Iakovos Polylas und die Rezeption Friedrich Schillers in der neugriechischen Literatur

  • Veröffentlicht 30.08.24

Iakovos Polylas (1825-1896) gilt einhellig als der griechische Literaturkritiker, der Schiller am nächsten steht. Wie dokumentiert sich die Schiller’sche Struktur seiner Texte? Welche Ideen hat er von Schillers Ästhetik übernommen und wie hat er sie in seinen kritischen Texten angewendet? Worin unterscheidet er sich als Schiller-Leser von anderen griechischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts? Polylas war der erste Literaturkritiker und Herausgeber von Dionysios Solomos. Wie entscheidend war Schillers Einfluss auf die Interpretation und Veröffentlichung von Solomos’ Werken?

Inhalt

    Friedrich Schiller als Wegbereiter eines neuen ästhetischen Horizonts

    Anlässlich des 100. Geburtstages von Friedrich Schiller fand im November 1859 in Deutschland eine lange Reihe von Gedenkveranstaltungen statt. Universitäten, Schulen und literarische Gesellschaften nahmen an diesen Feierlichkeiten teil, die, wie es heißt, im gesamten 19. Jahrhundert ihresgleichen suchten. Denn noch nie zuvor war ein Dichter von seiner Nation so geehrt worden wie Schiller, der zu dieser Zeit als der deutsche Nationaldichter schlechthin galt (Gudewitz, 2008, 587-601).

    Wie es der Zufall wollte, wurde im November 1859 zu Schiller auch der bedeutendste Text der neugriechischen Literatur veröffentlicht, die berühmten „Prolegomena“ von Iakovos Polylas. Dieser hatte das Werk natürlich nicht anlässlich des 100. Geburtstags von Schiller, sondern als posthume Veröffentlichung der Werke von Dionysios Solomos geschrieben. Dennoch sollte für die neugriechische Literatur das Jahr 1859 ein Schiller-Jahr werden, wenn man berücksichtigt, dass die „Prolegomena“ für die griechische Literaturkritik ebenso bedeutungsvoll sind wie die Werke von Solomos für die griechische Lyrik.

    Die Schiller’sche Prägung der „Prolegomena“ rührt zu einem großen Teil von Solomos selbst her, da, wie Polylas (1859, λε΄) in diesem Zusammenhang feststellte, die philosophischen Lektüren des reifen Solomos von den ästhetischen Schriften Schillers dominiert wurden, der auf dem Gebiet der Dichtung einen „neuen Horizont“ erschlossen habe. Obwohl Polylas diesen neuen Horizont nicht näher erläuterte, wussten die meisten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, dass dieser mit Schillers ausdrücklicher Absicht verbunden war, die ästhetische Erfahrung nicht auf ein subjektives Gefühl zu beschränken, wie es Immanuel Kant getan hatte, sondern dieser Erfahrung objektive Eigenschaften zu verleihen (Schiller, 2005, 11-16). Hauptvertreter einer solchen Konzeption war G. W. F. Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Ästhetik Schiller als Wegbereiter des Übergangs vom subjektiven zum objektiven Idealismus gelobt hatte (Hegel, 1986, 89). In der Nachfolge Hegels wusste natürlich jeder, dass Schiller aufgrund seiner starken Abhängigkeit von Kant es nicht geschafft hatte, sein philosophisches Konzept zur objektiven Begründung der Ästhetik zu vollenden. Aber er hatte die Weichen dafür gestellt, so dass man mit Recht sagen kann, dass er der Poetik einen neuen Horizont erschlossen hat (Frank, 1989, 117-120).

