Leandros zwischen Kapodistrias und Otto
Panajotis Soutsos ist 28 Jahre alt, als er 1834 in der Druckerei von Tobras und Ioannidis in Nafplio seinen Briefroman Leandros herausbringt (Veloudis, 1996, 37). Seit der Publikation von Der Wanderer (Ο Οδοιπόρος), eines dramatischen Gedichtes, das für seine Zeit großen Erfolg hatte, sind drei Jahre vergangen und ein Jahr seit der Landung des damals noch minderjährigen Königs Otto 1833 in Nafplio. Der 1806 in Konstantinopel geborene Soutsos gehörte einer wohlhabenden Familie an, hatte eine breite Bildung erworben und in Frankreich und Italien gelebt, bevor er 1825 das damals gerade unabhängig gewordene Griechenland erreicht, wo er sich neben der Literatur mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigte. Unter Ioannis Kapodistrias amtierte Panajotis Soutsos eine Zeit lang als Gouverneur und Sekretär des Senats, entfaltete jedoch bald Oppositionstätigkeiten und prangerte den Despotismus an. Daher erfreute ihn Kapodistrias‘ Tod ebenso wie seinen Bruder Alexandros. Seine Wut auf Kapodistrias ist derart, dass sie auch in Leandros zum Ausdruck kommt, das heißt drei Jahre nach dessen Ermordung! Ohne ihn ausdrücklich zu nennen, erwähnt Soutsos abfällig das „korfiotische Tyrannengeschlecht“ (Soutsos, 1996, 88) – Kapodistrias wurde auf der damals unter venezianischer Herrschaft stehenden Insel Korfu geboren – während er die Familie Mavromichalis rühmt; zwei Mitglieder derselben ermordeten Kapodistrias am 27. September 1831 in aller Öffentlichkeit (ebd., 70). Aber Leandros bezieht sich nicht so sehr auf den eine absolutistische und korrupte Staatsgewalt repräsentierenden Kapodistrias, sondern auf Otto, der als Gegensatz zu Kapodistrias inszeniert wird, das heißt als eine utopische Variante des aufgeklärten Herrschers. Otto, der bereits im Vorwort des Romans präsent ist, scheint gleichzeitig einer der Hauptadressaten des Textes zu sein, worauf auch durch Bezugnahmen auf seine Person hingewiesen wird. Sein Held, der auch programmatisch als „Otto-Anhänger“ charakterisiert wird, scheint Panajotis Soutsos‘ Glauben an den König zu repräsentieren. Unter diesem Gesichtspunkt ist Leandros ein Roman, in dem Literatur und Politik unzertrennlich miteinander verflochten sind, wobei letztere wiederum eng mit der Nation verbunden ist.
Leandros oder der melancholische Patriotismus
Im selben Jahr 1834, in dem Soutsos‘ Roman veröffentlicht wird, erfolgt die Verlegung der Hauptstadt des jungen Staates nach Athen, und in Athen ist auch ein Teil der Handlung angelegt. Dort nämlich trifft der junge Held Leandros nach Jahren wieder seine geliebte Koralia, die er von Kindesbeinen an kennt, als beide in Konstantinopel lebten. Koralia ist jedoch mittlerweile verheiratet und Mutter eines Kindes. Die gegenseitige und sozial verbotene Liebe, die sie füreinander empfinden, zwingt Koralia, Leandros zu bitten, die Stadt zu verlassen, um ihre Tugend zu wahren. Leandros flüchtet zunächst nach Nafplio und wandert danach auf Empfehlung seines Freundes Charilaos durch Griechenland, bevor er nach Athen zurückkommt, wo er die schwer erkrankte Koralia vorfindet. Nach deren Tod verübt der Held Selbstmord. Der relativ kurze Roman ist, wenn nicht der erste, einer der ersten Romane, die im freien Griechenland veröffentlicht wurden.1Diese Frage hat sehr viele Diskussionen ausgelöst. Vgl. unter anderen Katsigianni, 1997, 31–41. Er besteht aus 77 Briefen sowie einigen eingestreuten Texten, die als Leandros‘ „Gedankenfragmente“ oder „fragmentarische Überlegungen“ überschrieben sind. Die Briefe tauschen Leandros, sein Freund Charilaos, seine geliebte Koralia und Koralias Freundin Evfrosini aus. Der Haupttext, der nur auf den ersten Blick polyphon ist (Moullas, 1992, 223–224), besteht aus insgesamt 54 Briefen von Leandros zusammen mit elf Tagebuchaufzeichnungen, deren angebliche Fragmente im Text erscheinen. Er ist unter anderem durch einen intensiven lyrischen Ton und einen