Die Einrichtung von Stipendien
Seit der Regentschaft von Ioannis Kapodistrias, dem ersten Staatsoberhaupt Griechenlands nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich wurden Stipendien an besonders bedürftige Studenten vergeben, die Kinder von Befreiungskämpfern und moralisch integer waren (Konstantopoulou, 2009, 1). Großen Wert auf Bildung legten auch wohlhabende Privatpersonen griechischer Herkunft, die nach der Gründung des griechischen Staates ihre finanzielle Unterstützung zugesichert hatten (Papageorgiou, 1997, 24). Auch die Panhellenische Heilige Stiftung Evangelistria Tinos unterstützte den jungen Staat und zeigte seit ihrer Gründung starkes soziales Engagement. Sie hatte durch die Spenden der Gläubigen ein beträchtliches Vermögen erworben und wurde zu einem zuverlässigen Träger, der dem Staat half und ihn unterstützte. Die Evangelistria-Stiftung übernahm unter anderem die Finanzierung von Schulen, sorgte für die notwendigen Materialien für ihren Betrieb sowie für die Gehälter der Lehrer. Parallel dazu vergab sie Stipendien an angehende Wissenschaftler, Kleriker und Künstler (Imerologion tis Megalocharis, 1973, 109-106). Die Panhellenische Heilige Stiftung Evangelistria Tinos ist die einzige wohltätige Einrichtung des Landes, die bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts systematisch Künstler unterstützte, zunächst durch die Vergabe von Stipendien und später durch die Gründung einer Kunstsammlung. Der griechische Staat seinerseits ernannte 1834 die Stiftung – um sich die Kontrolle zu sichern, aber auch in Anerkennung des Einflusses der Stiftung auf die Gläubigen – per Gesetz zur öffentlichen Einrichtung und unterstellte sie der staatlichen Aufsicht. Diese Nominierung erfolgte über das Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung, dem alle kirchlichen Behörden, Schulen und öffentlichen Einrichtungen für Kunst und Wissenschaft unterstellt waren (Sakellion – Filippidis, 1928, 203). Mit den Erträgen der Stiftung wurden zahlreiche Projekte realisiert, sowohl auf nationaler Ebene, wie die Errichtung von Schulen und die Unterstützung der Filekpedeftiki Eteria (Gesellschaft für Bildungsförderung), als auch auf lokaler Ebene durch Finanzierung der Infrastruktur der Insel, z.B. des Straßenbaus oder des Ausbaus des Hafens von Chora, also Tinos-Stadt.
Die Vergabe von Stipendien begann 1840, als Antonios G. Siotos, ein Literaturstudent, und Spyridon Alvertis, ein Medizinstudent, um finanzielle Unterstützung baten, um ihr Studium zu beenden (Kayiadaki, 2020, 60-61). Siotos studierte in Athen, Alvertis in Deutschland und war damit der erste Student an einer ausländischen Universität, der von der Stiftung gefördert wurde. Ein Zuschuss der Evangelistria-Stiftung an die Eteria ton Oreon Technon (Gesellschaft der Schönen Künste; Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Abteilung Geheimakten, Ordner des Jahres 1845, Nr. 2281 und Nr. 97/164 Briefe der Gesellschaft der Schönen Künste) 1845 und die guten Aussichten auf Vergabe von Stipendien veranlassten im selben Jahr den Leiter der Kunstschule am Athener Polytechnikum Lyssandros Kaftantzoglou zur Beantragung von Stipendien für Kunststudenten, die aus Tinos stammten, insbesondere für den Bildhauer Ioannis Vidalis:
Diejenigen, die das Schicksal der Insel bestimmen, sind daher verpflichtet, diejenigen, die diese Kunst ausüben, zu unterstützen, damit sich dieses Handwerk auf Tinos zu einer heimischen Industrie entwickelt; denn gegenwärtig sind die tinischen Handwerker in dieser Kunst den übrigen Griechen überlegen. Die gesamte Steinmetzbranche Athens ist in tinischer Hand. Sehr zu empfehlen ist auch der Hoffnungsträger und am Königlichen Polytechnikum Studierende Io. Vidalis; durch Fleiß und Eifer in der Steinbearbeitung hat er sich allen anderen als überlegen erwiesen. Sein Eifer sollte deshalb von seinen Mitbürgern unterstützt werden, sie sollten mit dem Beispiel bei der Entwicklung der heimischen Industrie vorangeben, damit auf ihrer Heimatinsel eine bedeutende Einnahmequelle entstehen kann.
