Einleitung: Der Kaiser und seine Erinnerungen an Korfu: Philhellenismus und Orientalismus des letzten deutschen Kaisers
Fast ein Jahrzehnt nach der Ermordung der ersten Besitzerin des Achilleion, der Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837-1898), ging der Palast von Korfu 1907 in den Besitz des deutschen Kaisers und Königs von Preußen Wilhelm II. (1859-1941) über. Von 1908 bis 1914 reiste der Kaiser, wie er im Folgenden genannt wird, fast jedes Jahr nach Korfu und hielt sich insgesamt 162 Tage im Achilleion auf (Meidanis, 1962, 122-123; Dierichs, 2001, 172).
Herzensangelegenheit des Kaisers war es, den Siegenden Achill in Auftrag zu geben, eine monumentale Bronzestatue, die 1910 im Palastgarten aufgestellt wurde. Darüber hinaus förderte der deutsche Monarch von 1911 bis 1914 eine archäologische Ausgrabung auf der Insel, bei der das archaische Heiligtum der Artemis Gorgo ausgegraben wurde.
Wilhelm II. besuchte Korfu zum letzten Mal kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Seine Beziehungen zu Griechenland waren jedoch damit nicht beendet. Während seines selbstgewählten Exils in den Niederlanden verfasste (1919) und veröffentlichte (1924) der nun abgesetzte Monarch das Werk Erinnerungen an Korfu (Berlin/Leipzig, 1924), einen autobiografischen Text über das Achilleion und seine Gestaltung, die archäologische Ausgrabung des Artemis-Heiligtums und seine Eindrücke von Insel und Einheimischen.1In griechischer Übersetzung von Agathos, o.J. Erinnerungen an Korfu ist das einzige seiner Bücher, das Wilhelm II. in den Niederlanden verfasst hat. Es wird der Reiseliteratur zugeordnet (Meid, 2014, 239).2Zum literarischen Werk Wilhelms II. in den Niederlanden vgl. Gschliesser, 1972. Über die Reisen deutscher Dichter, Schriftsteller und anderer Intellektueller nach Griechenland im 20. Jahrhundert vgl. Meid, 2012.
Dieses Werk ist, auch wenn es keine literarischen Lorbeeren für sich beansprucht (Gschliesser, 1972, 386), ein bedeutendes historisches Dokument, wodurch wir Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen über seinen Autor erhalten. So werden wir hier beispielsweise Wilhelms Philhellenismus, seine Kunstauffassung sowie Aspekte seiner Weltanschauung untersuchen.
Die kritische Betrachtung der Erinnerungen an Korfu und die Nutzung der vorhandenen Literatur wird uns zeigen, wie Kaiser Wilhelm II. sich die antike griechische Kultur aneignete und das neuere Griechenland wahrnahm. Mit anderen Worten: Wir werden die Art und Weise nachzeichnen und kommentieren, in der sich der letzte deutsche Kaiser nicht nur zum Wächter der antiken griechischen Kultur, sondern auch zum „Zivilisator“ der griechischen Zeitgenossen erklärte. Die Grundthese dieser Studie ist, dass am Beispiel von Korfu der Philhellenismus des deutschen Kaisers mit einem eigentümlichen Orientalismus verwoben ist – eine Verflechtung, die in seiner Erzählung manchmal offen und manchmal implizit zum Ausdruck kommt. An dieser Stelle soll klargestellt werden, dass wir uns hier nicht mit dem klassischen, „akademischen“ Orientalismus (Said, 1996, 12) befassen werden, der (nicht nur) die unterschiedlichen kulturellen Aktionen der Deutschen im Osmanischen Reich und im Nahen Osten betrifft, sondern mit Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Allgemeinen; das umfasst u.a. die zahlreichen archäologischen Expeditionen, die Gründung von Bildungs- und Wissenschaftsvereinen, die Schaffung von Museen und die Institutionalisierung der Orientalistik (Marchand, 1996, 188-227; 2009).3So beispielsweise die Deutsche Orient-Gesellschaft, deren Präsident der deutsche Kaiser ab 1901 war (Löhlein, 2003, 659). Diese Tätigkeit des Kaisers, die dem traditionellen deutschen Orientalismus zuzuordnen ist, wird hier nicht behandelt. Vgl. auch Scheffler, 2013, 10-22, 28-35. Ausgehend von Edward Saids klassischer Studie und anderen verwandten Werken über den Orientalismus, werden wir die Beziehung Wilhelms II. zum antiken und neuen Griechenland untersuchen; eine Beziehung, die, wie im zwiespältigen West-Ost-Interpretationsschema des klassischen Orientalismus, „ein hegemoniales Macht- und Herrschaftsverhältnis“ ist (Said, 1996, 16).4Hilfreich waren dabei die bibliografischen Hinweise meines Kollegen Antonis Danos, aber auch sein Artikel über Lawrence Durrells Bittere Limonen – Erlebtes Cypern (Danos, 2019). Obwohl sich Durrells Bittere Limonen auf das britisch besetzte Zypern bezieht und ein einige Jahrzehnte später als die Erinnerungen an Korfu des deutschen Kaisers erschien, gehören beide Werke in den Rahmen des orientalistischen Diskurses. Wie Bittere Limonen, so sind auch die Erinnerungen an Korfu des Kaisers im Kontext der einschlägigen – und gleichlaufenden – Tradition der ‚Mediterranisierung‘ zu betrachten, d.h. von der kolonialen Schaffung des Mittelmeers bis hin zum Anderen Nordwesteuropas“ (Danos, 2019, 246).
