eine solche als verantwortungsbewusster Bankier einem Investor hätte empfehlen können. Er schlussfolgerte, dass das Land einfach zu weit weg und zu wenig bekannt sei, um dort investieren zu können. Die Entscheidung der Eichthals gegen Griechenland war gefallen. Das Narrativ vom fremden, balkanischen und unsicheren Griechenland hatte sich in der Risikoperzeption der Bankiers gegen dasjenige des emerging market durchsetzen können.

    Gustaves Investitionen in Griechenland als Privatier

    Gustave kehrte also 1835 nach Paris zurück und baute sich dort, bald schon finanziell unabhängig durch das väterliche Erbe, eine Existenz als Intellektueller auf. Im Rahmen seiner Möglichkeiten als Privatmann verfolgte er sein finanzielles Engagement für Griechenland weiter: Wohl auf Anregung seines ehemaligen Vorgesetzten Ioannis Kolettis, seit 1835 griechischer Botschafter in Paris, schickte er 1842 auf eigene Kosten ein Jahr lang eine Gruppe von Ingenieuren der Ponts et Chaussées unter Leitung von Françoise Clément Sauvage nach Böotien, um eine Trockenlegung des Sumpfgebietes am Kopais-See zu projektieren (Sauvage, 1868). Den detaillierten Plan, den der französische Ingenieur erarbeitete, stellte er der griechischen Regierung zur Verfügung; er wurde in den 1880er Jahren dann tatsächlich durch die Compagnie française pour le dessèchement et l´exploitation du Lac Copaïs umgesetzt, wenn auch ohne Beteiligung der Eichthal-Bank (Schönhärl, 2017, 292–339). Darüber hinaus ließ Gustave von Sauvage auch einen Plan zur Erweiterung der Durchfahrt zwischen der Insel Euböa und dem Festland ausarbeiten, der Anfang der 1860er Jahre in die Tat umgesetzt wurde (Yéméniz, 1865, 866).P959F Gustave scheint in die Ausarbeitung dieser wissenschaftlichen Gutachten also viel Geld investiert zu haben, auch wenn keines der Projekte unter seiner Regie in die Tat umgesetzt wurde. Daneben investierte er in griechische Staatsanleihen.15Abrechnung des Bankhauses d´Eichthal an Gustave d´Eichthal, 5.4.1844, BDA MS 13755. Als die griechische Regierung sich nach dem Amtsantritt des neuen Königs 1863 um die Akquise neuer Auslandsanleihen bemühte, setzte sich Gustave 1867 bei den Geschäftspartnern seines Bruders, den Brüdern Péreire, für die Unterstützung einer solchen Anleihe ein, die allerdings noch über zehn Jahre auf sich warten lassen sollte.16Archives Familiales Péreire, zitiert nach Le Bret (2012), 511f. Und als 1882 die Société internationale du Canal Maritime de Corinthe (SICC) den Bau des korinthischen Kanals in Angriff nahm, an den Louis d´Eichthal schon Anfang der 1830er Jahren gedacht hatte, kaufte Gustave Aktien der Baugesellschaft (Le Bret, 2012, 513).

    Vom Griechenlandreisenden zum Hellenisten

    Aber auch in intellektueller Hinsicht setzte Gustave seine Beschäftigung mit Griechenland fort. Gleich nach seiner Rückkehr verarbeitete er die Eindrücke und Erfahrungen seiner Reise in der Schrift Les deux mondes (D´Eichthal, 1836). Er kontrastierte darin Orient und Okzident in einer Deutlichkeit, die Edward Saids These vom „Orientalismus“ geradezu holzschnittartig erfüllt: Den Okzident beschrieb er als Ort der Aktivität und Geschäftigkeit, wo die Menschen möglichst umfassend für die Zukunft vorzusorgen versuchten. Den Orient dagegen, zu dem er Griechenland rechnete, beschrieb er als Ort der Ruhe und der Schönheit. Seine Bewohner würden sich durch ihr Gottvertrauen und das Fehlen jeglicher Zukunftsplanung auszeichnen. Die beiden Welten bedürften aneinander, schrieb Gustave, wie der Mensch nach der Arbeit der Ruhe bedürfe. Zwar lehnte er jede explizite Bewertung im Hinblick auf die höhere Wertigkeit ab, aber in der Wahrnehmung seiner Leser dürfte sie dennoch klar gewesen sein: Griechenland wurde einmal mehr als dem Fortschritt abgewandt beschrieben.