hochtrabenden Ausdruck von Leidenschaft gekennzeichnet, aber auch durch eine starke melancholische Disposition, die im Wechsel steht mit einer begeisterten Betrachtung der Natur und der einst glorreichen Vergangenheit, von der allerdings nur Ruinen und Kenotaphe übriggeblieben sind. Dieses Gefühl des Verlustes, der Entbehrung, der psychischen Schwäche verbindet sich einerseits mit der Liebe des Helden für Koralia, andererseits mit seiner Liebe zum Vaterland, eine Liebe, die der Held ebenfalls leidenschaftlich zum Ausdruck bringt. Aber es handelt sich um einen seltsam melancholischen Patriotismus ohne praktische Entsprechung; im Übrigen handelt der Held nicht. Über die ganze Strecke des Romans führt er im Wesentlichen Monologe, etwas, was auch sein Vorbild Werther macht, ebenfalls ein Held, unfähig zu handeln.
Leandros zwischen Werther und Jacopo Ortis
Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass Leandros hauptsächlich Anleihen bei Goethes Die Leiden des jungen Werther macht. Panajotis Moullas nennt Leandros einen „Werther mit Foustanella“ (ebd., 224). Auch Jorgos Veloudis betont, dass Goethes Briefroman das direkte Vorbild für Panajotis Soutsos sei (Veloudis, 1996, 46). Die Stimmungswechsel des Helden, die fast transzendente Verbindung zur Natur, der bekenntnishafte Ton, die ständige Introspektion gehören zu den wesentlichen Charakteristika sowohl des Werther wie des Leandros. Beide sind im Kern einstimmige Romane, die ein psychisch labiles Subjekt abbilden. Werther ekelt sich vor der Verlogenheit der Aristokraten und ihrer Höflinge, ist dabei aber unfähig, sich gegen sie zu richten und begeht aus Anlass einer gesellschaftlich unmöglichen Liebe Selbstmord. Leandros verliebt sich ebenfalls bis auf den Tod. Auch er „empfindet in der Gesellschaft den Ekel, den deren Ansprüche, Vorurteile und Formen auslösen“ (Soutsos, 1966, 76), und der einzige, gegen den er sich wendet, ist er selbst. Koralia und entsprechend Lotte scheinen in beiden Texten als Anlässe dafür zu fungieren, dass die Helden in den Selbstmord getrieben werden. Trotz der Idealisierung der Liebe – die Liebe ist es, was im Wesentlichen die Texte und die Helden antreibt – scheint ihre psychische Instabilität, die von einem intensiven Hang zur Melancholie begleitet wird und bald in eine todessüchtige Stimmung ausartet, von Beginn an das Ende der Helden vorzuzeichnen … Die Leiden des jungen Werther ist jedoch nicht das einzige Werk, mit dem Leandros einen Dialog aufnimmt: Anleihen gibt es auch bei Chateaubriands René und bei anderen (Veloudis, 1996, 51–52). Vor allem aber ist es die enge Verbindung der erotischen Leidenschaft, die mit der Wiedergeburt der griechischen Nation aufflammt, die Liebe zu einer Frau und die Verknüpfung mit der Liebe zum Vaterland, was Leandros ganz in die Nähe zu Jacopo Ortis von Foscolo führt. Foscolos Held leidet psychisch unter der Versklavung seines Vaterlandes, und dieser Schmerz ist eng verbunden mit Liebesschmerz, der sich auch in seinem Fall auf eine verbotene Liebe bezieht. Der patriotische Überschwang, die nationalzentrierte Sichtweise der Helden, die nationalpolitischen Visionen, die in Leandros wie auch in Jacopo Ortis dargestellt werden, fehlen in Werther gänzlich. Allerdings, wenn Ortis heimatlos ist und von einer Revolution träumt, die seine Heimat befreien wird, hat Leandros, Soutsos‘ Held, doch bereits erlebt, dass Jacopo Ortis‘ Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Er lebt nach der Revolution von 1821 im neuen griechischen Staat. Und das lässt Leandros‘ melancholischen Patriotismus auf den ersten Blick als paradox erscheinen. Allerdings erklärt sich das, wenn man in Betracht zieht, dass die Heimat des Helden Konstantinopel ist, der Ort, wo auch seine Liebe zu Koralia entstand, ein Ort jedoch, der nicht zum kleinen Griechenland gehört. Und der Held stellt sich vor, dass der junge Otto seine versklavte Heimat, und nicht nur sie, wird befreien können.