Der Direktor des Königlichen Polytechnikums Lyssandros Kaftantzoglou1Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Abteilung Geheimakten, Ordner der Jahre 1845-1846.
Im selben Jahr, in dem Kaftantzoglou diesen Brief an die Stiftung schickte, schrieb er an der Kunstschule Kunstwettbewerbe aus (Biris, 1957, 94). Stipendien der tinischen Stiftung wurden auch unter seinem Nachfolger Friedrich von Zentner vergeben; dieser hatte sogar ein Spendenbuch angelegt, mit dem er in In- und Ausland um Unterstützung warb. Durch Wettbewerbe und Stipendien wurde der Weg für die Schaffung von künstlerischen Netzwerken in Italien und München/Deutschland geebnet. Dimitra Tsouchlou und Assantour Bacharian zufolge lief München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den italienischen Kunstschulen den Rang ab, da die Studenten der Ansicht waren, dass sie nach einem Studium in München leichter eine Anstellung in Griechenland finden würden (Tsouchlou – Bacharian, 1984, 39). Kaftantzoglou wandte sich nicht nur an die Evangelistria-Stiftung, sondern auch an wohlhabende Auslandsgriechen wie Alexandros Ionidis und Jeorjios Averof. Der Direktor der Kunstschule beantragte und erhielt auch eine jährliche staatliche Förderung von 8.000 Drachmen, um jungen Menschen ein Studium im Ausland zu ermöglichen, ein Fonds, der 1880 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten aufgelöst wurde (Vizyinos, 1888, 4). Die Evangelistria-Stiftung begann jedoch erst 18 Jahre nach Kaftantzoglous Antrag mit der systematischen Unterstützung von Künstlern und zwar aufgrund des königlichen Erlasses von 1863.2Panhellenische Heilige Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner des Jahres 1863 A-B, Nr. 2300 Bekanntmachung des Dekrets der Provisorischen Regierung zu Stipendiaten. Zu der Zeit war Kaftantzoglou bereits abgesetzt worden, nachdem er sich schon drei Jahre zuvor darüber beschwert hatte, dass die Stipendien nicht leistungsbezogen vergeben würden, sondern an Studenten, die Ministerschützlinge waren (Kayiadaki, 2020, 34). Gemäß diesem Beschluss von 1863 konnten aus Mitteln der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos zehn Stipendien für die Ausbildung von Künstlern und das Studium von Ingenieuren am Polytechnikum gewährt werden, da man der Ansicht war, dass die Nation solche Leute brauche. Dort stand auch, dass nach Ermessen des betreuenden Professors des jeweiligen Stipendiaten ein finanziell unterstütztes vierjähriges Auslandsstudium angehängt werden könne. Diese Kosten trug die Evangelistria-Stiftung (ebd.).