Ein solcher hegemonialer – und zugleich orientalistischer – Blick auf Korfu, den wir hier untersuchen, ist bei Wilhelm II. sicherlich nicht zum ersten Mal zu beobachten. Im 19. Jahrhundert, als die Ionischen Inseln britisches Protektorat wurden (1815-1864), betrachteten britische Reisende die Korfioten als primitive Eingeborene und schrieben ihnen bestimmte „negative“ Charaktereigenschaften anderer Völker in den britischen Ostkolonien zu (Gallant, 2002). Aber wenn dies im Fall der englischen Kolonialisten als Versuch interpretiert werden kann, politische und militärische Macht zu legitimieren (Kolonisatoren gegen Kolonisierte), wie lässt sich dann eine solche Haltung bei Kaiser Wilhelm II. erklären, der Korfu zu Beginn des 20. Jahrhunderts besuchte, als die Ionischen Inseln bereits Teil des unabhängigen griechischen Staates waren? Zur Beantwortung dieser und anderer Fragen möchten wir uns auf drei wesentliche Punkte konzentrieren, die miteinander zusammenhängen und typisch für die Erinnerungen an Korfu sind: das Achilleion und insbesondere die Statue des Siegenden Achill, die Ausgrabungen am Artemis-Tempel und schließlich die Beziehung des deutschen Monarchen zu den Insulanern, wie er sie in seinem Buch selbst beschreibt.
Der Kaiser und die Statue des Siegenden Achill
Der deutsche Kaiser kaufte das Achilleion 1907 vom österreichischen Königshaus, genauer gesagt von Gisela Louise Marie, der Erbin des Schlosses und Tochter von Elisabeth und Franz Joseph. Die meisten Änderungen, die Wilhelm II. am Palast vornehmen ließ, waren unerheblich. Es gab aber zwei bedeutende Entscheidungen: zum einen die Entfernung des Denkmals von Elisabeths Lieblingsdichter Heinrich Heine (1797-1856) aus dem Schlosspark (Abb. 1) und zum anderen die Beauftragung des Siegenden Achill, einer monumentalen Bronzestatue, die 1910 im Schlossgarten aufgestellt wurde. Die Verbannung Heines aus dem Achilleion (1909) und die Aufstellung des Achilles im Schlossgarten (1910) lösten in der deutschen Öffentlichkeit heftige Kontroversen aus und wurden Ziel deutlicher Kritik seitens der sozialdemokratischen und liberalen Presse sowie satirischer Illustrierten dieser Zeit (Schubert, 1993; Argianas, 2019). Diese beiden Denkmäler können als Antipoden betrachtet werden, da sie zwei diametral entgegengesetzte Ideologien innerhalb Deutschlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs widerspiegeln (Schubert, 1988, 41).
Das von dem dänischen Bildhauer Louis Hasselriis (1844-1912) geschaffene Heine-Denkmal wurde in einem Monopteros im Park des Achilleion aufgestellt (1891). Der deutsch-jüdische Dichter wurde als schwach und krank dargestellt, was er in seinen letzten Lebensjahren im Pariser Exil auch tatsächlich war. Heine war sowohl ein erbitterter Gegner der Monarchie und des deutschen Nationalismus als auch bekennender Frankophiler und Verfechter der Ideale der Französischen Revolution und unterhielt enge Verbindungen zur deutschen Arbeiterbewegung.5Im Jahr 1831 ging er ins selbstgewählte Exil nach Paris, wo er die letzten 25 Jahre seines Lebens (1831-1856) verbrachte (Karagiorgos, 2015, 12-13).
