Einführung
Eine wichtige Säule von Kampyssis´ Aktivitäten ist sein Verhältnis zur deutschen Kultur (Veloudis, 1983, 357-359). Sein Austausch mit bedeutenden deutschen Dramatikern und Philosophen bereicherte sein ästhetisches und ideologisches Arsenal und trug Ende des 19. Jahrhunderts zum Transfer innovativer kultureller Konzepte nach Griechenland bei. Der Dramatiker lernte die Sprache Goethes dank einer jungen Bürgerstochter in Athen, für die er romantische Gefühle hegte; er wandte sich somit während seiner kurzen Wirkungszeit der deutschen Kunst zu und distanzierte sich vom Einfluss Frankreichs (Nikitas, 2020 [Dissertation], 84; Nikitas 2022: Anaparistontas to ethnos).1Zu Kampyssis΄ Verehrung der deutschen Sprache vgl. Kampyssis, 1901: „Grammata“. Xenopoulos zufolge war Athen gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus philologischer Sicht „eine Provinz Frankreichs“. Kampyssis träumte davon, sein Land in ein kulturelles Spiegelbild Deutschlands zu verwandeln (Xenopoulos, 30.10.1984). Seine kulturelle Vorliebe brachte ihn in Konflikt mit bestimmten konformistischen Kreisen der damaligen Zeit, die die Bildungssprache Katharevousa unterstützten. Im Rahmen der griechischen Sprachfrage bezeichneten sie die Demotizisten, also die Anhänger der Volkssprache Dimotiki, und die Neoromantiker abwertend als „Langhaarige“ (Matthiopoulos, 2005. 89). Allerdings hatte auch er seine Probleme mit den demotizistischen Gleichgesinnten (wie Psycharis, aber vor allem Eftaliotis), die seine Haltung in nationalen Fragen trotz seiner zunehmenden Begeisterung für die Megali Idea für wenig gefestigt hielten. Ihm wurde etwa seine pro-deutsche Haltung vorgeworfen, Eftaliotis bezichtigte ihn der „Nachtblindheit“2Nachtblindheit (umgangssprachlich), griech. Nyctalopia, in der Medizin auch Hemeralopie genannt, wird die Einschränkung der Sehfähigkeit bei Dämmerlicht bezeichnet. Offensichtlich war für Eftaliotis das, was Kampyssis als Licht interpretierte, Dunkelheit, daher das subtile Wortspiel., verblendet von der deutschen Herrlichkeit (Eftaliotis, 21.07.1899). Andere jedoch, wie Kostis Palamas, der Kampyssis als „Dichter der Zukunft“ (Palamas, 1900, 172) bezeichnete, verteidigten seinen Kosmopolitismus.3Zur Verteidigung von Kampyssis vgl. Palamas, 09.08.1899. Die Haltung des Dramatikers Kampyssis war natürlich, wie wir im Folgenden noch genauer zeigen werden, alles andere als die eines Abweichlers von nationalen Bestrebungen. Im Gegenteil, er sprach sich ausdrücklich für deren Intensivierung aus. Die Anziehungskraft der deutschen Kultur verleitete Kampyssis zu einem umfangreichen literarischen und kulturkritischen Schriftwerk, insbesondere zwischen 1898 und 1901. Er brachte die Errungenschaften der Nation Johann Gottfried Herders der Nation von Dionysios Solomos näher. Das wurde zu einem Moment intensiver Vertiefung der interkulturellen Verflechtungen zwischen den beiden Staaten.4Zur Verdichtung der deutsch-griechischen Verflechtungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, Mitsou, 2010, 129-140.
Um diese intensive Verdichtung zu verdeutlichen, konzentriert sich die vorliegende Mikrogeschichte zunächst auf die ästhetische Osmose des dramaturgischen Werks von Kampyssis mit deutschen Vorbildern (von Johann Wolfgang von Goethe und Richard Wagner bis zu Gerhart Hauptmann und Hermann Sudermann) und, des Weiteren, auf die philosophische Beschäftigung des Autors mit Intellektuellen aus Otto von Bismarcks Heimatland (von Arthur Schopenhauer über Karl Marx bis zu Friedrich Nietzsche). Besonderes Gewicht wird auf Primärquellen (kritische Artikel, Korrespondenz, Übersetzungen) gelegt, die sowohl Kampyssis΄ Sachkenntnis der deutschen Kultur als auch ihre durch ihn vorangetriebene Verbreitung während seiner kurzen Wirkungszeit (1893-1901) offenbaren. Neben den werkbiographischen Daten zeichnet dieser Essay Kampyssis΄ Deutschlandreise nach, die durch die Bekehrung des Autors zu Nietzsche eine transformative Dimension erhielt, und untersucht dazu den starken intertextuellen Dialog in seiner dramaturgischen Arbeit sowie seine philosophische Entwicklung. Durch die Hervorhebung der nationalen Bedeutung von Kampyssis‘ Handeln – mit seinem intensiven germanophilen Kosmopolitismus als Schlüsselpunkt – wird uns eine abschließende Bewertung der kulturellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten der beiden Nationen am Ende des 19. Jahrhunderts ermöglicht. Durch die Kombination von Werk, Vita und seiner Zeit wird somit eine ganzheitliche historiographische Betrachtung des kulturellen Engagements des Autors unternommen. Wie später noch dargelegt wird, orientierte sich Kampyssis an Westeuropa (insbesondere an Deutschland), um die dort aufkommenden ästhetischen und philosophischen Instrumente für eine griechische Renaissance zu nutzen.5Mein aufrichtiger Dank gilt Prof. Miltos Pechlivanos und dem wissenschaftlichen Ausschuss für den sehr förderlichen Dialog rund um diesen Essay.