Das Auswahlverfahren war undurchsichtig, zumindest in den ersten Jahren der Stipendienvergabe. Die Stipendiaten wurden von einer einflussreichen und angesehenen Person aus Tinos oder aus den Athener Politikerkreisen vorgeschlagen. Normalerweise musste der angehende Stipendiat einen Antrag bei der Stiftungskommission einreichen, sodass ein formelles Genehmigungsverfahren eingeleitet werden konnte. Das letzte Wort hatte jedoch das Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung. In den ersten Jahren erhielten nicht unbedingt die Erstplatzierten die finanzielle Unterstützung. So war das auch im Fall von Nikolaos Gyzis, der in seinem letzten Studienjahr nur den zweiten Platz belegte, aber trotzdem ein Auslandsstipendium erhielt (Kalligas, 1981, 25). Dem königlichen Erlass zufolge gab es Stipendien sowohl für das Inland als auch für das Ausland. Letztere waren so begehrt, dass es zu Streitigkeiten unter den Bewerbern und zu Protesten kam.3Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Kosmas Apergis, Brief Nr. 162/29 24. April 1864. Interessant ist auch der Hintergrund der Auslobung der Stipendien. Die Beziehungen zwischen Chora, dem Hauptort von Tinos, wo die Stiftung ihren Sitz hat, und den Exo Meri, also den „Äußeren Orten“ im Nordwesten der Insel, aus denen die Künstler stammten, waren aufgrund politischer Differenzen stets angespannt. Deshalb gingen die Gelder der Stiftung nur selten an Antragsteller der entlegenen Dörfer, was verständlicherweise Reaktionen hervorrief. Im Jahr 1862 schlug der Abgeordnete Grigorios Mavromaras, Mitglied der Zweiten Nationalversammlung der Griechen in Athen, der aus Pyrgos, einem der entlegenen tinischen Ortschaften stammte, die Auslobung von Künstlerstipendien vor (Sakellion, 1994, 93-94). Damit wollte der fortschrittliche Politiker die Exo-Meri-Dörfer unterstützen und die einseitige Zuweisung der Stiftungsgelder an nur einen Teil der Insel so weit wie möglich einschränken. In einem Dokument vom 25. März 1862 wird zum ersten Mal die offizielle Auslobung von Stipendien der Evangelistria-Stiftung für Künstler erwähnt. Das Dokument betont die nationale Bedeutung der Stipendien und die Notwendigkeit, die schönen Künste zum Wohle der Gesellschaft zu fördern.4Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Dokument Nr. 1650 vom 25. März 1862.
Die Einrichtung von Auslandsstipendien für Künstler durch die Panhellenische Heilige Stiftung Evangelistria Tinos
Die Stipendien der Evangelistria-Stiftung hatten dazu beigetragen, dass sich eine beträchtliche Anzahl von Künstlern im Ausland weiterbilden und damit ein starkes Netzwerk mit den Kunstzentren Europas entstehen konnte. Diese Einrichtung ging über den Rahmen der rein karitativen Aktivitäten der Stiftung hinaus, die Auswirkungen waren vielschichtig. Die Evangelistria-Stiftung wurde dadurch zu einem bedeutenden Kunstmäzen und knüpfte erste, maßgebliche Kontakte zu den Künstlern, deren Werk den Kern der Sammlung weltlicher Kunst der Stiftung ausmachte. Vor allem aber markierte sie den Anbeginn einer grundlegenden kooperativen Beziehung, die von reibungslos bis kontrovers zwischen der Stiftung und der Athener Machtzentrale verlief. Sie bot im bestimmten Maß die Möglichkeit, in das Kunstgeschehen einzugreifen. In einer Zeit, in der Auszeichnungen und Würdigungen griechischer Künstler im Ausland gleichbedeutend mit der Anerkennung der griechischen Kunst waren, erhebt die Vergabe von Auslandsstipendien die tinische Kunst zur „nationalen Kunst“. Da die Auszeichnungen von Künstlern auf internationalen Ausstellungen und Wettbewerben das öffentliche Bewusstsein für die historische Kontinuität der griechischen Nation stärkten, was für den neu gegründeten griechischen Staat von großer Bedeutung war, führten die häufigen Ehrungen von Künstlern aus Tinos zur Festigung des Rufs, dass die Insel Künstler „hervorbringt“.
