Er war vom Geiste des Hellenentums
durchdrungen bei Menschen kann … Höheres nicht gelingen
Nur Götter mögen größere Ehr‘ erringen.
Konstantin Kavafis: Grabschrift des Antiochos, König von Kommagene, Athen 1933
Briefe Ernst Curtius‘ aus Griechenland
Wir erleben heute die Macht eines direkten, jedoch seichten Austausches. Die Flut der Bilder, die schnelle Äußerung unserer Wünsche und Ziele, die digitale Übertragung von kurzlebigen und oft inhaltslosen Mitteilungen sind die Kanäle unseres verarmten Miteinanders. Es regiert die zweckgebundene Direktheit. Der aufbauende Dialog, der Austausch von Argumenten, verkümmert. Noch stärker ermattet der schriftliche Verkehr, der Briefwechsel, der über Jahrhunderte hinweg das menschliche Denkvermögen förderte. Dies ist ein großer Verlust, da die Korrespondenz ein doppeltes Ziel verfolgt und einen hohen Gewinn verspricht. Die schriftlich ausgedrückte Meinung des Anderen ermöglicht uns erst die Überprüfung – wie in einem Spiegel – unserer eigenen Gedanken und Taten. „Zur Selbsterkenntnis muß die Seele sich in eine andere vertiefen“1Καί η ψυχή ει μέλλει γνώσεσθαι αυτήν, εις ψυχήν βλεπτέον. Platon: Alkibiades, 133b., heißt es bei Plato.
Dabei beinhaltet ein schriftlicher Dialog auch einen inneren Monolog, eine Art Beichte des Schreibenden. Ein Briefwechsel ist daher auch immer bis zu einem gewissen Grad selbstbezogen: eine Enthüllung. Auf die eigene Erfahrung bezogen, sind auch die Briefe Ernst Curtius’2Die Auszüge aus den Briefen und Vorträgen E. Curtius’ sind in kursiv wiedergegeben. aus Griechenland: frühe, spontane Äußerungen, die er in seinen jungen Jahren (zwischen 23 und 27) mittteilt. Die Briefe bezeugen seinen Weg zur Selbstfindung, sie bekunden die allmähliche Reifung eines Charakters und die Entwicklung einer humanistisch geprägten hellenozentrischen Haltung. Wir verfolgen die entscheidenden Jahre der Formung einer charismatischen Persönlichkeit, des künftigen Initiators wichtiger kultureller Projekte. Curtius’ Auffassung orientiert sich an einer ganzheitlichen Betrachtungsweise der griechischen Welt: Naturraum, klimatische Verhältnisse, nationales Temperament, sprachlicher Ausdruck, soziale Organisation und künstlerische Kreativität, in einem Wort, die Errungenschaften eines Volkes sind seiner Meinung nach miteinander eng verbunden; sie spiegeln seine Eigenart wider und sind der Ausdruck des Genius Loci par excellence. Und diese Eigenart, der Charakter eines Volkes, bestimmt auch den Gang seiner Geschichte. Das griechische Wesen erkennen wir nur durch die Auffassung des Genius Loci als selbständige Ganzheit, die in der Betrachtungsweise von Curtius unverändert durch die Jahrhunderte bleibt.
Lebensabriss
Ernst Curtius, klassischer Philologe, Historiker und Archäologe, wurde am 2. September 1814 in der Hansestadt Lübeck geboren. Er verbrachte seine Jugend in einem liberalen Elternhaus, das ihm den Geist der Arbeitsamkeit und Lebensfreude sowie das Verantwortungsgefühl für das Gemeindewohl vermittelte. Wie sein Vater, Carl Georg Curtius, Syndikus der Stadt Lübeck, neigte auch er zur Verknüpfung der wissenschaftlichen Forschung mit der engagierten gemeinnützigen Tätigkeit. Im Jahre 1836 erhielt Curtius die Einladung seines Lehrers, Professor Christian Brandis, ihn als Hauslehrer seiner Kinder nach Griechenland zu begleiten. Brandis war von König Otto beauftragt worden, die Einrichtung der neugegründeten Athener Universität in die Wege zu leiten. Für Curtius wurde sein vierjähriger Aufenthalt in Griechenland (1837–1840) zur Initialzündung für seinen späteren wissenschaftlichen Werdegang. Schon im Laufe dieser Jahre verfasste er seine erste altertumskundliche Schrift über die Häfen des antiken Athen (Commentatio de portubus Athenarum), mit der er an der Universität Halle nach seiner Rückkehr aus Griechenland promoviert wurde. Im Jahre 1843 habilitierte er sich an der Universität Berlin mit seiner Arbeit Anecdota Delphica, über die gemeinsam mit K. O. Müller erforschten Inschriften von Delphi. Zwischen 1844 und 1850 diente Curtius als Erzieher des Prinzen Friedrich-Wilhelm von Preußen (1831–1888), des späteren Kaisers Friedrich III. Seine enge Verbindung mit der königlichen Familie ermöglichte ihm später wichtige kulturelle Vorhaben bei der Regierung durchzusetzen, die sich als sehr erfolgreich erwiesen. Seine wichtige Abhandlung „Peloponnesos: eine historisch-geographische Beschreibung der Halbinsel“ erschien 1851–1852 in zwei Bänden in Gotha. Mit dieser Arbeit begründete Curtius die „chorographische“ Erforschung Griechenlands.
Zwölf Jahre lang (1855–1867) hatte er den Lehrstuhl für klassische Philologie, Archäologie und Rhetorik an der Universität Göttingen inne. Zu dieser Zeit veröffentlichte er sein monumentales dreibändiges Werk Griechische Geschichte (Berlin, 1857, 1861, 1867), den ersten Versuch der Erarbeitung einer übergreifenden Geschichte des antiken Griechenland, in deutscher Sprache. Im Jahre 1867 übernimmt er die Professur für klassische Archäologie an der Universität Berlin. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass im Jahre 1874 das Römische Institut der archäologischen Korrespondenz in das Kaiserliche Deutsche Archäologische Institut umgewandelt und zugleich seine Abteilung Athen gegründet wurde. Konsequent widmet sich Curtius der athenischen Topographie und unter seiner Ägide wird das Werk Sieben Karten zur Topographie Athens (1868) veröffentlicht. Als Ergebnis seiner Mitarbeit mit Johann August Kaupert, hochrangigem Offizier des preußischen Generalstabs, und nach langjährigen Vermessungen vor Ort erscheinen die Werke Atlas von Athen (1878) und Karten von Attika (1881–1903), ein Kompendium von 26 Plänen, die mit großer Genauigkeit die Topographie Gesamtattikas dokumentieren. Im Jahre 1874 wird der zwischenstaatliche Vertrag (Königreich Griechenland – Deutsches Kaiserreich) für die entscheidende Ausgrabung des antiken Olympia (1876-1881) unterschrieben. Diese kommt auf Betreiben Ernst Curtius’ zustande, der sie gemeinsam mit dem Architekten Friedrich Adler von Berlin aus leitet. Curtius stirbt in Berlin am 11. Juli 1896, 82 Jahre alt, nachdem er zu seiner Zeit als „Praeceptor Germaniae“ im öffentlichen Leben Deutschlands anerkannt wurde.
Mitteilungen aus Griechenland
Die Schilderung des vierjährigen (1837–1840) Aufenthaltes Ernst Curtius’ in Griechenland wird uns durch die Veröffentlichung seiner Briefe an die Familie lebendig vermittelt. Diese sind von seinem Sohn Friedrich Curtius unter dem Titel Ernst Curtius. Ein Lebensbild in Briefen in Berlin im Jahre 1903 ediert worden. In diesem 714 Seiten starken Band wird uns eine charakteristische Autobiographie des Altertumsforschers, die auf eine Auswahl von Briefen, die er im Laufe seines langen Lebens (zwischen 16 und 82 Jahren, 1830–1896) geschrieben hat, vorgestellt. Das zweite Kapitel dieser Sammlung beinhaltet unter dem Titel „Griechenland“ auf 153 Seiten 56 Briefe, die E. Curtius aus Griechenland (hauptsächlich aus Athen, aber auch aus anderen Örtlichkeiten) zwischen dem 7. März 1837 und dem 19. Dezember 1840 nach Hause geschickt hat. Der Inhalt der Briefe bietet ein buntes Spektrum von Nachrichten und Eindrücken. Mit Ausnahme etlicher praktischer Mitteilungen, die persönliche Angelegenheiten betreffen, spiegelt der Großteil dieser Briefe die aktive und enthusiastische Anteilnahme Curtius’ am athenischen Alltag wider, sowie seine kritische Reaktion auf das in Griechenland Vorgefundene.
Der Athener Alltag. Werke und Tage
Die Hauptstadt des neuentstandenen Griechenland, das im Altertum berühmte „veilchengekrönte Athen“, mit seiner damaligen Bevölkerung von nur 20.000 Einwohnern, wird von allen wohlwollenden Besuchern im Laufe des ersten Jahrzehnts (1833–1843) der Regierungszeit König Ottos als ein babylonisches Durcheinander von Menschen beschrieben, die sich in einem noch ungeformten urbanen Milieu zurecht zu finden versuchen. „Der Sprachwirrwarr war in dieser Zeit (1833) und noch auf einige Jahre hinaus in der eben entstehenden und sich bildenden Verwaltung groß […]. Bei der erwähnten Sprachnoth schrieb nun jeder im Dienste wie ihm der Schnabel gewachsen war, griechisch, deutsch, französisch, italienisch; auf Grammatik und Rechtschreibung kam es vor der Hand nicht an, wenn nur die Sache verständlich war.“3Vgl. Ross, 1863. Noch strenger ist das Urteil über das entstehende Stadtbild Athens:
Ein wahrer Fluch des Lächerlichen scheint über den Bauwerken des neuen Athen ausgesprochen worden zu sein. […] Die Verzierungen der Privathäuser gehen aber vollends ins Unglaubliche. Eines stieß uns auf, nicht weit von dem sogenannten Tempel der Winde und unmittelbar am Fuße der Akropolis, das nach dem bunten Muster englischen Zitzes [Kattun] angestrichen war! […] Das jetzige [Stadt]wesen, welches so fabrikartig und geleckt, sich höchstens zu einer ekelhaften Nachpfuschung des Alten zu versteigen fähig ist, scheint mir bestimmt zu sein recht ad oculos zu demonstrieren, daß jetzt Pygmäen da wohnen, wo einst Riesen hausten.4Vgl. Pückler-Muskau, 1840.