    Die hegelianische Lesart Schillers hat weitgehend nicht nur die europäische, sondern auch die neugriechische Wahrnehmung durch Gelehrte wie Konstantinos Stratoulis (1856, 8-9), Jeorjios Kalosgouros (1984, 147) und Jeorjios Vizyinos (2013, 132) bestimmt, die auf die eine oder andere Weise die Bedeutung Schillers zur Überwindung des ästhetischen Subjektivismus Kants zugunsten einer objektiven Ästhetik herausstellten. Im Vergleich zu den oben Genannten erwies sich Polylas jedoch als der wirksamste und produktivste Schiller-Leser im Griechenland des 19. Jahrhunderts, da er sich nicht darauf beschränkte, die Bedeutung Schillers für die Geschichte der Ästhetik aufzuzeichnen, sondern dessen ästhetische Prinzipien in seinen eigenen kritischen Essays umsetzte. Das ist verständlich, denn wie der reife Solomos war auch Polylas ein Kind dieser neuen Ästhetik, die von Schiller eingeführt worden war, und die die Kunst geradezu organisch mit dem wesentlichsten Begriff der Moderne verband, der Freiheit. Der Zusammenhang von Ästhetik und Freiheit hat seine Wurzeln bei Kant. Doch während für Kant das Gefühl der Freiheit in der Kunst ein subjektives Gefühl des Rezipienten war, hatte sie für Schiller auch eine objektive Eigenschaft, so als wären die Kunstwerke selbst eine Verkörperung der Freiheit (Xiropaidis, 2005, 130-139). Und weil das Kunstwerk ein sinnliches Objekt, die Freiheit dagegen eine übersinnliche Idee der Vernunft ist, verstand Schiller die Kunst als eine Synthese des Sinnlichen mit dem Idealen, die die materielle Welt der Natur mit der geistigen Welt der menschlichen Vernunft und der Freiheit verbindet.

    Genau diese Synthesen ermöglichten es Schiller, der Kunst eine nie dagewesene Kraft zu verleihen, die einzigartig in der Ideengeschichte ist. Denn im Rahmen einer Jahrhunderte alten Tradition war es immer die Kunst, die die Welt nachahmen sollte und mit ihr ein Einklang zu bringen war. Aber im Schiller´schen System hören wir zum ersten Mal das Gegenteil, nämlich dass die Welt die Kunst nachzuahmen habe und sich an ihr ein Beispiel nehmen solle; dass sich der zeitgenössische Mensch von der künstlerischen Harmonisierung von Sinnlichkeit und Vernunft inspirieren lassen müsse, um eine wahre Beziehung zu sich selbst, zur Gesellschaft und zur Natur wiederherzustellen (Schiller, 2006b, 16-17); dass nur die ästhetische Bildung den Menschen humanisieren und seiner wahren Bestimmung zuführen könne (Schiller, 2006b, 89); dass der vollkommenste Staat ein ästhetischer und nicht die rationale Politeia Platons sei, der die Dichter verbannte, um die Philosophen herrschen zu lassen, ein Gemeinwesen, in dem die Künstler ein Vorbild für die restliche Gesellschaft seien (Schiller, 2006b, 168-172).

    Die durch Schiller vermittelte Vorstellung von Solomos und seinem Werk in den „Prolegomena“

    Im Horizont eines solchen Ästhetizismus bewegte sich Polylas, als er Solomos in seinen „Prolegomena“ als einen sensiblen und bedachten Menschen beschrieb, der wie ein lebendes Kunstwerk Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft zu einer idealen Einheit zusammenfügte; als einen Menschen, den man laut Polylas (1859, λζ΄) in einem Moment in tiefgründigen philosophischen Analysen schwelgen und im nächsten mit Kindern spielen oder vom Anblick der malerischen Natur ergriffen sah. Polylas erinnerte daran, dass auch für Schiller die Liebe zur Natur und zu Kindern ein Zeichen moralischer Schönheit sei, die die Ausgewogenheit von Gefühl und Denken im Menschen hervorbringe (Schiller, 1985, 8-13). Im Wesentlichen schien Solomos in Polylas´ Beschreibungen alle Vorzüge des idealen ästhetischen Menschen zu besitzen, den Schiller (2006a, 112) schöne Seele nannte, weil sie sich durch die Harmonisierung von „Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung“1Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext (Über Anmut und Würde) nach Schiller (1962, 467) zitiert. auszeichnet. Wenn laut Schiller das Hauptmerkmal der schönen Seele die Fähigkeit des Menschen ist, seine moralischen und intellektuellen Pflichten mit einer solchen Natürlichkeit und Anmut auszuüben, als ob es sich um eine natürliche Veranlagung handelte, dann war es genau dieses Ideal, das Polylas vor Augen hatte, als er über Solomos schrieb, dass „sich bei ihm der Übergang von den Tiefen der Seele zur Oberfläche der Natur und von dort wieder zurück andauernd vollzog, man könnte sagen, bei ihm war er so natürlich wie das Atmen selbst“ (Polylas, 1859, λη´).