    Im Jahr 1861 dann, fast dreißig Jahre nach der Reise, publizierte Gustave eine kurze Schrift über den praktischen Gebrauch der griechischen Sprache (D´Eichthal, 1861), in der er das Griechische in seiner neugriechischen Aussprache als Weltsprache propagierte. Er löste damit eine erregte Diskussion in der französischen und europäischen Öffentlichkeit aus. Auch wenn sich dieser Vorschlag nicht durchsetzen ließ, blieb Gustave weiter am Ball: Im Juni 1867 war er an der Gründung der Association pour l’encouragement des études grecques en France beteiligt (Basch, 1995). Zwischen den Philhellenen habe, so Gustave, „eine vollständige Harmonie der Ideen und Gefühle“ geherrscht. „Vor allem hatten wir gemeinsam, was man die „Religion Griechenland“ nennen kann; die gleiche Bewunderung, aber nicht ausschließlich für seine Vergangenheit, das gleiche Vertrauen in seine Zukunft.“ (D´Eichthal, 1905, 6. Übersetzung K.S.). Gustave versuchte also, das Studium und die Bewunderung der Antike mit dem Interesse für das moderne Griechenland zu verknüpfen, da erstere in der französischen Tradition weitaus anschlussfähiger war. Diese Strategie hatte Erfolg: Die Mitgliederliste der Gesellschaft (insgesamt 600 Mitglieder und Unterstützer) liest sich wie ein Who is who der Zweiten Republik (D´Eichthal, 1905, 29–33). Weil die Vermittlung zwischen dem modernen Griechenland und Frankreich nicht gelungen war, hatte Gustave die Antike ins Zentrum gerückt. Die Erfahrungen seiner Griechenlandreise vierzig Jahre zuvor verblassten wohl auch in seiner eigenen Wahrnehmung immer mehr gegenüber dem Bild der Antike, das als Projektionsfläche für die verschiedensten Vorstellungen und Forderungen dienen konnte. In dieser Beziehung steht d´Eichthal paradigmatisch für zahlreiche europäische, auch deutsche Intellektuelle in der Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrer Hinwendung zu Griechenland. Für viele von ihnen war Griechenland „mehr ein Vorbild als ein Gegenstand direkten Wissens“ (Loraux/Vidal-Naquet, 1979, 174) , ging es bei der Antikenrezeption vor allem um die Veredelung der eigenen, der Aufnahmekultur, im Zuge der Konstruktion der Referenzkultur.

    Investitionen in Griechenland im Spannungsfeld zwischen Risikomanagement, Philhellenismus, und Hellenismus

    Warum investierten die Eichthals nicht in Griechenland, obwohl sie das Anfang der 1830er Jahre gerne wollten und erheblich in den Aufbau von entsprechenden Geschäftsbeziehungen und die Beschaffung von Informationen investierten? Zum einen erlebten die Eichthals die bayerische Regentschaft und den jungen König als extrem unzuverlässige Geschäftspartner, und zwar in verschiedenen Kontexten. Zum anderen kamen ihnen immer stärkere Zweifel am institutionellen Rahmen, der für solche Investitionen unabdingbar war. So waren z.B. die Besitztitel für Grund und Boden so uneinheitlich und unzuverlässig, dass die Gründung der geplanten Hypothekenbank zu kompliziert erschien. Auch die bloße Existenz des jungen Staates schien der Familie mehr und mehr zweifelhaft, erlebten sie ihn doch als Spielball der Interessen der Großmächte. Vor diesem Hintergrund konnte die anfangs sehr positive Berichterstattung des jungen Finanzintermediärs Gustave wenig erreichen: Das von Anfang an in der Familie unterschwellig vorhandene Bild vom orientalischen, chaotischen Griechenland setzte sich durch, und man beschloss, sich auf diesem neuen Markt nicht finanziell zu engagieren – wie viele andere Bankiers aus den deutschen Staaten und anderen Regionen Europas auch.17Aber nicht alle. Eine Ausnahme bildete z.B. der Schweizer Jean Gabriel Eynard, der sich in verschiedenen Projekten in Griechenland engagierte und 1841 auch die Gründung der Nationalbank initiierte, vgl. (Schönhärl, 2017, 69–110). Man wandte sich lieber dem antiken Griechenland zu, das als Projektionsfläche für eigene Vorstellungen und Erwartungen dienen konnte – während dem zeitgenössischen Land noch mindestens weitere 30 Jahre dringend benötigte Investitionen aus dem Ausland, auch aus Bayern und anderen deutschen Staaten, fehlten.