Leandros zwischen Osten und Westen
Die intertextuellen Beziehungen, die Leandros zu anderen Briefromanen unterhält, entstammen dieser literarischen Gattung und sind für sie (Moullas, 1992, 222) eher üblich, eine Gattung jedoch, die zu der Zeit, als Leandros geschrieben wird, in Griechenland eher unbekannt ist. Zwar ist Papatrechas von Adamantios Korais (ebd., 223) vorausgegangen, wie Panajotis Moullas anmerkt, jedoch ist das Unterfangen, einen Briefroman in der Tradition des Werther herauszugeben, für die Zeit und das junge Griechenland zweifellos bahnbrechend. Das betont übrigens auch Panajotis Soutsos in seinem Vorwort zu dem Text, in dem er einerseits die Quellen seiner Inspiration angibt, andererseits das angestrebte doppelte Ziel des Briefromans hervorhebt:
Die größten Schriftsteller, Dichter und Philosophen haben historische Werke verfasst; Rousseau in Frankreich, Walter Scott in England, Goethe in Deutschland, Foscolo in Italien und Cooper im freien Amerika […]. Im wieder auferstandenen Griechenland wagen wir als erste, Leandros der Öffentlichkeit zu übergeben. Glücklich, wenn wir auf dem Weg, den wir gebahnt haben, in Kürze andere fähigere Verfasser von Romanen sehen werden. […] Oh, Griechenlands Jugend, für Dich schreibe ich. […] Bis wann wird Griechenland hinter den erleuchteten Nationen zurückbleiben? (Soutsos, 1996, 76–77).
Ein Ziel ist also, die Produktion von Romanliteratur im jungen Griechenland anzuregen, das die aufgeklärten Völker Europas nachahmen soll: wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, ist Leandros unter diesem Gesichtspunkt nicht einfach ein Briefroman, sondern auch ein Manifest für eine literarische Gattung, eine Gattung, die der junge Goethe mit seinem Werther besonders populär gemacht hat. Auf diese Weise unternimmt Soutsos schon im Vorwort zu Leandros den Versuch, an die bereits existierende Tradition des Romans anzuknüpfen, während er auch beabsichtigt, Bedingungen für eine griechische Romantradition, wenn möglich auf gleichem Niveau wie die großen Vorbilder des Westens, zu schaffen. Der Roman dient aber noch einem weiteren Ziel des Autors, das mit dem ersten verknüpft ist, nämlich der Schaffung einer neuen „aufgeklärten“ nationalen Identität. In diesem Zusammenhang ist die Erwähnung des „freien Amerikas“ nicht zufällig, eines Landes, das seine Unabhängigkeit errungen und bereits 1787 eine Verfassung erhalten hat. Leandros ist also auch programmatisch eine Brücke zwischen Westen und Osten, und unter diesem Gesichtspunkt ist es sehr zweifelhaft, ob der Held eine Foustanella trägt.
Leandros zwischen Romantik und Aufklärung
Wie im Vorwort zum Roman erwähnt, ist Leandros ein Mensch des Fortschritts und daher, wie oben ausgeführt, fast zwangsläufig ein Anhänger Ottos: „Im König von Griechenland sieht er die Unabhängigkeit abgebildet; in ihm sieht er die Konzentration der nationalen Kräfte wirken, den Rechtsstaat auf die Anarchie folgen und den Fortschritt der Nation täglich verwirklicht.“ (Soutsos, 1996, 76). Aber der Fortschritt, der angeblich durch den „König von Griechenland“ verwirklicht wird, setzt, so wie ihn Leandros ersehnt, eine Abkehr von der Gesellschaft und eine Rückkehr zur Natur voraus, das heißt eine Unterbrechung oder auch Aufhebung des Fortschritts. Als typisches Beispiel eines romantischen Helden fühlt sich Leandros denn auch wohler in der Natur oder wie es Panajotis Soutsos in seinem Vorwort formuliert:
Die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit des Seele, die Liebe zum ländlichen Leben, die Freiheitsliebe, das sind Leandros‘ Vorstellungen und Gefühle […] das Aufgehen der Sonne und des Mondes, die Heiterkeit des Frühlings, die hohen Berge, die brausenden Wogen, durch diese Bilder entsteht Leandros‘ Bühne (Soutsos, 1966, 76–77).