Leben und Werk
Kampyssis wurde 1872 in Koroni, Messenien/Peloponnes, geboren.6Ausführliche biografische Angaben vgl. Nikitas, 2020 [Dissertation], 22-33; Tagkopoulos, 1923, 82-91. Sein Vater war Anastassios Kamvyssis [sic], ein Laien-Ikonenmaler, seine Mutter Kalliopi Triggeta. Jannis hatte eine Schwester, Sofia, die jedoch bereits in jungen Jahren verstarb. Später widmete er ihr ein ausgiebiges Gedicht. Ein jüngerer Cousin mütterlicherseits war der Dichter Takis Papatsonis. 1884 zog seine Familie nach Kalamata. 1888 schrieb sich Kampyssis an der Juristischen Fakultät in Athen ein, wohin ihm seine Eltern folgten. Seine deutschen Sprachkenntnisse wuchsen, als er die Bekanntschaft mit einer jungen Bürgerstochter machte. Über diese Beziehung haben wir zwar keine aussagekräftigen Details, der Kontakt war jedoch für den Autor prägend. Das wesentlichste literarische Zeugnis dieser Beziehung ist das nicht unterzeichnete Vorwort, das er anlässlich der Veröffentlichung seiner ersten Stücke verfasste. Dort hob er den modernistischen Charakter seiner Dramen hervor, ihren internationalen Horizont und ihre Verbindung zum Demotizismus. Im Folgenden werden wir uns auf die „deutschen Netzwerke“ beziehen, die der Autor auf seiner Deutschlandreise knüpfte. Nach Abschluss seines Studiums wurde er 1895 als Rechtsanwalt zugelassen, übte aber diesen Beruf nie aus. Zwei oder drei Jahre arbeitete er als Beamter im Finanzministerium. 1898 und kurz nach dem Türkisch-Griechischen Krieg von 1897 stellte er dort seine Arbeit dauerhaft ein und reiste nach Deutschland, von wo er 1899 zurückkehrte. Am 23. November 1901, einen Tag nach der Premiere von Euripides‘ Alkestis an der „Nea Skini“ (Neue Bühne) von Konstantinos Christomanos und einen Tag vor der Eröffnung des Königlichen Theaters mit seinem abwechslungsreichen Musik- und Theaterprogramm, starb Kampyssis, der chronisch an Lungenproblemen litt, im Alter von nur 29 Jahren.7Das Eröffnungsprogramm des Königlichen Theaters umfasste sowohl musikalische Aspekte wie Auszüge aus Opern von Wagner, Bizet und Samaras als auch dramaturgische Aspekte wie einen Monolog aus Maria Doxapatri von Vernardakis und Komödien von Koromilas (O thanatos tou Perikleous- Der Tod des Perikles) und Aninos (Zitite ypiretis – Diener gesucht) (Hadjipantazis, 2014, 318-321).
Kampyssis schrieb zwischen 1893 und 1901 insgesamt elf Theaterstücke, fünf soziale und fünf poetische Dramen sowie ein Drama im bürgerlichen Milieu (das im Hof einer einfachen Mehrparteienunterkunft spielt) (Nikitas, 2020 [Dissertation], 28-29). Ästhetisch eröffnen die Stücke einen Dialog vor allem mit dem Realismus und dem neoromantischen Leitbild (Symbolismus, Dekadenz) (Nikitas, 2020 [Dissertation], 278-280).8Zu europäischen Strömungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vgl. Schumacher, 1996, 1-12. Thematisch konzentrieren sich seine sozialen Dramen auf die Übel des zeitgenössischen Griechentums, seine poetischen Dramen auf die Legitimation der Megali Idea. Kampyssis‘ Beitrag zum modernen griechischen Theater ist von entscheidender Bedeutung, denn er lanciert neue Gattungen, insbesondere das soziale und das poetische Drama. Diese beiden dominierten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe von 1922, eine dramaturgische Periode, die Grigorios Xenopoulos später das „Theater der Ideen“ nannte (Xenopoulos, 1920, 324).9Für eine ausführliche Diskussion zum „Begriff »Theater der Ideen«, den Xenopoulos eingeführt hat“, mit einer Fußnote zum ersten Erscheinen des Begriffs 1920 vgl. Puchner, 2009, 359. Zum dramaturgischen Werk vgl. exemplarisch Blessios, 1996. Zur Entstehung und Einbindung der sozialen und poetischen Dramen vgl. Nikitas, 2020: „Anamesa sto astiko ke to poiitiko drama“, 217-238. Zu den bedeutenden typologischen Kontinuitäten und Brüchen sowohl in Bezug auf das historische Drama (vgl. Hadjipantazis, 2013; Nikitas, 2022: „Τheatro ke topiki istoria …“ ) als auch auf die Wiederkehr des poetischen Dramas vgl. Nikitas, 2022: „Ellinikotita ke laiki paradosi“. Zu einem unbekannten Aspekt der diesbezüglichen Dramaturgie, der Xenopoulos‘ dramatische Werke für Kinder in der Zeit zwischen 1896 und 1916 betrifft vgl. Nikitas, 2022: „O Grigorios Xenopoulos, …“. Kampyssis schrieb 1893 To mystiko tou gamou (Das Geheimnis der Ehe), es war das erste Gesellschaftsdrama und kam kurz vor dem Stück Psychopateras von Xenopoulos (1894) heraus. 