Es ist daher folgerichtig, dass die Entscheidung des deutschen Kaisers, das marmorne Standbild des deutsch-jüdischen Dichters aus dem Achilleion zu entfernen, von deutschen Nationalisten und Antisemiten begrüßt wurde:6Das Denkmal wurde durch den Sohn von Julius Campe, dem deutschen Verleger Heines, in Hamburg erworben (Schubert, 1988, 41). Heute befindet es sich im Botanischen Garten der französischen Stadt Toulon. Zur wechselhaften Geschichte des Denkmals nach seiner Verbannung aus dem Achilleion vgl. Schubert, 1988, 41-45.
Schönen dank unserer verehrten Kaiserin, der Deutschen Frau, für die Entfernung des Heine Denkmals. Genug dass wir Heine bewundern. Ihn zu achten, oder gar zu verehren, dazu haben wir Deutschen keine Ursache. Hochachtungsvoll, Johannsen (GStA PK, I.H.A., Rep. 89., 29.04.1908).
wird ein deutscher Antisemit aus den USA in einem Brief an Wilhelm II. schreiben. Einige Wochen später schrieb ein anderer deutscher Nationalist an den Kaiser: „Die Entfernung des Heine-Denkmals erfüllt jeden Patrioten mit Genugtuung! Seiner Majestät wird von einem Deutschen aus Bremen gedankt.“ (GStA PK, I.H.A., Rep. 89., 30.05.1908)
Diese Telegramme sind bezeichnend für das politische Klima, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich herrschte. Für deutsche Nationalisten und Antisemiten verkörperte „der Jude“ und insbesondere Heine7Wie Kokkinos (2018, 67-68) feststellt, war Heine mehr als jeder andere in die Schusslinie der deutschen Nationalisten geraten. nicht nur den „inneren Feind“ Deutschlands,8Als „innere Feinde“ galten im deutschen Kaiserreich vor allem Juden und Sozialdemokraten (Wehler, 1995, 1063-1067; Kokkinos, 2018, 64-70). sondern stand auch für „Pathogenität, Entwurzelung, Fremdheit, Morbidität, Dekadenz, Degeneration, ständige Mobilität, kritische Analyse und Rationalität, Materialismus, die Untergrabung traditioneller Werte, Spekulation, Instabilität, Liberalismus und auch sozialistische Subversion“ (Kokkinos, 2018, 67-68). Mit anderen Worten, er war die „Verkörperung des Bösen“ (Kokkinos, 2018, 70). In der Marmorstatue des deutsch-jüdischen Dichters im Achilleion verdichteten sich also all jene Eigenschaften, die die deutschnationale Ideologie bekämpfte.
Am entgegengesetzten Ende stand der Siegende Achill (Abb. 2).9Zur Geschichte und Akzeptanz dieses Denkmals vgl. Argianas, 2017, 119-133. Mit der Schaffung der Statue war Johannes Götz (1865-1934) beauftragt worden, ein Schüler von Reinhold Begas (1831-1911), dem Lieblingsbildhauer des Kaisers. Wenige Jahre zuvor (1900-1904) hatte Götz anlässlich des Wiederaufbaus des römischen Kastells in Saalburg zu Ehren des Vaters von Wilhelm II., Friedrich III. (1831-1888), drei überdimensionale Statuen römischer Kaiser geschaffen (Stather, 1994, 78-81; Ohm, 2008). Wilhelm II. hatte an der Saalburg Parallelen zwischen sich und Antoninus Pius10Bezeichnend ist eine zeitgenössische Karikatur, die sich auf die Rekonstruktion des römischen Kastells bezieht, und die Wilhelm II. als römischen Kaiser darstellt (Löhlein, 2003, 664, Abb. 9). einerseits und dem Deutschen und dem Römischen Reich andererseits gezogen;11Selbstredend ist die lateinische Inschrift auf dem Sockel der Antoninus-Pius-Statue: IMPERATORI ROMANORUM TITO AELIO HADRIANO ANTONINO AUGUSTO PIO GULIELMUS II. IMPERATOR (Stather, 1994, 80; „Dem römischen Kaiser Titus Aelius Hadrianus Antoninus Augustus Pius der Kaiser Wilhelm II.“) Zur Inschrift, der hier propagierten Beziehung Deutschlands zum antiken Rom und der politischen Legitimation, die der Kaiser damit anstrebt, vgl. Scheffler, 2013, 22-26. beim Siegenden Achill griff er jetzt auf die griechische Antike zurück, um seine Macht zu legitimieren und zu propagieren.