Die Entstehung der Griechischen Gemeinde zu München
Den Kern der griechischen Gemeinde in München bildeten bekanntlich die ersten Stipendiaten, die bereits 1827 zum Studium in die bayerische Landeshauptstadt kamen (Akademie der Bildenden Künste München, Matrikelbuch 1, 1809-1841). Unter den Philhellenen Ludwig I., König von Bayern und Friedrich Thiersch nahmen die griechischen Studenten dort am bayerischen Kulturbetrieb teil. Sie besuchten vier Bildungseinrichtungen: die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Königliche Schule, die Königliche Bayerische Landwirtschaftliche Landesanstalt zu Schleissheim und die Akademie der Bildenden Künste München (Bodieck, 2010, 24). Das Studium in München war nicht einfach, denn die Lebenshaltungskosten waren hoch – vor allem im Vergleich zu Griechenland – und die Konkurrenz groß, da Studenten aus der ganzen Welt dorthin strömten (Dossin, Joyeux-Prunel, 2015, 1-24). Für Künstler war die Kunstpolitik Ludwigs I. sehr reizvoll. Die Aufwertung der Akademie der Bildenden Künste, die Errichtung des Glaspalastes, eines vorbildlichen Ausstellungsgebäudes, die Existenz der Kunstgesellschaft und die spätere Gründung des Münchner Kunstvereins schufen ein vorbildliches künstlerisches Umfeld (Zacharopoulou, 1998, 41; Pavlopoulos, 2010, 196; Rolf, 2010, 22). Wie andere ausländische Studenten auch, schlossen sich die griechischen Künstler Zirkeln an, nahmen an Gruppenausstellungen teil, kamen mit den künstlerischen Trends der Zeit in Kontakt, studierten bei bedeutenden Kunstprofessoren, taten sich bei Wettbewerben hervor und wurden in der Presse vorgestellt. Mit den gewonnenen Erkenntnissen trugen sie zur Herausbildung eines bestimmten Stils mit spezifischen ästhetischen Kriterien bei, der als Münchner Schule bezeichnet wurde. Dieser bestimmte die neugriechische Kunst bis in die 1920er Jahre. Die griechische Münchner Schule wurde von Künstlern geprägt, die ihr Studium in der bayerischen Landeshauptstadt abgeschlossen haben und nach Griechenland zurückkehrt waren, um dort zu unterrichten oder als freie Künstler zu arbeiten und Aufträge anzunehmen. Die Münchner Schule, also den Stil des akademischen Realismus, gibt es zu der Zeit nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Regionen wie beispielsweise in den USA (Cincinnati, Ohio) und in Polen. Dieser Malstil entstand im Umfeld der Königlichen Akademie der Bildenden Künste und die Studierenden brachten ihn in ihre Heimatländer (Wilson, 1999, 3-16). Die Münchner Schulen finden sich zur gleichen Zeit wie die griechischen Schulen in anderen Regionen, z. B. in Cincinnati, Ohio, und in Polen. Im Falle dieser Schulen war München der Studienort der Künstler und ihre Geschichte ähnelte der der Griechen.
Das Verfahren zur Vergabe der Stipendien und die Stipendiaten der Evangelistria-Stiftung
Voraussetzung für den Erhalt eines Stipendiums der Evangelistria-Stiftung waren die tinische Herkunft, ein geringes Einkommen und ein einwandfreier Lebenswandel. In der Regel richtete der Interessent einen Antrag an die Stiftungskommission. Zusammen mit dem Nachweis guter Leistungen und den Empfehlungsschreiben seiner Kunstprofessoren erklärte er den Wunsch einer Weiterbildung im Ausland. Die Stiftungskommission trat zusammen und genehmigte den Antrag oder lehnte ihn ab. Zu den drei Grundvoraussetzungen für das Stipendium gehörte auch noch ein guter Abschluss an der Athener Kunstschule hinzu. Gute Noten allein reichten für das Auslandsstipendium jedoch nicht aus. Nötig war auch die Empfehlung einer hochrangigen Person, die entweder der Stiftungskommission verbunden war, oder ihren Einfluss über das Athener Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung geltend machen konnte. Das politische Geschehen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sehr instabil, die Inhaber politischer Ämter wechselten häufig. So kam es bei den Stipendien zwangsläufig zu Verzögerungen, manchmal auch zum abrupten Entzug. So befanden sich die Münchner Stipendiaten oft in sehr prekären Lebensumständen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbesserte sich die Situation deutlich, als der von der Kunsthochschule ins Leben gerufene Chryssovergos-Preis die -Zahlung des Stipendiums an die Studenten