    Polylas erkannte das gleiche Zusammenwirken von Natur und Vernunft im lyrischen Werk von Solomos, der in der Nachfolge Schillers die naive Poesie der alten Griechen mit der sentimentalischen Poesie der Moderne zu vereinen schien. Wenn in Schillers Interpretation das Hauptmerkmal der antiken griechischen Dichtung die Plastizität ihrer Formen war, während das der modernen in ihrer Reflexivität bestand (Schiller, 1985, 50-52), schien es notwendig, beide zu einer neuen Kunst zu vereinen, die den unfruchtbaren Konflikt zwischen Klassizismus und Romantik überwinden und in ihrem Ausdruck klassisch und romantisch zugleich sein würde: klassisch in Form und Gefühl, romantisch in Dynamik und philosophischer Tiefe (Behler, 1989, 94-95).2Obwohl die Kontroverse zwischen Klassizismus und Romantik den Theoretiker Schiller nie beschäftigte, reichte seine Vision einer neuen Kunst, die den naiven Geist der klassischen mit der Sentimentalität der modernen Kunst ideal verschmelzen sollte, aus, um ihn in den Augen seiner zeitgenössischen Leser (insbesondere der Jenaer Frühromantiker) zum Wegbereiter einer neuen Ästhetik klassisch-romantischer Prägung zu machen. Und genau diese Synthese vollzog Solomos in den Augen von Polylas (1859, λη΄), der, obwohl modern oder romantisch in der Kraft seiner moralischen Bilder, altgriechisch bzw. klassisch in der Darstellung der Natur daherkam.

    Die Theorie des Pathetischerhabenen

    Mit Blick auf Schillers Synthesen sollte man sich an Friedrich Schlegels (1967, 263) Diktum erinnern, wonach es „keinen Dualismus ohne Primat“3Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext (Athenäums-Fragmente) nach Schlegel (1967, 256) zitiert. gibt, da alle Gegensatzpaare im Schiller’schen System priorisiert und bewertet wurden – zugunsten des zweiten vergleichenden Begriffs. Bei der Kombination von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. Natur und Freiheit wurde also immer der Vernunft und der Freiheit der Vorrang gegeben, nicht der Sinnlichkeit und der Natur. Und wenn sich die Harmonisierung von Sinnlichkeit und Vernunft auf die Erfahrung des Schönen bezog, so bezog Schiller die Überlegenheit der Vernunft über die Sinnlichkeit auf die Erfahrung des Erhabenen, das er vor allem mit der Tragödie verband, weil wir dort das Leiden und Unheil eines grundsätzlich tugendhaften Menschen erleben, der vom Schicksal und den Widrigkeiten des Lebens geschlagen wird. Für Schiller lag das Wesen des Tragischen in der Fähigkeit des Menschen, sich nicht von seinen Leiden niederringen zu lassen, sondern durch sie verantwortungsvoll und vernünftig zu handeln, wie es sich für einen freien Menschen gehört. Auf diese Weise könne durch die Leiden der sinnlichen Natur des Menschen die vernünftige und freie Seite seines Daseins hervortreten (Schiller, 1992, 423). Diese Aufwertung des Leidens als Mittel zur Darstellung der Freiheit und nicht als Selbstzweck in der Kunst war Teil von Schillers sozusagen „klassisch-romantischer“ Ästhetik, die es ihm ermöglichte, gleichermaßen von der rationalistischen Leidenschaftslosigkeit der klassizistischen Tragödien als auch von der exzessiven Leidenschaft der sentimentalischen Tragödien der Romantik Abstand zu halten (Beiser, 2005, 245-251). Das zeigt unter anderem, dass Schillers großes Wirkpotential im 19. Jahrhundert darin bestand, die Einseitigkeit von Klassik und Romantik zugunsten eines neuen ästhetischen Ideals zu überwinden, worauf Polylas (1860, 9) hinwies, indem er Schiller als einen von der antiken griechischen Dichtung inspirierten „äußerst romantischen“ Dichter bezeichnete.