Der Glaube an die Existenz Gottes, an die Unsterblichkeit der Seele, die Liebe zum ländlichen Leben und zur Natur, die Freiheitsliebe, die Neigung zu heftiger Sentimentalität aber auch die beständige Traurigkeit, die den Helden erfüllt, seine introspektive Subjektivität, das Fragmentarische der Rede, die Poesie der Ruinen sind Kennzeichen der Romantik und unter diesem Aspekt haben die Forscher Leandros zu Recht der Romantik zugeordnet (vgl. u. a. Moullas, 1992, 221). Panajotis Soutsos‘ Roman wird im Übrigen als typisches Beispiel für die griechische Romantik angesehen, nicht nur wegen seiner Vorbilder und seiner Handlung, der erotischen Ausweglosigkeit, des Selbstmords des Helden usw., sondern vor allem weil er viele gemeinsame Charakteristika mit der europäischen Romantik aufweist. Im Fall von Leandros müssen wir aber daneben auch den Glauben an den König und an den Fortschritt setzen, ein Gedanke, der ein Kind der Aufklärung und des damit verbundenen Optimismus ist, sowie die erklärte Absicht des Autors „zu belehren“, „aufzuklären“ und dem griechischen Volk ein Beispiel zu geben, das in Griechenland die westliche Tradition des Briefromans vermittelt. Wie Alexandra Samouil anmerkt: „Die Ideen der Aufklärung, die seinen Schöpfer geprägt haben, vermischt mit dem romantischen Element, schreiben dem Werk eine ‘fruchtbare‘ Problematik ein […]“ (Samouil, 19962, 15). Abgesehen aber von dieser letztlich „didaktischen“ Dimension des Romans, die ihn mit der Vorstellung der Aufklärung von Literatur als Mittel zur moralischen und politischen Erziehung verbindet, eine Vorstellung, von der sich die Romantik entfernt, müssen wir auch in Betracht ziehen, dass der Diskurs über die Nation, wie er im Text zum Ausdruck kommt, mit der Sichtweise der neugriechischen Aufklärung übereinstimmt, die das moderne Griechenland als Fortsetzung des antiken Hellas sieht und dabei die byzantinische Epoche übersieht. Und wenn diese ablehnende Haltung gegenüber der byzantinischen Tradition gemäß K. Th. Dimaras (Dimaras, 1985, 234) alle Phanarioten kennzeichnet, wie auch Maro Kalantzopoulou bemerkt, ist es vor allem „die Verknüpfung der Idee von der Nation nur mit der antiken – und der ganz jungen – Vergangenheit und die Indifferenz […] gegenüber der mittelalterlichen Geschichte“ (Kalantzopoulou, 2014, 186), die die Einordnung des Romans in die Aufklärung erlaubt. Es gibt aber noch etwas, was die Beziehung des Textes sowohl zur Aufklärung als auch zum Nationalismus verstärkt, der aus der romantischen Bewegung entstanden ist, und das sind die wiederholten Motive des Lichts, der Laterne, der Lampe, die hauptsächlich mit Otto verbunden sind.
Das Ideal des erleuchteten Monarchen oder die Megali Idea2Anm. d. Üb.: Politische Bewegung, die die Befreiung aller von Griechen bewohnten Gebiete, einschließlich Konstantinopels, forderte (wörtlich: Große Idee).
