Elly Sougioultzoglou-Seraidari (1899-1998): Ihre fotografische Ausbildung in Dresden und die Rolle ihrer Lehrer bei der Ausbildung ihres fotografischen Blicks

Welchen Einfluss hatte die Dresdener Studienzeit von Elly Sougioultzoglou-Seraidari (bekannt geworden unter dem Namen „Nelly’s“) auf ihren fotografischen Blick? An welchen Bereichen ihres fotografischen Schaffens lässt sich der Einfluss ihrer deutschen Lehrer Hugo Erfurth und Franz Fiedler ablesen? Wie rezipierte, entwickelte und modifizierte diese namhafte Fotografin die Sichtweise ihrer Lehrer, um daraus ihre persönliche Handschrift zu formen?

Inhalt

    Einführung

    Dieser Essay legt einen Schwerpunkt auf das Frühwerk der Fotografin Elly Sougioultzoglou-Seraidari, also auf die Aufnahmen, die sie im Laufe ihrer Studienzeit in Dresden, aber auch ihrer ersten Arbeitsjahre in Athen (1924-1930) gemacht hat. Genauer untersucht werden drei thematische Einheiten ihres Gesamtschaffens, bei denen der Einfluss ihrer deutschen Lehrer Hugo Erfurth und Franz Fiedler deutlich erkennbar ist: das Porträt, mit dem sie sich während ihrer ganzen Laufbahn beschäftigte, dazu die erstmalig von ihr in Griechenland eingeführte Tanzfotografie und die Darstellung der ländlichen Bevölkerung während ihrer ersten Rundreisen durch die griechische Provinz. Ziel dieser Untersuchung ist zu ermitteln, wie diese namhafte Fotografin die Sichtweise ihrer Lehrer rezipiert, weiterentwickelt und modifiziert hat, um zu ihrer ganz eigenen Handschrift zu gelangen. Das Belegmaterial dafür stammt aus den einzigartigen Beständen, die die Künstlerin 1984 den Fotoarchiven des Benaki-Museums zur Verfügung gestellt hat.

    Elly Sougioultzoglou-Seraidaris Studien in Dresden (1920-1923)

    Elly Sougioultzoglou-Seraidari wurde am 23. November 1899 als Tochter des griechischen Kaufmanns Christos Sougioultzoglou im kleinasiatischen Aydıngeboren. Sie besuchte die französische Schule Sœurs de Charité und vervollständigte anschließend ihre Bildungsjahre am Mädcheninternat „Homer“ in Smyrna (1912-1917).1Die Informationen, die wir über ihre Lebensjahre in Kleinasien und Dresden besitzen, sind spärlich; hauptsächlich lassen sie sich aus dem ersten und zweiten Kapitel des von ihr verfassten autobiografischen Textes schöpfen (Kasdaglis, 1989, Kapitel I u. II, 15-67). Nach dem Massaker von Aydınin der Anfangsphase des griechisch-türkischen Kriegs von 1919-1922 (27. Juni bis 4. Juli 1919), ließ sich die Familie für kurze Zeit in Smyrna nieder. Damals versuchte Seraidari ihren Vater davon zu überzeugen, sie nach Europa gehen zu lassen, um dort studieren und ökonomisch unabhängig werden zu können. Er gab sein Einverständnis, und so begleitete die uns unter dem Namen „Nelly’s“ bekannt Gewordene im Winter 1920 ihren Bruder Nikos nach Dresden, wo der Freund der Familie Johannes Miller als Generalkonsul lebte.

    Ihr Bruder besuchte das Dresdener Polytechnikum, während sie selbst bei dem aus Italien stammenden Maler Ernst Oskar Simonson-Castelli in die Lehre ging und parallel dazu Klaviereinzelunterricht nahm.2Der Maler Ernst Oskar Simonson-Castelli gab in Dresden seit 1897 Malunterricht. Während ihres Aufenthalts in der deutschen Stadt besuchte sie regelmäßig Opernaufführungen, war häufig in der Pinakothek und in den Museen zu sehen und unternahm, soweit es ihre Mittel erlaubten, Ausflüge in die Sächsische Schweiz.

    Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich Dresden zu einem kulturellen Großzentrum entwickelt. In der Stadt, die zur Begegnungsstätte verschiedenster kultureller Strömungen geworden war, hatten viele fotografische Gesellschaften und Vereine ihren Sitz, in deren Zusammenhang es auch häufig Ausstellungen gab, für die sich Seraidaris nachdrücklich interessierte und die sie oft besuchte. Der Eindruck und die Bewunderung, die fotografische Werke erstmals in ihr auslösten, trugen entscheidend dazu bei, sich professionell mit Fotografie zu beschäftigen und auf diese Weise einen Beitrag zur finanziellen Situation der Familie zu leisten, die nach der Smyrna-Katastrophe ein Großteil ihres Vermögens verloren hatte. Diese Idee fand möglicherweise ihre Bestärkung durch die Gelegenheiten, die sich Nelly in Dresden boten, mit den Arbeiten auf fotografischem Gebiet bemerkenswerter Frauen wie z.B. Ursula Richter (1886-1946)3Ursula Richter war von 1916-1919 Schülerin Hugo Erfurths. Sie betrieb in Dresden bis 1935 ein Fotostudio und beschäftigte sich neben Ballett- und Tanzfotografie besonders mit Theaterfotografie (Schauspieler- und Sängerporträts). Ein von ihr geschaffenes Mary-Wigman-Porträt wurde 1926 auf der Fotografie-Ausstellung in Frankfurt am Main gezeigt. und Grete Back (1878-1965) in Berührung zu kommen.

    In einem Brief an ihren Vater, der sich kurz vor der Kleinasiatischen Katastrophe in Athen niedergelassen hatte, erwähnt sie ihr Vorhaben, in Griechenland ein Fotostudio zu eröffnen, und bittet darum, ihr die Situation des Fotografenberufs in der griechischen Hauptstadt zu beschreiben. Seiner Antwort entnahm sie, dass es fotografische Aktivitäten in Athen nur auf bescheidenem Niveau gab, – eine Information, die sie davon überzeugte, erfolgreich zum Teil des fotografischen Potentials der Stadt werden zu können.