garantierte und damit Zahlungsausfälle und dramatische Verzögerungen reduzierte: Negativbeispiel war das Stipendium von Nikolaos Lytras. Nikiforos Lytras war kein Stipendiat der Evangelistria-Stiftung, aber der erste tinische Künstler, der an der Akademie der Bildenden Künste München studierte, zunächst mit einem staatlichen Stipendium (1860-1862), vergeben von König Otto I. von Griechenland, und dann mit einem privaten (1862) des Mäzens Simon Georg von Sina, Botschafter Griechenlands in Wien. Sein Aufenthalt in München und das, was er dort erwarb und später weitergab, waren ein Katalysator für die Orientierung weiterer Künstler aus Tinos nach Deutschland statt nach Italien, das bis dahin die erste Wahl war (Misirli, 2009, 24). In München hatten die griechischen Künstler logischerweise Kontakt miteinander, nahmen an Ausstellungen teil, tauschten sich aus und halfen sich gegenseitig, wann immer es nötig war. Es ist bekannt, dass Nikiforos Lytras seinem jüngeren Malerkollegen Nikolaos Gyzis nicht nur dem reichen Kunstliebhaber Nikolaos Nazos, sondern auch dem Münchner Kunstprofessor Karl von Piloty vorstellte, bei dem Gyzis dann studierte (Sochos, 1925,15). Gyzis seinerseits wurde dann in seiner Eigenschaft als ordentlicher Professor der Akademie der Bildenden Künste München (1888–1901) zum Berater und Förderer vieler Künstler und Stipendiaten des griechischen Staates (Misirli, 1996, 30).
In München mussten sich die Künstler neben den hohen Lebenshaltungskosten auch mit einer erschreckenden Verzögerung der Überweisung der Stipendiengelder herumschlagen. Die ersten Künstler, die mit Mitteln der Evangelistria-Stiftung ihre Ausbildung im Ausland fortsetzen konnten, waren Jeorjios Vitalis und Nikolaos Gyzis in München und Kosmas Aperjis in Rom. Gyzis war von 1865 bis 1871 Stipendiat der Evangelistria-Stiftung, nachdem Nikolaos Nazos seinen Einfluss geltend gemacht und die Einwände des damaligen Ministers für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung beiseite geräumt hatte. Gyzis sollte dann eines der prominentesten Mitglieder der griechischen Gemeinde in München werden. Seine ersten Jahre in München gestalteten sich jedoch äußerst schwierig. In der am 3. Mai 1865 unterzeichneten Bürgschaft des Stipendiums heißt es, dass der junge Student zur Vervollkommnung seiner Malerei zunächst nach München gehen sollte und im Anschluss nach Rom, was jedoch nicht realisiert wurde.5Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Gyzis, Dokument Nr. 66 vom 25. März 1862.66, Bürgschaft des Stipendiums. Unter anderem wurde die Zahlung von 450 Drachmen pro Quartal vereinbart. Abgesehen von den Verzögerungen war der Betrag von 150 Drachmen pro Monat unzureichend; deshalb beantragte Vitalis 1865 eine Erhöhung des Stipendiums um 30 Drachmen. Das Archiv der Stiftung weist einige Lücken auf, es ist nicht die vollständige Korrespondenz mit den Stipendiaten erhalten. Trotzdem zeichnen sich die Probleme mit den Zahlungen durch die Appelle des Künstlers an die Stiftung ziemlich anschaulich ab. In den Briefen bittet Gyzis verzweifelt um die Zuwendung, da er Gefahr läuft, wegen Schulden ins Gefängnis zu wandern, und appelliert, sich der Studenten zu erbarmen, die in diese prekäre Situation gebracht wurden. Das zeigt, dass die Not der Studenten bekannt war.6Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung von Evangelistria Tinos, Mappe Korrespondenz der Stipendiaten Unterer Schulen, Stipendiaten der modernen Schulen, Stipendiaten der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Gyzis, Brief von Nikolaos Gyzis vom 27./15. März 1867. Nikolaos Nazos steht in ständigem Kontakt sowohl mit dem Künstler als auch mit der Stiftung und versucht sicherzustellen, dass das Stipendium pünktlich an Gyzi ausgezahlt wird. Der griechische Staat seinerseits rügt in einem Schreiben vom September 1869 an den Präfekten von Tinos anlässlich der langen Zahlungsverzögerungen die Stiftung dafür, dass sie die Gelder für die Studenten, die keine andere Einkommensquelle im Ausland haben, nicht pünktlich auszahlt, und erklärt, dass diese Haltung Probleme in den Beziehungen zwischen der Stiftung und der Regierung mit sich bringe.7Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Gyzis, Dokument Nr. 6509.