Das neu eingeführte Hofleben, die Welt der ausländischen Gesandten und Konsuln, die geschäftige Welt des auflebenden Konsums, die traditionelle einheimische Gesellschaft mit ihrem introvertierten Familienleben, die Gegensätze zwischen dem Treiben auf dem traditionellen Bazar und der Geselligkeit in den neu eingerichteten Cafés und Schauspielhäusern fügen sich zu einem bunten, jedoch ziemlich gestaltlosen Mosaik zusammen. Der krasse Gegensatz zwischen den lokalen Trachten und den neu eingeführten westlichen Uniformen und Kleidern, der lächerliche Züge annimmt, das Nebeneinander von unterschiedlichsten Fortbewegungsmitteln, steigern die Konfusion. So begegnet man Lasttieren (Kamelen, Pferden, Eseln), ausgeleierten Kutschen diverser Provenienz, aber auch Lastträgern aus Malta, die die Honorationen im Huckepack zu den abendlichen Bällen tragen. Absolvent der Universitäten von Bonn, Göttingen und Berlin, und der damals in ihrer Entstehungsphase befindlichen akademischen Disziplin der klassischen Archäologie zugeneigt, entschließt sich Curtius zu einem längeren Aufenthalt in Griechenland. Er ist kaum 23 Jahre alt. Die in Athen vorhandene kleine internationale Gesellschaft erleichtert ihm seinen dortigen Aufenthalt und seine Eingliederung in eine für ihn neue Lebenswelt. Als Sprössling einer großbürgerlichen hanseatischen Familie geht er in die Fremde weder als Mitglied einer wissenschaftlichen Expedition noch mit beruflichen Ambitionen und noch weniger in der Absicht, sich in den öffentlichen Dienst des neuen Staates zu stellen. Mit beträchtlicher Wendigkeit verbindet er die private Anstellung als Hauslehrer mit einem hohen Grad an persönlicher Bewegungsfreiheit.
Der junge Wissenschaftler ist bestens im Schoß der Familie Brandis, eines wohlhabenden Kreises des deutschen Bildungsbürgertums, aufgehoben. Gut versorgt mit Kost und Logis lebt er in Athen sorglos, weit entfernt von beruflichen Rivalitäten und gesellschaftlichem Strebertum. Er hat täglich viele Stunden für sich. So führt er ein auf die Erkundung des Landes und seiner Menschen gerichtetes Dasein. Er befasst sich mit historischen Studien, die ihn ansprechen, er macht sich mit fremden Sitten vertraut und befindet sich auf einem Weg der Selbsterkenntnis und der Öffnung gegenüber einer für ihn zu entdeckenden Welt.
Die zeitweilige Beschäftigung als Hauslehrer betrachtet er keineswegs als erniedrigend. Er empfindet es im Gegenteil als ein Geschenk des Schicksals, dass er so jung schon seinen Lebensunterhalt verdient, ohne von seiner Familie finanziell abhängig sein zu müssen (wie z.B. die jungen englischen Adeligen bei ihrer „Grand Tour“) und dabei Zeit und Muße hat, sich seiner Unabhängigkeit zu erfreuen. Die Familie Brandis bewohnt zuerst, nach ihrer Ankunft in Athen, ein Haus in der Mnisikleous Straße, im Stadtteil Plaka am Nordhang der Akropolis, in der Nähe des Turms der Winde. Wir haben uns nun in unserer Wohnung, welche nur um ein Zimmer zu klein ist, eingewohnt. Sie liegt schon ziemlich hoch an der Akropolishöhe hinauf, ist daher sehr gesund, schreibt er zu Ostern des Jahres 1837. Die Lage ist schön, aber die Räumlichkeiten sind beschränkt und das Ambiente ist volkstümlich. Die achtköpfige deutsche Familie zieht schon nach anderthalb Monaten in die Neustadt um. Ministerialrat Brandis wird nicht nur von seiner großen Familie begleitet, sondern transportiert auch einen ganzen Haushalt nach Athen. Das Elternpaar bringt drei Söhne, eine Ziehtochter, eine Bedienstete und den Hauslehrer Curtius mit sich. Der Anspruch der gutbürgerlichen Familie ist klar, in der für sie fremden Stadt sich standesgemäß niederzulassen. Es fehlen Hinweise auf die Einrichtung und Möblierung der Wohnung, es werden jedoch die baulichen Unfertigkeiten bei der Errichtung der Wohnbauten erwähnt. In der angemieteten Wohnung in Piräus, in der die Familie im Sommer 1838 sich für die Sommerfrische aufhält, sind die Räume groß und ziemlich anständig, es ist sehr luftig und kühl und es arbeitet sich hier sehr gut. Jedoch ist das Haus so schlecht gebaut, daß ein Nagel, den man zum Bilderaufhängen einschlägt, von der Straße aus sichtbar ist.
In Athen versammelt sich im Winter die ganze Familie in den zwei Räumen, in denen Öfen aufgestellt sind, eine Annehmlichkeit, die für die Wohnverhältnisse in der Stadt als ein wahrer Luxus zu betrachten war. Ein deutscher Hauptmann [Friedrich von Zentner]5Vgl. Stauffert, 1844. zugleich Chef der polytechnischen Schule, hat eine Ofenfabrik gegründet und schon sind daraus viele sehr gelungene Exemplare hervorgegangen, ohne daß noch ein griechischer Name dafür existiert. Das Leben ist gelassener im Sommer während des Aufenthaltes in Piräus. An den steinigen Klippen der Halbinsel Munichia übt Curtius das Schwimmen mit seinen Zöglingen schon ab Frühmorgens um 5 Uhr. Die Knaben schwimmen, ohne zu zögern, im tiefen Wasser. Während der Tageshitze geht er selten aus. Des Mittags zwei Stunden Siesta und mit Sonnenuntergang beginnen die Freuden der Geselligkeit. Seinen Aufenthalt in Griechenland betrachtet er als eine nützliche, ja unentbehrliche Lehrzeit, während der er Arbeit (d.h. Unterricht) mit dem Studium des Altertums verbindet.
Die Neigung zum privaten häuslichen Leben hat als Folge auch eine beschränkte Bereitschaft zur Teilnahme am öffentlichen bürgerlichen Leben. Bezeichnenderweise fehlen in den Briefen vollends Beschreibungen der städtischen Umwelt Athens: Keine Erwähnung auch eines einzigen Platz- oder Straßennamens, auch keine Kritik über das Erscheinungsbild der Bauten. Wir begegnen nirgendwo in seinen Schilderungen einem Bild des lebhaften Treibens am unteren Bazar „des Springbrunnens“ oder am oberen der „großen Panaja“. Es ist anzunehmen, dass der junge Gelehrte die lauten öffentlichen Plätze, auf denen das ortsansässige Element vorherrschte, gemieden hat. Der malerische Charakter des Athener Alltags lässt ihn ungerührt. Auch ein wesentlicher Brennpunkt des städtischen Lebens, das griechische Kaffeehaus, bleibt ihm fremd. Er bemüht sich, die Landessprache zu erlernen: Zunächst habe ich mich mit allem Eifer auf das Neugriechische geworfen. Man hat zuviel Gelegenheit, deutsch zu sprechen, doch bin ich schon soweit, daß ich mit Gebildeten mich ziemlich verständige. Mit dem Volke hält’s ungleich schwerer. Wie kann man zum Stammkunden des Kaffeehauses werden, ohne sich mit den Anwesenden verständlich machen zu können?
Erkundungssparziergänge mit den ihm anvertrauten Knaben der Familie zielen entweder auf körperliche Ertüchtigung oder geben Gelegenheit zum Vertrautwerden mit der Geschichte und Topographie Athens. So wird der am Verlauf der heiligen Straße gelegene Botanische Garten besucht, die Bäder im Meer mit der Besichtigung der antiken piräischen Mauer und dem Grab des Themistokles verbunden und die antiken Marmorbrüche am Pentelikon6Die antiken Steinbrüche des Berges Pentelikon bei Athen wurden erneut im 19. Jahrhundert in Betrieb genommen. Sie lieferten weißen pentelischen Marmor für die Erbauung der Athener Residenz König Ottos (heute Parlamentsgebäude). in Augenschein genommen. Eine wesentliche gesellschaftliche Initiative Curtius’ wird nicht von ihm selbst, sondern von der Ehefrau des protestantischen Hofpredigers, Christiane Lüth, in ihrem Tagebuch erwähnt: „Da wir keine eigene Kirche oder Kapelle besitzen, halten wir unseren evangelischen Gottesdienst im großen runden Tanzsaal, der ersten königlichen Residenz, in der König Otto vor seiner Eheschließung wohnte. Natürlich fehlt eine Orgel und man begnügt sich mit einem Klavier. Die Hymnen wurden auf ihm von Doktor Curtius aus Lübeck gespielt.“7Vgl. Lüth, 1981.
Für die etwa zweihundert im Jahr 1839 in Athen verweilenden ausländischen Staatsbürger evangelischen Glaubens, ist er also bereit, ganz selbstverständlich Kirchenmusik zu spielen. Dies als Protestant, der mit voller Überzeugung den Zusammenhalt der kleinen Gemeinde seiner Glaubensbrüder in Athen stärken will. Zugleich bleibt er sehr zurückhaltend gegenüber der orthodoxen Glaubensgemeinschaft vor Ort, für die er nur sehr strenge Worte findet: Unwissenheit und Afterbildung, Aberglauben und Atheismus stehen sich schroff gegenüber. Es ist keine Religion da, nur Ceremoniendienst, darum sind Geiz und Selbstsucht schamlos emporgewuchert. Dieser Vorbehalt Curtius‘ richtet sich anscheinend weniger gegen den orthodoxen Glauben an sich, sondern vielmehr gegen den zeremoniellen Ablauf des griechischen Gottesdienstes und dem allgemein unverständlichen nasalen Kirchengesang8Die byzantinische Kirchenmusik mit ihrem besonderen nasalen Ton war besonders befremdlich für einen Christen der evangelischen Gemeinde, der an die instrumentale Kirchenmusik des Westens gewöhnt war. Treffend ist die Bemerkung Curtius’, nach der das erhabene Wort der Liturgie von den Priestern und Vorsängern der griechischen Kirche unverständlich psalmodierend vorgetragen wird.: Die trefflichen Worte der griechischen Liturgie werden auf die unwürdigste Weise in einem dem Lesenden wie dem Hörenden unverstandenen Tone hergesprochen.
Öffentliche Feiern sowie die Volksfeste scheinen hingegen sein Interesse zu wecken. Es ist nicht klar, ob er diese bloß beschreibt oder auch an ihnen teilnimmt. Er ist vom Feuerwerk und der Festbeleuchtung der Stadt am 1. Juni 1837 anlässlich der Thronbesteigung König Ottos beeindruckt. Im Februar 1837 erlebt er zum ersten Mal den Athener Karneval. Er findet diesen weniger spektakulär als den italienischen, jedoch von der Spontaneität des Volksgeistes durchdrungen. Später, zur Faschingszeit 1839, schreibt er:
Alle Tage der vorigen Wochen zogen Maskenzüge durch Athen, zum Theil Tagesbegebenheiten serfiflirend […] Am Montage, am ersten Tage der großen Fasten, wo Fleisch, Fisch, Käse, selbst Oel verboten ist, findet regelmäßig ein Volksfest an dem Zeustempel statt. Beide Ilifossufer sind dann den ganzen Tag voll von griechischen Familien, welche essen, trinken, tanzen und singen.