    Die Hauptsache bei alledem war jedoch, dass der Mensch durch tragisches Leiden seiner Freiheit teilhaftig werden konnte, und zwar durch ein gemischtes Gefühl von Freude und Trauer, das einerseits durch das Leiden des tragischen Helden und andererseits durch seinen moralischen Widerstand dagegen erzeugt wurde (Schiller, 1992, 826). Indem er die aristotelische Theorie der Tragödie mit der kantischen Theorie des Erhabenen fruchtbar verband, versuchte Schiller zu zeigen, dass in der Tragödie der Zuschauer ebenso wie der tragische Held von zwei gegensätzlichen Gefühlen geprüft wird: der Furcht bzw. dem Schrecken, die durch die Leiden des tragischen Helden hervorgerufen werden und die uns die physischen Grenzen unserer sinnlichen Existenz spüren lassen, aber auch die Freude bzw. Bewunderung, die durch den moralischen Widerstand des Helden gegen sein Leiden hervorgerufen werden und die in uns die Kraft der moralischen Freiheit aufkommen lassen (Berghahn, 1972, 485-522).

    Der Übergang von der schönen zur erhabenen Seele

    Diese Theorie Schillers, auch als Konzept des Pathetischerhabenen bekannt, wandte Polylas bei seiner Analyse des reiferen Werks von Solomos an, denn er wusste besser als jeder andere, dass diese Theorie die Grundlage war, auf der Solomos die Werke seiner reiferen Zeit entwarf (Polylas, 1859, μ -μα΄).4Zu Solomos’ theoretischen Anleihen bei Schillers dramaturgischen Theorien siehe auch Veloudis, 1989, 152-172. Das Gleiche gilt für seine Analyse von Hamlet von 1889, in der Polylas die rätselhafte Trägheit des Shakespeare-Helden auf den inneren Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Pflichten zurückführt: die Pflicht, den Mörder seines Vaters umzubringen, wie es ihm von dessen Geist aufgetragen wurde, und die Pflicht, dies nicht zu tun, wie es die vernünftige und moralische Seite seines Wesens von ihm verlangt, die die rachsüchtige Moral der blutigen Vergeltung verabscheut. Auf diese Weise wies Polylas darauf hin, dass der tiefere Sinn von Shakespeares Stück in dem inneren Konflikt zwischen der sinnlichen und der vernünftigen Natur seines Helden liege. Resultat dieser Not war das Aufkommen der moralischen Freiheit in ihm (Polylas, 2000, 87-93). Obwohl diese Hamlet-Interpretation von Hegel abgeleitet wurde, war ihre theoretische Grundlage die Schiller’sche Theorie des Pathetischerhabenen (Polychronakis, 2002, 21-31).

    Ähnliches gilt für sein dichterisches Werk, in dem Solomos laut Polylas ebenfalls einen titanischen Kampf gegen die sprachliche und ästhetische Verarmung der griechischen Literatur seiner Zeit zu führen hatte. Dazu habe er in den Fußstapfen der großen europäischen Literaturen fast aus dem Nichts eine hochqualitative Dichtung erschaffen (Polylas, 1859, ι΄- ια΄). Und weil, wie in Solomos’ reiferem Werk, all diese Kämpfe des Pathetischerhabenen ungleich sind, bezahlte Solomos dafür in seinem Leben den Preis der Einsamkeit und in seiner Kunst den der Fragmenthaftigkeit. Was die Einsamkeit betrifft, so beschrieb Polylas Solomos als einen äußerst poetischen Mann, der vom „unpoetischen Geist unseres Jahrhunderts“ brutal verletzt wurde. Polylas definierte ihn nicht zufällig anhand eines Zitats aus Schillers Werk Über die ästhetische Erziehung des Menschen, das den technokratischen und eigennützigen Charakter der modernen Gesellschaften anprangerte (Polylas, 1859, λγ΄).