Mit königlichem Erlass vom 26. November 1864 stand das Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung Jeorjios Vitalis ein dreijähriges Auslandsstipendium für Studien in München zu, getragen von der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos.8Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Dokument Nr. 10450/5897. Es ist offensichtlich, dass Vitalis die Gunst mächtiger Persönlichkeiten in Athen genoss, denn die Konkurrenz unter den Antragstellern wie auch unter den Fürsprechern war groß. So übergab der Direktor der Bank von Griechenland, Jeorjios Stavrou, Vitalis in einem Brief vom 14. Dezember 1864 ein Empfehlungsschreiben für ein Treffen mit Simon Sina in Wien. Gute Verbindungen verschafften den Künstlern oft ein zweites, privates Stipendium, sowie Aufträge oder Ankäufe von Werken. Auch bei Vitalis kam das Geld immer verspätet an. So geriet er oft, wie auch die anderen Stipendiaten, in eine äußerst heikle Lage, musste sich mit Krediten über Wasser halten oder geriet in tiefste Not. Abgesehen von den Verzögerungen reichte die monatliche Summe von 120 Drachmen vorne und hinten nicht aus. Deshalb beantragte Vitalis 1865 eine Erhöhung des Stipendiums um 30 Drachmen. Vitalis‘ hervorragende Leistungen veranlassten die Königliche Akademie der Bildenden Künste München im selben Jahr, bei der Evangelistria-Stiftung eine Verlängerung des Auslandsaufenthalts des Stipendiaten um ein Jahr zu beantragen.9Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Leistungsnachweis der Königlichen Akademie der Bildenden Künste München Nr. 391 vom 8. Mai 1865. Vitalis studierte bei Max von Windmann und erlangte regelmäßig Auszeichnungen.10Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Dokument Nr. 166 11.01.1866. Die guten Beziehungen des Künstlers und seine Gönner Simon Sina und Jeorjios Stavrou führten zur positiven Entscheidung des Ministeriums für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung, das einer Verlängerung des Stipendiums zustimmte.11Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Dokument Nr. 391. Schließlich blieb der Bildhauer ganze vier Jahre länger in München, von 1869 bis 1872. Vitalis‘ beeindruckende Entwicklung gipfelte 1868 in der Silbermedaille, die er für seine Theseus-Statue bei einem Wettbewerb der Münchner Akademie gewann. Vitalis‘ künstlerische Leistungen genossen großes Ansehen unter seinen deutschen Kollegen, und so war er neben Nikolaos Gyzis der zweite griechische Künstler, dem eine Professur an der Münchner Akademie angeboten wurde.12Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Georgios Vitalis, Lebenslauf ohne Registriernummer. Der Künstler war jedoch fest entschlossen, nach Griechenland zurückzukehren, wie Vitalis´ Sohn in der Biografie seines Vaters schrieb (ebd.). Seine Entscheidung, ein Atelier in Ermoupolis, der Hauptstadt der Nachbarinsel Syros, einzurichten, anstatt in Athen, wo er mit zahlreichen öffentlichen und privaten Aufträgen hätte rechnen können, hing einerseits mit der Existenz einer bürgerlichen Gesellschaft auf der Insel zusammen und andererseits mit dem Kontakt zum Bürgermeister von Syros Dimitrios Vafiadakis, der ihm vorschlug, sein Atelier dort zu eröffnen (ebd.).