Der Bildhauer hatte eine Zeichnung des Kaisers (Henneberg, 2004, 40) und dessen Vorschläge berücksichtigt und eine monumentale Statue im neoklassizistischen Stil geschaffen, die Achilles darstellt, „den Hektor zum Zweikampf erwartend im Bewußtsein des bevorstehenden Sieges.“ (Geominy, 1989, 199) Der kraftvolle und kernige Held der Ilias (Abb. 3) trägt Helm, Brustpanzer, Schild und Speer. Achilles ist fünfeinhalb Meter groß, mit dem Speer sind es siebeneinhalb Meter. Zusammen mit dem beschrifteten Marmorsockel ist das Denkmal über elf Meter hoch. Der imposante Sockel wurde durch eine Inschrift in altgriechischer Sprache ergänzt.12Die Inschrift wurde von den französischen Truppen zerstört, die das Achilleion während des Ersten Weltkriegs besetzt hatten (Meidanis, 1962, 128). Die Inschrift, die vom Bildhauer Götz und dem deutschen Archäologen und Professor für Klassische Archäologie an den Universitäten Bonn und Berlin, Reinhard Kekulé (1839-1911), verfasst wurde (Geominy, 1989, 199; Karanastasi, 2011, 164), lobt vor allem den Stifter des Denkmals und sein Reich: ΑΧΙΛΛΕΥΣ – ΓΕΡΜΑΝΩΝ ΚΡΑΤΑΙΩΝ ΓΟΥΛΙΕΛΜΟΣ ΤΟΝΔΕ ΑΧΙΛΗΑ ΣΤΗΣΕΝ ΠΗΛΕΙΔΗΝ ΜΝΗΜΑ ΕΠΙΓΙΓΝΟΜΕΝΟΙΣ 1910 (Meidanis, 1962, 127).13„Achilles – Wilhelm, der Kaiser der mächtigen Deutschen, ließ 1910 diesen Achill den Peliden als Denkmal zum Gedächtnis für die Nachfahren errichten“. Gleichzeitig versuchte Wilhelm II. durch das Gedenken an Achilles´ Abstammung (Sohn des Peleus, König der Myrmidonen), seine eigene Macht als „überhistorische Notwendigkeit“ (Löhlein, 2008, 394) darzustellen und daran zu „erinnern“, dass die Institution der Monarchie ihre Wurzeln in den Tiefen der Zeit habe.14In Erinnerungen an Korfu schreibt der Kaiser zu Achilles´ Abstammung: „Nunmehr ragt der mächtige Held der Homerischen Ilias in Erz auf der Terrasse des Achilleions als Wahrzeichen des Hauses und als Denkmal uralter Geschichte des Landes, in voller Jugendkraft und Schönheit, selbstbewusst und stolz, der archaische Fürst der Myrmidonen“ (Kaiser Wilhelm II, 1924, 28). Die kursive Hervorhebung stammt vom Verfasser.
Laut Kaiser Wilhelm II. hatte die Kunst zwei grundlegende Funktionen zu erfüllen: sie sollte didaktisch sein und zum deutschen Patriotismus beitragen (Malkowsky, 1912, 239). Der deutsche Monarch war einerseits ein Verfechter der monumentalen Skulptur und des Klassizismus in seinen verschiedenen Ausprägungen,15Über die lange Beziehung von Klassizismus und Skulptur in Berlin vgl. Bloch, 1979. andererseits aber auch ein erbitterter Gegner der modernen Kunst (Malkowsky, 1912, 231; Stather, 1994, 62-63). Der Siegende Achill ist in diesem Kontext einzuordnen. Diese Plastik ersetzt den Sterbenden Achill (1884) des Berliner Bildhauers Ernst Gustav Herter (1846-1917), da dieser, dem Kaiser zufolge, durch die dichte Vegetation verdeckt wurde (Kaiser Wilhelm II., 1924, 27). Die Wahrheit ist jedoch, dass der Siegende Achill, im Gegensatz zum Sterbenden Achill, der in den mittleren Garten des Achilleion verlegt wurde, die Ideale des Deutschen Reiches verkörperte. Als typisches Beispiel für des Kaisers politische Ikonographie ordnet sich die Skulptur in eine Reihe deutsch-preußischer Denkmäler ein, die sich durch kolossale Maße und die Beschwörung der griechischen, römischen oder deutschen Vergangenheit auszeichnen (Stather, 1994). Gleichzeitig kann es auch als ikonisches Beispiel für die Ästhetisierung der wilhelminischen Macht betrachtet werden, die den deutschen Heroismus, Nationalismus und Militarismus widerspiegelt, die Deutschland in einen für Land und Kaiser katastrophalen Krieg führen sollten.16Zur Ästhetisierung der Macht und die Rolle des Klassizismus vgl. Metaxas, 2003, 29-36.