1898 veröffentlichte Kampyssis das erste poetische Drama mit einer klaren Verbindung zum Traum- und Märchendrama Westeuropas, das Stück To daktylidi tis manas (Der Ring der Mutter). Damit ebnete er den Weg für Jannis Psycharis‘ Romeikos symvolismos (Neugriechischer Symbolismus) (Puchner, 1995, 15-76; Hadjipantazis, 2018, 275-282). Parallel zur Dramaturgie beschäftigte sich Kampyssis auch mit Lyrik, Prosa, Übersetzungen und Literaturkritik. Er schrieb für Zeitschriften wie Ikonografimeni Estia (auf Initiative des damaligen Direktors Xenopoulos), Techni von Kostas Chatzopoulos und To Periodikon mas von Jerassimos Vokos, bevor er selbst zusammen mit Boem (Mitsos Chatzopoulos, dem Bruder von Kostas Chatzopoulos) die Zeitschrift Dionysos gründete.10Kampyssis wurde 1894 zu ersten Mal in Presseartikeln erwähnt, die ich bei meinen jüngsten Recherchen entdeckt habe (Nikitas, 2021, 44-47). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Zeitschriften für die Rezeption der europäischen Kulturbewegung und Philosophie von besonderer Bedeutung waren.11Für Techni (Antoniou-Tiliou, 1990), To periodikon mas (Bakoyannis, 1994) und Dionysos (Karaoglou, 1992).
Vor allem Dionysos war stark nietzscheanisch geprägt und veröffentlichte sowohl Texte von Nietzsche als auch eine Reihe literarischer Werke von Goethe und Heine.
Die transformative Reise
Ende Oktober 1898 gelangte Kampyssis ins München der Theatermoderne, seinem Sehnsuchtsort, dem „Königsthron des Traums“, wie er in seiner Korrespondenz notierte.12Zum Zitat „Königsthron des Traums“ vgl. Kampyssis, 1936, 556 [Brief von 1898]. Zu München und der Theatermoderne vgl. Jelavich, 1985, 7-14. Zur Dauer von Kampyssis’ Deutschlandreise vgl. Glässel, 2004, 169. Während seines Deutschlandaufenthalts bis Ende Juli 1899 tauchte er leidenschaftlich in alle Facetten des deutschen Kunst- und Kulturlebens ein. Theater, Literatur, Musik und Malerei zogen ihn in ihren Bann und ließen ihn auch Reisen nach Berlin, Dresden und Bayreuth unternehmen. Er besuchte Aufführungen wie Frank Wedekinds Erdgeist, Hugo von Hofmannsthals Der Tor und der Tod und Gerhard Hauptmanns Die versunkene Glocke.13Zu entsprechenden Informationen vgl. Kampyssis, 1898, 46-47; 1936, 556 [Brief von 1898]. Er interessierte sich für radikale Kunstzeitschriften wie die literarische Jugend und den satirischen Simplicissimus und verschlang die Dramen von Oskar Panizza, den Sigmund Freud bewunderte.14In Jugend las Kampyssis Hofmannsthals Der T(h)or und der Tod vgl. Kampyssis, 1901: „Jermaniki Filologia. Grammata …“, 45-46; Hofmannsthal, 1899, 80-91. Zu einem Bericht von Kampyssis über den Simplicissimus vgl. Kampyssis, 27. Dezember 1900 und im Allgemeinen zu dieser Zeitschrift vgl. Allen, 1984, 121-123.
Bei seinen regelmäßigen Ball- und Opernbesuchen ließ er sich von Johann Strauss’ [Sohn] Musik verzaubern. Auf seinen ausgedehnten Rundgängen durch die Münchener Museen faszinierten ihn Arnold Böcklins Gemälde von Waldnymphen, Hirtengöttern und Tritonen, ausgedachte Figuren einer mythischen Ontogenese, und die Werke von Franz von Stuck, der chthonische femmes fatales mit der Schlange des Sündenfalls auf der Schulter darstellte. In einem ausführlichen Artikel mit dem Titel Die Malerei in Deutschland analysierte Kampyssis die Entwicklung der bildenden Künste im Land Goethes (Kampyssis, 1900: „Ι Zografiki …“). Seine intensive kulturelle „Nachschulung“ in den Offenbarungen der deutschen Kunst festigten die ästhetischen Anliegen, die ihn schon vor dieser Reise beschäftigten, und eröffneten ihm gleichzeitig neue Horizonte. Der wichtigste ideologische Wandel jedoch, der sich auf seiner Reise vollzog, war seine Abkehr vom Pessimismus Arthur Schopenhauers und seine Hinwendung zur Weltanschauung Friedrich Nietzsches. Weitreichendere Verflechtungen, die über die künstlerische Dimension hinausgehen, ergaben sich aus Kampyssis’ Einblicken in das soziale Gefüge Deutschlands. Wie beispielsweise sein Artikel Münchener Kuriositäten – Die Emanzipierten zeigt, kam er in der bayerischen Landeshauptstadt in direkten Kontakt mit emanzipatorischen Tendenzen. In seiner regelmäßigen Korrespondenz mit Kostantinos Chatzopoulos hielt er seine Ansichten zur sexuellen Freiheit und wirtschaftlichen Realität in Deutschland fest (Kampyssis, 1900: „Apo ta perierga tou Monachou …“).