Zum ersten Mal wird am 25. März / 6. April 1838 der Nationalfeiertag begangen: Auf dem Lykabettos war von Holzscheiten ein Kreuz gelegt, welches, ein schönes Symbol der griechischen Freiheit, die ganze Nacht über der Stadt brannte. Die Eröffnung des ersten Theaters in Athen9Das erste geschlossene Theater Neu-Athens wurde vom Italiener Camilieri im Jahre 1838 eröffnet und bald danach von seinem Landsmann Sansoni übernommen. Das Unternehmen wird später (1844) vom griechischen Schiffskapitän aus Spetsai, Johann Boukouras, geleitet, der auch seinen Namen dem damals einzigen geschlossenen Theater der Stadt (das im Jahre 1899 abgetragen wurde) verliehen hat. Der unförmige Fachwerkbau hatte drei Logenreihen und ein kleines Parterre mit nur sieben Sitzreihen und wurde im Stadtteil „Gerani“ in der Nähe der heutigen Menandrou-Straße errichtet. Curtius erwähnt die erste Vorstellung im Theater im Januar 1840. Eine italienische Truppe führte die Oper Lucia di Lammermoor vor. begrüßt Curtius, besonders in Anbetracht seiner sittlichen Erziehungskraft:
Mit Blitzesschnelle ist ein Opernhaus erbaut worden mit drei Bogenreihen, vortrefflichen Dekorationen und einigen guten Subjekten, und ich traute meinen eigenen Augen nicht, als ich heute vor acht Tagen in ein hübsches Theater eintrat und bei vollem Orchester Lucia di Lammermoor hörte. Ein solcher Abzugskanal für das politisirende Volk ist sehr ersprießlich.
Seine Freundschaften und gesellschaftlichen Beziehungen beschränken sich hauptsächlich auf einen Kreis in Athen verweilender ausländischer Wissenschaftler und Künstler. Außer den Griechen Glarakis, Farmakidis, Manoussis, Jennadios und Katakazi und den Ausländern Prokesch von Osten und Travers10Anton von Prokesch-Osten war Botschafter Österreichs und Travers Konsul von Holland während des Aufenthaltes von Curtius in Athen. erwähnt er kein anderes Mitglied der Athener Gesellschaft. Eine strenge hanseatisch-bürgerliche Erziehung sowie die protestantische Ethik scheinen den Charakter des jungen Wissenschaftlers geprägt zu haben. Anerzogene Höflichkeit, wohlwollende Einstellung und Freundschaftlichkeit können jedoch nicht eine angeborene Reserviertheit überwinden, die auf ethischer Unnachgiebigkeit und der Treue zu den Prinzipien seiner Herkunft beruht. Ein geflügeltes Wort seiner deutschen Heimat besagt: „Keiner kann über seinen Schatten springen“. Und jedermanns Schatten ist der Hort seiner Herkunft. Die Hinwendung dagegen zum Faszinosum des Andersartigen ist ein kühner Schritt, den Ernst Curtius spontan in sehr jungen Jahren gewagt hat.
Das Erleben des Anderen. Vom vertrauten zum fremden Ort
Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Anpassung an unbekannte Lebenswelten, die Neigung zum Erforschen, die Neugier, die neue Erlebnisse sucht, geben der Jugend den unbezwingbaren Drang nach neuen Horizonten. Physische Ausdauer und Wagemut erlauben die Öffnung zur Erkundungsreise. Die Konfrontation mit dem Nichtvertrauten und Andersartigen wird durch die Anpassung, im Rahmen des Möglichen, des privaten und öffentlichen Lebens des Individuums an neue, fremde Bedingungen bewältigt. Der Fremde und besonders der freiwillig in die Fremde ziehende, ist gezwungen, sich in die Lebensverhältnisse der Wahlheimat einzuleben. Um eine Zeit außerhalb des vertrauten Lebensraumes produktiv zu verbringen, ist eine Verfügbarkeit von Herz und Verstand von Nöten, die die Anteilnahme, d.h. die wahre Annäherung zur neuaufgesuchten Welt, ermöglicht. Mit der Anteilnahme gewinnen wir allmählich das Verständnis und die emotionale Sympathie für die andersartige Realität eines Landes. So sind wir in der Lage, das bis dahin Unbekannte uns zu erschließen, ohne unsere Identität aufzugeben. Bei Xenophon lesen wir, dass „zur Freundschaft diejenigen geneigt sind, die die gleiche Herkunft haben“. Dass der gemeinsame Ursprung die beste Voraussetzung zur menschlichen Annäherung ist, ist selbstverständlich. Nicht selbstverständlich und eigentlich eine ungewöhnliche menschliche Leistung ist dagegen die Eroberung des Fremden, das Vertrautwerden mit dem Unbekannten. Ernst Curtius erkennt als eigenen Herkunftsraum das alte Europa, das voll von Konventionen war. Als Sehnsuchtsort, als gelobtes Land und Ort seiner persönlichen Vervollkommnung wählt er dagegen Griechenland: Griechenland ist werdendes Land, das fühlt sich so köstlich, wenn man aus dem alten Europa kommt […] Jeder Tag ist hier so anregend, so reich, daß ich oft bange werde, ob es nicht zu viel wird. Aber ich fühle mich desto frischer und kräftiger. Man ist hier auch munterer und elastischer, jeder Athemzug elektrisirt.
Das schreibt er zu Ostern 1837, zwei Monate nach seiner Ankunft und unter dem Einfluss einer gründlichen Veränderung seiner Lebensverhältnisse. Er ist beflügelt durch die neuen Herausforderungen und stellt sich zugleich die bange Frage, ob die wahrgenommenen Reize nicht zu intensiv sind. Athen ähnelt einem modernen Babelturm. Auf den Straßen waltet ein buntes Sprachgewirr. Gibt es aber auch Sympathie für die „Zugereisten“? Es stellt sich auch die verunsichernde Frage: Bin ich hier überhaupt willkommen? Trotzdem ist die Anziehungskraft des neuen, emanzipierten Lebens in Griechenland unwiderstehlich: Wie die Berge Attikas jeden Augenblick Farbe und Ansehen wechseln11Ein Jahr vor Curtius’ Ankunft in Griechenland bereiste das Land Leo von Klenze im Auftrag König Ludwigs I. In seinen Aphoristischen Bemerkungen gesammelt auf seiner Reise nach Griechenland (Berlin, 1838) schreibt Klenze begeistert von griechischen Naturszenen: „Man muß die griechische Luft, die griechische Sonne und den Charakter der griechischen Landschaft, welche sich in seinem ganzen Reize nur in der Ferne entwickelt, kennen, um sich einen Begriff von der Schönheit dieses Anblickes machen zu können“., so ist auch das Leben hier ein leichteres, beweglicheres, mannigfaltigeres […] Griechenland erhält jung!
Die Veränderungen und Abwechslungen des Naturbildes in Griechenland beeinflussen auch den Charakter des Menschen. Lebhaftigkeit und Beweglichkeit walten hier. Auch die Genügsamkeit der Griechen schätzt er als einen beachtenswerten Charakterzug, der ein Gefühl der Unabhängigkeit und Autarkie dem Individuum schenkt: Die größere Freiheit von sinnlichen Bedürfnissen ist ein Vorzug des hiesigen Lebens. Man kann bis fünf ohne Hunger existieren, ohne etwas anderes als Kaffee und gegen Mittag ein Stückchen Brod mit Oliven, Apfelsinen oder Datteln zu genießen. Treffend erkennt er auch die starke Neigung des Griechen zum fortwährenden Politisieren sowie seine ausschließliche Orientierung an seiner unmittelbaren Interessenlage. Es fehlen ihm in Athen Menschen mit geistigen Interessen, die sich von der Trivialität des Alltags abheben:
Politische Neuigkeiten gibt es ohne Ende. Man hat auch für nichts Anderes Sinn. Es herrscht hier kein litterarischer Fleiß. Es gibt keine Litteratur, es ist nur das Ereigniß des Tages, das die Menschen beschäftigt. […] Hier lernt man guten Umgang recht schätzen, da im allgemeinen Verkehr die Geselligkeit so leer und schal ist und in lauter eigennützigen Interessen oder blinder Parteisucht untergeht.
Der jugendliche und noch unerfahrene Gräzist, Philologe und Historiker Ernst Curtius ist am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn keineswegs ausschließlich von der Archäologie besessen. Es ist nicht an erster Stelle die Erforschung der antiken Denkmäler, die ihn zu seiner damals fernen Reise veranlasst. Vielmehr ist sein vierjähriger Aufenthalt in Hellas das Ergebnis seines Wunsches, in direkten Kontakt mit dem Land zu kommen, unvoreingenommen dessen Menschen kennenzulernen und die einmalige Schönheit des Naturraumes bewundern zu dürfen. Er öffnet sich so dem Anderen, das für ihn manche bereichernde Erfahrung aber auch Enttäuschung bereithält.
Das Leben im Süden. Eine Offenbarung
Die erste Begegnung mit der neuen Lebensart ist für Curtius rein haptischer Natur. In einer Hütte in der Nähe von Megara auf seinem Wege nach Athen schläft er glückselig auf dem nackten Boden: Vom Vornehmsten des Dorfes gastlich aufgenommen mit dessen Familie wir uns freundschaftlich ums Feuer setzten, die köstlichsten Meerfische zu Nacht speisten, auf hartem Lehmboden uns zur Ruhe legten mit Ochs und Esel in einem Raum gepaart. In Athen findet er schon im Monat März strahlendes Wetter vor. Er schlendert vergnügt durch die Straßen und stellt seine Euphorie der Griesgrämigkeit der schlotternden Bevölkerung im Süden entgegen: Hier ist es immer wunderschön, d.h. man geht ohne Belästigung in der Mittagssonne spazieren und möchte sich ewig solche Temperatur wünschen während die Griechen in ihren dicken Kapotten gehen und, wenn sie einen Ofen haben, einheizen.12Vgl. Stauffert, 1844: „Die Einführung von Oefen in Athen, Syra etc. (denn auf dem Lande existieren auch jetzt noch keine), ist ganz neu, früher kannte man sie gar nicht. Feste Oefen setzt man auch jetzt, selbst in den besten Häusern, mit höchst geringen Ausnahmen, noch nicht und jeder Miether einer Wohnung muß für die Anschaffung der nöthigen Oefen und Ofenrohre selbst sorgen, weshalb man sie auch nur von Eisenblech gefertigt sieht. In neuester Zeit lässt man kleine Porzellanöfen von Marseille kommen“. Später, im Laufe des Sommers 1837 hat er die Gelegenheit, täglich die Stadtgeschehnisse zu verfolgen und zwar so, wie diese durch die klimatischen und gesellschaftlichen Begebenheiten bedingt sind:
Um halb sieben Uhr ist es angenehm zu gehen, aber auch dann muss man sehr langsam gehen; bei rascherem Gange ist man gleich ganz im Schweiß. Dann ist die allgemeine Promenadenzeit, und rings um die Stadt schlendern in nachlässig gravitätischem Gange die Griechen miteinander umher oder sie sitzen in der Straße vor den Kaffeehäusern. Andere sieht man gemeinsame Spiele machen, meist sehr einfache, besonders ein Wettkampf im Fortschleudern bedeutender Steine, aber Alles in Gruppen und durchweg durch Farben und Gestalten malerisch, und dabei eine solche Ruhe und Bedächtigkeit des Lebensgenusses, wie man in unserem Norden vergebens sucht.