Zu erwähnen ist, dass der Siegende Achill vor seiner Überführung nach Korfu der deutschen Öffentlichkeit präsentiert wurde. Auf Vorschlag des Bildhauers und nach Zustimmung des Kaisers wurde er auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt (GStA PK, I.H.A., Rep.89., 15. März 1910). Nach dem Transport der Statue nach Korfu und der Aufstellung im Achilleion ließ der Kaiser die Tore der Palastgärten öffnen und lud die Bewohner der umliegenden Dörfer zum Besuch ein:
Die Frauen und Mädchen kamen im Sontagsstaat [sic] mit Körben voll Blumen und bekränzten nach alter Weise den Sockel, an dem die an das Griechenvolk gerichtete griechische Weihinschrift in Bronzebuchstaben angebracht war. Nachdem diese ihnen ins Neugriechische übersetzt wurde, schauten die braven Korfioten und Korfiotinnen bewundernd den Peliden lange von allen Seiten an, in ihrer schlichten ruhigen Art ihrer Befriedigung über das gelungen Bildwerk Ausdruck gebend. Als sie nun des Näheren examiniert wurden, ob sie wohl begriffen hatten, wer das sei, stellte es sich nach längerem Verhandeln und Besprechen untereinander heraus, daß man der Ansicht war, es sei ein Heiliger! Allerdings keiner von den ihrigen, die sähen alle ganz anders aus. Aber da der Kaiser ein Protestant sei, so werde es eben ein protestantischer Heiliger sein! Heiliger Luther! O großer Homer, wo bist du hingekommen? Deinem Volke bist du fast unbekannt geworden! (Kaiser Wilhelm II., 1924, 30-31)
Auch wenn sich die Frage stellt, ob die Erzählung des Ereignisses wahrheitsgetreu ist, geht es uns hier um Wilhelms orientalistischen Ton. Laut Kaiser sind die korfiotischen Dorfbewohner nicht in der Lage, die von einem deutschen Bildhauer und einem deutschen Archäologen gemeinsam formulierte altgriechische Inschrift zu lesen, und nicht einmal dazu, den Helden aus Homers Ilias zu identifizieren. Da die einheimischen Zeitgenossen unfähig sind, sowohl materielle als auch immaterielle antike griechische Kultur zu bewahren, ist es – wenn auch nur implizit – die „Pflicht“ der Deutschen, diese Rolle zu übernehmen. Um es frei nach Said (Said, 1996, 247) zu formulieren: Die durch den Siegenden Achill projizierte griechische Antike verherrlicht die Deutschen und ihren Kaiser, nicht jedoch das Griechenland der Neuzeit.
In der Tat steht das Bild der unwissenden und ignoranten Griechen in krassem Gegensatz zu dem der gebildeten und von der griechischen Antike begeisterten Deutschen: In seinen Erinnerungen an Korfu lobt Wilhelm II. die Kenntnisse des deutschen Kanzlers (1909-1917), Theobald von Bethmann Hollweg (1856-1921), den er im Achilleion als Gast beherbergte. Gemeinsam hätten sie „fesselnd und lebendig über Griechen und Griechenland, über Homer und die Philosophen, über Phidias und Praxiteles“ diskutiert.17Kaiser Wilhelm II., 1924, 74. Der deutsche Kanzler teilte die Begeisterung des Kaisers für die griechische Antike nicht, lenkte sie den Kaiser doch von den eigentlichen Problemen der deutschen Außenpolitik ab (Löhlein, 2003, 661).
Der Kaiser und die archäologischen Ausgrabung auf Korfu
Kaiser Wilhelms Besessenheit von der griechischen Antike beschränkte sich auf Korfu nicht auf den Siegenden Achill im Achilleion und die Diskussionen über Homer. Ein Steckenpferd, mit dem sich der deutsche Kaiser bereits in seiner Jugend beschäftigt hatte, war die Archäologie (Löhlein, 2003, 659; 2009, 64). Wir dürfen nicht vergessen, dass die deutschen archäologischen Ausgrabungen in Griechenland und im Osmanischen Reich ein wesentliches Merkmal des deutschen Philhellenismus bildeten (Marchant, 1996); eines Philhellenismus, der mit seinen ganz unterschiedlichen Facetten seinen Ursprung in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) hatte. Bemerkenswert ist, dass der deutsche Staat zwischen 1899 und 1913 vier Millionen Mark für die Finanzierung von Ausgrabungen im Nahen und Mittleren Osten ausgab. Dabei handelte es sich um eine Reihe von Ausgrabungen, die unter der Leitung des Deutschen Archäologischen Instituts und der Berliner Museen durchgeführt wurden. Diese müssen im Rahmen des deutschen Imperialismus, aber auch des orientalistischen Geistes des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Gleichzeitig ist die archäologische Tätigkeit Wilhelms II. auf Korfu auch in einer Familientradition verankert. In den 1870er Jahren hatte Wilhelm I. (1797-1888), also Wilhelms Großvater und erster deutscher Kaiser nach der Reichsgründung,gegen den Widerstand des damaligen Kanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) die archäologische Ausgrabung in Olympia unter der Leitung des deutschen Historikers Ernst Curtius (1814-1896) finanziert (Marchant, 1996, 85-87).