    Es ist bezeichnend, dass Polylas auch jenseits der Literatur Solomos’ Lebensweg über das Pathetischerhabene angegangen ist. Es mag sein, dass Polylas, Schiller folgend, Solomos als schöne Seele präsentierte, die Sinnlichkeit und Vernunft in Einklang brachte. Eins der unlösbaren Probleme der Schiller’schen Theorie der schönen Seele besteht darin, dass die Harmonisierung der in ihr schlummernden Gegensätze eine Art Neutralisierung darstellt, was die Vorrangstellung der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit verschleiert. Und diese Erkenntnis ist umso wahrer, als die schöne Seele ein nicht beweisbares Ideal darstellt. In diesem Rahmen genügte es Polylas nicht, zu behaupten, dass Solomos ein harmonischer Mensch gewesen sei, der Sinnlichkeit und Vernunft miteinander vereint habe; er fühlte sich verpflichtet, das auch zu beweisen. Und weil sich die Natur des Menschen in der Not zeigt, sollte sich dabei, in Schillers Worten (2006a, 122), die schöne Seele in eine erhabene verwandeln. Das heißt, der vollkommene und harmonische Mensch mit der schönen Seele sollte durch eine Reihe von äußeren und inneren Widrigkeiten geprüft werden, die seine moralische Integrität und Überlegenheit bewiesen. Und genau das hat Polylas in den „Prolegomena“ getan, indem er eine Reihe von traumatischen Ereignissen aus dem Leben von Solomos aufführte: den Rechtsstreit mit seiner Mutter, seine finanziellen Schwierigkeiten, den unterentwickelten Verstand seines Umfelds und die Angriffe, denen er vom sprachlichen und poetischen Establishment seiner Zeit ausgesetzt war. In Polylas’ Erzählung glichen all diese Vorgänge den Leiden in Schillers Abhandlungen zum Pathetischerhabenen: Belastungen, aus denen Solomos moralisch unversehrt und siegreich hervorging (Polylas, 1859, λβ΄- λγ΄).

    Aber auch im Bereich der Kunst waren die fragmentarischen Werke von Solomos in den Augen von Polylas „wundersame Überreste von Wüstenei und Herrlichkeit“: Produkte eines moralischen und ästhetischen Kampfes, bei dem das Ringen selbst wichtiger war als sein Ausgang; nicht die Vollendung der Werke stand im Vordergrund, sondern das ständige Ringen um ihre Vervollkommnung (Polylas, 1859, νγ΄). Genau diese Annahme veranlasste Polylas dazu, die reiferen Werke von Solomos zu veröffentlichen, die auf empirischer Ebene zwar unvollkommen, dafür aber moralisch und ästhetisch vollendet und daher veröffentlichungswürdig waren. Und das bedeutet unter anderem, dass wir Solomos, wie wir sein Werk heute kennen, im Wesentlichen der Nähe von Polylas zu Schiller verdanken. Es sei denn, man ist der Ansicht, dass 1859 in Griechenland die Veröffentlichung fragmentarischer Werke eine Selbstverständlichkeit war. Für das Umfeld von Solomos war es das jedenfalls nicht, nicht einmal für Polylas, wenn er sich fragte, ob er durch die Veröffentlichung von Solomos’ Werk „zum Gespött der Leute“ geworden sei (Polylas, 1969, ξα΄). Niemand glaubt ernsthaft, dass Solomos’ reifere Werke ohne Polylas’ Intervention die entscheidenden zwei Jahre zwischen 1857-1859 überdauert hätten, oder, wenn dem doch so gewesen wäre, daraus lesbare Dichtung extrahiert werden könnte. Aber was auch immer man glauben mag: Sicher ist, dass die Veröffentlichung durch Polylas ebenfalls das Muster eines moralischen und ästhetischen Kampfes aufweist, der, nach den Maßstäben des Pathetischerhabenen, das Hauptziel sowohl der Kunst als auch des Lebens verfolgte, die moralische Freiheit des Menschen darzustellen.