    Zusammenfassung

    In den 1830er Jahren interessierte sich die Familienbank Eichthal mit ihren Sitzen in München und Paris intensiv für Investitionen in Griechenland, wo dieses Kapital zum Aufbau der Wirtschaft dringend nötig gewesen wäre. Die Familie investierte zunächst stark in den Aufbau von Geschäftsbeziehungen, verfolgte ihre Pläne dann aber schon ab Mitte der 1830er Jahre nicht mehr weiter. Der Artikel untersucht die Gründe für diese (negative) Investitionsentscheidung, die paradigmatisch für die Haltung der meisten europäischen Bankiers ist.

    Einzelnachweise

    • 1
      Korrespondenz von Heideck – von Eichthal in Staatsbibliothek München, Abteilung Handschriften und alte Drucke, Heydeckiana II. 2b.
    • 2
      Arnold von Eichthal an Louis d´Eichthal, 19.8.1833, Bibliothèque de l´Arsenal (BDA), Paris, MS 13747, 100.
    • 3
      Gustave an die Familie, 7.2.1834, in: D´Eichthal (1887), 19–24). Übersetzung K.S.
    • 4
      Adolphe an Gustave, 6.10.1833, BDA MS 13748, 40.
    • 5
      Louis an Gustave, 3.12.1833, BDA MS 13748, 4.
    • 6
      Gustave an Duveyrier am 17.3.1834, in: Queux Saint-Hilaire (1887), 24–28. Übersetzung K.S.
    • 7
      Adolphe an Gustave, 28.1.1834, BDA MS 13748, 47.
    • 8
      Gustave an unbekannt, 29.6.1834, in: Queux Saint-Hilaire (1887), 30f.
    • 9
      Bayerische Regentschaft Armansperg, Kobel, Heideck an Kolettis, 19.9./1.10.1834 und 26.9.1834, in: D´Eichthal (1974), 104, 107.
    • 10
      Gustave an Roujoux, 1.1.35, in: D´Eichthal (1887) 66. Übersetzung K.S.
    • 11
      Adolphe an Gustave, 21.11.1834, BDA MS 13748, 57.
    • 12
      Louis an Gustave, 3.12.1833, BDA MS 13748, 4.
    • 13
      Adolphe an Gustave, 28.2.1834, in: BDA MS 13748, 47.
    • 14
      Adolphe an Gustave, 10.3.1835, BDA MS 13748, 60.
    • 15
      Abrechnung des Bankhauses d´Eichthal an Gustave d´Eichthal, 5.4.1844, BDA MS 13755.
    • 16
      Archives Familiales Péreire, zitiert nach Le Bret (2012), 511f.
    • 17
      Aber nicht alle. Eine Ausnahme bildete z.B. der Schweizer Jean Gabriel Eynard, der sich in verschiedenen Projekten in Griechenland engagierte und 1841 auch die Gründung der Nationalbank initiierte, vgl. (Schönhärl, 2017, 69–110).

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Korinna Schönhärl: «Finanzielle Netze. Die bayerisch–französische Familienbank von Eichthal und ihre Investitionspläne in Griechenland in den 1830er Jahren», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 29.04.21, URI : https://comdeg.eu/essay/103206/.