    Die Lehrzeit im Atelier von Hugo Erfurth

    Seraidaris Vater teilte ihren Wunsch und billigte ihre Idee; Johannes Miller schlug ihr vor, zur Vorbereitung Unterricht bei dem namhaften Dresdener Fotografen Hugo Erfurth (1874-1948) zu nehmen. Erfurths Schule war staatlich anerkannt, ihre Schüler konnten nach vierjähriger Teilnahme ein Examen am Ministerium ablegen und eine Genehmigung zur Ausübung des Fotografenberufs erhalten. Im Atelier Lichtbildnerei Hugo Erfurth, das sich im Palais Lüttichau befand, erwarb sich Seraidari, wie sie selbst hervorhebt, die ersten soliden Grundlagen in der Technik der Porträtfotografie und der Abbildung von Kunstwerken.4Während ihrer Studienzeit erstellte sie Abbildungen von Gemälden der Maler Oskar Kokoschka und Otto Dix. Allerdings haben sich in ihrem Archiv keine Negative dieser Arbeiten erhalten. Im Verlauf ihres Berufslebens hat sie sich nur sehr selten mit dem Fotografieren von Kunstwerken beschäftigt. In einem Brief an den Fotografiehistoriker Bodo von Dewitz vom 12.04.1991 schreibt Seraidari, dass sie in Erfurths Atelier „grundlegende und solide Fundamente für ihre spätere fotografische Arbeit“ erhielt („His teaching gave me sound foundations form y later works in photography“) (Beckmann, 1992, 81).

    Sie lernte, großformatige Fotoapparate (18 x 24 cm) zu handhaben, Kontaktabzüge von Glasnegativen herzustellen, mit Retuschen Eingriffe auf Negativen vorzunehmen und sich der Lichtquellen mit großem Geschick so zu bedienen, dass sie ihr Modell zu rechter Geltung brachten. Erfurth setzte häufig drei Lichtquellen ein (High Key Aufnahme/High-key lighting), die so platziert wurden, dass es zu keinen übermäßigen Schattenbildungen auf dem jeweils porträtierten Gesicht kommen konnte. Seraidari erinnert sich, dass Erfurth sie beim Lehren dieser Technik als Modell einsetzte und sie dabei ein Kopftuch tragen ließ (Beckmann, 1992, 82). Er fotografierte sie frontal, wobei er nur einen Teil ihres Gesichts und ihrer Hände unbedeckt ließ. Der ausdrucksvolle Blick der abgebildeten Person ist ein besonders intensives Charakteristikum, dem wir auf den ernst und statisch wirkenden Porträts Erfurths begegnen.

    Seraidari machte sich auch mit Techniken der Herstellung von Abzügen vertraut (dichromatischer Gummi-, Öl- und Bromöldruck). Diese Methoden invasiver Bildbearbeitung zielten darauf ab, die Schärfe, die das gläserne Negativ vermittelte, abzumildern, so dass die endgültigen Bilder eher an Werke der Malerei denken ließen (Piktorialismus). Während der Phase, in der die junge Künstlerin diese Techniken erlernte, benutzte sie häufig Glasnegative ihres Lehrmeisters. In ihrem Archiv haben sich entsprechende, allerdings von ihr selbst signierte Beispiele erhalten, was dazu geführt hat, dass es schwerfällt, diese von ihren Schülerarbeiten insgesamt zu unterscheiden.

    Die Lehrzeit im Studio von Franz Fiedler

    Nach etwa zwei Jahren Aufenthalt im Atelier Erfurths entschloss sie sich, ihre Ausbildung dort abzubrechen, um andere Erfahrungen im Fotoatelier des damals noch jungen Franz Fiedler (1885-1956) zu sammeln. Ebenfalls einstiger Schüler Erfurths, hatte dieser sich inzwischen von der Ästhetik seines Lehrers entfernt und der Denkungsart Rudolf Dührkoops (1848-1918) verschrieben, was die grafische Wiedergabe seiner Fotografien anbelangt (Piktorialismus: Fotografie als Nachahmung von Malerei).5Fiedler arbeitete in den Jahren 1907 und 1908 im Studio von Hugo Erfurth. Er assistierte ihm bei der Herstellung von Abzügen im Meterformat, die 1909 anlässlich der Internationalen Photographischen Ausstellung in Dresden gezeigt wurden. Fiedlers Fotoatelier befand sich seit 1919 in der Sedanstraße 7. Bei Dührkoop hatte er bis zur Eröffnung seines Dresdener Ateliers 1919-1920 gearbeitet. Seraidari hatte in seinen Arbeiten ein abweichendes, ‚frischeres‘ Herangehen auf dem Feld der Porträtfotografie wahrgenommen. Allerdings sind Erfurth wie Fiedler in der Geschichte der deutschen Fotografie als ‚konservative‘ Fotografen eingestuft worden, die von der Strömung der Neuen Fotografie, also der Hinwendung zur „reinen Fotografie“ unbeeinflusst blieben, welche sich andere ihrer Kollegen zu eigen gemacht hatten (Dufek, 2005, 77).

    In Fiedlers Werkstatt lernte Seraidari, den Fokus auf leichte Distanz zum abzubildenden Gesicht zu setzen und einen Teil des Körpers miteinzubeziehen, um so Wesen und Charakter des Modells sichtbar werden zu lassen. Abgesehen von der perfekten Beleuchtung legte Fiedler besonderen Wert auf die Wiedergabe der menschlichen Physiognomie. In diesem Sinne verfasste er auch Artikel für die Zeitschrift Deutscher Kamera Almanach, in denen er Ratschläge zur Beleuchtung und Positionierung der Modelle, aber auch Vorgehensweisen dazu vermittelte, wie ein Fotograf der Psychologie des Abzubildenden nahekommt, um ein gelungenes Porträt zu erzielen.6Später verwendete Fiedler in seinem 1934 unter dem Titel Porträt Photographie in Umlauf gekommenen, der weiteren Unterstützung angehender Fotografen zugedachten Buch Skizzen, nach denen die Eigenheiten einer Persönlichkeit je nach Größe und Form ihres Kopfes hervorgehoben werden konnten (Fiedler, 1934, 191-195).