    Die moralische Dimension der Kunst und der politische Ästhetizismus von Polylas

    Diese moralische Dimension der Kunst soll jedoch nicht mit einer Art künstlerischer Sitten- oder Tugendlehre verwechselt werden, denn die moralische Bedeutung von Kunstwerken liegt, wie Schiller (1992, 291) es ausdrückt, nicht in ihrem Inhalt, sondern in der ungezwungenen Harmonisierung von Form und Inhalt, die ihnen den Anschein der Freiheit gibt. In einer Weise, die über den späteren Gegensatz zwischen den Ansätzen einer „Kunst für die Kunst“ und einer „Kunst für die Gesellschaft“ hinausgeht, versuchte Schiller zu zeigen, dass die moralische und politische Dimension der Kunst in ihrer Eigenständigkeit liege. Gerade weil sich die Kunst nicht unterwirft und weder moralischen noch politischen Zielen dient, ist sie autonom. Aber weil sie eigenständig ist, hat sie eine moralische und politische Bedeutung, da ihre Autonomie sie zu einem Mittler der Freiheit macht (Polychronakis, 2002, 34-35; Beiser, 2005, 211-212). Wenn sich Polylas auf den moralischen Gehalt der Werke von Solomos bezog, betonte er deshalb immer auch deren ästhetische Qualität, um zu zeigen, dass nur eine Kunst, die den ästhetischen Vorgaben des Schönen und des Erhabenen genüge, auch die Aufgabe der moralischen Bildung des Menschen erfüllen könne (Polylas, 1859, κβ΄- κγ΄). Als Mittlerin der Freiheit könne die Kunst den Menschen auch von seinen konventionellen Einstellungen und Denkweisen befreien: Sie könne die Sinne schärfen, Gefühle verfeinern, die Vorstellungskraft erweitern, das Denken bereichern. Mit anderen Worten, den Menschen ganzheitlich kultivieren und ihn „veredeln“, gemäß einem anderen von Schiller entlehnten Begriff von Polylas (1860, 64).

    Genau dieser Veredelung dienten die „Prolegomena“, indem sie Solomos als idealen Menschen darstellten, als Vorbild für die griechische Gesellschaft, die mangels ästhetischer Bildung an moralischen und politischen Verirrungen litt und in ihrer unpoetischen Haltung den Nationaldichter verletzte. Deshalb wurde Solomos in den „Prolegomena“ stets als Bürger eines anderen, eines idealen Griechenland dargestellt. Wie Schillers ästhetischer Staat hatte dieses fiktive Land alle Merkmale einer „schönen, moralischen, engelhaft erschaffenen Welt“ (Polylas, 1859, λδ΄). Dies war das politische Argument hinter dem Ästhetizismus der „Prolegomena“, und es war ein genuin Schiller’sches Argument; denn wenn es in der Neuzeit einen Philosophen gab, der die Kunst zum Mittel der moralischen und politischen Bildung des Menschen machte, dann war es Schiller.