Bekannt ist, dass die Panhellenische Heilige Stiftung Evangelistria Tinos den Bildhauer in verschiedenen Lebensabschnitten unterstützt hat, von der Zeit seines Studiums in München bis hin zu seinem Tod. Und obwohl immer wieder geschrieben wird, dass die Stiftung das Stipendium von Jannoulis Chalepas in München beendet habe, um auch andere Stipendiaten zu unterstützen – sogar unter Missachtung des Briefes des namhaften Kunstprofessors Karl von Piloty –, widersprechen die Archivunterlagen dieser gängigen Behauptung (Danousis, 2013, 20). Chalepas΄ Studium in München startete 1872. Der damalige Parlamentsabgeordnete von Tinos, Iakovos Paximadis, hatte ihm bei der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria von Tinos ein zweijähriges Auslandsstipendium verschafft (Danousis, 2013, 22-23). Wie alle anderen Stipendiaten der Stiftung auch, unterschrieb er die Bürgschaft für das Stipendium, also die Vereinbarung, die ihm den Erhalt der Zuwendung sicherte, und reiste im August 1873 nach München. Dort lernte er als Erstes den griechischen Studenten Jeorjios Konstantinidis kennen. Obwohl Chalepas kein Deutsch sprach, fiel er an der Akademie sofort auf. In der Korrespondenzakte im Archiv der Evangelistria-Stiftung befinden sich nur wenige Dokumente, meist Zahlungsbelege, die Bürgschaft für das Stipendium und das Bittschreiben von Karl von Piloty zur Verlängerung des Stipendiums.13Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Gyzis, Dokument Nr. 91, übersetzt vom Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung. Trotz des Schreibens dieses prominenten Unterstützers und obwohl die Evangelistria-Stiftung – wie aus den Dokumenten hervorgeht – das Stipendium um zwei Jahre verlängerte, ordnete das Ministerium für kirchliche Angelegenheiten und öffentliche Bildung, das in erster Linie die Stipendiaten ernannte, die endgültige Beendigung des Stipendiums an.14Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Ordner der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Jannoulis Chalepas, Dokument mit Datum 11.02.1876. Iakovos Paximadis, der die Vergabe des Stipendiums an Chalepas unterstützt hatte, war nicht mehr an der Macht, und so wurde die Zuwendung dem weniger bedeutenden Bildhauer Ioannis Vidalis zugesprochen.
Der Fall von Christos Malakates, dem Sohn des Bildhauers Iakovos Malakates, ist typisch für die Vergabe des Stipendiums. Obwohl er aus einer relativ wohlhabenden Familie stammte, da die familieneigene Bildhauerwerkstatt wegen zahlreicher Aufträge äußerst profitabel lief, bekam er das Stipendium ohne das eigentlich erforderliche Armutszeugnis vorzulegen zu müssen. Ein weniger bekannter Stipendiat war der Maler Dimitrios Jeorgantas (1851-1933). Nach Abschluss seiner Ausbildung an der Athener Kunsthochschule setzte der aus Tinos stammende Jeorgantas seine Studien in München und Rom fort. Am 15. Mai 1883 wurde ihm der Status als Auslandsstipendiat zuerkannt. Es scheint ein zweijähriges Stipendium gewesen zu sein, das 1885 endete. Die Zuwendung wurde von 1.500 auf 400 Drachmen reduziert, was den Kosten für die Rückkehr aus dem Ausland entsprach. Als Zeichen des Dankes für die finanzielle Unterstützung der Stiftung schickte Jeorgantas zwei seiner studentischen Werke, Kopien von Museumsstücken. Das erste ist die „Madonna mit dem Schleier“ von Carlo Dolci (1606-1686), das zweite die Madonna von Raffaello Sanzio (1483-1520). Beide befinden sich im Kunstarchiv der Evangelistria-Stiftung. Auch Emmanuel Lampakis war während seiner Ausbildung an der Athener Kunstschule und in München Stipendiat der Stiftung von 1881 bis 1885. In München war er Nikolaos Gyzis eng verbunden. Nikolaos Lytras entschied sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Studium in München und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters Nikiforos. Sein Fall ist von besonderem Interesse, weil es die Gunst oder Ungunst verdeutlicht, der die Stipendiaten je nach politischer Ausrichtung der Stiftungskommission ausgesetzt waren. Der Maler scheint unwissentlich in den Strudel einer politischen Debatte geraten zu sein und wurde danach Opfer einer Sanktion. Es bedurfte nicht nur politischer Interventionen, sondern auch dem Eingreifen des Verbandes griechischer Künstler, um die Auszahlung des Stipendiums zu bewirken.15Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Lytras, Dokument Nr. 3171, 22. April 1911.