„Eine solche Ruhe und Bedächtigkeit des Lebensgenusses“: Knapp und treffsicher wird hier die Einmaligkeit der Verhältnisse im Süden festgehalten, die Neigung der Menschen, das Dasein selbst als Geschenk und eigenmächtiges Lebensziel anzuerkennen. Über die Zweckmäßigkeit der Handlungen, über die Tat mit genauem Ziel hinweg, stellt die Lebensfreude und -bejahung ein höchstes Gut dar. Und diese Sorglosigkeit, die trotz aller Entbehrungen im armen Griechenland waltet, ist eine wahre Offenbarung.
Die liebenswerte Anmut der Landschaft und die malerischen Bilder der traditionellen Lebensführung berauschen Curtius:
Wenn ich Jemanden beneide, so ist es unser genialer Künstler Lange13Der Architekt Ludwig Lange (1806–1868) war in den Jahren 1834 bis 1838 als Zeichenlehrer am ersten Athener Gymnasium angestellt und malte eine Reihe von aquarellierten Landschaftsbildern von großer Qualität in Griechenland, die heute in der Staatlichen Griechischen Sammlung in München aufbewahrt sind. Im Jahre 1847 wurde er zum Professor an der Kunstakademie in München gewählt und entwarf unter anderem im Jahre 1860 die Pläne für das nationale archäologische Museum in Athen, auf Grund deren der Bau, mit Veränderungen von Kalkos und Ziller, später (1866– 1889) ausgeführt wurde., ein Darmstädter, der eine Mappe von griechischen Landschaften und Genrebilder gesammelt hat, welche durchzusehen der höchste Genuss ist. Er ist jetzt beauftragt, mit dem Plan zur Metropolitankirche, denn er ist von Hause aus Architekt und erst hier zum Landschaftsmalen begeistert worden.
Diese Bilder versucht er in Worte zu fassen: Um die Brunnen sind dichte Gruppen versammelt. Einige waschen, andere tränken Pferde, Esel oder Kamele, und noch andere benutzten bloß die gute Gelegenheit zur Unterhaltung. So ist das Auge wohin es sich wendet, beschäftigt, von allen Reizen der Gegend abgesehen. Das Neue, das Unerwartete und Positive ist also nicht nur das milde griechische Klima, sondern auch eine gewisse Leichtigkeit des Seins, die hier waltet. Abschließend das Geständnis über die mächtige Anziehungskraft des Lebens im Freien unter dem wolkenlosen Himmel: Ich weiß wohl, ich könnte noch mehr arbeiten, aber es gibt jetzt wirklich Tage, wo der Himmel so blau und die Luft so göttlich schön ist, dass man, einmal ausgeflogen, gar nicht wieder nach Hause finden kann.
Das Zwiegespräch mit der Geschichte. Ein Forschergeist bildet sich heraus
Zwei eng verknüpfte Ziele leiten die Schritte Curtius’ in Griechenland: Einerseits der Wunsch der Begegnung mit Land und Leuten, d.h. das Vertrautwerden mit den gegenwärtigen Verhältnissen, und andererseits die Vertiefung in die altgriechische Welt, die Erforschung der Vergangenheit. Er widmet sich einer eigenartigen Übung: Die historische Rückbesinnung soll mit dem Erlebnis der Gegenwart zur Einheit verschmelzen. Indem er den unveränderten griechischen Naturraum erlebt, öffnet sich gleichermaßen sein Gemüt gegenüber der antiken Welt. Die Erschließung des Altertums, die er anstrebt, beruht zunächst auf Gelehrsamkeit, wird jedoch durch die direkte Bekanntschaft und Erforschung des Landes vertieft und bereichert. Eine praktische Erfahrung in der Spatenforschung vor Ort hat Curtius nicht. Seine erste Einübung in die Feldarbeit folgt erst am Ende seines Aufenthaltes in Griechenland, bei der Aufnahme und Entzifferung der Inschriften der Stoa der Athener in Delphi, an der er als Mitarbeiter von K. O. Müller im Juli des Jahres 1840 teilnimmt. Seine akademische Ausbildung ist im Grunde – wie damals üblich – philologisch geprägt und an der altgriechischen Sprache und Geschichte orientiert. Er entwickelt jedoch schon früh ein reges Interesse an der historischen Topographie und so auch an den antiken Denkmälern vor Ort. So widmet er sich dem Besuch von archäologischen Stätten. Um die Denkmäler in Augenschein zu nehmen, verfolgt er die ersten Grabungs- und Restaurierungstätigkeiten und wird so mit den Zeugnissen der altgriechischen Kunst vertraut. Dabei betrachtet er mit kritischem Blick die ersten Notgrabungen in der sich schnell entwickelnden neuen Hauptstadt:
Bei jedem Hausbau kommen alte Fundamente zum Vorschein. Dann gehen die Kunstfreunde zum Astynomos und lassen dem Bauen Einhalt thun, man besieht sich die Marmorstücke, holt heraus was an Architektur oder Plastik leicht heraufzuschaffen ist und nach drei Tagen wird weitergebaut und Alles ist wieder verschwunden.14Wir haben hier eine interessante Beschreibung der Durchführung von Notgrabungen in Athen, nicht unter der Leitung des Antikendienstes, sondern durch die Initiative von kunstfreudigen Anwohnern, unternommen.
Mit einer gewissen Enttäuschung und jugendlicher Überheblichkeit beurteilt er die ersten Schritte der Altertumskunde in Athen.
Sonst geschieht entsetzlich wenig für Archäologie und selbst die wenigen Sachkundigen sind zu uneins. Hier kann einmal wegen Parteiungen nichts Großes gedeihen. Es ist jetzt ein archäologischer Verein zusammengetreten aus lauter Griechen mit Pittakis an der Spitze, lauter unwissende Menschen. Jetzt sind auch die aeginethischen Alterthümer hier. Der Theseustempel ist so voll, dass man kaum hineingehen, viel weniger die Einzelheiten betrachten kann. Schon lange spricht man vom Bau eines Museums,15Der komplizierte Verlauf der Standortwahl und Erbauung des nationalen archäologischen Museums in Athen (1858–1889) wird mit vielen Details im grundlegenden Werk von Kokkou, 1977 (in griechischer Sprache) geschildert. aber damit geht es wie mit dem Bau der Metropolitankirche und vielen anderen schönen Sachen.
In Piraeus intensiviert er die Begehungen, um in situ die noch unbebauten Flächen der Halbinsel des Hafens auf ihre antiken Spuren zu untersuchen und Material für seine Doktorarbeit zu gewinnen. Mit kluger Weitsicht erahnt er die baldige Bebauung der historischen Landschaft, die die künftige archäologische Erforschung des Areals beträchtlich erschweren wird. Wir werden bis zum ersten griechischen Oktober im Piraeus bleiben; ich muss in dieser Zeit noch einmal die Topographie der Häfen genau durchnehmen, um darüber aufzuzeichnen, was möglich ist ohne Nachgrabungen. Bald wird das alte Terrain von Chioten und Hydrioten überbaut sein, schreibt er am 13.09.1838.16Schon früh, im Laufe des vierten Jahrzehntes des 19. Jahrhunderts, wurden von der griechischen Regierung Flüchtlinge aus Syros und Siedler aus Hydra auf der piräischen Halbinsel angesiedelt. Diesen wurden Grundstücke, aufgenommen in einem Plan der Stadterweiterung, zahlungsfrei zur Verfügung gestellt, unter der Bedingung, dass sie die Baukosten zur Errichtung ihrer Häuser selber übernähmen. Das Verfahren zu diesen Schenkungen wurde durch die königlichen Erlässe von 24.01./05.02.1835 (für die Chioten) und 19./31.05.1838 (für die Hydrioten) festgelegt. Im November des gleichen Jahres auf dem Weg zum Parnass besucht er mehrere antike Stätten in Böotien, um Oberflächenbegehungen durchzuführen. Die Anwesenheit seines Reisegefährten, des Architekten Laurent17Der deutschstämmige Architekt Edmund Laurent (bekannt mit seinem gräzisierten Namen Laurentios) war durch den königlichen Erlass vom 24.04./06.05.1835 in den griechischen Antikendienst aufgenommen und bei der Restaurierung des Niketempels auf der Akropolis beteiligt. ist ihm sehr nützlich. Er notiert:
In Plataiai in einem Chane, der nahe an der Südostmauer und aus den Ruinen derselben gebaut ist, findet man Unterkommen. Die Mittagsstunden verwendeten wir auf die Untersuchung des Lokales der schicksalsvollen Stadt. Mit einem Architekten zu reisen ist in Griechenland sehr ersprießlich, da man durch Huelfe seiner Kenntnisse und Instrumente leicht zu einer planmäßigen Auffassung des Lokales gelangt. Plataiais ganzer Mauerkreis liegt deutlich vor Augen. Er bildet ungefähr ein gleichschenkeliges Dreieck.
Curtius verfolgt gelegentlich und unmethodisch die spärlichen sich in Gange befindlichen Grabungen in Athen und setzt seine Ausflüge und kurzen Reisen zum Besuch archäologischer Stätten im Umland fort. Dabei zeichnet sich im Frühjahr 1839 für den jungen Gelehrten eine ehrgeizige Absicht ab. Ihm schwebt die Erarbeitung einer historischen Topographie Griechenlands vor.
Ein verlängerter Aufenthalt in Griechenland, der aber nicht in ein Hängenbleiben, wie bei so vielen Deutschen, ausarten soll, erscheint mir höchst ersprießlich. Ich kann hier jetzt etwas ordentlicher arbeiten und auf eine Weise nützlich machen, wie ich es in Deutschland schwerlich können würde. […] Unter diesen Umständen ergriff ich von Neuem einen Gedanken mit welchem ich mich schon lange beschäftigt hatte, nämlich mit Benutzung aller bisherigen Erfahrungen und besonders auf Leake18William Martin Leake (1777–1860), englischer Oberst, hielt sich wiederholt im griechischen Raum zwischen den Jahren 1801 und 1810 auf. Als Vertreter der englischen Regierung führte er topographische Untersuchungen durch und war auch zeitweilig (1809–1810) diplomatischer Agent Englands am Hofe Ali Paschas in Ioannina. Leake wird als Vielschreiber und gründlicher Erforscher der Geschichte, Topographie und der Archäologie Griechenlands betrachtet. Curtius bezieht sich auf das dreibändige Werk Leakes Travels in the Morea (1835) und die vier Bände seiner Travels in Northern Greece (1835). basierend, eine genaue und wohlgeordnete Beschreibung von Griechenland zusammenzustellen. Das Bedürfnis danach ist vorhanden im deutschen Publikum. Leake ist Wenigen zugänglich, er ist weitläufig und schwer zu benutzen und ähnlich vielfach zu berichtigen.