Es lohnt sich, Kampyssis’ Untersuchung des deutschen Theaterwesens genauer zu betrachten (Nikitas, 2020: Anamesa sto astiko ke to poiitiko drama …“, 187–190). Wir werden uns aber auch mit dem „Kulturnetzwerk“ beschäftigen, das der Autor auf seiner Reise knüpfte. Kampyssis kannte die deutsche Kultur (und insbesondere das dramatische Theater) aus Büchern. Auf seiner Reise lernte er neue Aspekte kennen, die seine Interessen als Leser verschoben. Die Lektüre von Hauptmanns Theaterstücken war vor der Deutschlandreise für seine Dramaturgie von großer Bedeutung gewesen. Nun bereicherten ihn auch andere Dramen, die er ebenfalls las, aber auch besuchte, und die seine poetischen Dramen beeinflussten. Seine Erkundung des Vorgangs der Theatervorstellung und der Kunst der Inszenierung ist keineswegs selbstverständlich und unterstreicht seinen investigativen Geist in Bezug auf Aspekte, die in Griechenland unbekannt (und somit nicht existent) waren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Kontakt von Kampyssis mit einem sich dynamisch entwickelnden Theater- und Aufführungsumfeld. Berlin war im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts das Zentrum des deutschen Naturalismus, München dagegen das der experimentellsten Theatermoderne. In dem Jahr, das Kampyssis in München verbrachte, war dort der Regisseur Georg Stollberg besonders populär. Stollberg hatte bei Otto Brahm an der Freien Bühne in Berlin gelernt, einem freien Theater, das Anfang der 1890er Jahre, in Anlehnung an André Antoine und das Théâtre Libre, Werke des Naturalismus zeigte. In München gab es zu dieser Zeit zwei recht fortschrittliche Theater, an denen Stollberg Regie führte: Das Schauspielhaus und das Theater am Gärtnerplatz, das neben dem kommerziellen französischen Farcetheater und Operetten auch avantgardistische Werke aufführte.15Jelavich, Munich and Theatrical Modernism, ebd. 154. Kampyssis besuchte auch die Aufführungen von Otto Brahm am Deutschen Theater in Berlin und war damit, was die Regiekunst zur Jahrhundertwende in Westeuropa betraf, am Puls der Zeit. Darüber hinaus lernte er in München Varietés und Kabaretts sowie auch die unterschiedlichsten Formen von Straßenkunst kennen.
Beim von Kampyssis durch Korrespondenz und persönliche Begegnungen geknüpften „deutschen Netzwerk“ ging es um drei Hauptaspekte: eine gründlichere Kenntnis der deutschen Kultur (für ihn persönlich und für Griechenland), den Dialog zu griechischen Fragen, betrachtet durch die Augen einer anderen Nation, und die Verbreitung seines dramatischen Werks in Deutschland (Nikitas, 2020 [Dissertation], 26-27, 31-33, 239-240). Das Werkzeug, um das erste und zweite Ziel zu erreichen, waren vor allem die „Jermanika Grammata“ (Deutsche Briefe), die bewusste kulturelle Bestrebungen für einen interkulturellen Dialog ausmachten und nicht nur deutschlandfreundliche Ausbrüche waren (Nikitas, 2020: „Anamesa sto astiko ke sto poiitiko drama …“, 177). Der Byzantinist und Sprachwissenschaftler Karl Krumbacher, den Kampyssis in München besuchte, erwies sich als eine Schlüsselfigur in Bezug auf den Demotizismus. Die Gespräche mit Krumbacher waren für Kampyssis eine Horizonterweiterung in Bezug auf die griechische Sprachfrage und führten ihn weit über die Ansichten von Psycharis hinaus. Von besonderem Interesse war ihr ausführliches Gespräch über die Rechtschreibung von Wörtern und Krumbachers Ansicht über die Vermeidung von sprachlicher Starrheit als Wegweiser für eine reibungslose (nationale) Sprachentwicklung. Zu Kampyssis’ Kreis gehörte auch Karl Dieterich, ein Philhellene und Neogräzist, mit dem er ebenfalls einen Dialog über die Aussicht auf eine Renaissance Griechenlands durch die philosophischen und literarischen Errungenschaften Deutschlands führte. Kampyssis traf in München auch aktive griechische Maler wie Nikolaos Gyzis und Jeorjios Iakovidis, die er in ihren Ateliers besuchte. Kampyssis legte besonderen Wert auf die Art und Weise, mit der sie griechische Themen im Stil ihrer westeuropäischen Kunstausbildung wiedergaben. Von entscheidender Bedeutung für die Verbreitung des Werks von Kampyssis in Deutschland war der Deutschgrieche Julius von Hösslin, der 1900 in Zeitschriften wie Der Türmer und Das Literarische Echo Artikel über ihn veröffentlichte. Die Aspekte seiner dramaturgischen Innovation wurden dort deutlich hervorgehoben.