    Das erste Nelly’s-Fotoatelier in der Ermou-Straße

    Im Dezember 1923 ging Seraidari mit dem Prädikat „Sehr gut“ von Fiedlers Schule ab und vereinigte sich im folgenden Jahr wieder mit ihrer Familie in Athen. Im Frühling 1924 eröffnete sie in der Ermou-Straße 49 (alte Zählung der Hausnummern) ihr erstes Fotostudio mit einer Ausrüstung, die sie nach Ratschlägen Fiedlers auf der Leipziger Messe erworben hatte.7An diesem Ort blieb Seraidari bis Sommer 1931. Danach verlegte sie ihr Atelier an einen neuen, größeren Ort in der Ermou-Straße 18 („Privater Mietvertrag“ unter dem Datum 14.07.31, Sammlung American College of Greece).

    Damals waren in Athen schon 46 Fotostudios tätig, in deren Tätigkeitsbereich sich bereits Professionelle aus Kleinasien wie Nikolaos Zografos (1881-1967) und Andreas Kokkonis eingereiht und der ästhetischen Weiterentwicklung des Mediums frisches Blut zugeführt hatten.8Nikolaos Zografos, in Smyrna geboren, studierte Fotografie in Paris und Berlin. Anschließend kehrte er an seinen Geburtsort zurück, wo er im Chatzistamou-Gang (Seitenstraße der Evropis-Straße) ein Fotoatelier eröffnete. Nach der Katastrophe in Smyrna kam er als Flüchtling nach Athen und eröffnete im Stadtzentrum (Ermou-Straße 6 bzw. 10) ein Atelier (Xanthakis, 2008, 284-285). Dominierend war vor Ort die Präsenz der Männer, während die wenigen Frauen, die damals als Fotografinnen arbeiteten, eher im Verborgenen agierten.9In dieser Zeit waren wahrscheinlich Josephine, die Frau Carl von Boehringers, und Lilika, Tochter von Aristotelis Romaidis, die Mitte der 1910er Jahre nach dem Tod ihrer Angehörigen den Betrieb der Ateliers übernommen hatten, geschäftlich aktiv (Xanthakis, 2008, 173-174, 279). Noch über die eben genannten Kleinasiaten hinaus ragten auf dem Feld der Porträtfotografie Georgios Boukas (1879-1941, er betrieb ein Atelier in der Filellinon-Straße),10Jeorjios Boukas (Boujoukas) wurde in Mytilini geboren, wuchs aber in England auf, wo er auch die Kunstfotografie erlernte. 1917 ließ er sich in Athen nieder und eröffnete ein Fotoatelier in der Odos Filellinon (Xanthakis, 2008, 291-295). Ioannis Jeorgalas (1893-1973, bekannt unter dem Beinamen Photo-Radio) und Evangelos Michail Evangelidis (Mitglied einer großen makedonischen Fotografenfamilie) hervor, dem das Unternehmen Photo-Eva in der Evangelistrias-Straße gehörte.

    Im Vorraum ihres klein bemessenen Fotoateliers stellte Nelly Beispiele ihrer Arbeiten aus, um Kundschaft anzuziehen. Dabei hängte sie auch manchen Abzug an die Wände, den sie in Dresden von Negativen Erfurths gefertigt hatte. Im Salon empfing sie dann ihre Kunden, denen sie im Bemühen, sie näher kennenzulernen, viel Gesprächszeit widmete, – so, wie es sie Fiedler gelehrt hatte.

    Die bürgerliche Gesellschaft Athens wurde (wie Seraidari einst selbst beim Studium der Fotografien Fiedlers) auf ihre ‚frischen‘ Ideen aufmerksam, und die junge Fotografin war bald sehr gefragt. Sie fotografierte Angehörige der königlichen Familie, Persönlichkeiten aus der politischen Welt und namhafte Mitglieder der griechischen Gesellschaft wie Schriftsteller, Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler und Journalisten, dazu auch bedeutende ausländische Persönlichkeiten aus der künstlerischen Welt, die Athen besuchten.

    Nelly gelang es, in ihren Porträts die Techniken der klassischen Fotografie, die man sie gelehrt hatte, d.h. Harmonie, Symmetrie und kompositorische Balance, mit ihrem persönlichen Stil zu verschmelzen. Dabei verweist das von ihr in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit in Athen (1924-30) realisierte und vor Ort etablierte Œuvre immer auch auf jenes ihrer beiden Lehrer. Bei den Männerbildnissen scheint sie mehr die kompositorische Strenge Erfurths verinnerlicht zu haben. Bei stets sorgfältigem Einsatz ihrer Beleuchtungstechnik galt all ihr Augenmerk dem Kopf des Modells, wobei sie die Augen des Porträtierten teils durchdringend auf den Betrachter richten, teils ihm – als ob niemand zugegen sei – ausweichen ließ. Im Gegensatz dazu übernahm sie bei Frauen das ästhetische Bewegungsmoment Fiedler’scher Porträts (Abb. 1). Nach ihrer Ankunft in Griechenland versorgte sie sich mit Pelzen, schwarzsamtenen Schärpen und glitzernden Stoffen, die ganz und gar denen entsprachen, die sie in Deutschland einzusetzen gelernt hatte, und bot sie den Damen an, um damit ihre Schultern zu bedecken bzw. sie dazu zu bringen, interessante, bis ins Sinnliche reichende Posen einzunehmen. Anschließend bearbeitete sie die Negative so, wie es ihre Lehrer ihr gezeigt hatten, und korrigierte dementsprechend kleine Unvollkommenheiten, sorgte für einen neutralen Hintergrund und bestimmte das Rahmenformat.