Die archäologischen Ausgrabungen des Kaisers ab 1911 auf Korfu zeichnen sich jedoch durch eine Besonderheit aus: Im Gegensatz zu den archäologischen Expeditionen, an denen Wilhelm II. bis dahin teilgenommen hatte, wie beispielsweise der in Baalbek (Scheffler, 2013), war die Ausgrabung auf Korfu eine rein persönliche Angelegenheit; der Archäologe Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), den der Kaiser nach Korfu eingeladen hatte, um an den Ausgrabungen mitzuwirken, erwähnt, dass Wilhelm II. „selbst zum Spaten griff“ (Kalpaxis, 1993, 107). Es ist also kein Zufall, dass fast die Hälfte des Materials der Erinnerungen an Korfu (Kaiser Wilhelm II., 1924, 78-139) und 23 der 36 Fotos, die den Text begleiten, dieser Ausgrabung gewidmet sind (Abb. 4). Hier werden wir uns jedoch nicht den verschiedenen Interpretationsansätzen des Kaisers zu den gefundenen Artefakten widmen (wie z.B. dem archaischen Gorgonengiebel des Artemistempels), sondern dem von Wilhelm II. erneut artikulierten orientalistischen Diskurs.
Nach seinem ersten Besuch der Ausgrabung im Frühjahr 1911 und der Begeisterung über die dortigen Funde, beschloss Wilhelm II., aktiv dazu beizutragen, die Ausgrabungsarbeiten zu beschleunigen. So spendete er die für damalige Verhältnisse und die Möglichkeiten des griechischen Staates nicht unbeträchtliche Summe von 500 Drachmen, damit die Ausgrabung ungehindert fortgesetzt werden konnte (Kalpaxis, 1993, 47). Der deutsche Kaiser wollte sich jedoch nicht auf die finanzielle Unterstützung der Ausgrabung beschränken. Er lud den renommierten deutschen Archäologen und Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts von Athen (1887-1912), Wilhelm Dörpfeld, nach Korfu ein, um dessen Meinung zu den Ergebnissen der Ausgrabungen einzuholen. Von diesem Moment an begannen im Verborgenen intensive politische Prozesse, die Kalpaxis systematisch analysiert hat (Kalpaxis, 1993, 51-85).
Nach einer heftigen Kontroverse zwischen dem Ephor der Altertümer von Korfu, Friderikos Versakis (1880-1921), und dem berühmten deutschen Archäologen sowie nach verschiedenen Interventionen sowohl seitens der deutschen Botschaft in Athen als auch des griechischen Königs Georg I., wurde die Leitung der Ausgrabung dem Deutschen Archäologischen Institut übertragen (Kalpaxis, 1993, 51-85). Bei diesem Vorgang wurden natürlich die demokratischen Verfahren und Gesetze des griechischen Königreichs umgangen, die vorsahen, dass die Aufsicht und Leitung von Ausgrabungen nur Beamten des griechischen Staates obliegen durften (Kalpaxis, 1993, 58). Der Kaiser seinerseits begnügt sich in seinen Erinnerungen an Korfu mit der Feststellung: „Der griechische Archäologe, der die Ausgrabungen leitete, überließ mir bald die Leitung der Arbeiten, die von den Korfioten langsam und gemächlich, unterbrochen von Zigaretten und Gesprächen, ausgeführt wurden.“ (Kaiser Wilhelm II. 1924, 78)
In diesem kurzen, aber aussagekräftigen Zitat verschweigt Wilhelm II. nicht nur den Namen Friderikos Versakis und begnügt sich mit der Bezeichnung „griechischer Archäologe“ (Kalpaxis 1993, 113-114), sondern blendet auch geflissentlich die Hintergründe dieses „Zugeständnisses“ aus. Darüber hinaus orientalisiert der Kaiser die Korfioten einmal mehr, indem er ihnen Eigenschaften zuschreibt, die auch andere westliche Orientalisten den „einfachen“ Anatoliern unterstellten (Said 1996, 54). So werden die arbeitsscheuen korfiotischen Arbeiter, denen die Bedeutung der Ausgrabung gleichgültig zu sein scheint, dem „unverdrossenen“ (Kaiser Wilhelm II., 1924, 81) deutschen Herrscher gegenübergestellt, der auch dann weitermacht, wenn die Einheimischen Mittagspause halten. Der korfiotischen – und damit allgemein neugriechischen – Arbeitsscheu und Trägheit stehen deutsche Organisation und Fleiß gegenüber: Die Organisation wurde von Dörpfeld verkörpert, er „übernahm sofort die Leitung der Grabungen und brachte sie in gehöriges System“, der Fleiß vor allem vom Kaiser selbst.18Kaiser Wilhelm II., 1924, 82. Bemerkenswert ist hier, dass Wilhelm II. im letzten Kapitel seiner Erinnerungen an Korfu erneut den deutschen Fleiß verherrlicht, diesmal am Beispiel seiner Matrosen: „ daß sie ihre Ruhezeit auf den Schiffen nicht mit Faulenzen verbracht hatten“ (Kaiser Wilhelm II., 1924, 141).