Dieser Plan wird nicht vollständig ausgeführt, die Absicht führt ihn jedoch zur Niederschrift – allerdings erst 12 Jahre später – seiner wichtigen zweibändigen Abhandlung „Peloponnesos“, die erste systematische Veröffentlichung einer historischen Chorographie des griechischen Raumes. Während seiner zweiten Rundreise durch die Kykladen im August und September 1839 verbringt Curtius einige Wochen auf den Inseln Paros und Naxos und beschreibt dabei im Detail antike Funde:
Das wunderbarste aber an Marmorfülle ist das Kastell auf Paros, welches die Venezianer auf der Höhe des Hügels gebaut haben von dem trotz des Bombardements der russischen Flotte unter Orlow noch bedeutende Thürme und Mauern stehen und Alles dies aus hellenischen Tempelruinen, abwechselnd eine Lage von Säulentambours, die wie Kanonen hart aneinander liegen und darauf Marmorbalken, so ein ums andere bis zu bedeutender Höhe. Der Thurm hat wohl über 80 Fuß Höhe. Wir zählten an sichtbar darliegenden Säulenstücken 150, alle desselben Durchmessers. Dazwischen befinden sich auch Inschriftensteine.
Im Februar 1840, in ungeduldiger Erwartung von Karl Otfried Müller19Der deutsche Altertumsforscher Karl Otfried Müller (1797–1840) wurde zum Professor an der Universität Göttingen im sehr jungen Alter von 22 Jahren (1819) ernannt; im Jahre 1825 veröffentlichte er das erste Handbuch der klassischen Archäologie mit dem Titel Handbuch der Archäologie der Kunst. Otto und Else Kern veröffentlichten im Jahre 1908 seinen Briefwechsel: Karl Otfried Müller. Lebensbild in Briefen an seine Eltern und das Tagebuch seiner italienisch-griechischen Reise.in Griechenland, fasst er seine bisherigen wissenschaftlichen Anstrengungen, die sowohl die historische Topographie des Landes als auch sein spezielles Interesse an den antiken athenischen Häfen betreffen, zusammen:
Bis zum Frühjahre sind der Hauptsache nach meine Vorarbeiten beendet. Das heißt die Zusammenstellung der bedeutendsten Resultate der neueren Reisenden, mit meinen Tagebüchern verglichen, und besonders aller Stellen aus den alten Geographen und Historikern.
Die Ankunft Müllers am 05.04.1840 in Athen beflügelt Curtius in seiner altertumskundlichen Tätigkeit. Im Juli des Jahres brechen sie zu einer Erkundungsreise nach Delphi auf, die einen fatales Ende haben sollte:
Dann ging es wieder trotz Sonnenbrands und Sonnendürre hinaus nach Rumelien, wo wir zuerst am Parnasse im delphischen Tempelbezirke Ruhe finden. Es war nämlich von Anfang an Müllers Plan hier genauere Nachforschungen anzustellen. So haben wir uns gleich für acht Tage niedergelassen und leben ganz gemüthlich. Von Sonnenaufgang bis 10 Uhr wird gezeichnet, gemessen, kopirt, dann eine gründliche Siesta gehalten und gegessen und bis 4 Uhr pausiert.
Die sehr produktiven Tage der bahnbrechenden archäologischen Untersuchung in Delphi unter der Leitung Müllers werden jäh unterbrochen durch das plötzliche Ableben des Professors. Erschüttert, jedoch mit großer Selbstbeherrschung, berichtet Curtius an seine Eltern:
Am Sonnabend, den 01.08.1840, trat ein neuer Paroxysmus ein und in der darauffolgenden Ermattung entschlief Müller des Nachmittags zehn Minuten vor vier Uhr im 43. Jahre seines Lebens, nachdem man alle möglichen Reizmittel umsonst angewendet hatte.[…] Wir zeigten zunächst der Universität den Todesfall an und diese ließ uns alsbald nach einer Sitzung des akademischen Senats wissen, dass sie die Bestattung übernehme und auf den Hügel des Platon ein Felsengrab besorgen würde und später darauf ein Moment errichten würde.20Das Grabmal für K. O. Müller wurde gleich nach seinem Tode auf dem felsigen Hügel des Kolonos Hippios (Höhe 57 m über dem Meeresspiegel) nordwestlich von Athen errichtet. Die Ausgaben zu seiner Errichtung beliefen sich auf 5.900 Golddrachmen (nach dem Kostenvoranschlag von E. Schaubert vom 25.12. 1841/06.01.1842) und wurde von freiwilligen Beiträgen und der königlichen Kasse gedeckt. Der ursprüngliche Plan von E. Schaubert sah einen quadratischen Naiskos mit einer Höhe von 4 m vor. Das ausgeführte Werk beschränkte sich auf eine Grabstele mit Anthemion aufgestellt auf einer vierstufigen Basis. […] Studenten trugen den Sarg auf den Wagen, die vier Dekane gingen an den vier Ecken des Sarges, alle Gesandten, die ganzen Personale des Hofes, der Universität, der Schulen, die meisten Deutschen, viele Griechen folgten, ein unabsehlicher Zug. Bei Sonnenuntergang ließ man den Sarg in die Gruft hinab. Der Hofprediger hielt eine deutsche Rede, dann der treffliche Professor Joannu eine griechische, die Militärmusik begleitete den Trauerzug.
Die Erkundung Griechenlands: die Natur, die Städte und die Menschen
Neben den archäologischen und historischen Interessen entwickelt Curtius von Anfang an eine spezielle Hingabe zur historischen Topographie Griechenlands, für die er die bezeichnende Benennung „Chorographie“ verwendet. Unter „Chorographie“ begreift Curtius eine zwar beschreibende, aber auch vor Ort erlebte historische Landeskunde, d.h. den Versuch, die antike Geschichte und Kunst durch die Autopsie des Naturraumes, in dem sie erwuchsen, zu erfassen. Das persönliche Erlebnis, das Vertrautwerden mit der historischen Landschaft, ist die unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung einer kreativen und nicht pedantischen Altertumsforschung. So wird er später schreiben: Der Boden wird unmittelbar zu einer Quelle historischer Erkenntnis, zu einer Urkunde der Geschichte. Indem man sich in dem Raum, wo sich die altgriechische Kultur entfaltete, aufhält und mit voller Hingabe forscht, identifiziert man sich mit der antiken Welt, und die geschichtlichen Erkenntnisse werden zum existentiellen Erlebnis. Mit voller Überzeugung und mit der freundlichen Unterstützung seines Arbeitgebers und Beschützers, Professor Brandis, untersucht Curtius den griechischen Raum. Er unternimmt öfters Tagesausflüge zu Pferd, gelegentlich in Begleitung mit Freunden in Attika. Darüber hinaus beteiligt er sich während seines Aufenthaltes in Griechenland an acht mehrwöchigen Rundfahrten im Land: Drei auf der Peloponnes, zwei auf den Kykladen, zwei am Parnass und eine auf der Hermionis. Von einem Ritt zum Berge Pentelikon nördlich von Athen berichtet er: Unten am Fuße des Berges ist eine Niederlassung von Steinarbeitern, in der Nähe ein wunderliebliches altes Kloster, wie es deren mehrere sehr schöne in der Umgebung gibt. Anderthalb Stunden brauchten wir bis zum ersten großen Steinbruche, dem einzigen jetzt wieder zum Schlossbau benutzten, wo viele deutsche Arbeiter angesiedelt sind.21Curtius gibt uns hier einen Hinweis, den wir sonst von keiner anderen Quelle haben, dass nämlich an den pentelischen Steinbrüchen ein provisorisches Lager von Steinmetzen, darunter vielen Deutschen, errichtet war. Es folgen Besichtigungen von Salamis, der antiken Festung von Phyle und Aigina.
Im September 1837 begleitet er Professor Karl Ritter, den bekannten Geographen und Geologen, auf eine 15-tägige Reise, während der sie Ortschaften des östlichen Peloponnes besuchen. Ihr Weg führt sie über Eleusis, Megara, Korinth, Sikyon, Trikalla, Feneos, den stymphalischen See, Nemea, Mykene, Argos, Tyrins, Nauplion, Epidaurus zurück nach Athen. Aus Mykene berichtet er:
Hier sind wahrlich keine Anfänge roher Kunst, sondern ausgebildeter Styl eines seltsamen Geschlechts von Menschen. Das ganze Mykene nennen die Leute jetzt „Agamem“; in der Nähe ein Chan „zu den beiden Atriden“ […] dann das moderne Nauplia22Nauplia (Napoli di Romania der Venezianer) ist die zweite Stadt nach Aegina, die 1829 zur Hauptstadt des befreiten Griechenlands gewählt wurde. Die Stadt, von den Venezianern stark befestigt, erstreckt sich auf eine Fläche von nur 24,5 ha (700×350 m) und ist am Nordhang der unteren Festung Akronauplia (Its Kalé, Höhe 85 m) erbaut. Über die Stadt ragt die imposante Festung Palamidi (215 m) empor. Als Curtius Nauplia besuchte, hatte sich die Stadt schon in Richtung des Meeres erweitert (fünf Reihen von neuen Baublöcken) nach dem Plan von Th. Vallianos (1834)., neapolitanisch gelegen, nur zu eng zwischen Fels und Meer eingeklemmt, die einzige städtisch gebaute Stadt Griechenlands, eine gewaltige Festung durch den unersteiglichen Palamidhi, der von oben bis unten von Kaktus bewachsen ist, überragt.