Von Goethe bis Hauptmann
Kampyssis’ Dramaturgie wurde durch die systematische Auseinandersetzung mit deutschen Schriftstellern wie Goethe und Hauptmann geprägt. Der Autor schöpfte ästhetische Mittel aus den westeuropäischen Strömungen, um mit Elan das griechische Drama zu erneuern und Aspekte der aufkommenden Urbanisierung auf dem Weg zur venizelischen bürgerlichen Erneuerung zu thematisieren. Hauptmann ist dabei sein wichtigster Bezugspunkt. In seinem bedeutenden Artikel „Gerardos Auptman“, dem hellenisierten Namen des Dramatikers, stellt er ihn ausführlich der griechischen Literaturszene vor und legt seine persönlichen Ansichten zu ihm dar (Kampyssis, 1899). Kampyssis‘ Interesse an Hauptmann hängt mit der „doppelten“, also der ästhetischen und der dramatischen, Dynamik des Deutschen zusammen, der auf allen Ebenen innovativ war: sowohl mit naturalistischen Werken wie Fuhrmann Henschel als auch mit poetischen Stücken wie dem Märchendrama Die versunkene Glocke und dem Traumdrama Hanneles Himmelfahrt . Hauptmanns stärkste Prägung in Kampyssis’ Dramaturgie findet sich in To daktylidi tis manas (Der Ring der Mutter), der sein Motiv des schwer fassbaren neoromantischen Höhepunkts aus Die versunkene Glocke bezieht und typologisch an das Traumdrama Hanneles Himmelfahrt angelehnt ist (Nikitas, 2020 [Dissertation], 183). Kampyssis kannte diese Werke Hauptmanns und stellte bezeichnenderweise fest, dass Hanneles Himmelfahrt ein „Traumdrama […] der kuriosen Art“ sei, womit er den Begriff erstmals in Griechenland verwendete, noch vor Sotiris Skipis oder Miltos Kountouras (Kampyssis, 1899: „Gerardos Auptman“, 91). Kostantinos Chatzopoulos hatte bereits 1901 ähnliche Einflüsse festgestellt, auch im Werk Der Ring der Mutter (Chatzopoulos, 1902, 68).
Kampyssis’ Hinwendung zu poetischen Dramen nach seiner Deutschlandreise und die Verwendung neoromantischer Mittel lenkte seine Aufmerksamkeit auf romantische Tendenzen im Werk Goethes und Wagners. Seine Bewunderung für den Autor des Faust war groß und veranlasste ihn zu Lobgedichten (Kampyssis, 1901: „Sto Goethe“). Zu dieser Zeit übersetzte er auch Goethes Prometheus und entwickelte ein Interesse an der Ästhetik des dramatischen Fragments (Goethe, 1901). In der Tat wird der formale Einfluss des Werks in Bezug auf Kampyssis’ poetisches Drama Arigianos 2 erkennbar, das von seinem Autor als „Fragment“ bezeichnet wird (Kampyssis, 1901, 254).16Kampyssis schrieb unter dem Titel Arigianoszwei unterschiedliche Werke, die ich hier Arigianos 1 und Arigianos 2 nenne.
Darüber hinaus werden thematische Aspekte wie z. B. das ständige Bemühen der Sterblichen, die Autorität der Götter zu durchbrechen, das in Goethes Prometheus auftaucht, von Kampyssis aufgegriffen. Der stärkste Einfluss Goethes auf Kampyssis’ Dramaturgie spiegelt sich jedoch in Arigianos 1, wo er Elemente aus Faust II und aus dem Urgrund der Mütter – also dem imaginären Ort der endgültigen Selbstverwirklichung – zur Verbesserung seiner eigenen Komposition heranzieht.17Zum „Urgrund der Mütter“ vgl. Jantz, 1969, 9-17. In Arigianos 1 erscheint dezent auch Wagners Wanderbarde aus Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Der romantische Nationalismus der deutschen Volkserzählungen wird dort jedoch in ein neoromantisches Experiment über erotische Identität in den Jahren des Fin de siècle verwandelt.18Zum Hinweis von Kampyssis zu Wagner vgl. Kampyssis, 1899: „Jermanika Grammata“, 96. Schließlich hat Wagner mit der epischen Kriegerin Brünnhilde, aber auch dem magischen Ring aus Der Ring des Nibelungen Kampyssis’ Werken Anatoli (Sonnenaufgang) und Der Ring der Mutter seinen Stempel aufgedrückt.
Aber auch andere Schriftsteller aus dem deutschen und deutschsprachigen Raum beeinflussten den Autor. Unter ihnen ragen Hermann Sudermann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George heraus. Kampyssis kannte sie und hatte jedem von ihnen entweder einen Artikel gewidmet oder ausführlich auf ihn verwiesen.19Indikativ zu Hofmannsthal vgl. Kampyssis, 1901: „Jermaniki Filologia. Grammata …“, und zu Sundermann vgl. Kampyssis, 1900: „Jermaniki Filologia. I Foties …“. Er lehnte den konventionellen Realismus des ersten ab, bewunderte die neoromantischen Experimente des zweiten und war fasziniert von der innovativen Poetik des dritten. Sudermanns Drama Die Ehre thematisiert einen Ehrenmord im Grenzbereich zwischen oberen und unteren Gesellschaftsschichten im industriellen Deutschland. Elemente dieser Handlung finden wir in Kampyssis΄ Stück I Kurdi (Die Kurden), das das Ehrenverbrechen eines überheblichen Bourgeois an einer einfachen Schneiderin in einem bescheidenen Athener Viertel schildert. Der Einfluss des Hofmannsthal’schen Dramas Der Thor und der Tod ist in Kampyssis’ poetischem Drama Sta synnefa (In den Wolken) durch die Anleihe eines anonymen Herrn hinter einer Glasvitrine erkennbar. Kampyssis hatte Hofmannsthals Stück nicht nur gelesen, sondern auch, wie bereits oben erwähnt die Aufführung besucht, während er an seinem eigenen Drama arbeitete. Im Artikel „Stefan George“ schrieb Kampyssis über die sprachlichen und ästhetischen Vorlieben des Deutschen, der die berüchtigten Blätter für die Kunst herausgab. Er bewunderte Georges Gedichtband Das Jahr der Seele und versuchte sich an dessen zyklischem Rhythmus in seinen poetischen Dramen (Kampyssis 1899).