In seinem Brief vom 16. Januar schildert Leandros, wie er auf seiner Wanderung durch Griechenland einen blinden Gelehrten mit seinen Kindern vor einer Hütte trifft, der ihm gesteht, dass einer der Gründe für seinen großen Kummer unter anderem der sei, dass er im wahrsten Sinne des Wortes den König nicht sehen könne:
Er ist (sagte mir der weise Blinde) das anmutige Abbild unserer Unabhängigkeit; sein Thron die im ganzen Mittelmeer leuchtende Laterne, zu der die griechischen Provinzen unter den Osmanen aufschauen; seine ausgestreckte Hand vermag das ganze griechische Geschlecht vom Bosporus bis nach Kreta in Bewegung zu setzen, und ihr Wink ist das Signal zur allgemeinen Erhebung. Ich höre bisweilen den raschen Hufschlag seines Pferdes, wenn er an meiner Hütte vorbeireitet, und ein Schauer der Begeisterung erfasst meine Glieder; und ich schlage mein Kreuz und sage: „Mein Gott, gesegnet sei dein Name; Hellas ist wiedergeboren“ (Soutsos, 1996, 111).
Die metaphorische Konstruktion, die den blinden Gelehrten und den sehenden Leandros mit Otto als leuchtende Laterne zusammenbringt, deutet nicht nur das patriotische Pathos an, das den ganzen Text durchzieht, sondern auch die absolute Verbindung Ottos, der in dem Auszug fast vergöttert wird, mit der Wiedergeburt Griechenlands, eines Griechenlands, das sich ausweiten, Gebiete erwerben und die Ausmaße erreichen soll, die es einst hatte, und, wenn möglich, noch größere. Auch wenn die Ideologie der Megali Idea erst ab Mitte der 1840er Jahre im neugegründeten Staat vorherrschend sein wird, scheint Soutsos‘ Text diesen Wunsch zur nationalen und territorialen Vollendung anzudeuten, der die Politik, aber auch den politischen Diskurs im griechischen Raum bis mindestens 1922 kennzeichnen wird.3In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Soutsos als derjenige angesehen wird, der 1844 die Rede des ersten nach Einführung der konstitutionellen Monarchie im neugegründeten griechischen Staat gewählten Premierministers Kolettis verfasst hat, in der zum ersten Mal der Begriff Megali Idea auftaucht (vgl. Dimaras, 1958, 360). Hier wird dieses ideologische Gebäude, das von einem starken Irredentismus erfüllt ist und die territoriale Expansion des Staates plant, allerdings eher als baufällig inszeniert. Es ist kein Zufall, dass die Wiedergeburt der Nation mit allem, was damit einhergeht, im Text exemplarisch mit dem Wiederaufflammen der Liebe der beiden Helden verbunden ist und für beide unheilvolle Konsequenzen hat. Die unterstellte, fast metaphysische Allmacht Ottos wird zudem an anderer Stelle relativiert, obwohl er selbst weiterhin als imaginärer Herrscher gezeigt wird:
Vergeblich lebt der König von Griechenland, von gesundem Verstand und Herzen, nicht als König, sondern als erster Bürger von Griechenland ohne Pomp und Hofzeremonien; vergeblich hassen die keinesfalls menschenverachtenden Regenten die Intrigen und wünschen, Geradlinigkeit einzuführen; Unser heutiger Politiker! Welch ein Witz! Welch ein seltsames Wesen dieser Diplomat! Von allen nimmt er das Schlechteste an, […] müht sich vorzugeben, er sei die Leuchte, die andere erhelle (Soutsos, 1996, 116).
Leandros prangert die politischen Sitten an, beabsichtigt aber gleichzeitig, der Macht zu schmeicheln, was seine zeitgenössischen Kritiker durchschauten.4Vgl. die anonyme Kritik in der Zeitung Athina, Nr. 131, vom 08.06.1834, 604. Zur selben Zeit, als er Leandros schrieb, nahm Soutsos eine Stelle im Innenministerium an, stieg von da an bis zum Regimewechsel vom 3. September 1843 in der Hierarchie auf (vgl. Veloudis, 1996, 40).