    Die Abzüge ihrer Arbeiten mit der Bromoil-Methode erbrachte ihr das erwünschte Resultat im Stil des Piktorialismus. Deren Herstellung allerdings, so erklärte sie Fani Konstantinou, die als Verantwortliche für die Fotoarchive des Benaki-Museums Nellys Archiv Mitte der 1980er Jahre übernahm, war keine leichte Sache.11Gespräch zwischen Seraidari und Fani Konstantinou (Benaki-Museum/Fotografische Archive, handschriftliche Notizen der Letzteren beim Empfang der Archive [1985-1989]). Das Papier dazu war ziemlich teuer und mit der schlechten Qualität bzw. dem unerwartetem Ausfall des Wassers im damaligen Athen konfrontiert. Nach 1930 gab sie diese Abzugsmethode auf und ging im Sinne eines ‚klareren‘ Bildergebnisses zu schwarzweißen Fotopapieren in warmen Tönen über. Darüber hinaus griff sie bei den Glasnegativen nicht mehr mit malerischen Mitteln ein, denn sie verwendete nun Gelatine-Negative, als deren Resultat ein Wechsel des ästhetischen Effekts zu beobachten ist. Im Übrigen verfolgte Seraidari während ihrer ganzen beruflichen Tätigkeit stets und genau die Entwicklung fotografischer Techniken und erprobte dabei neue Apparate und Bearbeitungsmethoden.12Sie war auch die erste griechische Fotografin, die sich mit Farbfotografie beschäftigte. 1937 besuchte sie Deutschland, wo sie einen Fotoapparat vom Typ Bermpohl erwarb und in Hemelingen an Johann Herzogs Unterrichtstunden für Duxochrom-Farbfotografie teilnahm.

    Tanzfotografie in Dresden

    In Dresden stand die Verbreitung des modernen Ausdrucktanzes vornehmlich in Zusammenhang mit dem Wirken der 1914 gegründeten Schule Mary Wigmans. Erfurth war einer der ersten Fotografen, die eng mit der Schule zusammenarbeiteten,13„Ich war der erste, der schon seit 1908 die Tänzerinnen Wiesenthal und Sent M’ahesa in schneller Bewegung und mit Kunstlicht aufgenommen habe“ (zit. nach Boudouri, 1997 [Χορευτική φωτογραφία…], 97). und der Tänzer mit starkem Kunstlicht bei intensiven Bewegungen und Sprüngen aufgenommen hat. Laut Irini Boudouri „stehen die hinreißenden, von Erfurth geschaffenen Aufnahmen Mary Wigmans in engem Konnex zu Seraidaris frühen, thematisch und stilistisch davon nicht unbeeinflusst gebliebenen Aufnahmen“ (Boudouri, 1997 [Χορευτική φωτογραφία…], 22).

    Allerdings war Seraidaris Status während ihrer Ausbildung in Erfurths Studio lediglich der einer Beobachterin, ohne direkt in den fotografischen Arbeitsprozess eingebunden zu sein. Aktiv beschäftigte sie sich mit Tanzfotografie erst im Laufe ihrer Ausbildung bei Fiedler. Bei den fotografischen Aufträgen, die ihr Lehrmeister in der Zeit zwischen 1922 und 1923 übernahm, half sie ihm bei den Aufnahmen, entwickelte diese dann und stellte die Abzüge her.14Anlässlich eines Interviews, das sie 1995 dem deutschen Kunsthistoriker Matthias Harder gab, erwähnte sie, dass Fiedler Vertrauen in ihre Arbeit hatte (Harder, 2001, 94). Eines Tages ermutigte er sie sogar, selbst Tänzerinnen der Mary-Wigman-Schule in seinem Studio zu fotografieren und akzeptierte gleichzeitig ihren Vorschlag, ihre Aufnahmen in der damaligen Sächsischen Schweiz im Freien zu vervollständigen.15Wahrscheinlich sind auf den Bildern die Tänzerinnen Hanya Holm und Yvonne Georgi zu sehen.

    Gewagt, aber nicht abweichend vom damals Gewohnten war Seraidaris Vorschlag, die Tänzerinnen unbekleidet zu fotografieren. Sie selbst berichtet:

    Zu Fiedler kamen viele Tänzerinnen, um sich fotografieren zu lassen, und einige unter ihnen waren bereit, auch nackt zu posieren – in diesem Genre war Fiedler, das kann ich sagen, einzigartig. Vom Beginn meiner Ausbildung an habe ich solche Aufnahmen miterlebt. Ich war begeistert und erwarb mir dabei auch einiges an eigener Erfahrung (Kasdaglis, 1989, 53, 56).

    Die Tänzerinnen wurden als Nymphen und Waldfeen beim Tanz in der Natur dargestellt. Die dabei entstandenen Fotografien sind eindrucksvolle Studienarbeiten, an denen das Potential und die erstaunliche Ausdrucksfreiheit der jungen Fotografin sichtbar werden. Sie zeigen ihre fotografische Intuition, ihre wache Präsenz, ihr Verständnis für den modernen Tanz und lassen uns die großen fotografischen Momente der Seraidari auf der Akropolis vorausahnen.

    Ihr Lehrer war von dem Ergebnis so beeindruckt, dass er den Herausgeber des Vitus-Verlags bat, einige ihrer Fotografien in den Band aufzunehmen, den er gerade vorbereitete. So wurden 1924 erstmalig sechs ihrer Bilder zusammen mit drei Bildern von Fiedler und anderen damals namhaften Fotografen wie Magnus Weidemann, Lotte Herrlich und Kurt Oelzner in das Album Ideale Körper-Schönheit aufgenommen.

    „Tanzend auf der Akropolis“

    Mit ihrer Ankunft in Griechenland brachte Seraidari auch die Tanzfotografie ins Land. Im Oktober 1925 hielt sich Mona Paiva, Primaballerina der Opéra Comique de Paris in Athen für eine Reihe von Vorstellungen im Nationaltheater auf. Von ihrer Schönheit und ihrer Anmut der Bewegung entzückt, lud sie Seraidari in ihr Atelier ein, um Aufnahmen von ihr zu machen. Doch der kleine Raum schränkte sie in ihrer Bewegungsfreiheit ein, und so schlug Seraidari vor, mit den Aufnahmen auf der Akropolis fortzufahren. Nachdem sie sich die Genehmigung besorgt und dazu den namhaften Archäologen Alexandros Filadelfeas als Begleiter gewonnen hatte, bestiegen sie eines Nachmittags den Heiligen Felsen, wo Seraidari die Paiva unter dem milden Licht des attischen Himmels beim Tanz inmitten der Monumente ablichtete. Seraidari versichert, dass in dem Augenblick, in dem die Tänzerin sich umzog, die Sonnenstrahlen die Plastizität ihres strahlend weißen Körpers sichtbar werden ließen und schlug ihr vor, sie nackt zu fotografieren – wie sie es zwei Jahre zuvor in der Landschaft der Sächsischen Schweiz gemacht hatte (Kasdaglis, 1989, 1001). Die wagemutige Tänzerin willigte ein und posierte mit zurückhaltenden tänzerischen Bewegungen inmitten der antiken Monumente (Abb. 2).