Nikolaos Lytras war zunächst Inlandsstipendiat 1902-1906 und im Anschluss Auslandsstipendiat in den Jahren 1907-1911. Das Stipendium beantragte sein Vater Nikiforos Lytras, wie aus einem Dokument von 1902 hervorgeht.16Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Lytras, 13.03.1903.
Dem Antrag wird stattgegeben und Lytras erhält das Stipendium ordentlich bis zum Tod seines Vaters im Jahr 1904. Mit dem Tod von Nikiforos Lytras scheint auch die Schonfrist für den jungen Studenten zu enden, dem ab diesem Zeitpunkt das Stipendium nicht mehr ausgezahlt wurde. Allerdings hatte er zuvor den Thomaidis-Preis erhalten und so hatte die Stiftungskommission keinen Spielraum zur Wahl eines anderen Stipendiaten. Der Antrag des jungen Künstlers von 1907 auf ein Auslandsstipendium wurde von einem Empfehlungsschreiben des Direktors der Kunstschule begleitet, der das Talent des jungen Mannes bescheinigte, sowie von dem Ersuchen seiner Mutter, Irini Lytra. Diese war sich der kritischen Situation bewusst und bot der Stiftung als Spende das Gemälde O Ajasmos ton Ydaton (Die Segnung der Gewässer) ihres Mannes Nikiforos Lytras an (Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Protokoll Nr. 112 der Stiftungskommission). Die Stiftungskommission stimmte der Spende zu und gewährte Nikolaos Lytras ein vierjähriges Auslandsstipendium. Während seines Studiums erfolgten die Zahlungen sehr zäh, nach eigenen Worten drohte der Maler zu verhungern.17Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Lytras, Dokument Nr. 022/31 vom 13.12.1910. Erst die Einschaltung eines Rechtsberaters gewährte die Auszahlung der Zuwendung.18Archiv der Panhellenischen Heiligen Stiftung Evangelistria Tinos, Mappe mit der Korrespondenz der Schüler Unterer Schulen, der Schüler Neuerer Schulen, der Künstler und Ingenieure des vergangenen Jahrhunderts – Nikolaos Lytras, Dokument Nr. 2113/2336 vom 10.02.1911. Der Zahlungsunregelmäßigkeiten zum Trotz waren die Stipendien Voraussetzung für das Studium der griechischen Künstler in München. Wie Nikolaos Gyzis in einem seiner Briefe an den Kunstmäzen Nikolaos Nazos erwähnte, mussten die Studenten neben den Lebenshaltungskosten auch für Ausgaben der Akademie aufkommen. So mussten sie die Modelle bezahlen, die sie in den Kursen malten (Drosini, 1953, 18). Wenngleich die plötzliche Ankunft in der griechischen Realität für sie enttäuschend war, so hatten sie im Geiste mit München doch stets einen festen Bezugspunkt, selbst nachdem Paris ihm den Rang abgelaufen hatte.