Im Laufe der ersten drei Monate 1838 unternimmt er kurze Ausflüge nach Marathon, zum Kloster Kaissariani am Hymettoshang sowie zum Olivenwald westlich von Athen. Mit beachtlich richtiger Einfühlung und historischem Urteil berichtet er über Letzteren: Im Ölwalde hat man gewiss noch die Gestalt des alten Attika erhalten, sobald man sich die Kapellen in kleine ionische Tempelchen umgebildet denkt. Es ist dort ungemein lieblich, die üppigste Vegetation, ein großer Garten, hier und da Mühlen und durch die Ölbäume hindurch die schönsten Blicke auf die Tempel der Akropolis. Vom 28. April bis 29. Mai 1838 bricht Curtius erneut zu einer längeren Reise zur Peloponnes auf. Er ist beeindruckt von der noch sichtbaren Befestigung des antiken Messene23Die weitgestreuten Ruinen des antiken Messene sind an den Hängen des Berges Ithomi (heute Vourkano) angelehnt. Die Stadtmauer, auf Geheiß Epaminondas (362 v. Chr.) erbaut, hatte eine Gesamtlänge von 9 km (erhaltener Teil 1.800 m), eine Stärke von 10 Fuß und eine große Zahl von Türmen, deren viele noch in ganzer Höhe vorhanden sind. Die erste archäologische Untersuchung wurde hier von der französischen „Expédition scientifique de Morée“ unternommen und die Ergebnisse wurden von Abel Blouet im Jahre 1831 veröffentlicht. und macht eine treffende Bemerkung über die Begabung der alten Griechen, ihre Bauten in die Landschaft gekonnt einzufügen: Es macht eine überraschende Freude, den Ideen der Alten in Benutzung des Lokals so Schritt für Schritt folgen zu können. Sie suchen sich immer ein wellenförmiges Terrain, um für die Tempel Höhen, für die Stadien Thäler, für die Theater Hügelwände zu haben.
In Olympia24Die erste systematische Grabung in Olympia wurde von der „Expédition scientifique de Morée“ im Jahre 1829 durchgeführt und dauerte sechs Wochen. Die Ergebnisse wurden im Jahre 1831 im ersten der drei monumentalen Bände der Veröffentlichung vorgestellt. Im Jahre 1834 besuchte Leo von Klenze Olympia und später 1836 Fürst Hermann von Pückler-Muskau. Beide sind von der Schönheit der Landschaft beeindruckt, betonen jedoch die kläglichen Verödungen des Alfeios-Tales. bedauert er die Tatsache, dass nur wenige Überreste der antiken Architektur sichtbar sind, d.h. das Fundament des Zeustempels und die Spuren des Stadions. Er bewundert die Anmut der Landschaft, äußert sich aber mit Vorbehalt über die örtlichen klimatischen Verhältnisse:
Das Kronion ist der ausgezeichnetste Hügel, der von der rechten Reihe am meisten vorspringende und höchste, er ist mit Pinien bewachsen […]. Wir fanden die Luft so drückend, dass wir matt und müde wurden. Es bleibt fast unbegreiflich wie in dieser Niederung in heißester Jahreszeit die Griechen so arbeiten, rennen und ringen konnten.
Im August 1838 bereist er mit der Familie Brandis die Kykladen. Sie besuchen die Inseln Syros, Kea, Kythnos, Andros, Tinos und Delos. Die Herzlichkeit und Schlichtheit der Insulaner sprechen ihn besonders an: Das Insel-Griechenland muss man aufsuchen, wo ein begüterter Bauernstand in reizenden Dörfern wohnt, in aller Sitteneinfalt, unkundig der Intriguen der Hauptstadt, unvermischt mit fremdem Blute, lernbegierig, guthmütig, gastfrei. Auf Kea bemerkt er die eigenartige Nutzung der flachen Dächer, der eng bebauten Siedlungen und vermittelt uns ein klares Bild der Zweckdienlichkeit der lokalen Bauweise:
Die Stadt hat lauter niedrige Häuser, nahe an einander mit glatten Dächern. Die Straßen sind sehr eng […]. Desto schöner ist es oben auf den Häusern. Die schön geebneten, reinlichen Dächer dienen des Abends zu Versammlungen der Freunde, man bringt Stühle, Pfeifen, Kaffee hinauf und da die Häuser sehr nahe aneinander stehen, steigt man von einem „Doma“ zum anderen, die beste Art die Stadt zu durchwandern.
Er beschreibt nicht das Vorgefundene auf Delos, das sich Jahrzehnte vor den großen Ausgrabungen der Franzosen wie ein gestaltloser Trümmerhaufen anbot,25Ludwig Ross, der im August 1835 Delos besuchte, berichtet über das geschichtsträchtige Eiland: „Délos ist eine völlig wüste Insel, ein großes trauriges Trümmermeer. Es hat kaum eine einzige pittoreske Ruine; alles liegt in kleinen Scherben und Splittern durcheinander, so schrecklich hat die zerstörende Hand des Menschen hier gewüthet. Die Reste des herrlichen Apollotempels liegen am Boden, zerschellt und zerhackt; was die Pfaffen auf Tenos für ihren modernen Orakeltempel haben gebrauchen können, das haben sie fortgeschleppt. Ganze Schiffsladungen von Marmor und Säulen sind schon vor Jahrhunderten nach Venedig und Konstantinopel gebracht worden. Sic transit gloria mundi.“ gibt uns aber eine Information, die sonst in keiner Überlieferung zu finden ist:
Die heilige gefeierte Delos – es ist eingetroffen, was sie befürchtet, wenn der Gott Apollo sie verlassen würde: Sie ist die einsamste und die aller verachteste geworden. Ja, noch Schrecklicheres: Für pestangesteckte Schiffe ist dort die Quarantäne eingerichtet.
Im November 1838 reist Curtius in Gesellschaft des deutschen Architekten Edmund Laurent26Edmund Laurent führte die ersten Grabungen, im Auftrag der griechischen Regierung, in den Jahren 1828-1830 in den Delphi aus, entdeckte den Sarkophag des Meleagros und im Jahre 1838 das Heiligtum der Athena Pronaia. aus Dresden zum Parnass, wo dieser die Registrierung der Bauten des Dorfes Kastri, unter denen das antike Heiligtum von Delphi vermutet wird, unternimmt. In Delphi, wo er vier Tage verbringen wird, ahnt er begeistert das Vorhandensein der dortigen Kulturschätze:
Man kann alle Welt vergessen in diesem gemüthlichen Felswinkel. Die Häuser von Castri liegen gerade auf dem alten Tempel des pythischen Apollon, dessen mittägliche Stufe von schimmerndem penthelischen Marmor zwischen den Hütten durchscheint. Ebenso entdeckt man zwischen zwei ärmlichen Hütten einen Teil der prächtigen Theaterrundung und überall Spuren von Tempelsteinen und beschriebenen Marmorblöcken.
Wir finden im Bericht der Reisen die ausführliche Beschreibung von Land und Sitten, so Hochzeiten, kirchlichen Feiern und gastfreundlichen Begegnungen, aber bezeichnenderweise keine Erwähnung der gefährlichen Anwesenheit von Räuberbanden, die zu jener Zeit in den griechischen Provinzen ihr Unwesen trieben. Nach der Rückreise der Familie Brandis, im August 1839, nach Deutschland, bleibt Curtius in Athen und wohnt kameradschaftlich mit seinem Freund, dem Dichter Emanuel Geibel, der als Hauslehrer beim russischen Gesandten Katakazi angestellt ist, zusammen. Mit ihm unternimmt er im Laufe der Monate August und September eine zweite Kykladenreise. Sie besuchen Kythnos, Syros, Paros und bleiben längere Zeit auf Naxos. Beim Besuch der antiken Marmorbrüche auf Paros27Vgl. Ross, 1840, 4: „Der Marmor [von Marpissa auf Paros] ist bekanntlich von unübertroffener Güte und die beste Qualität, fast transparent. Die Beschaffenheit der Brüche macht es einleuchtend, dass Plinius und andere Alte recht haben, wenn sie den Namen dieser besten Marmorart – λυχνίτης, λυχνεύς, ή πάριος λύγδος – davon herleiten, dass der Stein bei Lampenlicht gebrochen würde, was z.B. in den anderen Brüchen auf Paros und in den Pentelischen, die zu Tage ausgehen, nicht der Fall war“. erkennt er die Wichtigkeit dieses brach liegenden nationalen Schatzes und sieht dessen zukünftige Nutzung durch Stamatios Kleanthis, etliche Jahrzehnte später, voraus.28Für die unternehmerische Tätigkeit von Stamatios Kleanthes, in Bezug auf die Gewinnung des weißen parischen Marmors, siehe ausführlich im Aufsatz von Kostas Bires: Bires 1976 (in griechischer Sprache).
Am anderen Morgen besuchten wir die nahen Steinbrüche, welche mit zu der Besitzung unseres Wirthes gehören, jetzt freilich ein todter Schatz, aber für künftige Zeiten, wenn Handel und Wegebau fortschreitet und vor allem durch eine Nationalbank die Unternehmungen erleichtert werden, eine Fundgrube und Quelle großen Wohlstandes.
Auf Naxos29L. Ross in einem Brief vom 17.8.1835 (Ross, 1840, 19) beschreibt die demographische Eigenart von Naxos-Stadt folgendermaßen: „Der sogenannte Schloßberg, ein niedriger Felsenhügel, auf welchem das Kloster liegt, ist der Foubourg St. Germain von Naxos; hier wohnt nur der lateinische Adel und die katholische Geistlichkeit. Die untere Stadt, wo die weit zahlreicheren orthodoxen Griechen leben, dehnt sich zwischen dem Fuße des Schloßberges und dem Hafen aus.“ untersucht er die mittelalterliche Geschichte der Insel, die im Mittelalter zum Besitz der venezianischen Adelsfamilie Sanudi gehörte. Es ist das erste Mal, dass mich das Mittelalter in Griechenland lebhaft interessiert. Es ist dies ein weites, offenes Feld. […] Das wäre einmal etwas recht Neues, eine Geschichte des Mittelalters, in Griechenland zu schreiben.30Letztendlich hat E. Curtius keine Geschichte des griechischen Mittelalters geschrieben. In seinem zweibändigen Werk Peloponnesas. Eine historisch-geographische Beschreibung der Halbinsel, (E. Curtius, 1851), widmet er jedoch in seiner historischen Einführung (s. 84-104) einen Überblick über die Geschehnisse auf der Peloponnes, während der byzantinischen und osmanischen Herrschaft.
Es folgen gleich praktische Bemerkungen: Man lebt hier so wohlfeil wie möglich. In Athen kostet der Tag das doppelte. […] Bekanntschaften haben wir hier wenig von Interesse gemacht; die adeligen Herren sind langweilig, die anderen meistens sehr roh.