    Im wesentlichen wiederholte Nelly in Griechenland das, was sie zwei Jahre zuvor als Schülerin Fiedlers getan hatte, d.h. so, wie sie die Tänzerinnen Mary Wigmans mit ihren Kostümen im Studio ihres Lehrers und anschließend in der Landschaft der Sächsischen Schweiz aufgenommen hatte, verewigte sie nun in Athen Mona Paiva in ihrem kleinen Fotoatelier und danach in tänzerischer Bewegung auf der Akropolis. Der Grund für die Wahl des antiken Monuments als Szenerie für ihre Bilder ist möglicherweise in ihrer hellenozentrischen Bildung und ihrer Bewunderung für die klassische Antike zu finden, in welcher sie hauptsächlich auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln war. Aus Aydıngebürtig, hatte sie zuvor noch nie eine Reise nach Griechenland gemacht, und so war es bei ihrer Ankunft in Athen das erste Mal, dass sie dem Heiligen Felsen gegenüberstand. Das Bild, das sie bisher von der antiken Welt in sich getragen hatte, hatte sich in ihrer Phantasie über die Erzählungen ihres Vaters herangebildet, der seine Bewunderung für die griechische Kultur an sie weitergab. Im Juni 1924 hatte sie Miltiadis Lidorikis im Gespräch über ihre fotografischen Lehr- und Studienjahre den Wunsch anvertraut, daran anknüpfende „griechische, in antike Umgebung eingebettete“ Kompositionen zu erschaffen, und sie suche für diesen Zweck „eine Reihe griechischer Schönheiten“.16Miltiadis Lidorikis, „Nelly’s“, Ztg. Ελεύθερον Βήμα/Freie Tribüne (28. Juni 1924, Abschrift des Artikels in Kapojannopoulou & Kourjandakis, 1998, 81). Realisiert werden diese Aufnahmen mit der Paiva zu einer Zeit, in der man auf intensiver theoretischer und künstlerischer Suche nach der historischen Fortsetzung des Griechentums ist, und – wie Isadora Duncan berichtet – auf ebensolcher Suche nach Spuren „antiker Kultur im persönlichen Wesen heutiger griechischer Bürger“ (Glytzouris, 1998, 166). Im selben Zusammenhang nehmen auch die Bemühungen um eine Wiederbelebung des antiken Theaters und Tanzes Gestalt an, wie man auch damit begonnen hat, die traditionelle griechische Musik und die Volkskunst als Quelle der Inspiration aufzuarbeiten.

    Als die Nacktfotos mit Mona Paiva wenige Tage nach den Aufnahmen in den Zeitungen Nea Imera und Eleftheron Vima veröffentlicht wurden,17Vgl. Filadelfeas (21.10.1925) und (22.19.1925). Die von Marianna Karali aufgefundenen Publikationen führten zur Korrektur des Aufnahmedatums der umstrittenen Fotografien (Karali, 2013, 59-92). lösten sie in der konservativen Athener Gesellschaft der Zwischenkriegszeit großen Aufruhr aus. Teilweise beschuldigten Moralisten die Fotokünstlerin, das heilige Monument entweiht zu haben, während andere sich auf ihre Seite stellten und ihre künstlerische Gestaltungskraft hervorhoben.18Zur Debatte über die umstrittenen Aufnahmen von Mona Paiva auf der Akropolis in der griechischen Presse vgl. Karali, 2013, 79-84. Unter letzteren befand sich auch Pavlos Nirvanas, der in einem (von Nelly in ihrem Zeitungsausschnitt-Archiv sorgsam aufbewahrten) Artikel zu ihrer Verteidigung schrieb, die Griechen der Antike hätten den unbekleideten menschlichen Körper als höchsten Ausdruck der Wahrheit und Inkarnation des klassischen Ideals gepriesen.19„Ich protestiere im Namen der Olympischen Götter, die bekanntermaßen weiblich wie männlich nicht nur nackt einherschritten, sondern auch splitternackt in ihren Tempeln verehrt wurden“ (Nirvanas, 24.10.1925).

    Vier Jahre später sollte Nelly im November 1930 ein letztes Mal auf ihr Bildmotiv zurückkommen und uns dabei die schönsten, heute unmittelbar mit dem Namen ihrer Schöpferin verknüpften Tanzaufnahmen der Zwischenkriegszeit vermachen. Die russische Tänzerin Elizaveta Nikolska hielt sich für eine Reihe von Vorstellungen des Prager Nationaltheaters in Athen auf. Es ist wahrscheinlich, dass sie die Bilder mit Mona Paiva kannte, denn sie besuchte Nellys Fotoatelier und bat persönlich darum, auf der Akropolis fotografiert zu werden. Ohne inszenatorische Absicht, aber mit voller Hingabe und in absolutem Einklang mit der Choreographie brachte es Nelly zuwege, die junge Tänzerin mit ihrem hauchdünnen Umhang im Augenblick eines Sprungs wie schwerelos vor den kraftgeladenen Säulen des Parthenon abzubilden. Trotz der in der Zwischenkriegszeit noch begrenzten fototechnischen Möglichkeiten gelang die Wiedergabe der Dynamik der tänzerischen Bewegung in künstlerischer Vollendung.

    Auf stilistisch anderem Terrain bewegten sich die Aufnahmen, die sie im Rahmen der Delphischen Festspiele machte. Dank der Vermittlung von Pinelopi Delta übernahm Seraidari die exklusive fotografische Dokumentation des Ereignisses. Für ungefähr einen Monat hatten ihr Ehemann und sie ein kleines Haus gemietet, um täglich die Proben für die geplanten Aufführungen antiker Dramen mitverfolgen zu können. In diesem Zeitraum befasste sie sich gründlich mit der jeweiligen Thematik und hielt, von deren Choreographie inspiriert, die Schauspieler im Bild fest. Vor dem Hintergrund des antiken Theaters von Delphi wurden die Chormitglieder in Posen abgelichtet, die auf die Figuren antiker Vasenmalerei verwiesen. Auf ähnliche Weise hatte sie 1927 in ihrem Atelier auch Eva Palmer und ihre Mitarbeiterinnen bei der Vorbereitung der ersten Delphischen Festspiele abgebildet.20Die Negative zu diesen Studio-Aufnahmen fanden sich im Archiv von Elly Sougioultzoglou-Seraidari in einer Pappschachtel mit der Aufschrift „Delphische Festspiele 1927“. Von den Organisatoren genehmigte Aufnahmen wurden in Briefkarten-Format gedruckt und außerhalb des archäologischen Geländes zum Kauf angeboten. Damit trugen sie dazu bei, dass Angelos Sikelianos’ „Delphischer Versuch“ in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