Der Kaiser und die Korfioten
Während seines Aufenthalts auf Korfu besuchte der deutsche Kaiser verschiedene Dörfer und knüpfte Kontakte zu den Einheimischen. Tatsächlich widmete er in den Erinnerungen an Korfu zwei Kapitel von ethnographischem Interesse, in denen er seine Eindrücke vom korfiotischen Osterfest detailliert festhält (Kaiser Wilhelm II., 1924, 35-52) sowie die Trachten und Frisuren der Frauen in Gastouri (Kaiser Wilhelm II., 1924, 47 ff.) (Abb. 5). Bei näherer Betrachtung des Textes zeigt sich jedoch, dass sich hinter dem ethnographischen Blick des Kaisers ein „ethno-orientalistischer“ verbirgt (Gallant, 2002, 16):19Der Begriff Ethno-Orientalismus wird von dem Anthropologen James Carrier verwendet und bezieht sich auf den Prozess der kulturellen „Exotisierung“ jeglicher Andersartigkeit durch die Europäer (Gallant, 2002, 16).
Unterwegs kommt es oft vor, dass einzelne Frauen oder Mädchen oder auch Gruppen von Kindern kleine Blumensträuße überreichen. Dann greift der Schloßherr des Achilleion in die Tasche, und Filigranknöpfe oder eine Brosche, Ohrringe oder ein Kettlein werden zum Austausch geschenkt; nie aber Geld, um den Leuten nicht das Betteln anzugewöhnen, wie es einem so abstoßend in Italien entgegentritt. (Kaiser Wilhelm II., 1924, 55-56)
In einem paternalistischen und kolonialistischen Rahmen und in der dritten Person – was auf Julius Cäsars Erinnerungen an den Gallischen Krieg (1. Jh. v. Chr.) verweist –, versucht der deutsche Herrscher, die armen „Eingeborenen“ zu erziehen, indem er ihnen Geschenke statt Geld gibt, damit sie sich nicht an das Betteln gewöhnten (Meid, 2014, 240; 2012, 163). Bemerkenswert ist, dass das Betteln als Merkmal der mediterranen Identität und des Homo mediterraneus dargestellt wird (Giaccaria-Minca, 2011, 347-349). Dem traditionellen und zwiespältigen West-Ost-Orientalismus wird hier der Nord-Süd-Gegensatz gegenübergestellt. Auf der einen Seite wird die wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit des nordeuropäischen Deutschen Reiches betont, auf der anderen Seite die entsprechende Unterlegenheit des armen, mediterranen Südens.
In der Folge wird die Beschreibung des Kaisers noch unverhohlener orientalistisch:
Vor und um die Osterzeit wurde den Korfioten eine andere, sehr nötige und nützliche Gabe zuteil. Die Göttin des Waschens und der Sauberkeit wird von ihnen nicht sehr geehrt. Besonders die Kinder starren hin und wieder von Schmutz. Die Sonne, die große Bazillentöterin, muss für alles sorgen. Um dieser nun die Arbeit zu erleichtern und die Korfioten zur Mitwirkung anzuspornen, hatte ich aus Berlin einige tausend hölzerne Ostereier mitgebracht, die Eier aus Seife enthielten. Diese mussten die mich begleitenden Herren in allen verfügbaren Taschen unterbringen und so einen Seifentransport darstellen, der auf dem Spaziergang meist ganz aufgebracht wurde. Das Erstaunen der Beschenkten war stets sehr groß, als ihnen der Inhalt gezeigt und erklärt wurde; endlich riefen die Frauen aus: „Sapouni!“. Das ist ja Seife! Darauf machten sie die Pantomime des Gesichtwaschens. Als ich ihnen mit Hilfe des begleitenden griechischen Gendamerieoffiziers [sic] als Dolmetscher verständlich zu machen versuchte, daß die Seife nicht nur für das Gesicht, sondern auch für den übrigen Menschen gemeint sei, und dies auch pantomimisch zu erklären trachtete, brachen die guten Korfiotinnen in ein schallendes Gelächter aus, wobei sie die Köpfe heftig verneinend schüttelten. (Kaiser Wilhelm II., 1924, 56)
In diesem Ausschnitt werden die korfiotischen Dorfbewohner als „europäische Aborigines“ (Gallant, 2005, 15-56)20So nannten die britischen Reisenden im 19. Jahrhundert die korfiotischen Bauern (Gallant, 2002, 15-55). dargestellt, die in einer vormodernen Gesellschaft zu leben scheinen und denen im frühen 20. Jahrhundert grundlegende Regeln der Sauberkeit und Hygiene unbekannt sind. Mit „Exotisierung“ und Rückständigkeit – übrigens Schlüsselelemente des klassischen orientalistischen Diskurses (Said, 1996, 243-250) – wird einmal mehr die Rolle Wilhelms II. als „Zivilisator“ auf Korfu bestätigt. Mit anderen Worten: Auch hier wird der wirtschaftlichen und kulturellen Unterlegenheit der Neugriechen die Überlegenheit der Deutschen gegenübergestellt.