Nach der Ankunft von Karl Otfried Müller in Athen im April 1840, bietet sich Curtius als Ortsführer und treuer Begleiter des Göttinger Professors an, den er über alles schätzt und mit dem er eine baldige Mitarbeit anstrebt. So folgt er ihm auch in den Monaten Mai und Juni auf eine Besichtigung der ganzen Peloponnes, die fünf Wochen dauert. Im Anschluss daran beginnt die für ihn wichtigste Zeitspanne in Griechenland, die Beteiligung an den archäologischen Untersuchungen K. O. Müllers in Delphi, die wir schon erwähnt haben und die mit dem plötzlichen Tod des Professors ein jähes Ende fanden. Diese Tage, die unvergesslich in seiner Erinnerung bleiben, beschreibt er ausführlich in einem langen Brief aus Athen an die Seinigen vom 07.08.1840. Es ist beachtenswert, dass Curtius nirgendwo in seinen Briefen über die mit den Reisen in jener Zeit verbundenen Gefahren und Strapazen berichtet. Fürst Heinrich von Pückler-Muskau, der bekannte Schriftsteller und begnadete Landschaftsplaner, der kurz zuvor im Jahre 1836 die Peloponnes bereist hatte, schildert unverblümt und mit Humor die damaligen Umstände:
Wer stark genug konstituiert und täglich zehn bis zwölf Stunden zu Pferde, auf Maultieren oder zu Fuß ohne Unbequemlichkeit zurückzulegen und erglühenden Hitze wie der unangenehmsten Wirkungen der Kälte zu widerstehen […] wer unempfindlich gegen den Aufenthalt in Wohnungen ohne Fenster mit durchsichtigem Dache […] ist, dem rate ich mit gutem Gewissen die Reise durch Griechenland an…31Vgl. von Pückler-Muskau, 1840.
Für den jungen und von der Entdeckung Griechenlands begeisterten Curtius hat jedoch nur eines Vorrang: die Erforschung des Landes. Alles Weitere wird übersehen.
Gedanken und Betrachtungen
An etlichen Stellen von Curtius’ Briefen finden sich auch einige allgemeinere Betrachtungen über das Schicksal des wiedergeborenen Griechenland, deren Treffsicherheit beeindruckt. Die Annahme ist erlaubt, dass diese – auch öfters politische Stellungnahmen – durch den Meinungsaustausch mit seinem Arbeitgeber Professor Christian Brandis reiften. Aber auch eigenständige Äußerungen des jungen Gelehrten über diverse soziale Fragen fehlen nicht. Mit Schwung schreibt er die problematische Lage im Land der politischen und geistlichen Führung zu und betrachtet das Volk, trotz der obwaltenden leidenschaftlichen Parteiungen und eigenmächtigen Einstellungen, als Opfer der Entwicklungen. Die Radikalität seiner Erkenntnisse beeindruckt, besonders, wenn man seine Herkunft als Hanseat und Großbürger in Betracht zieht:
Der neue Palast steigt mächtig empor. Er beherrscht ganz Athen. Die Zahl der Millionen mag ich nicht nennen, die er gekostet hat, da noch so unendlich dringende Bedürfnisse des Volkes gar nicht berücksichtigt sind. […] Gott helfe dem armen verlassenen Volke. […] Themata des Gespräches, wie sie sich gewöhnlich wiederholen, sind ungeheure Mißgriffe der Regentschaft, Unverschämtheit der Synode, die nichts zu thun hat, sich alle Tage drei Stunden versammelt, 25 Bisthümer u.s.w. haben will, unverantwortliche Prellerei bei königlichen Miethen und Ankäufen von Seiten der griechischen Kapitalisten, beiläufige Musterung des Staatsrathes, Nutzen und Schaden des fremden Militärs, die große Geldfrage u.s.w.
Mit kritischem Geist bemerkt er, dass die Anwesenheit von zahlreichen fremden Menschen und Wesen die Eigenart des Lebens in Griechenland ungünstig verändert. Die zugereisten Ausländer und die eingeführten Güter bezeichnet er sogar als „Auswürfe“ der westlichen Herkunftsländer:
Der Konflux von Fremden, die meistens, wie alle hier feilstehenden Manufakturwaren, der Auswurf ihres Landes sind (die Zahl derer, welche höheres Interesse nach Griechenland geführt hat, ist verhältnismäßig gering), hat das Volk sehr verdorben. Es hat sich nicht mit Ruhe und Stetigkeit herausarbeiten können.
Als überzeugter Lutheraner und als Kind der westlichen Aufklärung ist er über die Haltung des orthodoxen Klerus empört: Himmelschreiende Lügen werden gedruckt über Luther und Andere. Jetzt gilt’s der neuen Bibelübersetzung und den unendlich segensreich wirkenden amerikanischen Schulen. Die Verfolgung des Geistlichen und Philosophen Theophilos Kairis32Theophilos Kairis, Philosoph und Theologe wurde 1784 auf der Insel Andros geboren und starb im Gefängnis von Syros im Jahre 1853. Mitglied des Geheimbundes der „Filikoi“, beteiligte er sich am Unabhängigkeitskrieg Griechenlands. Er gründete das Waisenhaus auf Andros. Seine moralische Integrität, seine rhetorische Begabung und seine Gelehrsamkeit gaben ihm den Nimbus einer geistigen Persönlichkeit. Seine Anklage vor Gericht wegen seiner Lehre von der „Theosevie“ (Gottesfurcht) und seine Verurteilung in die Verbannung (1840) und später (1853) zu einer Gefängnisstrafe, erschütterte die griechische Öffentlichkeit. Seine Person umgab eine Aura der unnachgiebig mutigen und Gerechten. Der Dichter Alexander Soutsos urteilt über Kairis folgendermaßen: „Ein Wahrzeichen der Bescheidenheit und Tugend, ein Freund der Gleichheit und Gerechtigkeit“. sowie seiner Lehre der Theosophie seitens der rechtgläubigen Orthodoxie erschüttert Curtius:
Theophilos Kairi war bis jetzt auch durch seinen tadellosen Wandel, seine Gelehrsamkeit und Verdienste als Lehrer des großen Waiseninstituts auf Andros ohne Zweifel der geachteste, bewundertste aller Griechen. Erst Freiheitskämpfer, hatte er dann sein ganzes Leben mit bewundernswürdiger Aufopferung dem Unterrichte gewidmet. Dieser wird nun plötzlich des Unglaubens bezichtigt, auf einem Kriegschiffe nach Athen geholt, vor die Synode gestellt.
Als wichtigste Einsicht, die er in Griechenland im Laufe seines Aufenthaltes gewonnen hat, nennt er eine persönliche „Entdeckung“, die er als Leitgedanken eines glücklichen Daseins betrachtet: Das eigentliche „Ochsen“ ist eine barbarische Erfindung und ist im schönen Hellas nicht einzuführen, hat es doch schon bei uns so Viele an Geist und Körper verkrüppelt. Es zeigt sich hier eine bezeichnende Abkehr von den strengen Verhaltensnormen des protestantischen Geistes und die Öffnung zu einem anderen Daseinswert, die sich ihm anbietet: Das Geheimniß in Griechenland gesund zu sein ist kein anderes, als der Muße zu pflegen und bei guter Laune zu bleiben. Der junge Norddeutsche entdeckt im Land, das ihn aufnimmt, die „Schole“, den kreativen Müßiggang. Es ist ein Wendepunkt für ihn. Er wird zum Wahlgriechen.
Curtius’ Gesinnung. Das Studium Griechenlands als Lebensaufgabe
Im Laufe seines langen Lebens wurde Ernst Curtius zum Gelehrten mit klassischer Bildung schlechthin, der nicht nur beträchtliche Leistungen als Philologe, Historiker und Chorograph erbrachte, sondern sich auch als Initiator wichtiger kultureller Unterfangen profilierte. Die großbürgerliche Herkunft des Wissenschaftlers erlaubte ihm eine rundum enzyklopädische Bildung und gab ihm einen weiten Blick mit auf den Weg, sodass er eine vielseitige Tätigkeit als Forscher, akademischer Lehrer und Kulturschaffender entwickelte.
Neben seinen umfangreichen wissenschaftlichen Abhandlungen wurden auch in drei Bänden (1875, 1882 und 1889) einundsechzig öffentliche Reden Curtius’ unter dem bezeichnenden Titel „Altertum und Gegenwart“ veröffentlicht. Ausgewählte Auszüge dieser Vorträge bestätigen die Tatsache, dass die Erfahrungen des jungen Gelehrten in Griechenland im Laufe des vierten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts (1837–1840) seine Geisteshaltung mitgestaltet haben, seine späteren Entscheidungen beeinflussten und ihn auf seinem gesamten Lebensweg prägten. So darf man seine wissenschaftliche Laufbahn als eine Folge seiner frühen Begegnung mit Griechenland betrachten.
Es besteht eine große Nähe zwischen den Einsichten, die Curtius in seiner Jugend in Hellas gewonnen hat und den Überzeugungen des reifen Wissenschaftlers. Als Cantus firmus werden bestimmte Themen immer wieder in seinen Reden angesprochen. Sie geben über seine Geisteshaltung, aber auch über seine Empfindsamkeit Auskunft.
Immer präsent bleiben für Curtius das Ethos des griechischen Volkes, das verlockende des Naturraumes und des Klimas Griechenlands, die Eigenart des Lebens im Süden und unstillbar seine Leidenschaft für die griechische Geschichte, Chorographie und Altertumskunde. Bei gegebenem Anlass äußert er auch allgemeinere Urteile über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im wiedererstandenen Staat.
Die Wesensart der Neugriechen hat er während seines vierjährigen Aufenthaltes im Land aus nächster Nähe kennengelernt. Er ist überzeugt, dass man die geistige Entwicklung eines Volkes in seiner Heimat am besten verstehen und würdigen könne. Seine Begegnung mit Griechenland beruht jedoch nicht auf einer unmittelbaren, praktischen Konfrontation mit den vorherrschenden Lebens- und Arbeitsbedingungen im Land.
Einige seiner Landsleute, wie der erste Landeskonservator und Archäologe Ludwig Ross oder der Stadtarchitekt Athens Friedrich Stauffert, sind den neugriechischen Verhältnissen auf praktischem Wege nähergekommen. Ihre Einbindung in den öffentlichen Dienst des neuen Staates brachte sie in direkten Kontakt mit der neugriechischen Gesellschaft, den Widersprüchlichkeiten und Alltagsschwierigkeiten.
Curtius zeigte zwar Neugier und Aufnahmefähigkeiten, erlebte jedoch den schwierigen Athener Alltag im Schutz der Familie Brandis eher am Rande, in ertragbarer Nähe und mit freundlichem Abstand, um der Realität nicht allzu sehr ausgesetzt zu sein. Seine Urteile sind dementsprechend die eines aufrichtigen und gerechten Mannes, der jedoch nicht eng in die Gesellschaft seiner Wahlheimat eingebunden ist. Mit großer Klarheit erkennt er das inhärente Problem der neugriechischen Gesellschaft: Der Einzelne gibt seinen persönlichen oder familiären Interessen den Vorrang und misstraut der Obrigkeit. Diese Einstellung fördert ein System der Klientelwirtschaft und schwächt den sozialen Zusammenhang. Die Lebensbedingungen in Griechenland sind divers und kompliziert:
Der Einzelne hat eine Menge von Beziehungen, welche über die heimathlichen Interessen weit hinausgehen; andererseits sind es wieder die allerengsten Beziehungen, welche ihn vorzugsweise in Anspruch nehmen, die der Familie, und der moderne Mensch ist nur zu geneigt, sich in dieser engsten Lebenssphäre behaglich einzuspinnen, indem er sich alle Anforderungen des Staats fern zu halten sucht, als wenn es eine fremde und feindliche Macht wäre, welche seine Kreise störte. Die Folge ist, dass ihn auch die politischen Fragen in der Regel viel kühler lassen und daß er nur dann mit erregter Seele in den Parteikampf eintritt, wenn er glaubt, daß die Bewegung seine ganze Existenz betrifft, wenn es sociale Fragen sind, in welchen es sich um die persönlichen Verhältnisse handelt, um Mein und Dein, um Ruhe und Wohlstand des Hauses.33Vortrag von Ernst Curtius, am 04.06.1867: „Die patriotische Pflicht der Parteinahme“.