Panajotis Soutsos‘ politischer Opportunismus scheint übrigens nicht nur in den Beziehungen durch, die er mit der jeweiligen Staatsmacht unterhielt, sondern auch in seiner flexiblen Ideologie, die es ihm erlaubte, mit Leichtigkeit die Lager zu wechseln: Zunächst ein Kapodistrias-Unterstützer, wendet er sich danach Otto zu, um ihn wenig später abzulehnen und sich schließlich Georg I. zuzuwenden. Von Bedeutung ist hier jedenfalls, dass auch in diesem Rahmen die „strahlende Leuchte“, die „Laterne“, an die sich Leandros wendet, Otto ist. Ziel ist die „Wiedergeburt des Lichts“ und die Realisierung der Megali Idea, damit auch die Blinden ihr Licht erblicken. So ruft Leandros an einer Stelle aus:
Oh, König von Griechenland! […] dass wir den Ruhm und die Stärke unserer Vorfahren durch Verständigung innerhalb der gesamten griechischen Nation und durch die Wiedergeburt des Lichts erreichen, dass wir von einem Jahrhundert, schwanger mit einer großen Zukunft und reich an großen Erfindungen, profitieren, das ist dein Werk (Soutsos, 1996, 129).
Ähnliche Motive tauchen übrigens auch in der Ode an Otto auf, die Panajotis Soutsos 1835 aus Anlass von Ottos Volljährigkeit und seiner offiziellen Thronbesteigung veröffentlicht. Und obwohl Otto im Gedicht nicht mehr aus sich heraus leuchtet, sondern von Griechenlands Sonne beschienen wird, wird die Forderung nach „Erleuchtung der gesamten Gemeinschaft der Menschen“ erneut formuliert ebenso wie der Wunsch nach „Erleuchtung auch anderer noch blinder Nationen, dort wo Asien gemeinsam mit Afrika trauert“ (Soutsos, 1835, 6). Dass Otto nicht der Monarch war, dem es gelingen würde, Griechenland auszuweiten, wie Panajotis Soutsos hoffte, akzeptiert er recht bald. Zeugnisse dafür, dass Soutsos versucht, eine solche Eventualität zu bannen, finden sich auch in Leandros.
Leandros oder der suizidale Patriot
Welchem Umstand ist Leandros‘ konstante Traurigkeit geschuldet? Woraus speist sich dieser melancholische Patriotismus? Rührt Leandros‘ ständige Melancholie womöglich daher, dass Otto, wie er vermutet, nicht als ein weiterer Alexander der Große funktionieren kann, so wie er von Anfang an weiß, dass seine Liebe für Koralia nicht gedeihen kann? Auf diese Frage sind verschiedene Antworten gegeben worden. So liefert Veloudis für die andauernde Traurigkeit, die Leandros seit Beginn des Romans an den Tag legt, die folgende Erklärung:
es sind künstlerische, ästhetische Belege eines frühen Spleens, eines sozialpsychologischen Syndroms von Ottos enger monarchischer Entourage; die Hinweise auf einen solchen eindeutig sozial hervorgerufenen Spleen im Text des Romans selbst […] sind so dicht, dass man zu Recht sagen kann, dass der Grund von Leandros‘ Selbstmord […] nicht seine geliebte Koralia war, sondern die verhasste Monarchie (Veloudis, 1992, 120).
Vajenas stellt entsprechend fest, dass Leandros eine konkrete politische Vision hat, die durch seine starke antiautoritäre Disposition zu Tage tritt, durch seine negativen Kommentare über zeitgenössische Politiker, durch seine Überzeugung, in einem Jahrhundert zu leben, „schwanger mit einer großen Zukunft“, und durch das Wandern seiner Phantasie durch die „zukünftige Gesellschaft […] von Philosophen, Dichtern, Rednern, Architekten, Malern und Bildhauern“ (Vajenas, 1997, 49). Vajenas kommt zu dem Ergebnis, dass „Leandros ein utopischer Sozialist ist, der letztlich unter dem Gewicht der romantischen Melancholie zerbricht.“ (Vajenas, 1997, 49). Was Panajotis Soutsos‘ politische Vision betrifft, ordnen zeitgenössische Kommentare des Textes, wie z. B. der von Alexandra Samouil (vgl. Samouil, 2009, 219), ihn in einen „progressiven“ Rahmen ein und weisen die überkommene Ansicht der älteren Kritiker zurück, die ihn als Ausdruck politischen Konservativismus betrachteten.5Bis vor Kurzem wurde er als sprachlich und ideologisch konservative Literatur angesehen, als politisch reaktionäre, zweitrangige Literatur mit kleinen hellen Lichtblicken. Vgl. z. B. den Kommentar von Linos Politis, dass „neben vielen mittelmäßigen oder schlechten Dichtern auch die wenigen hervorstechen, die eine echtere lyrische Stimme erheben und denen es manchmal gelingt, auch Romantik und Katharevousa in eine Tugend zu verwandeln“ (Politis, 2010, 170). Zu diesem Thema bemerkt Nassos Vajenas bezeichnenderweise: „Einer der Gründe für die heutige Neueinschätzung unserer frühen Prosa ist die Distanz zu den Leidenschaften des Kampfes um die Durchsetzung der Dimotiki, die uns nicht erlaubten, das Werk der ersten Prosaautoren des griechischen Staates unvoreingenommen zu sehen.“ (Vajenas, 1997, 42).