    Diesem politischen Ästhetizismus von Polylas stellte sich jedoch 1859 ein ehemaliges Mitglied aus dem Kreis um Solomos, Spyridon Zampelios, entgegen, der Hegel folgend zu zeigen versuchte, dass nicht die Kunst, sondern die Philosophie einen Ausweg aus den moralischen und politischen Sackgassen der Moderne bieten könne (Polychronakis, 2002, 180-198). In diesem Zusammenhang leugnete Zampelios nicht die Wahlverwandtschaft zwischen Solomos und Schiller, sondern betonte sie im Gegenteil noch viel stärker als Polylas. Im Gegensatz zu Polylas stützte sich Zampelios jedoch auf eine nachteilige Auslegung, die vom reiferen Goethe und von Hegel stammt. Diese lobten zwar Schiller als Kunsttheoretiker und -philosophen, stuften ihn damit aber gleichzeitig als Dichter herab, da sie sein philosophisches Engagement als abträglich für die Qualität seiner Dichtung betrachteten. So meinte Goethe, dass der Übergang Schillers von der „physischen Freiheit“ zur „ideellen“ ihn als Dichter und Menschen beinahe „getötet“ habe, da die zu weit getriebene „Idee der ideellen Freiheit“, unbenommen ihrer einzelnen Vorzüge, „sicher zu nichts Gutem“ führe (Eckermann, 2014, 258-259).5Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext nach Eckermann (1982, 188) zitiert. Entsprechend hierzu findet Hegel (1986, 90), dass Schillers Versuch, seine philosophischen Reflexionen in Gedichte zu transformieren, der „unbefangenen Schönheit des Kunstwerks“ zuwiderlaufe. Hier muss gesagt werden, dass auch Polylas in seinen „Prolegomena“ diese Kritik an Schiller übernahm, indem er zu zeigen versuchte, dass Schillers immense Bedeutung für die Kunst der Nachkommenden nicht so sehr in seiner Dichtung als vielmehr in seinen ästhetischen Essays liege. Aus diesem Grund betonte Polylas einerseits Solomos’ theoretische Anleihen bei Schillers ästhetischer Reflexion, andererseits unterschied er zwischen Solomos’ Poesie und der Schillers und hielt ersteren sogar für den besseren Dichter (Polylas, 1859, λθ΄). Zampelios dagegen war der Ansicht, dass Solomos wie auch Schiller ein obsessiver Dichter gewesen sei, der seinen philosophischen Ideen keine poetische Substanz verleihen konnte, was zum lyrischen Bankrott und zur Fragmenthaftigkeit seines Werkes führte (Zampelios, 1859, 79-80). Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass Zampelios, der die politische Dimension der „Prolegomena“ erkannte, versuchte, die Schiller’sche Vision des ästhetischen Staats zu dekonstruieren, die Polylas über Solomos zu errichten versuchte (Zampelios, 1859, 80-84). Auch wenn er damit in Konflikt mit Solomos, Polylas und sogar seinem eigenen Vater, Ioannis Zampelios, geriet, der sich ebenfalls als Bewunderer Schillers bezeichnete (Politis, 1985, 142), so zeigt seine Haltung doch, dass der Kreis um Solomos mit Schillers Werk bestens vertraut war (Veloudis, 1989, 21-57) – ein Werk, das Polylas in seinen kritischen Schriften am fruchtbarsten genutzt hat, um die entscheidende Rolle der Kunst bei der moralischen und politischen Bildung der modernen Gesellschaften hervorzuheben. Denn 1874, auf dem Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit, formulierte er, dass „die Politik die Menschen nicht bildet, sondern sie so nutzt, wie sie von der Natur erschaffen wurden“ (Polylas, 1969, 479). Und wenn, nach seiner Auffassung, die Kunst das tun konnte, zu was die Politik nicht in der Lage war, nämlich die Menschen zu bilden, dann war genau dieser Glaube sein Schiller’sches Vermächtnis an die griechische Literatur. Ob und wie dieses Erbe genutzt wurde, sei es durch den Hegelianismus des Polylas-Schülers Jeorjios Kalosgouros oder durch die popularisierende Vermittlung von Kostis Palamas, steht auf einem anderen Blatt. Denn wie das reife Werk des Schillerianers Solomos, so war auch das kritische Werk des Schillerianers Polylas in vielerlei Hinsicht dazu bestimmt, für die griechische Literatur „wunderbares letztes Pfand von Einsamkeit und Größe“ (Solomos, 2000, 171) zu werden.

    Übersetzung aus dem Griechischen: Athanassios Tsingas

    Einzelnachweise

    • 1
      Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext (Über Anmut und Würde) nach Schiller (1962, 467) zitiert.
    • 2
      Obwohl die Kontroverse zwischen Klassizismus und Romantik den Theoretiker Schiller nie beschäftigte, reichte seine Vision einer neuen Kunst, die den naiven Geist der klassischen mit der Sentimentalität der modernen Kunst ideal verschmelzen sollte, aus, um ihn in den Augen seiner zeitgenössischen Leser (insbesondere der Jenaer Frühromantiker) zum Wegbereiter einer neuen Ästhetik klassisch-romantischer Prägung zu machen.
    • 3
      Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext (Athenäums-Fragmente) nach Schlegel (1967, 256) zitiert.
    • 4
      Zu Solomos’ theoretischen Anleihen bei Schillers dramaturgischen Theorien siehe auch Veloudis, 1989, 152-172.
    • 5
      Hier wird, im Unterschied zum griechischen Ausgangstext, der deutsche Originaltext nach Eckermann (1982, 188) zitiert.

    Verwendete Literatur

    Zitierweise

    Dimitris Polychronakis: «Iakovos Polylas und die Rezeption Friedrich Schillers in der neugriechischen Literatur», in: Alexandros-Andreas Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (Hg.), Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen, 30.08.24, URI : https://comdeg.eu/essay/130443/.