Die unwiderstehliche Anziehung des griechischen Raumes – Natur und Klima – bleibt in Curtius’ Gedächtnis lebendig und seine Reisen in Hellas sind ihm eine wertvolle Erfahrung, auf die er oft zurückkommt. Das nordeuropäische Studium der altgriechischen Texte wird nur durch das Erleben der griechischen Natur gerechtfertigt und vervollständigt. Besonders Attika bietet eine unvergessliche Lehre. Die Ausgewogenheit, aber auch die Vielfalt der Naturformen eröffnen dem empfindsamen Betrachter eine neue Welt: Wohin man sieht, da ist auf engem Raum die reichste Gliederung und Formenfülle. Jeder Schritt verändert die Aussicht, jeder neue Gesichtspunkt bietet ein neues Bild.34Vortrag von Ernst Curtius am Leibniztag 1877: „Boden und Klima von Athen“. Er beschreibt mit Klarheit die psychologischen Auswirkungen des Naturraumes auf die geistige Wachheit, die Empfänglichkeit aber auch auf das Ingenium des Reisenden:
Ein Himmel wie der von Athen macht das Auge hell, weckt und schärft die Beobachtung, stimmt das Gemüth heiter und reizt zu einem thätigen Gebrauch aller Kräfte. Er stärkt die leibliche und geistige Gesundheit, indem er es das ganze Jahr hindurch den Menschen möglich machte, in Luft und Licht thätig zu sein. […] So war Attika durch das, was es hatte und was es nicht hatte, ein Land einzig in seiner Art. Jede Gabe wollte verwerthet sein, jeder Mangel weckte die Erfindungskraft.35Vortrag von Ernst Curtius am Leibniztag 1877; „Boden und Klima von Athen“.
Sehnsüchtig erinnert er sich als reifer Mann an seine Ausfahrten zu den Kykladen und sein Vertrautwerden mit der Anmut der Ägäis:
Ein erhabner Anblick, wenn man dies Meer durchschifft! So weit das Auge reicht, ragen hohe Bergformen scharf und edel gezeichnet in unvergleichlicher Formenfülle über dem Meeresspiegel hervor und treten zu immer wechselnden Gruppen zusammen; duftiger Farbenschimmer liegt bei jedem Stande der Sonne über Meer und Küste ausgegossen.36Vortrag von Ernst Curtius, 1846: „Naxos“
Mit seltener Empfindsamkeit beschreibt er die einmalige Begegnung mit jedem einzelnen Eiland:
Jede Insel hat einen eigenthümlichen Reiz für das menschliche Gemüht; auf dem ringsum begrenzten Erdraum werden wir schneller heimisch; die Fluthen halten das verwirrende Drängen des Lebens von uns entfernt und in der Stille einer abgeschlossenen Welt scheinen alle reineren Freuden des Gemüthes sicherer zu gedeihen.37Vortrag von Ernst Curtius, 1846: „Naxos“
Eng verbunden mit seiner tiefen Bewunderung des griechischen Naturraumes ist auch die Erinnerung an die freizügige Lebensführung im Süden, die die klimatischen Bedingungen erlauben:
Wer fühlt nicht, wie die Welt des Lichts und der Wärme die normale Entwicklung der Menschen an Körper und Geist wohlthuend erleichtert, wie der Mensch des Südens so vieler Mühseligkeiten enthoben ist, die den Nordländer niederdrücken und abstumpfen!38Vortrag von Ernst Curtius, am 04.06.1862: „Das alte und das neue Griechenland“.
Ein bleibender Gewinn (κέρδος ες αεί) bleibt für Ernst Curtius das immerwährende und sich stets erneuernde Interesse für die historische Chorographie, jene spezielle Verbindung von Geschichte, Topographie und Altertumskunde, die ihm den Zugang zum antiken, aber auch zum neuzeitlichen Griechenland ermöglichte. So schreibt er programmatisch in der Einführung zu seinem ersten größeren Werk „Peloponnesos. Eine historisch-geographische Beschreibung der Halbinsel“ (Gotha, 1851):
Es haben Alle, die sich mit hellenischer Litteratur und Geschichte beschäftigen, den Wunsch, auf dem Boden von Hellas heimisch zu werden, und die Alterthumswissenschaft hat den Beruf, ihnen das Land darzustellen, wie es zur Zeit der hellenischen Geschichte gewesen ist. Die Schönheit dieser Aufgabe zog mich an, seitdem es mir gelungen war, die hellenischen Küsten zu sehen, und ich suchte während eines fast vierjährigen Aufenthalts in Griechenland durch eigenes Auge und mit Benutzung fremder Beobachtungen mir eine möglichst vollständige Kenntniss des hellenischen Bodens zu verschaffen, soweit er zu dem Königreiche gehört. […] Man ist es müde, über ein schon so häufig besuchtes Land immer von Neuem Bände von Reisebeschreibungen durchzulesen, welche Bekanntes wiederholen oder gleichgültige Dinge, welche die Person des Reisenden betreffen, mit lästiger Ausführlichkeit behandeln. […] Darum muss die Chorographie ihrer eigentlichen Aufgabe näher treten und mit Hülfe der reichen Vorarbeiten es wagen, eine historische Beschreibung der klassischen Länder zu geben.
Mit dem Alter, mit gewonnener Erfahrung und öffentlicher Anerkennung wagt Curtius – allerdings eher selten – Meinungen zu den politischen Entwicklungen im neu entstandenen Staat zu äußern. Diese Stellungnahmen haben eher den Charakter einer allgemeinen historischen Interpretation. Sie können gegebenenfalls als ethische Ratschläge und keineswegs als Schritte einer politischen Parteinahme verstanden werden:
So hat die Wiedergeburt des griechischen Volks mit vielen und eigenthümlichen Schwierigkeiten innerer und äußerer Art zu kämpfen. Eine glückliche Ueberwindung ist nur dann zu hoffen, wenn das Volk inne wird, daß es nicht vorwärts kommen kann, wenn es seine beste Kraft in Parteireibungen zusetzt und sein höchstes Interesse den Fragen einer unstäten Tagespolitik zuwendet.39Vortrag von Ernst Curtius, am 04.06.1862: „Das alte und das neue Griechenland“.
Wir begegnen hier nicht nur einer konservativen Mentalität des deutschen Großbürgers und seinen Vorbehalten gegenüber der „unstäten Tagespolitik“ in Griechenland, sondern auch einer radikalen Abwendung von der Idee einer „Modernisierung“ des Landes unter westlichen Einflüssen:
Man hat den Boden einer ehrwürdigen Vergangenheit der Barbarei entrissen und den Samen der Cultur daselbst ausgestreut. Doch zeigt die Geschichte des neuen Griechenlandes, wie schwer es ist, Wohlthaten zu erweisen, ohne daran eigennützige Forderungen und eigensinnige Zumuthungen zu knüpfen. Man hat sich nicht entschliessen können, die neu geschaffene Anlage möglichst frei und unverkümmert aufwachsen zu lassen; auch zum dritten Male ist die abendländische Cultur zu sehr als eine fertige Form auf den griechischen Boden übertragen worden, auch jetzt muss sich Griechenland von den übermächtigen Einflüssen erst wieder frei machen, um zeigen zu können, wie weit das alte Land und sein mit vielen neuen Bestandtheilen gemischtes Volk aus eigener Kraft sich eine Geschichte bilden können.40Vgl. E. Curtius, 1851.
In seiner öffentlichen Karriere über den Lauf von fünf Jahrzehnten nach seinem Aufenthalt in Griechenland verfolgte Ernst Curtius eine vielseitige wissenschaftliche Tätigkeit, die auf wichtige Projekte der Kulturförderung ausgerichtet war. Wie uns sein Sohn Friedrich Curtius versichert, war es ihm eine wahre Freude, wenn das Vertrauen, welches er [bei Hofe] besaß, für die Förderung großer Zwecke der Wissenschaft und Kunst fruchtbar gemacht werden konnte.41Vgl. F. Curtius, 1903. Beispiele solcher Unternehmungen sind die Aufstellung der detaillierten historisch-topographischen Karte von Attika (1881–1903), die Gründung der Abteilung des Kaiserlichen Deutschen Archäologischen Instituts in Athen (1874) und insbesondere die Leitung der großen Olympiaausgrabung (1878–1881). Auf seiner Familientradition und seiner humanistischen Bildung aufbauend, erscheint uns Ernst Curtius als der Inbegriff des kultivierten Bildungsbürgers, der das Griechentum in seiner Gesamtheit diachronisch zu erkennen versuchte. Von einer enthusiastischen Liebe zu Griechenland getragen, lebte und arbeitete er im Sinne einer permanenten Verbundenheit zur griechischen Bildung. Dabei war sein Interesse für die sozialen Fragen und die politischen Streitigkeiten seiner Zeit – ob griechische oder europäische – eher beschränkt. Er blieb der hochgesinnte Bewunderer und Interpret dessen, was man das „griechische Daimonion“ nennt.
Eine vorbildliche Haltung
Die Bereitschaft bzw. die Notwendigkeit zu einer existenziellen Veränderung, einer Revision des bisherigen Lebens – die damals seltene, aber aus freiem Willen getroffene Entscheidung eines einzelnen Individuums – wird heutzutage als gemeinsames Schicksal einer Vielzahl von jungen Menschen auferlegt. Die Not diktiert den Gang in die Fremde, ins Unbekannte. Wie eine solche Umstellung nicht zum traumatischen Erlebnis entarten, sondern einen kreativen Weg zu neuen Horizonten und Lebensfülle eröffnen kann, beweisen die Briefe Ernst Curtius’, der damals manche Jahre seiner Jugend in Griechenland verbracht hat. Indem er das Fremde und Andersartige erlebt und angenommen hat, ohne von seiner Herkunft Abstand zu nehmen, bündelte er seine Kräfte und fand in Hellas seine geistige Heimat, der er seine wissenschaftliche Tätigkeit widmete. Das Fremde wurde ihm nicht nur vertraut, sondern diente ihm als Wegweiser seiner Lebensführung. So bleibt das Narrativ der Briefe E. Curtius’ eine stets aktuelle und gültige Aufforderung.