Ist es aber wirklich so? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach. Wie Dimitris Tziovas erläutert, bilden die politische Kritik und der romantische Idealismus den doppelten Pol, um den die Widerspruchspaare organisiert sind, die den Text ausmachen, z. B. Natur/Gesellschaft, politisches Engagement/Distanzierung etc. Wie Tziovas feststellt, scheint im Text eine Synthese der entgegengesetzten Tendenzen unmöglich zu sein, und diese Unmöglichkeit ist es, die das tragische Ende des Helden vorzeichnet (Tziovas, 2009, 219). Im vorliegenden Fall jedoch speist sich die Unmöglichkeit der Synthese aus den inneren Widersprüchen des Textes, der von einem postrevolutionären Spleen durchweht wird und einerseits die aufgeklärte Monarchie akzeptiert und den Fortschritt herbeiwünscht, andererseits von einem enthusiastischen aber auch todessüchtigem Drang beherrscht wird, und während er sich auf die Vergangenheit kapriziert und sie verklärt und die Gegenwart beklagt, übersieht er letztlich die Zukunft. Die Vergangenheit, die der enttäuschenden Gegenwart gegenübergestellt wird, passt zum antiken Glanz und zur jüngsten heroischen Version des Griechentums, erlaubt es Leandros, sich die moderne griechische Nation als natürliche Fortsetzung der altgriechischen Tradition vorzustellen, die sich in einer Phase moralischen und politischen Verfalls befindet. Und wenn Soutsos die traurige Lage des Landes und die Korrumpierung des öffentlichen Lebens, den moralischen und politischen Verfall Kapodistrias zurechnet, ist sein Held, der diese Wut gegen das tyrannische Modell der Staatsgewalt verkörpert, mit den Ideen von Rousseau großgeworden wie z. B. der Vorstellung, dass die Gesellschaft den Menschen knechtet und korrumpiert, dass das gesellschaftliche Leben durch Arglist und Lüge gekennzeichnet ist oder dass der Mensch nur in der Natur glücklich und in der Stadt ein Gefangener ist (Kalantzopoulou, 2014, 176–177). Unter diesem Gesichtspunkt hat es Leandros nicht nur mit Kapodistrias, mit der politischen Misere und dem moralischen Verfall zu tun, sondern auch mit der Gesellschaft selbst, die – wie Leandros sehr wohl weiß – keinesfalls zur „Natur zurückkehren“ wird unter Bedingungen, die den Idealen genügen würden, zu denen er sich bekennt. Obgleich man annehmen könnte, dass diese Ideale mit dem utopischen Sozialismus zusammenhängen, wie Maro Kalantzopoulou betont, sind sie ein „Gemeinplatz in den politischen und philosophischen Diskussionen jener Zeit“ (Kalantzopoulou, 2014, 180). Für diese Sicht spricht auch die Tatsache, dass zentrale Faktoren des Saint-Simonismus im Roman nicht abgebildet werden, der ideologische Elemente vor allem aus dem politisch-philosophischen Werk Rousseaus zu schöpfen scheint, von dem Soutsos, wie übrigens auch Goethe, das Vorbild des Anachoretentums entleiht, das seinen Helden kennzeichnet. In diesem Rahmen wird Leandros als ein moderner (neurotischer) Misanthrop skizziert, der unter seinem melancholischen Charakter leidet und dennoch auf eine bessere Zukunft hofft (die Otto verkörpert), ohne aber in diese Richtung zu arbeiten, da sein Blick ständig auf die Vergangenheit und in sich hinein gerichtet ist. Leandros möchte ein Revolutionär sein, begehrt aber nur mit Worten auf, glaubt an den Fortschritt, wünscht ihn aber nur zum Schein, wenn er für die Zukunft eine antike Agora mit Dichtern, Rhetoren und Bildhauern erträumt, und er scheint tatsächlich