Der Mangel an Sauberkeit, so Wilhelm II., sei auch in den Dörfern von Korfu festzustellen. Bei einem seiner Ausflüge auf der Insel, insbesondere auf dem Weg zum Kloster Paleokastritsa, beschreibt er einen Sumpf, Ursache für Fieber und Krankheiten bei den Bewohnern der umliegenden Dörfer: „Früher, als die Briten die Entwässerung geschaffen und in voller Ordnung gehalten hatten, war das ganze Gelände eine ertragreiche Quelle für Viehfutter, eine feste Wiese und gesunde Gegend.“ (Kaiser Wilhelm II., 1924, 60).
Hier lobt der deutsche Kaiser die Zeit des britischen Kolonialismus auf den Ionischen Inseln (1815-1864). Indem er die Trockenlegungsarbeiten erwähnt, die die britischen Kolonialherren auf Korfu durchgeführt hatten, weist er gleichzeitig auf den postkolonialen Mangel an Organisation hin, der zur Sumpfwerdung der Gegend und den daraus resultierenden Krankheiten führte. Abgesehen von den „Vorteilen“, die Großbritannien, die andere nordeuropäische Hegemonialmacht, Korfu gebracht hatte, preist Wilhelm II. hier auch seine eigene Abstammung, denn seine Mutter Victoria (1840-1901) war Mitglied der britischen Königsfamilie.
Schlussfolgerungen
In seiner äußerst selbstherrlichen Schrift Erinnerungen an Korfu präsentiert sich der Kaiser als Verteidiger der antiken griechischen Zivilisation.21Schließlich ist der orientalistische Diskurs in erster Linie selbstverherrlichend und selbstidentifizierend (Gazi, 1999). Zugleich konstruiert er durch spezifische Darstellungen ein stereotypes Bild der Neugriechen. Diese Konstruktion ist gewollt: Wilhelm schließt aus seiner Erzählung jede Bezugnahme auf die korfiotische bürgerliche Gesellschaft, die lokalen Politiker, Intellektuellen und Künstler aus. Nachdem er die korfiotischen Bauern als eine anmutige, aber stets exotische Alterität präsentiert und ihnen eine Reihe von orientalischen Eigenschaften wie z.B. Analphabetismus, Arbeitsscheu, Lethargie und Rückständigkeit zugeschrieben hat, erklärt sich der deutsche Kaiser selbst zum Wohltäter, aber auch zu ihrem „Zivilisator“. Mit anderen Worten: Er versucht sie zu verwestlichen, nachdem er sie orientalisiert hat.
Andererseits leitet Wilhelm II. sowohl mit der Aufstellung der neoklassizistischen Achilles-Statue im Achilleion als auch mit der archäologischen Ausgrabung des Artemis-Tempels eine eigentümliche Kulturmission, mit der er sich als legitimer „Erbe“ des antiken Griechenland und seiner Artefakte präsentiert, da die griechischen Zeitgenossen als unfähig dargestellt werden, diese Rolle zu übernehmen. Beide Beispiele der Aneignung der antiken griechischen Kultur durch den deutschen Herrscher können als unterschiedliche Versionen einer „Usurpation“ (Metaxas, 2003) betrachtet werden, die aber auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten: die Überhöhung der wilhelminischen Macht und des deutschen Reiches durch die griechische Antike.
Die Hauptaussage dieses Essays und der Schnittpunkt von Philhellenismus (mit Bezug auf die griechische Antike) und Orientalismus (mit Bezug auf das moderne Griechenland) des Kaisers lässt sich in einem Satz von Marx zusammenfassen, auf den auch Said verweist: „Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.“22Said, 1996, 34. Said leiht sich diese Formulierung von Karl Marx aus dessen Werk Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852).