    Das Festspielprogramm umfasste eine Aufführung des Gefesselten Prometheus, ein Konzert mit byzantinischer Musik, von örtlichen Ensembles gebotene Volkstänze und Volkslieder, Leichtathletik- und Reiterwettkämpfe und Ausstellungen von Kunsthandwerk. Zwei der Männer, die an den Sportwettkämpfen teilnahmen, fotografierte sie vor dem Hintergrund der delphischen Landschaft nackt im antiken Stadion. Dies war indes nicht das erste Mal, dass sie sich mit der Fotografie männlicher Akte beschäftigte. In Fiedlers Dresdener Atelier hatte ein junger Mann für sie posiert, und eine dieser Aufnahmen wurde in dem Band Ideale Körper-Schönheit veröffentlicht (17). Zwei Monate, nachdem sie sich in Athen niedergelassen hatte, fotografierte sie – zunächst in ihrem Atelier, anschließend vor dem Hintergrund des Parthenon – den aus Smyrna stammenden Athleten Dimitris Karampatis.21Die Aufnahme wurde im Februar 1925 in der Ikonografimeni veröffentlicht. Weder hinderten sie ihr jugendliches Alter noch ihr Geschlecht daran, dieses für die Verhältnisse in der griechischen Hauptstadt avantgardistische Bild zu publizieren. Bestimmend dafür waren ihre Vertrautheit mit dem fotografischen Genre und die Erfahrungen aus ihren Ausbildungsjahren.

    Rundreise mit Franz Fiedler durch die griechische Provinz

    Auch vom Wunsch angetrieben, ihr zweites Heimatland genauer kennenzulernen, bereiste Seraidari die griechische Provinz und erstellte dabei ein ganzes Griechenland-Panorama der Zwischenkriegszeit. Als Griechin der Diaspora ließ sie fotografisch ein „idyllisches“ Land erstehen, in dem Mensch und Landschaft in harmonischer Gemeinschaft und natürlichem Gleichgewicht miteinander leben. Kürzlich betriebene Nachforschungen brachten zutage, dass sie während ihrer ersten Fotorundreise durch die Peloponnes und Kreta im Jahre 1928 von Fiedler begleitet wurde.22Diese Tatsache bestätigen Porträtfotos der beiden, die im Hintergrund Iraklio/Kreta zeigen und im Archiv Seraidaris gefunden wurden, ebenso der Vergleich mit den nur wenigen Griechenland-Aufnahmen ihres deutschen Lehrers, die zusammen mit solchen seiner Schülerin in Institutionen des Auslands verwahrt werden.

    Den Fotoapparat unterm Arm, verwirklichte einer neben dem anderen eine gemeinschaftliche Reise optischer Spurensuche und erforschte ihnen bisher unbekannte Örtlichkeiten.23Kurz bevor Fiedler unser Land besuchte, hatte er zwei Linsen (Typ sharp focus Tele-Tessar und „soft“ focus Busch-Perscheid) für seinen Fotoapparat (Mentor Siegelreflexkamera 9×12) und dazu ein spezielles Einfuß-Stativ, das er sich von der Firma Mentor-Kamera hatte anfertigen lassen und das ihm bei seinen Fußmärschen auch als Wanderstab diente. Dies nur einfüßige, zur jeweils gewünschter Länge ausziehbare Stativ vermochte eine Kamera für Aufnahmen von bis zu einer Sekunde Dauer stabil zu halten (Fiedler 1928, 110). Ihre Motive suchten sie sich in der Natur und fingen die Gegebenheiten der jeweiligen Gegend im Bild ein, indem sie bald den Blick auf die Wildheit ihrer Bergwelt, bald, um ihren schroffen Charakter abzumildern, auf die üppige Vegetation richteten. In die ausführliche bildliche Wiedergabe griechischer Landschaften bezogen sie byzantinische Klöster und bukolische Aufnahmen von Männern, die ihre Herden hüteten, sowie Wolle spinnende Frauen ein. Seraidaris Lehrer drängte sie als Meister des Porträtfotos dazu, die Menschengestalten der griechischen Landschaft bildlich einzufangen – ein Thema, das sie zum ersten Male fotografisch umsetzte. Mit diesem fotografischen Verfahren auf gleichen Pfaden unterwegs, positionierten sie ihre Modelle vor neutralem Hintergrund, isolierten sie von dem sie umgebenden Raum und machten von ihnen Aufnahmen, die ihre markanten Gesichtszüge so zur Geltung brachten, wie sie es gemacht hätten, wenn sie sich im Atelier befunden hätten. Studiert man ihre Arbeiten im Vergleich, will es scheinen, als richteten die Abgebildeten ihren Blick im einen Moment auf Seraidaris Fotolinse, im anderen auf die Kamera ihres Lehrmeisters (Abb. 3).

    Fiedler leitete die junge Fotografin nicht nur bei der Wahl ihrer Themen, sondern auch bei der Art und Weise ihrer Umsetzung an; dabei formte er in ganz erheblichem Maß ihren Blick und in diesem Sinne auch die fotografische Darstellung des Landes. Als Seraidari gegen Ende der 30er Jahre die griechische Peripherie abermals ausgiebig bereist, wird sie sich vom Einfluss ihres Lehrers allerdings absetzen. Sie wird dazu aufgerufen, einen Beitrag zum Bemühen des Staats zu leisten, ein „touristisches Bewusstsein“ heranzubilden und den „Begriff Griechenland mit optischen Inhalten aufzufüllen“ (Boudouri, 1997 [Ελληνική Ύπαιθρος…] 94), indem sie die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift In Greece/En Grèce/Griechenland mit Aufnahmen illustriert, die das Staatssekretariat für Presse und Tourismus von 1933 bis 1936 herausgibt. Auf ihren Rundreisen durch Epirus (1937/38) und Kreta (1939) dokumentiert Seraidari dann die traditionelle Lebensweise mit sehr überlegt inszenierten Bildern, auf denen bei Betonung ihres solidarischen Zusammenhalts eine freundlich lächelnde Landbevölkerung voller Zukunftsoptimismus gezeigt wird.