Der Stein der Weisen
Bemerkenswert ist Kampyssis’ Auseinandersetzung mit deutschen philosophischen und gesellschaftspolitischen Strömungen, die sich auf Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Karl Marx, Max Nordau und das vorfreudianische Raster des Unbewussten konzentrieren. Ich weise darauf hin, dass Kampyssis eine moderne bürgerliche Identität aufbauen und sich von seiner Herkunft aus der messenischen Provinz distanzieren wollte. Er war auf der Suche nach dem „Stein der Weisen“, der mit Begriffen der Europäisierung seine Lebensphilosophie aufbauen würde. So nahm er Abstand zum Christentum und entdeckte im Nietzscheanismus, Pessimismus und Marxismus alternative „ismen“, zu einer Zeit, als laut Palamas alle Arten von „auf –ismus endende Erdbeben“ das Athen der Belle Époque und auch die neoromantischen Kreise heimsuchten (Palamas, 09.08.1899), zu denen Literaten, Freunde und Bekannte von Kampyssis wie Porphyras, die Brüder Chatzopoulos, Nikolaos Episkopopoulos und Pavlos Nirvanas gehörten.
Schopenhauers Einfluss auf Kampyssis war ab 1895, als ihn der Grieche erstmals in einem Artikel erwähnte, von großer Bedeutung und währte bis zu seinem Wechsel zu Nietzsche 1898-1899 (Kampyssis, 1895, 215).20Kampyssis‘ Verhältnis zum Pessimismus wurde von der Forschung bisher kaum beachtet. Die Notwendigkeit, die Rezeption Schopenhauers am Ende des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten, wurde auch von Panajotis Moullas hervorgehoben (Moullas, 2005, λδ΄/34). Die Anziehungskraft, die der Nietzscheanismus auf Kampyssis ausübte, ist daher, ohne seine Distanzierung vom Pessimismus nachzuzeichnen nicht zu verstehen. Schopenhauers Gedankenwelt und die Figur Hamlets waren bis 1898 bestimmend für die männlichen Protagonisten seiner Dramen. Sie zeichneten sich durch Ambivalenz und Unentschlossenheit aus. Periklis aus Miss Anne Cuxley, Petros aus Die Kurden und Jannakis aus Der Ring der Mutter sind Charaktere, die die gleiche Tendenz aufweisen. Sie verharren in der Schwebe und schafften es nicht, ihre erotischen, beruflichen und kreativen Wünsche zu erfüllen. Der Einfluss von Shakespeares Hamlet auf Die Kurden ist unverkennbar. Ein vielversprechender Student kommt, zwar nicht wie Hamlet aus Wittenberg, sondern aus Athen zurück und hat eine komplizierte Beziehung zu seiner Mutter, wie der Prinz von Dänemark zu Gertrude. Kampyssis löste sich schließlich vom Einfluss Schopenhauers und schuf nach 1898 Dramen mit dynamischen Charakteren.
Die Gedankenwelt von Marx erregte ebenfalls Kampyssis´ Aufmerksamkeit, der seine Affinität zu nonkonformen philosophischen Tendenzen des Abendlandes mit seinem Wunsch nach einem bürgerlichen Aufstieg in Athen mit Hilfe seines Universitätsabschlusses verbinden wollte. Das manifestiert sich erstmals 1894 in seiner Erzählung Sterni matia (Ein letzter Blick), in der der Sozialismus in moralischem Sinne wahrgenommen wird – als positive Haltung gegenüber den Mitmenschen und im Gegensatz zur unmenschlichen Haltung der Plutokraten (Kampyssis, 1918, [Erzählung von 1894]). Dementsprechend taucht der Sozialismus auch im Stück Die Kurden auf, das das griechische Verständnis dieser Ideologie in den Athener Hinterhöfen nachzeichnet (Kampyssis, 1897, 101). Auf seiner Deutschlandreise besuchte Kampyssis Wirtschaftswissenschaftsvorlesungen an der Universität München. Sein Werk Dionysos von 1901 ist ein ausführlicher Verweis auf Marx, dessen Anschauung er jedoch ablehnte, weil sie seiner Meinung nach für die Griechen und ihre nationale Renaissance, von der er träumte, nicht geeignet sei. Max Nordau, ein Gegner jedes Ibsenismus und Wagnerismus, der Angelos Vlachos zum Verbündeten hatte, fand in Kampyssis einen entschiedenen Widersacher. In vorfreudianischer Zeit veranlassten die Theorien des Unbewussten (z. B. die von Jean-Martin Charcot) Kampyssis, ein Jahr vor der Veröffentlichung von Freuds Werk Die Traumdeutung, das Theaterstück Arigianos 1 zu schreiben, in dem es um einen ödipalen Königssohn ging.21Freuds Werk wurde Ende 1899 mit Erscheinungsdatum 1900 veröffentlicht (Marcus, 1899, 1). Abgesehen von Charcot gab es auch in Deutschland ähnliche Tendenzen, als Kampyssis Ende des 19. Jahrhunderts nach München kam (Nicholls & Liebscher, 2010, 242-243).