mehr in ein Phantasie-Hellas verliebt zu sein als in Koralia, aber er tötet sich nicht wegen der verhassten Monarchie, sondern sehr wahrscheinlich, weil der Text sich treu an seine Vorbilder hält, von denen er nicht nur das Motiv einer gesellschaftlich verbotenen Liebe entlehnt, sondern auch das Motiv des Selbstmords (Karakassi, 2014, 185). Indem er seinen Text in die Genealogie der Briefromane stellt, ist Panajotis Soutsos gezwungen, deren Regeln zur Entwicklung des Themas zu folgen und die romantische Sackgasse als die unüberbrückbare Dimension zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven darzustellen, wobei er zweifellos das Individuelle dem Kollektiven vorzieht und das, obwohl der Text Griechenlands Jugend „erleuchten“ und gleichzeitig Otto „anleiten“ möchte, die hochfliegenden politischen Träume des Autors zu übernehmen.
Otto und Leandros
Wenn auch Leandros der wertherschen Tradition „entstammt“ und das Ergebnis einer deutsch-griechischen Verflechtung ist, so ist doch der Raum, in dem er sich bewegt, Griechenland, ein Griechenland, von dem Panajotis Soutsos hofft, dass Otto dessen Zukunft und zukünftige Geografie garantieren und gestalten werde, der junge deutsche König, der die Foustanella übernimmt. Otto, der unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls ein Produkt einer deutsch-griechischen Verflechtung ist, repräsentiert im fiktiven Kosmos von Leandros nicht einfach Griechenland, er ist bereits ein Grieche und nimmt nicht nur eine herausgehobene Stellung ein, sondern erwirbt auch metaphysische Dimensionen. Er ist die Verkörperung der Unabhängigkeit von Großgriechenland, die Leuchte, die bis ans Ende der griechischsprachigen Ökumene scheinen und Eintracht, Wohlstand, Fortschritt und sozialen Frieden bringen wird. Und allein diese übertriebene Idealisierung, die überspannten Erwartungen, die in der politischen Heiligsprechung des jungen Königs lauern, sowie die fast transzendentale Macht, die ihm zuerkannt wird, zeichnet präzise seinen späteren Fall in den Augen seines damaligen heftigen Unterstützers Panajotis Soutsos vor. Jedenfalls ist die Bedeutung des Romans für die Geschichte der griechischen Literatur als Zeugnis der Schwierigkeiten der Wiedergeburt oder richtiger der Geburt des neuen Griechenlands unbestritten. Leandros von Soutsos ist ein wertvolles Zeugnis, das die Erwartungen, die Hoffnungen, die Ängste, die Sackgassen wie auch die Konstruktionen der Phantasie und Ideologie jener Zeit abbildet, von denen einige, wie die Megali Idea, auf fruchtbaren Boden fielen, viele Jahre erhalten blieben und in vielerlei Hinsicht die Geschichte des Landes bestimmten. Aber auch für die Geschichte der griechischen Literaturkritik und Intelligenz ist das Werk von Panajotis Soutsos von Bedeutung, weil es die Wegstrecke aufzeigt, die von seiner Ablehnung als konservativer Literat bis zur Neubewertung seines Werkes notwendig war. Für die deutsch-griechischen Literaturbeziehungen ist Soutsos‘ Roman ebenfalls von zentraler Bedeutung: Die Tatsache, dass der erste Roman im freien Griechenland eine Wertheriade ist, die ihr Vorbild an die damalige historische Aktualität „anpasst“, indem sie den jungen deutschen König fast zum Mythos erhebt, zeigt nicht nur die Dynamik auf, die in kulturellen Verflechtungen steckt, sondern auch, dass die Literaturen beider Länder bereits von Anbeginn des griechischen Staates an miteinander verflochten sind.