    Seraidari hat der Geschichte der Fotografie als Erbe ein bezauberndes Bildzeugnis für das Griechenland und die Griechen der Zwischenkriegszeit vermacht und dabei in ihrem so vielschichtigen wie umfangreichen Œuvre Wagemut, Beobachtungsgabe, handwerklich-künstlerische Vollendung, fotografische Zielgenauigkeit und sicheres ästhetisches Empfinden miteinander in Einklang gebracht. Für die Ausbildung ihres ganz eigenen Blicks, der sie von den Athener Kollegen unterschied, war ihre Studienzeit in Deutschland entscheidend. In all den Jahren ihrer aktiven Zeit, von 1924, als sie sich in Griechenland niederließ, bis 1939, als sie nach Amerika übersiedelte, entwickelte sie sich ständig weiter. Voll tiefer Liebe zu ihrem Beruf, aber auch unter dem Anerkennungsdruck einer männlich dominierten Umgebung, war sie auf der Suche nach neuen Methoden, experimentierte mit verschiedenen Techniken und verlieh so ihrem ganz persönlichen fotografischen Blick Form und Gestalt.

    Zusammenfassung

    Elly Sougioultzoglou-Seraidari, bekannt als Nelly’s, wurde 1899 im kleinasiatischen Aydın geboren. Nach ihrer 1920 in Smyrna abgeschlossenen Gymnasialzeit reiste sie nach Dresden, um dort Musik und Malerei zu studieren. Die in Kleinasien herrschenden unsicheren Zustände bewogen sie, sich gleichzeitig der Fotografie zuzuwenden, die ihr ein zuverlässiges Auskommen sichern würde. Anfangs nahm sie bei dem namhaften Fotografen Hugo Erfurth, einem Vertreter der klassischen Fotografie, Unterricht, später dann bei dessen jungem Schüler Franz Fiedler, aus dessen Schule sie 1923 mit der Note „Sehr gut“ abging.

    Seraidari wurde in Porträtfotografie und der weitverbreiteten Bromoil/Öldruck-Technik ausgebildet, mit der man den Fotoarbeiten eine piktorialistische Anmutung verlieh. Parallel dazu verfolgte sie mit, wie ihre Lehrer Tänzerinnen bildlich verewigten, hauptsächlich Vertreterinnen der relativ neuen Bewegung des Ausdruckstanzes, und zwar in Bewegung und nicht in im Voraus festgelegten Posen. Nachdrücklich von Fiedler ermutigt, fotografierte sie selbst zwei herausragende Tänzerinnen aus der Schule Mary Wigmans, und zwar sowohl im Atelier wie in der Landschaft der damaligen Sächsischen Schweiz.

    1924 ließ sich Seraidari in Athen nieder, wo sie ein Jahr später ihr erstes Fotostudio einweihte. Die Athener Gesellschaft erkannte sehr bald die besondere und für die Verhältnisse der griechischen Hauptstadt neuartige Ästhetik ihrer Aufnahmen und strömte in ihr kleines Atelier, um von sich Aufnahmen machen zu lassen. Die Anwendung der Techniken, die man Seraidari gelehrt hatte, führte dazu, dass sich ihre Porträts von den sonstigen Personenaufnahmen der Zwischenkriegszeit unterschieden und innerhalb eines von Männern dominierten Berufszweigs der Stadt Bekanntheit erlangten.

    Ebenfalls deutsch beeinflusst und inspiriert sind auch die von ihr auf der Akropolis realisierten Tanzfotografien. Es handelt sich dabei um die 1925 entstandenen Aufnahmen der Primaballerina der Opéra Comique de Paris Mona Paiva, die für Furore in der damaligen konservativen Gesellschaft sorgten, desgleichen um Bilder mit der Russin Nikolska, die fünf Jahre später im Augenblick eines Sprunges vor den mächtigen Säulen des Parthenons abgebildet wurde. Ganz dem zeitgenössischen Trend entsprechend gehen die Aktstudien im Atelier wie vor dem Hintergrund klassischer Monumente auf eine Spurensuche nach dem klassischen Ideal und einer Idealisierung des menschlichen Körpers. Mochte auch die Naziideologie den theoretischen Untergrund abgeben, auf dem die schöpferische Arbeit bedeutender deutscher Fotografen basierte: die beherrschenden Koordinaten in Nellys Schaffen blieben ihre hellenozentrische Bildung und ihr romantisches Naturell.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Joachim Winkler 