Nietzsches Hammer
Bedeutend war auch Kampyssis΄ Nähe zu Nietzsches Gedankenwelt. Der Dramatiker hatte sich auf der Deutschlandreise Nietzsches Gesamtwerk besorgt. In einem ausführlichen Artikel mit dem Titel „Friedrich Nietzsche“ analysierte er 1901, anlässlich des Todes des Philosophen, dessen Gedankenwelt, und hob dabei die Bedeutung des Übermenschen hervor (Kampyssis, 1900, 75-82). Er übersetzte auch eine Reihe von Nietzsches Gedichten, die 1900 unter dem Titel Dionysou Dithyramvos (Dionysus’ Dithyrambos) veröffentlicht wurden (Nietzsche, 1900). Im Vorwort machte er deutlich, dass Nietzsche der Schlüssel zur Renaissance des Griechentums sei, das aus dem Sumpf der hausgemachten Übels auferstehen solle.22Zu diesen Gedanken von Kampyssis vgl. Nietzsche, 1900, 3-4. Zur griechischen Osmose zwischen Nietzscheanismus und Megali Idea vgl. Lambrellis, 1993. Für Kampyssis war die Bedeutung Nietzsches vielschichtig: national, persönlich, ästhetisch. Der Nietzscheanismus trat an die Stelle von Christentum und Pessimismus und schenkte dem Autor, der sich aus gesundheitlichen Gründen ständig mit dem Schreckgespenst des Todes konfrontiert sah, den Glauben an ein ewiges irdisches Leben: an ein endloses, großgeschriebenes LEBEN ohne die Erwartung eines metaphysischen christlichen Paradieses oder die Bürde einer buddhistischen, pessimistischen Apathie. Kampyssis konnte nun Spinozas amor fati (Fatalismus, Annahme des Schicksals) akzeptieren und sein knappes Leben im Hier und Jetzt verbringen. Der Nietzscheanismus führte ihn auch zu den Tragödien von Aischylos. Kampyssis entdeckte seine Liebe zu titanischen Figuren wie Aischylos‘ Prometheus – dank Nietzsche, der in den Protagonisten der antiken Tragödien die gefeierten dionysischen Masken großer Männer suchte.
Kampyssis‘ offenkundiger Nietzscheanismus spiegelt sich charakteristisch in den erwähnten Deutschen Briefen wider, einer Reihe von Artikeln in Briefform (eine Form, die Kampyssis gern benutzte). Diese acht Texte wurden in der Zeitschrift Techni von K. Chatzopoulos zwischen Dezember 1898 und September 1899 veröffentlicht.23Zu den Deutschen Briefen vgl. Kemendzetsidis, 2017, 105-122.
Es sind lobende Beschreibungen der deutschen Herrlichkeit, ein öffentliches Tagebuch mit Eindrücken von Kampyssis. Die Deutschen Briefe sollten jedoch als Gesten des kulturellen Dialogs verstanden werden und nicht als akute Bewunderungsausbrüche. Im Übrigen kontrastieren sie zu der sehr viel unsichereren Haltung des Autors in seiner privaten Korrespondenz im gleichen Zeitraum. Darin beschrieb er Ereignisse wie seinen Besuch bei Karl Krumbacher, mit dem er über die Zukunft der Volkssprache Dimotiki diskutierte, und das Kennenlernen von griechischen Malern in München. Die radikale modernistische Theatergegnerschaft von Denkern wie Nietzsche ist auch der Schlüssel zur Dekodierung von Kampyssis‘ fieberhaftem Manifest O Psycharismos ke i Zoi (Der Psycharismus und das Leben), das die Missstände in seiner Heimat Griechenland anprangerte und sich gegen die Haltung von Psycharis wandte (Kampyssis, 1900). Der Sprachwissenschaftler Psycharis begegnete in seinem Bemühen, die kollektive griechische Nationalhaltung zu fördern, die er für den Sieg des Demotizismus für unabdingbar hielt, dem künstlerischen Individualismus Westeuropas, den Kampyssis schätzte, mit einer gewissen Skepsis. Schließlich wurde „mit Zarathustras Hammer“ die Zeitschrift Dionysos gegründet, prall gefüllt mit Nietzscheanismus, dominantem literarischem Kosmopolitismus und der erneut aufkommenden Megali Idea mit – nach der Niederlage von 1897 – deutschen Untertönen.24Zu Kampyssis und Dionysos vgl. Daskalopoulos, 1979, 24-26.
Deutschland als kultureller Sauerstoffspender
Kampyssis’ Beziehung zur deutschen Kultur sollte in einem breiteren Kontext betrachtet werden, der über den ästhetischen Dialog und die philosophische Suche des Autors hinausgeht. Das heißt, es wäre angebracht, seine Zeit unter einem historiographischen Blickwinkel im Rahmen der herrschenden ideologischen und historischen Konnotationen zu betrachten, wobei der Schwerpunkt auf die Unruhen in Griechenland am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gelegt werden sollte. Erinnern wir uns daran, dass auf den Staatsbankrott von 1893 die nationale Euphorie der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit von 1896 folgte, und 1897 der traumatische Türkisch-Griechische Krieg ausbrach. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fanden 1903 die schrecklichen „Orestiaka“25Die „Orestiaka“ sind die Unruhen, die im November 1903 in Athen nach der Premiere von Aischylos‘ Oresteia im Königlichen Theater unter der Regie von Thomas Ikonomou ausbrachen. Die Übersetzung der Trilogie ins konservative Demotische durch Jeorjios Sotiriadis provozierte die Reaktion der Befürworter der Katharevousa und führte zu blutigen Zusammenstößen (Spathis, 2005, 229-266) und [1907] die intensive Debatte in den Leserkreisen der Literaturzeitschrift Numas über das Werk To koinonikon mas zytima (Unsere soziale Frage) des Sozialisten Jeorjios Skliros statt, bevor 1909 der Aufstand von Goudi ausbrach. Die nationalen Sorgen, der dynamische Demotizismus und die Spuren des aufkommenden Sozialismus bestimmten die Wirkungszeit von Kampyssis. Eine Zeit der Spannungen und Turbulenzen, die ihn nach seiner Deutschlandreise immer mehr zur Megali Idea hinführten. Der Nietzscheanismus war das philosophische Werkzeug und kulturelle Aushängeschild Deutschlands, das Vorbild für die griechische Renaissance, von der Kampyssis träumte. Er ging so weit, in seinen Artikeln in Dionysos Konstantinopel wieder zur griechischen Hauptstadt machen zu wollen. Er war nunmehr von der „ewigen Wiederkehr des Griechentums“ überzeugt, war sich also sicher, dass Griechenland auch in Zukunft kulturell so glänzen würde, wie das Land es bereits in der Vergangenheit getan hatte. Ohne dem Ahnenkult zu erliegen, den er wie die Mehrheit der Demotizisten bekämpfte, hatte er für Griechenland die Vision einer kosmopolitischen Zukunft aus Überlegenheit und kultureller Extrovertiertheit auf der Grundlage der philosophischen und ideologischen Instrumente Deutschlands. Den frankophilen Vorlieben von Psycharis setzte er die deutschfreundlichen entgegen. Das Netz seines Austausches mit der deutschen Kultur war nicht nur ein kunstsinniger Pro-Europäismus, sondern ein vitaler Anspruch von nationaler Tragweite. In einem Artikel mit dem Titel To jermanikon pnevma (Der deutsche Geist) machte er 1901, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Griechenland, seine Absicht deutlich: „[…] ich versuche, [der Nation] [neuen] Geist einzuhauchen“, schrieb er (Kampyssis, 14.11.1899). Sie brauche kulturellen Sauerstoff zum Atmen, „f r i s c h e Luft“, betonte er (Kampyssis, 14.11.1899, Hervorhebung durch den Autor). Die Introvertiertheit der bukolischen Motive nomadischer Schäfer, die sich in dramatische Liebschaften verfingen, und das didaktische Gehabe der leblosen Jamben der zeitgenössischen griechischen Historiendramen erstickten Kampyssis und führten ihn zu einem radikalen kulturellen Vorschlag, wobei er Deutschland als anstrebenswertes Beispiel betrachtete.
Schlussfolgerungen
Durch die systematische Veröffentlichung von Artikeln zur und literarischen Werken aus der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts im Athen der Belle Époque förderte Jannis Kampyssis mit nachdrücklichem Engagement den Dialog zwischen den beiden Ländern. Sein Versuch, den extrovertierten Kosmopolitismus mit den zwingenden nationalen Bedürfnissen Griechenlands in Einklang zu bringen, schuf einen persönlichen Vorschlag für eine griechische Renaissance mit deutschem Kulturhintergrund. Diese deutsch-griechische Überschneidung im späten 19. Jahrhundert testete die Grenzen von Konvergenz und Divergenz zwischen zwei Staaten, die sich auf sehr unterschiedlichen Stufen der wirtschaftlichen Entwicklung und der geopolitischen Strategie befanden. Sie verdeutlichte mit Kontinuitäten und Brüchen die Distanz zwischen Ost- und Westeuropa. Trotz seiner Verehrung Deutschlands reflektierte Kampyssis in einem seiner letzten Artikel in Dionysos über die Kluft zwischen den politischen Interessen Griechenlands und Deutschlands, während sich der „große Patient“, das Osmanische Reich – nach jahrzehntelangen Konflikten im Rahmen der sogenannten Orientalischen Frage, die West und Ost beschäftigte – im Niedergang befand (Kampyssis, 1901d, 397-399). Trotz dieser unüberbrückbaren Differenzen wies Kampyssis auf das kulturelle Potenzial hin, das sein Land mit Blick auf Europa schöpfen könnte. Auf einem vergilbten Papier, das er bei einem Besuch in Goethes Wohnhaus in Weimar gefunden haben soll, stand „Griechenlands Schicksal“ [Kampyssis, 1903 (Artikel von 1899)]. Darunter soll der große Schriftsteller philhellenische Gedanken über die Heimat von Aischylos, Sophokles und Euripides notiert haben. Wie Kampyssis schrieb, habe ihn dieses Ereignis tief erschüttert, denn er betrachtete es als klares Omen für eine tiefere Verbindung zwischen den beiden Nationen. Genau diese Bestimmung, dieses Ziel, also das nationale Aufleben seines geliebten Griechenlands, verfolgte er bis 1901 mit Beharrlichkeit und mit der Kultur als Speerspitze.