    Einzelnachweise

    • 1
      Die Informationen, die wir über ihre Lebensjahre in Kleinasien und Dresden besitzen, sind spärlich; hauptsächlich lassen sie sich aus dem ersten und zweiten Kapitel des von ihr verfassten autobiografischen Textes schöpfen (Kasdaglis, 1989, Kapitel I u. II, 15-67).
    • 2
      Der Maler Ernst Oskar Simonson-Castelli gab in Dresden seit 1897 Malunterricht.
    • 3
      Ursula Richter war von 1916-1919 Schülerin Hugo Erfurths. Sie betrieb in Dresden bis 1935 ein Fotostudio und beschäftigte sich neben Ballett- und Tanzfotografie besonders mit Theaterfotografie (Schauspieler- und Sängerporträts). Ein von ihr geschaffenes Mary-Wigman-Porträt wurde 1926 auf der Fotografie-Ausstellung in Frankfurt am Main gezeigt.
    • 4
      Während ihrer Studienzeit erstellte sie Abbildungen von Gemälden der Maler Oskar Kokoschka und Otto Dix. Allerdings haben sich in ihrem Archiv keine Negative dieser Arbeiten erhalten. Im Verlauf ihres Berufslebens hat sie sich nur sehr selten mit dem Fotografieren von Kunstwerken beschäftigt. In einem Brief an den Fotografiehistoriker Bodo von Dewitz vom 12.04.1991 schreibt Seraidari, dass sie in Erfurths Atelier „grundlegende und solide Fundamente für ihre spätere fotografische Arbeit“ erhielt („His teaching gave me sound foundations form y later works in photography“) (Beckmann, 1992, 81).
    • 5
      Fiedler arbeitete in den Jahren 1907 und 1908 im Studio von Hugo Erfurth. Er assistierte ihm bei der Herstellung von Abzügen im Meterformat, die 1909 anlässlich der Internationalen Photographischen Ausstellung in Dresden gezeigt wurden. Fiedlers Fotoatelier befand sich seit 1919 in der Sedanstraße 7.
    • 6
      Später verwendete Fiedler in seinem 1934 unter dem Titel Porträt Photographie in Umlauf gekommenen, der weiteren Unterstützung angehender Fotografen zugedachten Buch Skizzen, nach denen die Eigenheiten einer Persönlichkeit je nach Größe und Form ihres Kopfes hervorgehoben werden konnten (Fiedler, 1934, 191-195).
    • 7
      An diesem Ort blieb Seraidari bis Sommer 1931. Danach verlegte sie ihr Atelier an einen neuen, größeren Ort in der Ermou-Straße 18 („Privater Mietvertrag“ unter dem Datum 14.07.31, Sammlung American College of Greece).
    • 8
      Nikolaos Zografos, in Smyrna geboren, studierte Fotografie in Paris und Berlin. Anschließend kehrte er an seinen Geburtsort zurück, wo er im Chatzistamou-Gang (Seitenstraße der Evropis-Straße) ein Fotoatelier eröffnete. Nach der Katastrophe in Smyrna kam er als Flüchtling nach Athen und eröffnete im Stadtzentrum (Ermou-Straße 6 bzw. 10) ein Atelier (Xanthakis, 2008, 284-285).
    • 9
      In dieser Zeit waren wahrscheinlich Josephine, die Frau Carl von Boehringers, und Lilika, Tochter von Aristotelis Romaidis, die Mitte der 1910er Jahre nach dem Tod ihrer Angehörigen den Betrieb der Ateliers übernommen hatten, geschäftlich aktiv (Xanthakis, 2008, 173-174, 279).
    • 10
      Jeorjios Boukas (Boujoukas) wurde in Mytilini geboren, wuchs aber in England auf, wo er auch die Kunstfotografie erlernte. 1917 ließ er sich in Athen nieder und eröffnete ein Fotoatelier in der Odos Filellinon (Xanthakis, 2008, 291-295).
    • 11
      Gespräch zwischen Seraidari und Fani Konstantinou (Benaki-Museum/Fotografische Archive, handschriftliche Notizen der Letzteren beim Empfang der Archive [1985-1989]).
    • 12
      Sie war auch die erste griechische Fotografin, die sich mit Farbfotografie beschäftigte. 1937 besuchte sie Deutschland, wo sie einen Fotoapparat vom Typ Bermpohl erwarb und in Hemelingen an Johann Herzogs Unterrichtstunden für Duxochrom-Farbfotografie teilnahm.
    • 13
      „Ich war der erste, der schon seit 1908 die Tänzerinnen Wiesenthal und Sent M’ahesa in schneller Bewegung und mit Kunstlicht aufgenommen habe“ (zit. nach Boudouri, 1997 [Χορευτική φωτογραφία…], 97).
    • 14
      Anlässlich eines Interviews, das sie 1995 dem deutschen Kunsthistoriker Matthias Harder gab, erwähnte sie, dass Fiedler Vertrauen in ihre Arbeit hatte (Harder, 2001, 94).
    • 15
      Wahrscheinlich sind auf den Bildern die Tänzerinnen Hanya Holm und Yvonne Georgi zu sehen.
    • 16
      Miltiadis Lidorikis, „Nelly’s“, Ztg. Ελεύθερον Βήμα/Freie Tribüne (28. Juni 1924, Abschrift des Artikels in Kapojannopoulou & Kourjandakis, 1998, 81).
    • 17
      Vgl. Filadelfeas (21.10.1925) und (22.19.1925). Die von Marianna Karali aufgefundenen Publikationen führten zur Korrektur des Aufnahmedatums der umstrittenen Fotografien (Karali, 2013, 59-92).
    • 18
      Zur Debatte über die umstrittenen Aufnahmen von Mona Paiva auf der Akropolis in der griechischen Presse vgl. Karali, 2013, 79-84.
    • 19
      „Ich protestiere im Namen der Olympischen Götter, die bekanntermaßen weiblich wie männlich nicht nur nackt einherschritten, sondern auch splitternackt in ihren Tempeln verehrt wurden“ (Nirvanas, 24.10.1925).
    • 20
      Die Negative zu diesen Studio-Aufnahmen fanden sich im Archiv von Elly Sougioultzoglou-Seraidari in einer Pappschachtel mit der Aufschrift „Delphische Festspiele 1927“.
    • 21
      Die Aufnahme wurde im Februar 1925 in der Ikonografimeni veröffentlicht.
    • 22
      Diese Tatsache bestätigen Porträtfotos der beiden, die im Hintergrund Iraklio/Kreta zeigen und im Archiv Seraidaris gefunden wurden, ebenso der Vergleich mit den nur wenigen Griechenland-Aufnahmen ihres deutschen Lehrers, die zusammen mit solchen seiner Schülerin in Institutionen des Auslands verwahrt werden.
    • 23
      Kurz bevor Fiedler unser Land besuchte, hatte er zwei Linsen (Typ sharp focus Tele-Tessar und „soft“ focus Busch-Perscheid) für seinen Fotoapparat (Mentor Siegelreflexkamera 9×12) und dazu ein spezielles Einfuß-Stativ, das er sich von der Firma Mentor-Kamera hatte anfertigen lassen und das ihm bei seinen Fußmärschen auch als Wanderstab diente. Dies nur einfüßige, zur jeweils gewünschter Länge ausziehbare Stativ vermochte eine Kamera für Aufnahmen von bis zu einer Sekunde Dauer stabil zu halten (Fiedler 1928, 110).

    Verwendete Literatur

    Galerie

    Zitierweise

    Aliki Tsirgialou: «Elly Sougioultzoglou-Seraidari (1899-1998): Ihre fotografische Ausbildung in Dresden und die Rolle ihrer Lehrer bei der Ausbildung ihres fotografischen Blicks», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, URI : https://comdeg.eu/essay/131266/.